In der großen Schule des Zuhörens

Mit zehntausend Anderen bei Ludovico Einaudi

Einer spielt – tausende hören zu. Ludovico Einaudi in der ausverkauften Stuttgarter Schleyerhalle.

Die Herausforderung des Zuhörens wird immer größer. Nicht nur, weil es immer mehr zu hören gibt, sondern auch, weil – genau deshalb – die allgemeine Bereitschaft zum Zuhören sinkt. Die Aufmerksamkeitsspannen reduzieren sich, gesellschaftlich wie individuell, und wir trainieren unser Gehirn immer mehr darauf, nach kürzester Zeit umzuschalten auf den nächsten Kanal. Wir zappen uns durch das Denken und Hören. Dabei kommt das Zuhören unter die Räder, also das pure Hinhören, nicht mitreden, nicht überlegen, was dagegenspricht, nicht an die abgelaufene Parkuhr denken oder an die nächste U-Bahn, die man noch erreichen könnte – sondern einfach: Zuhören.

Nun gibt es besondere Nischen des Zuhörens: Wer beispielsweise in ein klassisches Konzert geht, richtet sich aufs Zuhören ein. Dennoch ist auch dort das geräuschlose Zuhören schwerer als erwartet: Da kommt ein Hustenreiz hoch, dort muss ausgerechnet an den leisen Stellen doch schnell raschelnd ein Bonbon herausgekramt werden, hier fällt plumpsend das Programmheft herunter. Und jedes dieser störenden Geräusche lenkt wieder zig andere Zuhörende vom Zuhören ab, aktiviert Spiegelneuronen und Erinnerungen: Muss ich vielleicht auch gleich husten?

Dass es unter Menschen einfach einmal Stille gibt, um zuzuhören, ist ein nicht selbstverständlicher Glücksfall.

Wo so viele zusammenkommen, wird es rascheln und krächzen

Im mächtigen, allseits herbeieilenden Menschenstrom nähert sich auch der Kulturflaneur der großen Veranstaltungshalle, die für ein Konzert mehr als Zehntausend seinesgleichen aufnimmt. Wo so viele zusammenkommen, wird es unvermeidlich rascheln und rauschen, zappeln und krächzen, tuscheln und husten. Sie alle haben viel Geld bezahlt, um dabei sein zu können, wenn der fast siebzigjährige italienische Komponist und Pianist Ludovico Einaudi eines seiner eher seltenen Live-Konzerte gibt. Mächtige Lautsprecher drohen links und rechts von der Bühne, und beruhigen auch: Sie werden die Töne des Künstlers so verstärken, dass es auf ein einzelnes Räuspern gewiss nicht ankommen wird.

Und doch wird der Abend – neben dem musikalischen Eindruck – vor allem eine Schule darüber, dass auch in den zappeligen Zeiten, die wir durchleben, das pure Zuhören möglich ist. Da kommen sehr viele Menschen zusammen, zahlen viel Geld, um zuzuhören – nicht mitzutanzen, nicht mitzusingen, nicht zu schunkeln oder zu lachen, nicht zuzustimmen oder zu widersprechen, nicht zu pöbeln oder zu jubeln. Sie kommen nicht wegen einer spektakulären Bühnenshow, und keine Handylichter werden geschwenkt werden. Sie kommen, um sich überwältigen zu lassen durch einfaches Zuhören.

Der Meister geizt mit den Worten. Die Musik soll sprechen.

Ludovico Einaudi – Foto bereitgestellt von Konzertagentur Karsten Jahnke

Einaudi geizt mit den Worten. Keine fünf ganzen Sätze fallen; er begrüßt nach zwanzig Minuten die Zuhörenden, er bedankt sich zwischendurch höflich und stellt später seine Musikerinnen und Musiker vor. Mehr nicht. Die Musik soll hier sprechen, und das Publikum soll zuhören. Eher meditativ sind anfangs die Klänge, basieren auf leisen Akkorden. Einaudi verzaubert sie, variiert sie mit häufigen Wiederholungen, bis sie sich steigern in gewaltiger Wucht und einmünden in ein Stampfen und Toben, das die ganze Halle in Schwingung versetzt. In solchen Momenten gibt der Meister am Klavier den Einpeitscher, und die ihn begleitenden Streicher, das Schlagwerk, das Akkordeon – sie alle gleichen dann den Sklaven in römischen Galeeren, die auf ihre Stühle wie gefesselt im Rhythmus durch die Töne rudern, bis ein Mehr an Wucht nicht mehr möglich scheint, bis der pulsierende Takt sich ausgelebt hat. Ein Handwink von Einaudi gibt das Signal zum abrupten Schluss. Dann entlädt sich auch die Anspannung der Zuhörenden, die vom Spektakel der Töne überwältigt, ihr Glück kaum fassen können, nun endlich klatschen zu dürfen.

„Neoklassik“ nennt sich diese Musik

„Neoklassik“ nennt sich diese Art von Musik, minimalistisch, auf die eingängige Wirkung bedacht – und daher unter Musikfreunden nicht unumstritten. Aber was ist schon unumstritten? Immerhin beweist der Abend: Es geht also noch, das Zuhören. Es ist möglich, und zwar nicht nur für eine kleine, gesittete, vielleicht auch so gebildete wie eingebildete Minderheit, die sich Zeit und Raum nimmt, zuzuhören – in edlen Konzerthallen, in prunkvollen Opernhäusern oder in kleinen Zirkeln im Literaturhaus.

Es geht auch in der großen Masse, wenn Tausende zusammenkommen. Es geht ohne Worte, einfach nur für die Töne. Es geht, Menschen dazu zu bringen, zuzuhören. Es muss eben das ein Glück begründen, was es zu hören gibt.

 

Ludovico Einaudi ist zur Zeit auf Tournee. Einige Konzerte in Deutschland gibt es noch im März und im Juni. 

Weitere Eindrücke als #Kulturflaneur fin den Sie hier. 

 

 

 

Die Staudamm-Hymne als Naturerlebnis

Über das Minimal-Music-Oratorium „Itaipu“ von Philipp Glass

Zwanzig Riesenturbinen (der Bus dient dem Größenvergleich) werden am Staudamm „Itaipu“ mit den Wassermassen des Rio Parana angetrieben, verwandeln die Kräfte der Natur in Energie für die Menschen. Wie lässt sich dieses Werk in Musik ausdrücken? (Foto: Wutzofant via Wikipedia)

Irgendwo aus dem Nichts kommt der Ton, der hier das Wasser ist, ein Rinnsal nur. Am Anfang aller Wucht stehen die unendlichen Tiefen von Raum und Zeit. Dann sind aufwachsend tastende Stimmen zu hören. Ein gemischter Chor raunt in fremder Sprache, bedeutungsschwanger und düster klingende Botschaften, und der Zuhörer ahnt ihre Tragweite, von der doch nichts zu verstehen ist. Es zwitschert in den Holzbläsern und brummt in den Bässen, und schon bald wuchten sich Metall und Schlagwerk zu wachsender Dominanz auf, die Wasser werden mehr und schwellen an, werden zum Strom – und spätestens dann hat den Zuhörer diese Musik irgendwo zwischen Herz und Hirn und Ohr gepackt, hat ihn gefangen genommen – oder es wird ihr nicht mehr gelingen in den gut 30 Minuten, die noch folgen.

Meditative Eintönigkeit erzeugt Spannung

Die Rede ist von Minimal Music, einem Genre der Klassik, das mit meditativer Eintönigkeit akustische Spannungen erzeugt, denen sich der Willige kaum entziehen kann oder möchte. Er lässt sich gefangen nehmen von diesem Wunder der stetig wiederholten und doch variierten Töne, die vorbeiziehen wie ein Band von Klängen, genau so lange, bis es langweilig zu werden droht. Und genau dann kommt eine Disruption daher, öffnet sich das Klangbild in einer neuen Überraschung.

Philipp Glass (hier in einer animierten Darstellung von Alvarezroure, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons).

Einer der ganz großen Gestalter dieser Musikrichtung ist der heute 87jährige US-Komponist Philipp Glass. Ein großes Werk hat er geschaffen, so minimalistisch im Ton, so mächtig in seiner Wirkung auf die Musikgeschichte. In seinem Stil ist Glass-Musik sofort erkennbar. Klavier- und Violinkonzerte sind Teile seines Schaffens, Filmmusik, Opern, und auch Sinfonien für großes Orchester. Ein solches wird benötigt für das – vermutlich wegen des erheblichen Aufwandes selten aufgeführte – Oratorium „Itaipu“ über einen – Achtung! – Staudamm. Jawohl, über einen Fluss und den Staudamm, der sich ihm in den Weg stellt.

Wer kennt nicht die in Noten gesetzten Gewitter von Vivaldi oder Beethoven?

Ob Musik Geschichten erzählen kann, Landschaften beschreiben, dabei vielleicht sogar politisch ist, darf umstritten bleiben. Es gibt Freunde der Musik, die genau das ablehnen. Davon unbeeindruckt beschreiben berühmte Werke der klassischen Musik Landschaften – jedem und jeder fällt Smetanas „Moldau“ ein. Und wer kennt nicht die in Noten gesetzten Gewitter von Antonio Vivaldi oder Ludwig van Beethoven? Mit Tönen kann man auch dem zweitlängsten Fluss Südamerikas, dem Rio Parana, folgen. Glass zeichnet symbolisch seinen Weg nach, beginnt an der eingangs bereits beschriebenen Quelle aus den Tiefen von Raum und Zeit, lässt das Gewässer musikalisch anwachsen, bis es sich zu einem gewaltigen See erweitert, dessen Fläche zweieinhalbmal so groß werden kann wie der Bodensee.

Nur dass die Wassermassen im süddeutschen Voralpenland auf natürlichem Wege die unter dem glatten Spiegel liegenden Abgründe füllen  – der Parana dagegen künstlich in seinem Streben Richtung Meer aufgehalten wird – mit Hilfe einer fast acht Kilometer langen Staumauer, die den Namen „Itaipu“ trägt, „Stein“ in der Sprache der Guarini, jenes Volkes, das hier siedelte. Zwischen 1973 und 1984 wurde der Damm errichtet und stemmt sich seither gegen die Wucht der Physik, ringt der Natur ihre Kraft ab. Glass hat dafür in geradezu enervierender Weise Töne gefunden – repetierend, beruhigend, erregend, abschwellend, sich dramatisch steigernd. Und schließlich werden auch in der Musik die Kräfte des Wassers hineingezwungen in den einzigen Ausweg, der ihnen bleibt. In das Mahlwerk der zwanzig riesenhaften Turbinen, die triumphierend das Ungestüme der Natur verwandelnd in Energie und pure Kraft. Dreiviertel des Strombedarfs des ganzen Staates Paraguay werden hier erneuerbar erzeugt, und immerhin 17 Prozent des Stromhungers Brasiliens gestillt.

Das Oratorium setzt ein Denkmal für die vertriebenen Guarini

Etwa 40.000 Ureinwohner mussten ihre Heimat verlassen, damit der gewaltige See entstehen konnte. Ihnen setzt Glass ein Denkmal mit seinem Oratorium „Itaipu“, denn es wird vom Chor in der Sprache der Guarini gesungen und es erzählt von ihrer Religion. Der Zuhörer bleibt ob des Textes und seiner Bedeutung ratlos zurück, selbst dann, wenn er eine ins Deutsche übersetzte Fassung vor sich liegen hat. Nichts in dieser Geschichte klingt an für unsere Welt, auch wenn es um eine Sintflut geht. Unverständlich fremd bleiben die Bilder und Gleichnisse, die hier ausgebreitet werden – und bald bleibt auch gar keine Aufmerksamkeit mehr übrig, um sich diesen Worten zu widmen. Die Töne, gerade auch die unverständlichen gesungenen, überströmen in anschwellender Kraft das Musikerlebnis, als könnte man die hier beschriebene Sintflut höchstpersönlich erleben.

Philipp Glass hat den Staudamm fünf Jahre nach seiner Fertigstellung selbst besucht und war fasziniert von der gewaltigen Kraft, mit der sich hier Beton und Stahl gegen die Natur stemmt, auch von der technischen Perfektion, mit deren Hilfe der ungestümen Natur Energie für den Menschen abgerungen wird. Ist dieses Werk politisch? Es würdigt die Sprache der verdrängten Menschen, es achtet ihren Glauben an die Überwindung einer Sintflut und setzt ihn in eine kluge Beziehung zur Einmischung des Modernen in ihre Heimat. Es ist eine musikalische Beschreibung, keine Kritik, eine Hymne für das überschwemmt Untergegangene, und ein Jubelgesang für die Kraft des Fortschritts.

Schließlich verrinnen die Töne wie das Wasser in der Weite

Dann, im vierten Satz, sind die Turbinen überwunden, und die geschundenen Wasser verlieren sich nach der Tortur der Energieerzeugung in der Weite des Meeres. Tropfen um Tropfen, Welle um Welle geht es hinaus, und auch der Chor hat nur noch ein breites, zigfach wiederholtes „Ahhh“ zu hauchen. So verrinnen die Töne wie das Wasser, das gerade noch durch die menschlichen Höllenmaschinen gezwungen worden war, mit seiner ganzen Kraft in der Größe der Schöpfung.

Dann ist es vorbei. Zurück bleibt ein noch nie gehörtes Naturerlebnis.

 

 

Das Oratorium „Itaipu“ in einem Konzertsaal zu erleben, ist ein seltenes Vergnügen. Ich hatte die Gelegenheit am 15. Januar 2025 bei einer Interpretation der Münchner Philharmoniker. Wer nicht abwarten möchte, findet das Werk auch hier in einer Aufnahme des Atlanta Symphony Orchestra mit Chor (Klick führt zu Youtube). 

Mehr über den Staudamm von Itaipu und über Philipp Glass jeweils bei Wikipedia.

Mehr Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.