Schiller war schon in Sindelfingen

Eine kurze Reise zu zwei Buchstaben-Erlebnissen

Briefe, überall Briefe. Es ist wie aus der Zeit gefallen, was da zu besichtigen ist auf der Bühne des Stuttgarter Schauspielhauses. Denn wer schreibt noch Briefe? Ein paar Worte, einen Gedanken, etwas Persönliches auf ein Blatt Papier zu ver-„ewigen“ (was für ein Wort!), es damit einzigartig zu machen, unveränderbar, nicht weiterleitbar mit ein paar Klicks, sondern es in einen Umschlag zu stecken, ihn zu verschließen und darauf zu hoffen, dass das Gegenüber erreicht wird, vielleicht tagelang warten und bangen, wie es reagiert – wer macht das noch?

Briefe, überall Briefe: Szene aus der aktuellen Inszenierung von „Don Carlos“ im Schauspiel Stuttgart (Frida-Lovisa Hamann (Elisabeth), Matthias Leja (Philipp II.) Foto: Thomas Aurin, bereitgestellt von Schauspiel Stuttgart

Dem Theaterfreund wird das ganz nebenbei vor Augen geführt in der neuen Inszenierung von Schillers Klassiker „Don Carlos“, verantwortet vom Regieteam um David Bösch. Das „dramatische Gedicht“ von Friedrich Schiller ist fast 250 Jahre alt, und die kommunikativen Optionen von heute waren nicht vorstellbar. Wer nicht sprechen wollte oder konnte, musste Briefe schreiben. Also gibt es eine Szene, in der die ganze Bühne übersät ist von Briefen. Mit den Briefen treibt Schiller die Handlung voran, sie sind Trigger des weiteren Geschehens, lösen bei Empfängern jubelnde Begeisterung oder kochende Wut aus, stacheln an zu neuen Briefen, die dann ihrerseits ihre Wirkung erzielen. Viele davon sind keine langen, klug durchdachten Briefe, oft sind es schnell hingekritzelte Zeilen: Hier eine geheime Einladung, dort ein schmachtendes Geständnis, da ein giftiger Verdacht, ein Verrat sogar, Teil einer bösen Intrige.

Scharfsinniges Psychogramm

Schillers „Don Carlos“ ist ein vielschichtiger Stoff und soll hier gewiss nicht auf die Rolle der Briefe reduziert werden. Das scharfsinnige, hochaktuelle Psychogramm eines Konfliktes zwischen Alt und Jung, auch zwischen Liebe und Vernunft, das in Stuttgart aus diesem alten Stoff herausgearbeitet wurde, muss man selbst erleben. Ein Abend für Genießer klug gesetzter Worte!

Und so ist es auch eine schmale Brücke, über die zu gehen mit diesen Zeilen eingeladen wird, wenn die heutige Entsprechung zu den Briefen in Schillers Welt von einst gesucht wird. Die Verbindung besteht aus dem Rohmaterial, den 30 Buchstaben des deutschen Alphabets, denn daraus formte schon damals und bis heute ein jeder Mensch den Sinn seiner Worte. Frau wie Mann kann damit zart berühren, tief verletzen, klug informieren. Die Buchstaben sind es, aus dem gleichermaßen ein nachdenklicher Theaterabend werden kann, oder eine unverständliche Gebrauchsanleitung, oder auch ein vernichtender Streit, ein geflüstertes Geständnis.

Schnell ist das böse Wort gebildet

Friedrich Schiller brauchte vier Jahre für seinen „Don Carlos“, aber die vielen Briefe in seinem Drama beweisen: Schon damals wurde aus den Buchstaben schnell das böse Wort gebildet, eilig, vielleicht auch unüberlegt, hingeworfen auf ein Blatt Papier. Heute, schnell hineingetippt in den virtuellen Raum, bleiben sie dort erhalten, lassen sich nicht zerknüllen oder verbrennen, sondern krallen sich fest im digitalen Gedächtnis, haben Beweiskraft und Vernichtungsenergie. Und wer weiß schon, wer noch zuhört oder mitliest? Auch ganz öffentlich werfen sich in sozialen Medien die Menschen manches Lob, viel Spott, oft abwertende und verletzende Kommentare zu, halten fest an unerbittlichem Beharren auf die eigene Sicht der Welt und dokumentieren selbstverliebt ihre Weigerung, einfach einmal zuzuhören.

Aus Buchstaben wurden schon immer erhebend schöne, genauso wie hässlich verletzende Worte gebildet. Aber vor 250 Jahren gab weniger Menschen auf der Welt, viele konnten gar nicht schreiben, und wenn doch, hatten ihre Briefe meist nur einen einzigen Adressaten. Heute dröhnt uns das lärmende Dauergetöse Tinnitus-gleich in den Ohren, ein stetes Rauschen und Pfeifen und Stampfen aus Buchstaben, Worten und Sätzen.

Wo herrscht Stille? In Sindelfingen.

Wo also herrscht ein Moment der Ruhe in diesen lauten Zeiten? In Sindelfingen. Und zwar in einem Raum, der voller Buchstaben ist, und in dem gerade deshalb jede hitzige Debatte verstummt. Eine Halle des „Schauwerk“ war einmal ein industrielles Hochregallager, ein hochkant gestellter Quader. Seine fünfzehn Höhenmeter, seine luftigen 130 Quadratmeter Grundfläche sind heute schmucklos weiß ausgepinselt und raffiniert ausgeleuchtet. Den Quader kann man in seiner ganzen Höhe ersteigen. Entlang der fensterlosen Wände schraubt sich der Weg sanft und schneckengleich der dunklen Decke entgegen.

„Silent Word“, eine Installation von Chiharu Shiota im Schauwerk Sindelfingen – ein erstarrter Strom der Inspiration.

Aber warum dort hinauf, da doch schon der erste Blick genügt für die Überwältigung, die stumm macht in unserer lauten Zeit, allenfalls ein Flüstern duldet? Ein schmucker Schreibsekretär steht da in der Mitte der Grundfläche, aufgeklappt, schreibbereit, ein Stuhl dazu, locker zur Seite geschoben.

Der Platz zum Schreiben ist schon belegt

Der Stuhl ist leer, und auch der Schreibplatz trägt kein Schreibgerät, kein Notebook, keine Schreibmaschine, nicht einmal Papier und Stift sind zu sehen. Der Platz fürs Schreiben ist schon belegt von Buchstaben und noch dazu unbenutzbar eingesponnen. Überall Fäden, hunderte, vielleicht tausend, wie ein erstarrter Regen ergießen sie sich hinab aus der dunklen Höhe des Raumes. An den Schnüren verharren die Buchstaben in ihrem Hinabgleiten, lautlos wie Schneeflocken, wie schwankendes Herbstlaub. Sie kommen aus der Decke, füllen den ganzen Raum bis hinauf in seine äußerste, von unten kaum ergründliche Höhe.

Also doch hinauf! Vorbei an diesem erstarrten Strom der Inspiration. Ganz oben unter der schwarzen Decke des Quaders scheinen die Buchstaben noch größer zu sein und der Schreibplatz unten ganz klein. In der Installation „Silent Word“ der japanischen Künstlerin Chiharu Shiota füllen die Lettern den ganzen hohen Raum bis hinab zum Boden, wo sie verwendungslos liegengeblieben sind.

„Meine Worte sind lautlos“, sagt die in Berlin lebende Künstlerin über ihr Werk. Wer sich also zutraut, aus den Buchstaben etwas zu formen, das es Wert ist, diese Stille zu durchbrechen, der setze sich an diesen oder einen anderen Schreibtisch. Wie es scheint, war Schiller war schon da.

 

 

„Don Carlos“ von Friedrich Schiller am Schauspiel Stuttgart hatte in einer modernisierten, gekürzten Fassung am 14. Januar 2023 Premiere. Zahlreiche weitere Aufführungen sind für Februar und März 2023 geplant: https://www.schauspiel-stuttgart.de/spielplan/monatsplan/don-carlos-/5949/

 

Das stille, raumgreifende Sprach-Kunstwerk „Silent Word“ von Chiharu Shiota ist noch bis 8. Oktober 2023 in Sindelfingen im „Schauwerk“ zu besichtigen, dem privaten Museum der Sammlung Schaufler:  https://www.schauwerk-sindelfingen.de/de/

 

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Unbeugsam-weiblich gegen den „Ökozid“ (27. September 2021)

Am Tag nach der Wahl steht nicht viel fest. Aber vermutlich wird es ein Mann sein, der Angela Merkel im Kanzleramt folgen wird. Er wird einlösen müssen, was die heutige Kanzlerin einmal für sich in Anspruch nahm: ein Klima-Kanzler sein.

In „Ökozid“ am Schauspiel Stuttgart muss Angela Merkel (hier die Schauspielerin Nicole Heesters) als Zeugin vor Gericht aussagen. Foto: Björn Klein

Diese Vorrede lenkt den Blick auf ein aktuelles Kultur-Ereignis am Schauspiel Stuttgart. Dort sind es Frauen, die zu Gericht sitzen, und es sind Frauen, die sich verteidigen. Wir befinden uns gedanklich im Jahr 2034, und eine dann stolz-ergraute Angela Merkel, seit 13 Jahres aus dem Amt geschieden, wird als Zeugin befragt. Sie wird gespielt von Nicole Heesters als noch immer hoch kontrolliert in ihren Bewegungen, ihren Aussagen, ihrem Auftritt. Hätte sie die Klimakatastrophe abwenden können, wenn sie gemäß dem gehandelt hätte, was bereits bekannt war?

Vorwurf: Untätigkeit gegen die Katastrophe

Die Rede ist von dem Schauspiel „Ökozid“ (Premiere war am 24. September). Den Vorsitz in einem Internationalen Gerichtshof führt eine strenge, verständige Richterin, die Anklage wird von zwei Frauen vertreten: einer stimmgewaltigen Sprecherin des Verbundes der 31 klagenden Staaten „des globalen Südens“ und ihrer Anwältin. In dieser Besetzung unterscheidet sich das Theaterstück, das in Stuttgart uraufgeführt wird, von dem gleichnamigen Film, der im November letzten Jahres bei der ARD zu sehen war. Auch sonst hält der Theaterabend zahlreiche künstlerische Überraschungen und Ergänzungen parat, der den Besuch lohnen lässt, auch wenn man den Film bereits gesehen hat.

Zur Sprache kommt alles, was uns in den zurückliegenden Wochen des Bundestagswahlkampfs täglich beschäftigt hat, und es in den kommenden noch viel dringlicher tun wird. Hätten die deutschen Regierungen seit Gerhard Schröder es hätten besser wissen können? Hat Deutschland im internationalen Zusammenspiel der klimafeindlichen Kräfte überhaupt relevantes Gewicht? Verletzt die Untätigkeit des Nordens gegenüber den erkennbaren Folgen einer Klimakatastrophe vor allem im Süden der Weltkugel grundlegende Menschenrechte, wie sie die UN-Charta allen Menschen gleichermaßen verspricht? Oder ist alles ganz anders, war davon nichts erkennbar, ist irgendwas davon noch strittig oder nicht?

Empörende Erfahrungen im Wahlkampf

Männer spielen während dieses nachdenklich machenden und trotzdem unterhaltsamen Theaterabends allenfalls kauzige Nebenrollen. Sie plustern sich auf in oft substanzloser Rechthaberei, womit eine Brücke gebaut wäre zu einem geschlechterspezifischen Blick auf den Wahlkampf und auf das, was nun folgen wird in den Verhandlungen über eine neue Regierung. Der Blick zurück macht fassungslos. Wie selbstgerecht und rechthaberisch mit einigen Spitzenfrauen in diesem Wahlkampf umgegangen worden ist – oft, aber nicht nur, von Männern – ist für jeden sensiblen Geist eine empörende Erfahrung.

Frauen in der Politik können ganz generell darüber viel berichten. Daher hier nur einziges, aber besonders prominentes Beispiel aus den letzten Wochen: Die Republik zu „warnen“ vor einer Machtübernahme durch die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken, der unterstellt wurde, dass sie wie eine strippenziehende Mephista den SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz marionettenartig über die politische Bühne zappeln lassen würde – das adressierte zumindest zum größeren Teil nicht deren inhaltliche Aussagen. Sondern es appellierte an dumpfe Assoziationen, die sich gegen ihr selbstbewusstes Auftreten und ihre von manchen vielleicht als ruppig empfundene Sprechweise richteten.

Engagierte Frauen waren nicht willkommen, …

Also raus aus dem Theater, wenige Häuser weiter, rein ins Kino! In fast zwei Stunden breiten dort im aktuellen Film „Die Unbeugsamen“ politisch erfahrene Frauen aus, welche Mühen, Gemeinheiten, Niederlagen, Zurücksetzungen und Zumutungen aller Art sie aushalten mussten, bis sie in der Männerwelt der deutschen Nachkriegspolitik angekommen waren. Der Film lässt keine Zweifel offen, dass engagierte Frauen alles andere als willkommen waren, und auch, dass die Männer sich kaum Mühe gaben, ihre ehrverletzende Überheblichkeit wenigstens höflich zu verbergen. Um sich in diesem Umfeld durchzusetzen, mussten Frauen Männern so ähnlich wie möglich werden. Für einen ersten Einblick genügt schon der Trailer des Films (Link siehe unten). Die Verhältnisse sind zweifellos besser geworden – aber gut sind sie noch nicht, wenn im neu gewählten Bundestag der Frauenanteil von 31 auf gerade mal 35 Prozent gestiegen ist.

… sind jetzt aber Mehrheit und Stimme der Klimaaktiven

Beim Stuttgarter „Ökozid“ fehlt es den Frauen nicht an Macht. Trotzdem haben sie in der Diktion des Theaterstücks vollständig männlich versagt. Ihr Scheitern bei der rechtzeitigen Rettung der Welt ist im Schauspiel ein Generationenproblem, keines der Geschlechter. Daher die Frage: Vielleicht können Frauen doch die besseren Klimaretter sein? Weil sie sich als Mütter eben doch noch immer stärker mit dem Schicksal ihrer Kinder identifizieren, als dies Väter tun? Warum sonst hat Annalena Baerbock im Wahlkampf dauernd von ihren Kindern geredet, Olaf Scholz (keine Kinder) und Armin Laschet aber nicht? In der „Fridays for Future“-Bewegung dominieren nach einer Studie des Berliner Instituts für Protest- und Bewegungsforschung die jungen Frauen mit 60%. Alle wesentlichen Repräsentantinnen der Bewegung sind weiblich.

Vielleicht ist das nun die neue Generation unbeugsamer Frauen, die nach Kriegsende in der deutschen Politik fehlten. In der neuesten Folge des „unendlichen Podcast“ der ZEIT (Link unten) formuliert die Schauspielerin Nora Tschirner einen weiteren Aspekt. Für Frauen und für unsere Gesellschaft kann es nicht nur darum gehen, Männer an  ihren Machtpositionen gleichwertig zu ersetzen.  Als „Seitenprodukt“ des jahrhundertealten Patriarchats sei ein „Privileg auf Frauenseite entstanden, eine Weisheit in Beziehungen, Kommunikation, Gefühle und zwischenmenschlichen Geschichten“. Dieses Potenzial sei bisher gesellschaftlich noch nicht ausreichend hochgewertet.

Die Klimakrise fordert neue Kompetenzen

Mehr Weiblichkeit in diesem Sinne hätte der Politik in den letzten 50 Jahren vielleicht weniger Orientierung am Automobil ermöglicht, mehr Naturschutz durchgesetzt, vielleicht auch insgesamt weniger Wachstum und  weniger Reichtum in Kauf genommen, aber dafür eine andere Balance aus Arbeit und sozialem Leben ermöglicht, ein anderes Geben und Nehmen, weniger Raffen, mehr Fürsorge.

Für eine Abwendung der drohenden Klimakatastrophe benötigen wir genau all das. Schade, dass dieser Aspekt im Stuttgarter „Ökozid“-Prozess keine Rolle spielt. Er endet jedoch mit einer eindrücklich sinnlichen Inszenierung, die den Theaterbesucher hinunterzieht in die Flut der steigenden Meeresspiegel. Und wenig überraschend: Es ist eine junge Frau, deren Stimme uns dort hineinführt und uns darin ertrinken lässt.

 

„Ökozid“ ist am Schauspiel Stuttgart noch mehrfach bis November auf dem Spielplan, jeweils verbunden mit einer Rede von Klima-Aktiven: https://www.schauspiel-stuttgart.de/spielplan/a-z/oekozid-2021/

Der Trailer zu „Die Unbeugsamen“ ist hier zu finden, der Film läuft (noch) in den Kinos: https://www.youtube.com/watch?v=yLjAayYEgOQ

Der Podcast und die Videoaufzeichnung von „Alles gesagt“ mit Nora Tschirner dauert fast vier Stunden. Die hier zitierte Passage (und mehr zu ihrer Sicht auf modernen Feminismus) ist etwa zehn Minuten vor dem Ende zu finden: https://www.zeit.de/video/2021-09/6271162956001/lange-nacht-der-zeit-2021-alles-gesagt-mit-nora-tschirner-christoph-amend-und-jochen-wegner?utm_referrer=https%3A%2F%2Fverlag.zeit.de%2F