Liebe Verbots-Paniker! Ein empörter Brief

Liebe Verbots-Paniker!

Dieses Schreiben richtet sich an Euch. Es richtet sich an solche Mitbürgerinnen und Mitbürger, die bei jeder Diskussion um eine Transformation unserer Gesellschaft herumschreien: „Verbot!“ Wenn diskutiert wird, ob es sinnvoll ist, jetzt noch neue Gas- oder Ölheizungen in unsere Keller zu wuchten – „Verbot!“. Wenn wir diskutieren, ob wir in zwanzig Jahren noch neue (!) Verbrenner-Autos zulassen sollten – „Verbot!“. Wenn Zweifel bestehen, ob es eine kluge Idee ist, rund um Schulen und Kindergärten oder in Kinder-Fernseh-Sendungen für Süßigkeiten zu werben – „Verbot!“. Oder ob ein strengeres Waffenrecht angebracht wäre? – „Verbot!“ Und wenn über ein Tempolimit auf Autobahnen gesprochen wird, oder über Tempo 30 als Regelfall innerhalb von Ortschaften – dann sowieso: „Verbot!“. Wenn das Ausmaß unseres Fleischkonsums kritisch hinterfragt wird – „Verbot!“.

Liebe Verbots-Paniker,

ich kann es nicht mehr hören. Euer Geschrei geht mir auf  die Nerven, weil es mich und die Gesellschaft intellektuell unterfordert. Habt Ihr Eure Kindheit nicht überwunden? Ja, ich erinnere mich selbst gut daran, wie ich es als Kind gehasst habe, etwas verboten zu bekommen. Es war so interessant, was da auf der Herdplatte köchelte. Es war so spannend, was es da hinter dem Bauzaun in der tiefen Grube zu sehen gegeben hätte. Aber ich durfte nicht. Als ich dann selbst Kinder zu erziehen hatte, habe ich mir vorgenommen: Keine Verbote! Und was war das erste, was ich aussprach? Verbote! War das bei Euch anders?

Was hat es mit „verbieten“ zu tun, darüber zu diskutieren, welche Technik sinnvollerweise neu einzubauende Heizungen haben sollten?

Jetzt bitte nicht das Argument: Damals waren wir doch Kinder, aber jetzt sind wir erwachsen! Als ob das eine Garantie wäre, dass wir alles aus purer Vernunft heraus machen: Auto fahren immer nur so schnell, dass es niemanden gefährdet. Leise sein, um niemanden zu stören. Rücksicht üben, wo es möglich ist. Wäre es so, könnten wir auf die ganze Polizei, die Justiz, die Gefängnisse, die Gerichtsvollzieher verzichten. Ist es aber nicht. Wir brauchen Regeln, und dazu zählen auch Verbote.

Und die Freiheit, fragt ihr?

Die Art von Freiheit, die Ihr hier ungebeten ans Tageslicht zerrt, die hatten vielleicht unsere Ur-Vorfahren in der Höhle. Aber seit wir diese verlassen haben, schränken wir uns gegenseitig unsere Freiheit ein, weil sonst ein Zusammenleben nicht funktionieren würde. „Die Freiheit eines jeden beginnt dort, wo die Freiheit eines anderen aufhört“, wusste schon der kluge Immanuel Kant. Freiheit und Regeln gehören zusammen – es gibt das eine nicht ohne das andere.

Verbote begleiten un seren Alltag. Was also soll die dümmliche Verbots-Empörung bei jeder neuen Regel-Diskussion?

Oder wollt Ihr das jetzt ändern? Zulassen, dass jeder Dahergekommene in Euere Wohnung oder euer Haus eindringt?  Schon jetzt ist es verboten, seinen Kindern die Schule vorzuenthalten. Schon jetzt muss jedes Jahr ein Kaminkehrer messen, ob der Dreck aus unseren Schornsteinen noch unter einer bestimmten Höchstgrenze liegt. Schon jetzt müsst Ihr alle zwei Jahre zum TÜV mit Eurer Freiheitskarre. Schon jetzt braucht Ihr einen gültigen Führerschein zum Rumfahren, sonst ist es verboten. Sind das alles auch Verbote, die Ihr abschaffen wollt? Wollt Ihr allen Erstes plattgefahren werden von irgendeinem Troll, der ohne Führerschein und wirksame Bremsen unterwegs ist? Wäre das Eure Freiheit?

Kann man so verblendet sein?

Das darf doch nicht wahr sein, dass man das nicht versteht. Was hat denn das mit „Verbot“ zu tun, wenn eine Gesellschaft die Grenzen zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl immer wieder neu diskutiert? Kann man so verblendet sein, das nicht zu verstehen? Die Erde heizt sich auf, und wir müssen reagieren, um unsere Lebensgrundlagen zu erhalten. Auf dem Herd der Klimakatstrophe kocht die heiße Brühe, und wenn manche das nicht glauben wollen, dann wird es wohl verboten werden, den brodelnden Topf vom Herd zu ziehen. Denn sonst verbrühen wir uns alle.

Also, liebe Verbots-Paniker,

rüstet doch bitte einfach mal ab. Nicht jede Diskussion über eine Veränderung in der Gesellschaft ist ein „Verbot“. Wir diskutieren neue Regeln, und gerne kann jeder aus irgendwelchen, auch egoistischen, Gründen gegen diese oder jene neue Regel sein. In unserer Demokratie könnt ihr dagegen opponieren, die Notwendigkeit bestreiten, dafür werben, darauf schimpfen, was auch immer. Aber lasst bitte die „Verbot!“-Keule im Sack. Verbote sind schon jetzt ein sinnvolles und notwendiges Instrument zur Regelung unseres Zusammenlebens. Es pauschal doof zu finden, dass einem etwas verboten wird, ist kindisch.

Immer noch nicht überzeugt? Es gefällt Euch einfach zu gut, erwachsene Leute billig und populistisch an ihre verbotsgeschwängerten Kindheitserinnerungen zu packen, statt um ihre erwachsene Vernunft zu werben? Dann stellen wir uns mal bitte gemeinsam eine Welt vor, in der es keine Regeln, also auch keine Verbote mehr gibt, in der einfach jeder machen kann, was er will.

Das ist dann grob gesagt die Welt unserer Höhlenvorfahren, in der das Recht des Stärkeren gilt. Keule drauf und fertig. Es gibt genügend Regionen in der Welt, wo man Reste davon besichtigen kann. Und was dort als erstes verboten wird, das ist die eigene Freiheit.

Mit empörten Grüßen

Der #Politikflaneur

 

 

Auf die Idee zu diesem Text hat mich u.a. das kluge Interview mit Ulrich Wegst im Deutschlandfunk Kultur gebracht, das ich zum Nachlesen empfehle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/ulrich-wegst-verzicht-100.html

 

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier.

Von Regeln und Rasenflächen (19. Mai 2021)

Nennen wir ihn Joe. Joe ist 25 Jahre alt, studiert in Berlin und arbeitet nebenbei als Wolt-Fahrer. Für ihn gilt nur eine Regel: Vorankommen und ankommen. Wolt ist ein finnisches Startup, das im Berliner Straßenbild omnipräsent ist. Auf jedem Radweg, durch jede Straße jagt eine oder ein Wolt-Radler/in dahin, den würfelförmigen blauen Thermo-Kubus auf dem Rücken. Es gilt, den Boom-Markt der Essenslieferungen zu erobern. Überarbeitete Businessleute, übermüdete Familien mit Kleinkindern, kochuntaugliche Singles – das sind die Zielgruppen, allesamt hungrig und ungeduldig.  Joe will möglichst viel Geld in möglichst kurzer Zeit verdienen, mit Fahrradfahren, was auch ohne Kasten auf dem Rücken seine Leidenschaft ist. Joe muss schnell sein, damit er sich einen guten Stundenlohn erarbeitet, wozu auch gehört, dass das Essen nicht kalt wird. Sein Trinkgeld steigt mit der Zufriedenheit der Kunden, und die mögen kein kaltes Essen. Also hält Joe auch wenig von Verkehrsregeln. Vorankommen, das Essen wird kalt!

Berlin wirbt für Abstand

In Berlin gelten unzählige Regeln. Joes Jagdrevier der Neuzeit ist der Straßenverkehr, nehmen wir also diesen als Beispiel. Verkehrsschilder, Ampeln, Straßenmarkierungen versuchen, das Regelwerk unseres mobilen Zusammenlebens zur Geltung zu bringen. Aber oft siegt die Anarchie: Markierungen sind für viele Autofahrer nur eine Empfehlung, vor der Kreuzung herrscht ein spurenübergreifendes Geschiebe wie in Palermo. Jeder will vorankommen! Das Mantra der gehetzten Dynamik steht über jeder Regel. Regelwidriges Anhalten in zweiter Parkreihe zum Liefern ist Alltag. Wie sollte es auch anders sein? Im Halteverbot am Straßenrand stehen Autos kreuz und quer, und irgendwie muss die Fracht ja zum Ziel kommen. Der nächste Kunde wartet auf seine Pakete! Rotlicht für Fußgänger? Eher eine Empfehlung. Tempo 30? Gilt nicht für Taxifahrer und andere, die es eilig haben. Vorankommen! In diesem Getriebe ist Wolt-Fahrer Joe nur ein kleines Rädchen. Rote Ampel beachten, wenn gerade keiner kommt? Handyverbot im Straßenverkehr? Das kostet Joe alles Zeit und damit Geld. Also rüber auf die andere Straßenseite, dem hungrigen Kunden ein paar Meter, ein paar Sekunden näher. Und dabei noch schnell ein Blick aufs Handy, den nächsten Auftrag annehmen – alles normal. Vorankommen!

„Is´ mir egal“ heißt die Hymne der Regelübertretung

Die Erfahrung der alltäglichen Regelübertretung prägt das Leben in Berlin. Wer sich immer an alle Regeln halten würde, käme schlicht nicht durch, wäre der sprichwörtlich „Dumme“. Die Verantwortlichen dieser Stadt sind demütig geworden gegenüber dieser Logik. Sie versuchen sich daher in einer unterhaltsamen Balance aus Repression und Kreativität. Im Stadtbild ist Polizei gut präsent, aber gleichzeitig wirbt Berlin kreativ für die freiwillige Einhaltung ihrer Regeln, bettelt geradezu um die Vernunft ihrer Bürger: „1,5 Meter = 1 Pony“ oder „1,5 Meter = 3 Corgies“ blödelt in der Pandemie das Plakat an den Haltestellen von Bus und Bahn, daneben steht dichtgedrängt der Fahrgastpulk mit tief unter der Nase sitzenden Masken. „Krassere Öffnungszeiten als Dein Späti!“ kündet der flotte Spruch auf dem überfüllten öffentlichen Müllbehälter, darunter ein Berg von Abfall.

Kreativität entsteht dort, wo es erlaubt ist, Regeln nicht allzu ernst zu nehmen. „Is mir egal“, singt der schon früh verstorbene Kazim Akboga auf Youtube im Auftrag der Berliner Verkehrsbetriebe. Egal ist ihm angeblich, wenn Leute mit einem Pferd in der U-Bahn stehen oder in der Straßenbahn Zwiebeln schneiden, Hauptsache, man hat ein gültiges Ticket. Die überaus witzige und geistreiche Berliner Hymne auf die bunte Dynamik der Regelübertretung wurde schon über zehn Millionen Mal geklickt.

Eine falsche Uniform macht Eindruck …

Den falschen Hauptmann von Köpenick ehrt ein Denkmal …

Eine der originellsten Regelübertretungen in Berlin verdanken wir dem Schuhmacher und kreativen Kleinkriminellen Wilhelm Voigt. Seine Dreistigkeit machte ihn und den heutigen Berliner Stadtteil Köpenick weltbekannt. Der Begriff „Köpenickiade“ hat es in den Duden und zu einem Wikipedia-Eintrag geschafft, und hat als Stoff für ein Theaterstück von Carl Zuckmayer literarischen Weltruhm erlangt. Und die Geschichte gab es wirklich: Voigt, der „Hauptmann von Köpenick“ schneiderte sich im Jahre 1906 selbst eine Phantasieuniform, stellte mit ihrer autoritätsverleihenden Ausstrahlung zwei von ihm zufällig aufgesuchte Soldatenbrigaden unter sein Kommando (die das auch anstandslos mit sich machen ließen), fuhr mit ihnen mit der Straßenbahn nach Köpenick (ob er Fahrkarten kaufte, ist nicht überliefert), spendierte „seinen“ Soldaten ein Bier und ließ sich dann mit ihrer Unterstützung von der ebenfalls überrumpelten Ratsspitze die gesamte Köpenicker Stadtkasse aushändigen.

… und echte Uniformen stürzen ins Unglück

… an Schloss Köpenick erinnert wenigstens eine Gedenktafel an ein historisches Unrecht.

Wir hegen Sympathien für diesen rebellischen, falschen Hauptmann, dessen Geschichte uns heiter lehrt, wohin zu viel uniform-ergebene Regeltreue führt – und auch, wie weit es ein kreativer Regelübertreter bringen kann. Das tragische Gegenstück dazu ereignete sich keine 500 Meter entfernt vom heutigen Köpenicker Rathaus, aber 170 Jahre früher. Im Schloss Köpenick wurde 1730 mit katastrophalem Ausgang vor dem preußischen Kriegsgericht verhandelt. Angeklagt war Hans Hermann von Katte, der Jugendfreund des späteren preußischen Königs Friedrich II. („der Große“). Von Katte war wie sein prominenter Freund ein – erste Regelübertretung! – künstlerischer Frei- statt soldatischer Kleingeist. Und er war mit dem damals noch achtzehnjährigen, vom Vater tyrannisierten und auch deshalb kreuzunglücklichen Thronfolger– zweite Regelübertretung! – vermutlich als Liebespaar verbunden. Auch der Thronfolger selbst hatte einen Regelverstoß geplant: Er wollte seinem Vater und dessen Brutalität nach Frankreich entfliehen. Sein kluger Freund hatte davon gewusst, hatte gewarnt, wurde denunziert und vor dem Kriegsgericht der Mithilfe zur Fahnenflucht beschuldigt. Die Köpenicker Richter versuchten, in ihrem Urteil das Leben des sonst untadeligen Premierleutnants der preußischen Armee zu retten. Aber der „Soldatenkönig“ Friedrich I. kannte kein Pardon. Von Katte wurde hingerichtet, und angeblich zwang der Vater seinen verzweifelten Sohn sogar dazu, Zeuge dieses Mordgeschehens zu sein.

Rasen betreten erlaubt!

„In Deutschland kann es keine Revolution geben, da man dafür den Rasen betreten müsste“, soll der Diktator Josef Stalin mit Blick auf das im nationalsozialistischen Wahn vernebelte Volk der Deutschen einmal gesagt haben. In Berlin kann man vielerorts besichtigen, wie berechtigt diese Einschätzung über unser historisches Versagen gewesen ist (wobei Stalin wahrlich kein guter Zeuge für einen solchen Vorwurf ist). Ein Besuch in der Villa am Wannsee macht stumm ob der Bedenkenlosigkeit, mit der Nazi-Bürokraten 1942 frei von Zweifeln oder Skrupeln die Regeln zur Ermordung von Millionen Juden aufstellten, um sich anschließend zu einem Arbeitsfrühstück zusammen zu gesellen.

Noch immer beginnen nur selten Revolutionen, wenn die Berliner heute den Rasen betreten. Immerhin, sie tun es! Schaut hin, da radelt Joe! Er nimmt die Abkürzung über eine Rasenfläche, um schneller voranzukommen im wilden Zickzack-Kurs zwischen den Sonnenanbetern, der Slacklinern, den Grill-Familien. Was kümmert ihn schon, dass Radfahren im Park eigentlich verboten ist? Das Essen wird kalt, der nächste Auftrag wartet.

 

Sehr informativ finde ich diesen Film von Pocketmoney über das Arbeiten als Essenlieferant in Berlin: https://www.youtube.com/watch?v=UoaTpQ3WZIY

Viel Spaß mit „Is mir egal“ mit Kazim Akboga: https://www.youtube.com/results?search_query=Video+mir+doch+egal

Die Geschichte des Hauptmanns von Köpenick findet sich auch bei Wikipedia:

https://de.wikipedia.org/wiki/Hauptmann_von_K%C3%B6penick

wie auch das tragische Schicksal von Hans Hermann von Katte

https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Hermann_von_Katte

Das Haus der Wannsee-Konferenz hat eine eigene Website: https://www.ghwk.de/de