Zwei Männer und eine Madonna (10. August 2021)

Dies ist eine Geschichte über die Zeit, über Kunst und über Geld. Es ist auch die Geschichte vom Lebensweg der Männer Jakob und Reinhold, die sich nach 500 Jahren auf unwahrscheinlichste Art begegnet sind.

Jakob

Jakob ist ein wacher Bub. Er wächst in einer Händlerfamilie auf, beobachtet seinen Vater genau beim Geschäfte-Machen und entscheidet sich früh, als Erwachsener sein Glück als Geldwechsler zu suchen. In seiner Zeit wächst der internationale Handel, und wer dort erfolgreich sein will, braucht vertrauenswürdige Menschen, die fremde Währungen in solche umtauschen, die gerade benötigt werden. Jakob ist es, der wechselt, und er vergibt die ersten Kredite. Jakob ist ganz vorne dabei, als ein neuer Geschäftszweig entsteht: Das Kredit- und Bankenwesen. Jakob wird schnell zum gestandenen Kaufmann, ein kluger, wacher, selbstbewusster Mensch. Bald macht er sich auf, seine Berufskollegen zu organisieren; die Zunftbrüder der Geldwechsler vertrauen ihm, und er vertritt ihre gemeinsamen Interessen im Rat seiner Stadt.

Reinhold

Auch Reinhold ist ein kluger Junge. Reinhold erlebt als Kind, was Krieg bedeutet. Er ist dabei, wie die Menschen seiner Heimat zuerst in den diktatorischen Wahnsinn und dann in die selbstverschuldete Verwüstung straucheln. Die Häuser seiner Kindheit fallen in Schutt und Asche. Reinhold erlebt Armut und existenzielle Not. Zehn Jahre ist er alt, als sein Vater auf dem Tiefpunkt chaotischer Nachkriegswirren den Schritt in die Selbstständigkeit wagt. Er vertraut auf eine Marktlücke seiner Zeit und eröffnet ein eigenes kleines Geschäft. Vier Jahre später wird Reinhold sein erster Angestellter. Der Sohn beginnt eine Kaufmannslehre bei seinem Vater, absolviert sie als „harte Schule“, wie er später sagt, aber mit Bravour. Gemeinsam mit seinem Vater klappert er die Handler, Handwerker und Bauunternehmer ab, um für Umsatz zu sorgen. Das Geschäft floriert.

Jakob

Jakob wird schon früh wohlhabend. Seine Geschäfte laufen glänzend. Sein Ansehen in seiner Heimatstadt ist so groß, dass er zum Bürgermeister gewählt wird, obwohl er nicht dem Adel angehört – was zu seiner Zeit für dieses Amt zumindest ungewöhnlich ist. Aber Jakob lässt sich nicht verdrängen. Bestens knüpft er die Netzwerke, macht sich mit seinem Geld und den damit gedungenen Söldnern im ganzen Reich unentbehrlich. Auch als Bürgermeister ist er erfolgreich und sorgt für wachsenden Wohlstand seiner Stadt. Seinem Reichtum gibt er Ausdruck: Schon früh fördert Jakob einen der wichtigsten Maler seiner Zeit, noch lange bevor ihn alle für seine Kunst bewundern werden. Von ihm lässt er sich zusammen mit seiner Frau im edlen Ornat portraitieren, stolz prangen Schmuck und Goldmünzen.

Reinhold

Es ist kurz vor Weihnachten, als den inzwischen 19-jährigen Reinhold die Nachricht erreicht, dass soeben sein Vater an einem Herzinfarkt gestorben ist. Er ist der älteste in der Familie; ihm bleibt keine Wahl: zusammen mit seiner Mutter führt er das kleine Handelsgeschäft weiter. Von seinem Vater hatte er gelernt, was man mit Fleiß, Durchsetzungswille und Disziplin erreichen kann. Reinhold macht sich also auf den Weg. Aus dem Vater-Sohn-Betrieb baut er eine Firma auf, die bald fünfzig, bald hundert, dann Tausenden Mitarbeitern Lohn und Brot gibt. Er sorgt buchstäblich dafür, dass aus den Trümmern nach einem Krieg beim Wiederaufbau die Balken fest zusammengefügt werden können, dass die vielen neuen Autos nicht auseinanderfliegen. Reinhold schraubt den Wirtschaftsaufschwung zusammen. Schrauben, Millionen von Schrauben, sind sein Markt. Seine Produkte sind klein, aber unverzichtbar, und der Bedarf ist unermesslich. Kein neuer Krieg stört sein wirtschaftliches Lebenswerk. Reinhold verdient viel Geld mit Schrauben, und jeden Tag wird es mehr. Was soll er mit seinem ganzen Geld eigentlich Sinnvolles anstellen? Reinhold entscheidet sich für die Kunst.

Jakob

Jakob ist tiefgläubig. Als er selbst auf dem Höhepunkt seines Einflusses steht, erschüttert ein junger Mönch aus Deutschland die Fundamente seiner Religion, ihre unumstößlichen Wahrheiten und Grundregeln. Jakob kann mit diesen Ideen wenig anfangen, aber immer mehr Menschen und auch einflussreiche Freunde und Ratsverantwortliche seiner Stadt entscheiden sich für die neuen Zeiten, für die neue Sicht auf die religiösen Dinge. Jakob lehnt einen Übertritt zur neuen Mode ab, was ihn das Amt und vieles von seinem Ansehen kostet. Als Bürgermeister wird er gestürzt, aber er bleibt wohlhabend genug, ein weiteres Gemälde bei seinem Lieblingsmaler in Auftrag zu geben. Jakob will, dass dieses Bild ein bewusstes, störrisches Statement ist, ein Ausruf der religiösen Standhaftigkeit. Es soll eine Madonna zeigen, wie sie ihn, Jakob, und seine Familie schützt vor den Veränderungen der Zeit.

Reinhold

Auch wenn der Firmenpatriarch im Scherz schon mal „Zeus“ genannt wird, ist Reinhold praktizierender Christ. Er entstammt einer Familie, die sich zum neuapostolischen Glauben bekennt. Soweit man davon weiß, unterstützt er mit seinem im Schraubenhandel erworbenen Vermögen auch seine Religionsgemeinschaft. Generell engagiert er sich sozial und gesellschaftlich, fördert Bildung, Literatur und Musik. Reinhold ist ein leistungsorientierter, aber auch liberaler Geist, der Freude hat an der unkontrollierbaren Kreativität der Künstler. So ist er zu einem der bedeutendsten Kunstsammler Europas geworden; gewaltige Summen steckt er in Gemälde und Skulpturen, vor allem zeitgenössischer Kunstschaffender und der „klassischen Moderne“. Heute gehören zu seiner Sammlung rund 18.500 Kunstwerke. Als Unternehmer weiß er, dass klug gesammelte Kunst auch eine gute Kapitalanlage ist. Unschätzbare Werte stecken in den Gemälden und Skulpturen, die Reinhold, beraten von Experten, über Jahrzehnte zusammengetragen hat. Reinhold möchte, dass diese Schätze nicht in Magazinen verstauben. Also baut er Museen für sie. Kunst soll bei freiem Eintritt zu besichtigen sein, für seine Mitarbeitenden, aber auch für jeden anderen.

Jakob

Die „Schutzmantelmadonna“ von Hans Holbein d.J. © Philipp Schönborn, bereitgestellt durch Sammlung Würth

Das Madonnen-Gemälde sei fertig, wird gemeldet. In Anspannung empfängt Jakob den Künstler. Schon beim ersten Blick ist er erleichtert: Jakob findet sich bestens getroffen. Da kniet er, der gestürzte, aber stolze katholische Bürgermeister, fromm und voll aufschauender Demut zum Gebet. Ja, er beugt sich, aber nicht dem Trend der Zeit, sondern der alten Göttlichkeit. Und die heilige Gottesmutter nimmt als Dank für seine unerschütterliche Loyalität ihn und seine Familie unter ihren Schutzmantel. Jakob ist zufrieden. Das Bild kommt auf seinen Hausaltar.

Reinhold

Reinhold gilt in seiner Heimat als ein lebendes Beispiel für erfolgreiches Unternehmertum, er zählt zu den reichsten Menschen der Welt, seine Firmen machen Milliardenumsätze. Jetzt ist Reinhold schon im hohen Alter, und er könnte alles haben, was man sich auf dieser Welt kaufen kann. Als Mäzen und Sammler hat er die wirtschaftliche Existenz zahlreicher Künstler gefördert und ihrem Lebenswerk in Museen dauerhafte Geltung verschafft. Dann hört er von einem Bild, über dessen Geschichte viel gestritten worden war, und das nun zum Verkauf steht. Im Jahr 2011 bezahlt er dafür den höchsten Preis, der jemals für ein Bild innerhalb Deutschlands entrichtet wurde: Man weiß nicht genau, wieviel, aber es sind mehr als 40 Millionen Euro.

Die Madonna lädt ein

Die Johanniterkirche in Schwäbisch-Hall, Standort „Alte Meister“ in der Sammlung Würth

In die württembergische Provinz muss man pilgern, nach Schwäbisch Hall, um den Geist dieser zwei Männer kennenzulernen: Den selbstbewussten Geldhändler Jakob Meyer („zum Hasen“) aus Basel, der zum Bürgermeister aufstieg, und der sich seine Religion nicht von den Moden der Zeit austreiben lassen wollte. Und den Schraubenhändler Reinhold Würth aus Künzelsau, dessen mit Disziplin und Beharrungsvermögen erarbeitetes Vermögen gemeinsam mit seinem Kunstverstand bewirkte, dass eines der teuersten Bilder der Welt nicht in New York, Paris oder London, sondern in Schwäbisch Hall zu erleben ist. Es ist jene „Schutzmantelmadonna“ von Hans Holbein d.J., die 1526 entstand und heute, gesichert hinter Panzerglas wie die Mona Lisa im Louvre, den Höhepunkt einer kleinen, aber sehr feinen Sammlung süddeutscher Sakralkunst des ausgehenden Mittelalters bildet. Im gotischen Gewölbe einer früheren Kirche – jetzt eines der Museen der Sammlung Würth – blickt sie auf uns herab und lädt uns ein zum Nachdenken darüber, was bleibt, und was vergeht. Eintritt frei.

 

 

Mehr über die Sammlung Würth und ihre Museen: https://kunst.wuerth.com/de/portal/startseite.php – und speziell zur Sammlung alter Meister in Schwäbisch Hall: https://kunst.wuerth.com/de/johanniterkirche/austellungen/aktuelle_ausstellungen_1/aktuelle-ausstellungen.php

Eine Zusammenfassung der außergewöhnlichen Geschichte der „Darmstädter Madonna“ bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Darmst%C3%A4dter_Madonna

Dieser Text bemüht sich um eine Einordnung der beiden beschriebenen Persönlichkeiten auf der Basis zugänglicher Quellen, enthält aber auch einzelne frei assoziierte Details, um den Erzählfluss zu fördern.  Das Essay ist Teil einer Serie über außergewöhnliche kulturelle Ereignisse und Strukturen im ländlichen Raum. Siehe dazu auch das Essay „Tonleiter des Glücks“