Der Januskopf des Digitalen

Alte Fotos – und ein Ausstellungsbesuch bei Miguel Chevalier in München

Als er das alte Fotoalbum aufschlug, wurde dem Kunstfreund einmal mehr bewusst, wie dieser digitale Tsunami, der draufgeschwappt ist auf seine Welt und sie nun irgendwohin treibt, völlig unklar, wohin; wie also diese unablässige Wucht der Bilder und Videos und Worte die Sicht auf diese Welt, auf den Menschen, auf jeden einzelnen davon, verändert hat.

Wer oder was steht im Mittelpunkt? Die Vernetzungspunkte in Chevaliers Werk „Complex Meshes“ folgen dem Menschen, der sich an ihnen entlangbewegt.

Die Fotos stammten aus dem Nachlass seines älteren Bruders, der vor einigen Monaten gestorben war, und mit ihm fast siebzig Jahre gemeinsamer Erinnerungen. Nach Bildern zu diesen Erinnerungen suchte er. Aber es gab dort nicht nur Gemeinsames zu finden, sondern auch viel Fremdes, Unbekanntes: Fotos von Klassenausflügen, von Exkursionen in die Natur, von ersten Reisen in die Welt. Zu sehen: unbekannte Landschaften, schlecht belichtete Käfer, verwackelte Pflanzenbilder. Natur, die den Bruder fasziniert hatte. Dazwischen fremde Menschen: Jungs in Knickerbockerhosen, militärisch kurz geschorene Bubenköpfe, scheu lächelnde Mädchen. Menschen, die dem Bruder einmal wichtig gewesen waren, die er deshalb mit damals kostbaren und teuren Mitteln festgehalten und in dieses erste eigene Album hinein verewigt hatte – vergessene Gesichter. Nur selten dazwischen: Bilder vom Bruder selbst. Denn das Selfie war noch nicht geboren.

Das Selfie war noch nicht geboren

Mit einem solchen Eindruck also auf in die Kunsthalle München zur Ausstellung „Digital by nature“. Der 1959 in Mexiko-Stadt geborene Digitalkünstler Miguel Chevalier darf den Anspruch erheben, ein Pionier zu sein für die Digitalisierung in der Kunst. Und doch landet er – soviel sei vorweggenommen – auf seiner künstlerischen Lebensreise tief drinnen in der Natur.

Gewaltige Werke sind es größtenteils, in die der Besucher eintritt, raumfüllend fluten Farben und Formen dahin, unablässig bewegt sich die Pracht. Dabei interagiert die Projektion mit den Besuchenden, sie verändert sich entlang der Annäherung, explodiert und verläuft, wirbelt ihre labile Ordnung durcheinander und fällt in eine neue zurück, lässt die Farben flüchten und sich anders versammeln. Im Werk „Complex Meshes“ summieren sich die Punkte der Vernetzung genau dort, wo der Mensch steht oder geht, folgen seiner Bewegung entlang der Wand. Ist die Vernetzung also eine abstrakte Struktur – oder steht der Einzelne in ihrem Mittelpunkt, wird sie möglicherweise erst sinnvoll dadurch, dass sie betrachtet, bewegt, also genutzt wird?

Was steht im Mittelpunkt: Das Selbst – oder das, was um uns ist?

Das interaktive Kunstwerk von Chevalier stellt die gleiche Frage wie das alte Fotoalbum: Wer oder was steht im Mittelpunkt: Das Selbst, oder das, was um uns ist? Die moderne Konsumgesellschaft betäubt die Menschen beim Vergessen darüber, ob das Leben einen höheren Sinn haben könnte als Geld und Geltung. Ob da irgendetwas sein könnte, vielleicht etwas Mystisches, etwas unermesslich Schönes, auf das der Mensch keinen Einfluss hat.

Die Pflanzen, die hier „wachsen“, können Besuchende in der Ausstellung vor Ort am Bildschirm selbst gestalten. Sie wachsen dann weiter und „füllen“ das Gewächshaus.

Der sanfte Blick auf die Natur könnte solches Schöne lehren: die Perfektion in der Form eines Vogelflügels. Das sanfte Weich eines dicht gewachsenen Fells. Oder die stille Ästhetik eines Seerosenteichs. In Jahrmillionen haben sich solche Kunstwerke der Natur herausgebildet. Vor etwa hundert Jahren hat Claude Monet seine Seerosen gemalt – und seit fünfzig Jahren droht die Welt der Digitalisierung sie zur puren Kulisse zu entwerten. Es geht nicht mehr um Seerosen, nicht mehr um die magischen Farben, auch nicht mehr um die Malkunst Monets – es geht jetzt um einen Datensatz, der das eigene Bild, das eigene Lächeln, die eigene Inszenierung festhält. Das Selfie ist wichtiger als die prominente Schönheit im Hintergrund.

Am Ende steht ein Tropenwald aus KI

Bei Miguel Chevalier zentrieren sich die Vernetzungspunkte um den einzelnen Menschen, der sich im Mittelpunkt sieht. Der Künstler findet darauf in der Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des Digitalen in der Kunst eine radikale Antwort: Digital schafft er schließlich selbst Natur, der echten, wie sie aus Licht, Wasser und Erde erwächst, fast ebenbürtig. Am Bildschirm kann der Besuchende der Ausstellung in München in Minutenschnelle die eigene Fantasie in das Design neuer Pflanz-Kreationen hineingestalten, kann Bilder von Natur erschaffen, fast so schön wie die schönsten ihrer Art. Anschließend erscheinen sie im Kunst-Gewächshaus als Projektionen. In Chevaliers jüngstem Werk taucht der Mensch ganz ein in einen raumumgreifenden Dschungel aus Blättern, Blüten und Lianen, die sich allesamt selbst erschaffen haben – ein Tropenwald aus künstlicher Intelligenz.

Ist Digitalisierung also ein Ende oder ein Anfang? Ein mächtiger, doppelgesichtiger Januskopf dominiert den ersten Raum der Ausstellung. Vor dem Hintergrund sich raumhoch auf allen Seiten ständig erneuernder, knallbunter Farbexplosionen blickt er starr nach vorne wie auch zurück. Es ist ein beobachtendes, kein verstehendes Gesicht. Nach vorne zeigt der Janus die Möglichkeiten neuer Schönheiten für vieles, was verloren gehen könnte in einer sich Klimakatastrophen und Kriegen hingebenden Welt. Und andererseits blickt er zurück und erinnert daran, was wir zu verlieren im Begriff sind, oft schon verloren haben.

Es ist so wie mit den alten Fotos: Das fremde Gesicht aus der Jugend des Bruders schaut heraus aus einer versunkenen Zeit, es erkennt nichts, und es wird auch nicht mehr erkannt.

 

Mehr über die Ausstellung „Digital by Nature“ in der Kunsthallte München (noch bis 1.3.2026) finden Sie hier. 

Mehr über Miguel Chevalier bei Wikipedia. 

Das Sprachbild des „Digitalen Tsunami“ habe ich einer hochinteressanten, sehenswerten Dokumentation entliehen, die noch bis 18.1.2026 auf arte abrufbar ist. 

Weitere Texte als #Kuturflaneur finden Sie hier.