Das ganze Bild ist größer als unser Ausschnitt

Über Hilfspaletten, Panzer und zwei Engel – Ein Essay über unsere Betrachtung der Wirklichkeit

Bilder von einem Flughafen: Palettenweise werden Decken, Zelte, Nahrungsmittel verladen. Hilfe ist unterwegs zu den eingestürzten Häusern, zu den verzweifelten Menschen in der Türkei und in Syrien, die mit bloßen Händen in den Trümmern graben. Was sagt das über diejenigen, die jenseits der Kameras leiden, deren Angehörige schon tot sind, für die solche Hilfe zu spät kommen wird?

Zu sehen ist das Bild von einem Panzer. Behängt mit Tarngeflecht rollt er durchs Gelände, überwindet Hindernisse scheinbar mühelos. Drohend richtet er sein Gefechtsrohr auf ein Ziel, das wir nicht sehen.

Zu sehen sind Waldbrände und Überschwemmungen. Menschen kämpfen um ihr Überleben. Es hat etwas zu tun mit der verschwenderischen Art und Weise, in der in den hochentwickelten Ländern gelebt wird. Hier nennt man es „Freiheit“, was anderswo den Tod bedeuten kann. Was ist das ganze Bild?

Zu sehen ist ihr Abbild auf Abermillionen Kaffeetassen, Papierservietten, Postkarten, Aufklebern. Es sind immer die gleichen zwei Engelchen mit ihrem lustigen Gesichtsausdruck. Nur die wenigsten wissen: Das ganze Bild, aus dem sie stammen, ist viel größer.

Jeder kennt die putzigen Engelchen …

Jeder will ein Selfie mit den Engeln

Das ganze Bild hängt in Dresden. Es ist mehr als zweieinhalb Meter hoch und zwei Meter breit. Es zeigt eine Madonnendarstellung mit Kind. Für die „Galerie Alte Meister“ in der sächsischen Landeshauptstadt ist die „Sixtinische Madonna“ des italienischen Renaissance-Malers Raffael so bedeutend wie die Mona Lisa für den Pariser Louvre. Menschentrauben bilden sich vor dem mehr als 500 Jahre alten Madonnenbild, ordnend muss das Personal eingreifen, damit alle ein Selfie machen können. Anders als in Paris steht aber gar nicht das zentrale Bildmotiv im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern ein kleiner Ausschnitt am unteren Rand: Jene zwei kleinen Engel, die wir alle kennen.

Das Maler-Genie Raffael hat sie hinzugefügt, vielleicht ein alberner Scherz, um der frommen Darstellung eine gewisse Leichtigkeit zu verleihen. Oder um durch die nach oben gerollten Augen der Engelchen den Blick der Betrachtenden auf die Madonna zu lenken. Das ist nicht gelungen. Schon seit vielen Jahrzehnten sind die beiden Babyengel die Stars dieses Bildes, die große Madonna und ihr Kind wurden in der Wahrnehmung vieler Museumsbesucher zur Nebensache.

Das ganze Bild steht für Glauben – und einen Krieg

… aber nur wenige das ganze Bild, das uns zur Auseinandersetzung mit Glauben und Krieg zwingen würde. (Fotos: Gemäldegalerie Alte Meister Dresden)

Das ganze Bild anzusehen, würde bedeuten: Sich auseinandersetzen mit den großen Fragen der christlichen Religion. Für sich zu klären, ob es möglich ist zu glauben an eine Mutterschaft von Maria, und daran, dass hier ein Kind geboren wurde, das Menschen Halt und Erlösung geben kann. Zum ganzen Bild gehört auch: Das heute so wertvolle Bild war ein Geschenk des damaligen Papstes an den italienischen Ort Piacenza als Dank für einen in seinem Sinne gewonnenen Krieg.

Da ist es doch viel einfacher, sich an die kleinen Engel zu halten.

Mit den Hilfsgütern, den Panzern und den Wetterkatastrophen könnte es ähnlich sein. Es tut gut, sich mit Bildern von zügig anrollender Hilfe für die Verzweifelten zu beruhigen. Es ist leicht, sich gut inszenierte Firmenvideos von dahinrauschenden Leopard-Panzern auf einem Übungsgelände anzusehen. Tausendmal gefälliger sind diese Bilder als eine schmerzhafte Vorstellung davon, was dieses schwere Geschütz im kriegerischen Echt-Einsatz anrichtet. Man müsste sich ein ganzes Bild machen von der Verwüstung, der Angst, dem Tod, den es bringt.

Und auch dieses Bild wäre noch nicht groß genug. Denn es müsste auch und zuerst all das Leid zeigen, das der russische Angriffskrieg in der Ukraine erst verursacht hat, die Opfer an Leben, Körper und Psyche, die er täglich neu fordert. Es würde ein überfallenes Volk zeigen, das sich nun mit dieser besseren Waffe wehrt.

Die Panzer wirken wie Spielzeug

Doch was ist das? Da schwebt ein Ballon durchs Bild. Wo kommt der denn her? Schnell zwei Finger genommen und das Bild so gezoomt, dass der Ausschnitt, den wir sehen, noch größer wird. Ein Ballon kundschaftet da möglicherweise die Atomressourcen der USA aus. Er kommt angeschwebt aus China, einem riesigen Land, das keinen Hehl daraus macht, sich eine vergleichsweise kleine Insel einverleiben zu wollen. Die Menschen auf dieser Insel verlassen sich in ihrem Wunsch nach Eigenständigkeit auf den atomaren Schutz, über dem der Ballon gerade schwebte. Wie übrigens die Menschen in Deutschland auch.

Das Bild ist jetzt zu groß, um das Leid der verzweifelten Erdbebenopfer überhaupt noch erkennen zu können. Die Überschwemmungen und Waldbrände verschwinden im Nichts. Die furchteinflößenden Panzer wirken wie winziges Spielzeug. Und doch ist der Ausschnitt noch immer zu klein.

Wer nicht in die ISS steigen oder auf den Mond fliegen möchte, findet die entsprechenden Bilder im Internet. So schön blau ist unser Planet! Eine blau-weiß geäderte Murmel, eine marmorierte Perle, bewohnen die Menschen in den unermesslichen Weiten des Alls. Sie genießen das Glück des Zufalls, der diesen Planeten nach unserem Wissen einzigartig macht: Sonnenverwöhnt, aber noch nicht verbrannt, da gerade im richtigen Abstand zum Glutofen der Sonne. Wasserreich, aber noch nicht überflutet. Dank seiner schützenden Atmosphäre noch immer Heimat für Millionen Arten von Leben.

Das ganze Bild erzählt von Schönheit und Komplexität

Das ganze Bild. Foto: NASA

Wofür steht dieses ganze Bild? Es erzählt uns von strahlender Schönheit, aber auch von Komplexität, die es auszuhalten gilt. Mancher Wohlstandsmensch lehnt sich vorschnell beruhigt zurück, weil ein paar Hilfsgüter-Paletten rollen. Zu eilig wird gejubelt über Panzer, und zu hastig wird in wenigen Zeilen als gewissenloser Kriegstreiber verdammt, wer anders denkt. Jeder Ahnungslose weiß plötzlich Bescheid, wenn es um Wetterphänomene, Straßenblockaden oder Tempolimits geht.

Es ist leicht, sich die putzigen Engelchen herauszupicken aus dem ganzen Bild! Aber es ist auch billig.

 

Zur Geschichte des Gemäldes „Sixtinische Madonna“ von Raffael Santo – und insbesondere zur Rolle der zwei berühmten Engelchen, der „berühmtesten Lümmel der Kunstgeschichte“ habe ich das hier gelesen: https://www.welt.de/kultur/article1484114/Die-beruehmtesten-Luemmel-der-Kunstgeschichte.html

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Schaut auf diese Frau! – Ein Appell

Über den Mut, das Richtige zu tun

Wie würde sich dieser Moment anfühlen, wenn ich mutig wäre? Der Moment, in dem ich spüre, was die Folgen meines Handelns, meiner Entschlossenheit sind? Der Moment, in dem die Männer herbeieilen, die mich packen würden, rüde, mit festem Klammergriff, die mich abführen würden mit ernstem Blick? Die sich dabei sicher im Recht glauben würden, weil sie Teil der Macht sind? Wie würde ich mich fühlen, wenn sie mich anschreien, herumschubsen, hinführen zum Abgrund?

Die mutige Marina Owsjannikowa im russischen Staatsfernsehen. Ihr weiteres Schicksal muss im Blick bleiben!

Dies hier ist die Geschichte von zwei jungen Frauen, die genau dies erlebt haben. Sie stehen für hunderte Männer und Frauen, die für ihren Mut teuer bezahlen mussten, obwohl sie auf der richtigen Seite der Geschichte standen. Sie stehen für jede kluge, mutige Tat, für jeden Moment der Courage, für jeden Augenblick, der uns spüren lässt, wie kleinmütig und ängstlich wir sind.

Sophie wollte nicht weglaufen

Der Moment nach dem Mut: Sophie spürte ihn am Rande der Balustrade in der Aula der Münchner Universität. Vielleicht war es ein Frösteln, ein Erschrecken, ein Entsetzen der Erkenntnis. Gerade hatte sie Flugblätter hinabregnen lassen in das weite Treppenhaus, zu hunderten waren sie geflattert, getänzelt, gesegelt in der akademischen Luft. Was da herabfiel auf die marmornen Treppenstufen, wollten die Mächtigen nicht lesen, und es sollten nach ihrem Willen auch andere nicht lesen. Der Hausmeister hatte Sophie entdeckt bei der verbotenen Tat, war herbeigeeilt und hatte sie festgehalten mit kräftigem, selbstgewissem Zugriff. Sophie fuhr der Schreck der Entdeckung in die Glieder, aber sie wollte gar nicht weglaufen.

Marina wusste, was ihr bevorsteht

Was genau mit Marina geschah, als sie ihren Moment nach dem Mut erlebte, wissen wir nicht. Also stellen wir es uns einfach vor: Marina stand vermutlich noch immer mit ihrem handgemalten Plakat im Fernsehstudio, hinter der ratlos erstarrten Moderatorin. Wahrscheinlich herrschte große Aufregung im Studio, keiner wusste genau, wie damit nun umzugehen ist: eine Kollegin im Bild, die dort nicht hingehörte mit einem Plakat, das man auf keinen Fall zeigen durfte. Hektisch schaltete die Regie das Bild um. Kolleginnen und Kollegen könnten um sie herumgestanden sein, ratlos, entsetzt, bewundernd, geschockt. Dann vielleicht stürmte ein Mann herbei, stellte Marina zur Rede, schrie sie an: „Weißt Du, was das hier bedeuten wird?“

Marina wusste ganz genau, was ihr bevorstand. Soeben war sie für einige Sekunden in die Hauptnachrichtensendung des russischen Fernsehens gestürmt, hatte ein Plakat entrollt und sich damit ins Bild gestellt. Auf dem Plakat standen Worte, die die Mächtigen nicht hören wollten und das Volk nicht lesen sollte.

Ein Auftritt für die Geschichtsbücher

Sophies Flugblätter konnte der Hausmeister einsammeln, und doch war ihre Botschaft in der Welt: „Jeder Mensch hat einen Anspruch auf einen brauchbaren und gerechten Staat, der die Freiheit des Einzelnen, als auch das Wohl der Gesamtheit sichert.“

Sophies Mut liegt fast achtzig Jahre zurück. Marinas Mut können wir uns ansehen, einmal, mehrfach, immer wieder. Marina und ihr Plakat – diese Bilder sind unwiederbringlich in der Welt, nicht mehr auszulöschen, sie stürmten durch die sozialen Kanäle, aber-millionenfach geteilt, kommentiert, bewundert. Ein politisches Ereignis, ein Moment des Mutes, der in die Geschichtsbücher eingehen kann.

Eintrag von Sophie Scholl als 10jährige in einem Poesiealbum: „Lass nie den frohen Mut dir rauben …“  Quelle: www.http://www.sophie-scholl-in-ludwigsburg.de/ (Klick auf das Bild verlinkt zur Seite)

 

In einem Poesiealbum aus dem Kreis ihrer damaligen Freundinnen hat Sophie schon früh dem Mut zugesprochen: „Lass nie den frohen Mut Dir rauben, und halte fest an Deinem Glauben“, steht da in schöner Sütterlinschrift; dekoriert hat das zehnjährige Mädchen die Seite mit Blumen. Sophie war in einem liberalen, evangelisch geprägten Elternhaus im Schwäbischen aufgewachsen, ihr Vater war Kommunalpolitiker, ihre Mutter eine Diakonissin, die erst aus Anlass der Eheschließung ihren Orden verließ. Sophie hatte gelernt, eine eigene Meinung zu haben, sie zu vertreten und die Konsequenzen dafür zu tragen.

Marina ist 43 Jahre alt und Mutter von zwei Kindern. Ihr Vater sei Ukrainer, ihre Mutter Russin, so ihre eigene Aussage. Sie war Redakteurin des staatlichen Fernsehens in Russland und ist verheiratet. „Stoppt den Krieg, glaubt der Propaganda nicht. Hier werdet Ihr belogen!“ stand auf ihrem Plakat. „Russland ist der Aggressor. Ich schäme mich dafür, in der Vergangenheit für Kreml-Propaganda gearbeitet zu haben,“ sagt sie im Videostatement, das ihre mutige Aktion begleitet.

Was sie jetzt erwartet sind bis zu 15 Jahren Haftstrafe, endlose Demütigungen, Ächtung ihrer Familie, Trennung von den Kindern. Vielleicht auch der Tod, wenn der Diktator es will.

Mut kann den Tod bedeuten. Mut behält Recht

Sophie Scholl bezahlte zusammen mit den anderen Studierenden der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ für ihren Mut mit dem Tod. Eine Woche lang wurde sie verhört, gequält, gedemütigt – dann nach einem absurden Tribunal von brüllenden Nazi-Richtern am 22. Februar 1943 zum Tode verurteilt und noch am gleichen Tag in München hingerichtet. Sie hat Recht behalten. Stumm verneigen wir uns vor ihrem Mut, der ein Opfer war für die Wahrheit und dafür, dass wir heute so leben können, wie wir es tun.

Sophie Scholl ist tot. Nach allem, was wir wissen, lebt Marina Owsjannikowa. Ihr hilft es nicht, wenn wir stumm bleiben. Ihr Mut darf nicht vergessen werden. Sie hat uns ein Beispiel gegeben dafür, dass die Welt nicht besser wird, wenn wir alle mutlos bleiben.

Schaut auf das weitere Schicksal dieser Frau!

 

Eine gute Zusammenfassung der Aktion von  Marina Owsjannikowa im russischen Staatsfernsehen finden Sie hier: https://www.dw.com/de/antikriegsprotest-im-russischen-tv/a-61132371

Über die Widerstandsbewegung „weiße Rose“ und das Schicksal von Sophie Scholl informiert die Bundeszentrale für politische Bildung: https://www.bpb.de/themen/nationalsozialismus-zweiter-weltkrieg/weisse-rose/

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Der Krieg ist da – Eine politische Erzählung

Ein warmer Augusttag, mitten in den Schulferien. Eigentlich Hochsommer, aber es war nicht so warm, dass das gemeinsame Abendessen im Garten einladend gewesen wäre. Die Mutter klapperte in der Küche herum, bald sollte es ein klassisches Abendbrot geben: Schwarzbrot, Käse, Wurst, ein paar saure Gurken. Der Zwölfjährige lümmelte im heimischen Wohnzimmer auf dem Sofa herum. Ein Strahl der Abendsonne brach durch die Wolken und ließ die hölzerne Bücherwand kurz aufglänzen: Tolstoi, Mann, Kafka – der Blick des Kindes huschte über die vertrauten Rückenbeschriftungen. Dann blätterte es weiter in der neuen „Micky Maus“, gerade heute noch vom Kiosk geholt, mit Taschengeld bezahlt.

Der Vater stürmte zum Radio

Der Junge blickte auf, als sich die Türe öffnete und sein Vater hereintrat, nein, hereinstürmte. Ernst schaute er drein, der Vater, kein Lächeln wie sonst, kurz nur und ohne Blickkontakt, war sein Gruß. Er musste eben aus der Arbeit zurückgekommen sein, die Haustüre war gar nicht zu hören gewesen. Vielleicht war sie auch offen gestanden, wegen dem Sommer, oder wegen dem Hund. Jetzt stürmte der Vater zum Radio, diesem großen Holzkasten mit der Stoffbespannung und der goldwarm leuchtenden Tabelle mit den faszinierenden Ortsnamen, dahinter der rote Strich, der sich bewegen ließ. Nervös drehte der Vater an den beiden Knöpfen, lauter soll es werden, und besser verständlich. Im Zischen und Rauschen des Äthers soll das Gerät einfangen, was los ist in dieser Stunde.

„Was ist denn los?“, fragte das Kind, aber der Vater antwortete nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit galt dem Rauschen und Knacken, das da aus dem Trichter quoll, der sich hinter der beigen Stoffbespannung schemenhaft abzeichnete.  Endlich hatte er einen Sender gefunden, der nicht Musik dudelte, nicht Schlager spielte oder Volksmusik.

„Die Regierung der Tschechoslowakei hat entschieden,“ sagte eine ernste Männerstimme, „der Intervention der Truppen aus der Sowjetunion, aus Ungarn, Polen und Bulgarien keinen militärischen Widerstand entgegenzusetzen“. Der Vater atmete tief durch.

„Was ist denn los?“, wiederholte der Sohn seine Frage.

„Es könnte wieder Krieg geben“, sagte der Vater

„Es könnte wieder Krieg geben“, antwortete der Vater leise. Seine Aufmerksamkeit galt noch immer nicht dem fragenden Kind, sondern den Nachrichten aus dem Radio.

Sowjetische Panzer auf dem Wenzelsplatz in Prag am 21. August 1968 (Foto: FaceMePLS, flickr, CC BY 2.0)

Dort fasste der Sprecher die Ereignisse des Tages zusammen: Nachdem eine demokratisch und freiheitlich geprägte Reformbewegung in der Tschechoslowakei umfassende Reformen zur Liberalisierung der sozialistischen Staatsordnung eingeleitet hatte, waren am frühen Morgen dieses Augusttages Panzer der „sozialistischen Bruderstaaten“ unter Führung der Sowjetunion in das Land eingerollt und bis in das Zentrum von Prag vorgestoßen. Verzweifelte Bürger hatten sich ihnen entgegengestellt, aber sie hatten keine Chance gegen die Drohung der Stahlketten und Geschütze.

„Wenn sie sich nicht wehren“, murmelte jetzt der Vater, „muss es vielleicht keinen Krieg geben.“

„Warum Krieg?“ Das Kind war zu ratlos, um besorgt zu sein. „Ich dachte, das ist vorbei, das kommt nie wieder. Hast du immer gesagt!“

„Ja, dachte ich auch.“ Der Blick des Vaters ging jetzt hinaus zum Fenster, vorbei an den Büchern, hinaus in den Vorgarten, auf die akkurat gestutzte Hecke, den grünen Rasen. Der Dackel sprang darauf herum.

„Dachte ich auch“, wiederholte der Vater.

Krieg – Ein Wort mit dem Klang von unwiederbringlich Vergangenem

Wieder Krieg – hier? Entsetzt starrte das Kind den Vater an. Hier, in unserem Städtchen? Hier in unserem Wohnzimmer? Unvorstellbar. Krieg – Das Wort war so groß, sein Klang hatte etwas unwiederbringlich Vergangenes. Krieg, das war etwas aus der Welt seiner Eltern, etwas aus ihrer Geschichte, mit der er nichts, aber auch gar nichts, zu tun hatte. Krieg? Obwohl der Familienurlaub noch bevorstand? Krieg? Geht man im Krieg eigentlich auch zur Schule?

Natürlich wusste der Sohn um den Krieg, der zehn Jahre vor seiner Geburt zu Ende gegangen war. Er kannte die Schwarz-Weiß-Bilder der Zerstörung. Es waren Bilder von rauchenden Ruinen und zerlumpten Menschen, denen man ansah, dass sie nichts mehr hatten, nur sich selbst. Der Sohn hatte die Geschichten gehört von der Flucht seiner Mutter, von der Kriegsgefangenschaft des Vaters. Aber gerne darüber reden – das wollten die beiden ohnehin nicht.

Nun lebten sie seit zwanzig Jahren als Familie in Süddeutschland, hatten sich eine neue Existenz aufgebaut. Sie waren angekommen in einem Leben mit wiedererlangtem bürgerlichem Wohlstand, mit Haus und Garten, Dackel und vier Kindern. Nur Hohn und Spott hatten die Eltern übrig für die Ewiggestrigen, für Vertriebenenverbände und Heimatvereine, die davon träumten, dass man die Folgen der kriegerischen Katastrophe wieder rückgängig machen könnte.

„Wenn die Amerikaner eingreifen, dann gibt es wieder Krieg,“ hörte das Kind jetzt den Vater. „Wenn sich die Tschechen aber nicht wehren, dann werden die Amerikaner auch nicht eingreifen.“

Der Verzicht darauf, sich zu wehren, sicherte den Frieden

So kam es. Die Freiheitsbestrebungen der Menschen in der Tschechoslowakei waren im „kalten Krieg“ dem westlichen Bündnis unter Führung der USA schlicht nicht wichtig genug gewesen, um einen Krieg zu riskieren. Sie wollten nicht die Stabilität einer Weltordnung gefährden, in der nun einmal die Tschechen und die Slowaken zur Einflusssphäre der Sowjetunion gehörten. Das wusste auch die reformerische Führung der Tschechoslowakei, sie verzichtete auf Gewalt, musste das Diktat Moskaus akzeptieren und nahm alle Reformen zurück. Die Verantwortlichen des „Prager Frühlings“, wie der Westen die kurze Phase reformerischer Liberalisierung im Frühjahr und Sommer 1968 nannte, wurden in Moskau inhaftiert und mussten um ihr Leben fürchten. Ihre Entscheidung, sich nicht zu wehren, sicherte damals für Europa den Frieden.

Es ist bekannt, wie es weiterging. Das sowjetische Machtsystem, der „Ostblock“, kontrollierte die Hälfte Europas noch zwanzig Jahre lang, bis es völlig überaltert und reformunfähig kollabierte. Unter dem Reformer Gorbatschow zerfielen die Blöcke. Die meisten europäischen Staaten nutzten die Chance auf Selbstbestimmung, und den Deutschen bescherte sie noch dazu das Glück eines wiedervereinigten Heimatlandes.

„Dies ist Putins Krieg“, sagt der Kanzler

Nun ist es ein frühlingshafter Februartag, und das Kind von 1968 ist längst älter als sein Vater es damals war. Fassungslos sitzt der erwachsene Mann vor dem Fernseher und verfolgt die Bilder aus der Ukraine: Heulende Sirenen und von Flüchtenden verstopfte Straßen in einer europäischen Hauptstadt, deren Regierung demokratisch gewählt wurde. Bilder von rollenden Militärkolonnen und  Bombenkratern und einem russischen Präsidenten, der mit absurden Falschdarstellungen einen Angriffskrieg rechtfertigen will.

„Dies ist Putins Krieg“, sagt der Bundeskanzler. Krieg? Hier in Europa? Krieg? Es sind die vermeintlichen Wahrheiten der letzten fünfzig Jahre, die hier zusammenstürzen: Dass wir die Feindschaften auf diesem Kontinent für immer überwunden hätten. Dass wir gelernt hätten, Streit friedlich lösen zu können und nicht mit Waffen. Dass es universale Menschenrechte gibt, auf Freiheit und Selbstbestimmung, auf Frieden und Unverletzlichkeit von Grenzen. Dass wir uns pazifistisches Denken und den Luxus einer kleinen Armee gönnen könnten zugunsten von niedrigen Steuern. Dass wir uns Wohlstand durch Handel sichern könnten, anstatt aufeinander zu schießen.

53 Jahre sind vergangen. Röhrenradios gibt es nur noch in Vintage-Läden, der Dackel ist tot und die Bibliothek der Eltern in alle Winde zerstreut. Der bange Blick richtet sich auf den Bildschirm, auf das Display des Smartphones. Wird sich die Ukraine wehren? Der Krieg ist da.

 

Mehr Informationen über den „Prager Frühling“ z.B. auf der Website der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: https://osteuropa.lpb-bw.de/prager-fruehling

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