Die allerletzte Generation – Eine Polemik

Die letzte Generation? Zur Illustration des Textes dieser Polemik müssen hier symbolisch  jene sechs rechtschaffenen Bürger von Calais herhalten, die im 14. Jahrhundert bereit gewesen waren, ihr Leben zu opfern, damit ihre Stadt nach elf Monaten Belagerung vor Plünderung und Zerstörung bewahrt werden konnte. Ihr Mut beeindruckte die Frau des siegreichen englischen Königs Edward III. so sehr, dass sie bei Ihrem Gemahl einen Verzicht auf die Hinrichtung der sechs erreichte. Das Foto zeigt eine Vorstudie zur späteren Skulptur in lebensgroßen Figuren von Auguste Rodin (gesehen im Musée Rodin, Paris).

 

Schaut hin!

Schaut hin, da kommt er heran, der große Marsch der allerletzten Generation! Ein Zug von düsteren Gestalten nähert sich. Sind es Totengräber?

Vorne: Die Populisten

Vorne voran stapft schaufelschwingend die wohlgeordnete Abteilung der schwarzbraunen Populisten. Sie sind Schnäppchenjäger! Ihre Spaten haben sie im großen Kaufhaus der Vereinfachungen erworben. Jetzt, hier im großen Marsch, brüsten sie sich mit nationalem Stolz, aber dass ihre billigen Werkzeuge aus China oder Russland stammen, stört sie nicht. Daheim verschanzen sie ihre SUVs, die Statussymbole ihrer gedanklichen Ärmlichkeit, gut sichtbar hinter den hässlichen Zäunen ihrer gasbeheizten Reihenhäuser, ganz so wie dies früher ihre Väter mit den Gartenzwergen taten.

Einige von ihnen rasieren sich die Köpfe und tragen Springerstiefel. Manche arbeiten bei Springer und verätzen mit ihrem Gift den Konsens der Willigen. Viele aber stecken in maßgeschneiderten Anzügen und sonnen sich im Licht ihrer Ämter und Mandate. Sie verweigern sich bewusst kenntnisgetriebener Debatte, zum eigenen Vorteil lügen sie und missverstehen böswillig. Geschichtsvergessen und dummdreist schläfern sie ihr Publikum ein mit fadenscheinigen Versprechungen: Dass wir so weiterleben könnten wie bisher, oder dass wir noch Zeit hätten, bis das Klima kippt.

Dann: Die Besserwisser

Dahinter die nächste Abteilung im großen Marsch: Laut krakeelen die Besserwisser, die schon immer wussten, was richtig ist oder falsch, und doch gebückt daherkommen unter der schweren Last des Irrtums. Gnadenlos sind sie mit ihren Mitmenschen. Jeden grüblerischen Zweifel deuten sie als Schwäche, die sie mit Häme und Hass überziehen. Im kräftigen Bogen schütten sie Benzin auf das Publikum, damit es lichterloh brennen möge im Streit der Meinungen, damit nur niemand Luft holen kann zum Zuhören und Nachdenken. Denn das Zuhören, das Abwägen, das Nachdenken hassen die Besserwisser am allermeisten.

Weiter: Die Selbstgerechten

Was für ein Lärm dringt da voran? Laut und schrill tönen die Trompeten der Selbstgerechten. Eine Marschkapelle haben sie mitgebracht, aber sie spielt falsch. Die grünen, roten und gelben Töne passen nicht aufeinander. Ein Jedes hier macht seine eigene Musik, ohrenbetäubende Kakophonie bedrängt die Szene. Einige fordern lautstark mehr Tempo, andere stolzieren, staunend wie uneinsichtige Geisterfahrer, in die gegensätzliche Richtung.

Erschreckt wendet sich das Volk ab, hält sich die Ohren zu, blickt um sich, sucht den Dirigenten dieses Chaosorchesters. Da kommt er, ganz allein schlurft er hinter seiner tobenden Kapelle her, der Kanzler, der die ständigen Respektlosigkeiten seiner Musikanten duldet, obwohl er einst Respekt versprochen hatte.

In der Mitte: Die Masse der Unpolitischen

Die große Masse der Unpolitischen trottet heran. Schlaff am Boden schleift ihr Fähnchen, das sie in den Wind halten wollen. Jederzeit sind sie bereit, sich benachteiligt zu fühlen in einer Welt, die ihnen alles gibt zum Erhalt ihrer eigenen Dürftigkeit. Wohlig wichtig fühlen sie sich dabei, „wütend“ zu sein auf einen Staat, von dem sie erwarten, dass er sie versorgt mit Schulen, Straßen und Sozialleistungen. Von dem sie Sicherheit und Schutz erwarten, immer die Polizei in Bereitschaft, und dann Gerechtigkeit im Rechtsstaat, für dessen Erhalt sie aber keinen Finger krumm machen würden. Während sie sich diebisch freuen über jeden eingesparten Steuer-Euro, schimpfen sie lautstark über die verspätete Bahn und jede Straßenbaustelle.

Am Ende: Die schwarzen Männer der Kirche.

Nun ist er ganz still, der große Marsch. Stumm schreiten die schwarzen Männer der Kirche heran. Den Blick meist scheinheilig zum Himmel gerichtet, haben sie nichts zu sagen. Dabei könnten sie Haltung zeigen, könnten für die Werte einstehen, die hier Gefahr laufen, dass sie zu Grabe getragen werden: Toleranz, Respekt, Erhalt der Lebensgrundlagen. Aber die Kirchenmänner sind zu beschäftigt mit sich selbst. Schwer schleppen sie an ihrem Versagen, suchend blicken sie um sich nach den Sündern in ihren lichten Reihen.

Wo sind die Frauen?

Männer, fast nur Männer bisher! Wo sind die Frauen in diesem Marsch? Einzelne marschieren mit. Aber Männer sind und waren es, die sie an den Rand geschoben haben, und manche haben sich sogar schieben lassen. Es wäre Zeit, dass sie ihren  Männern in den Arm fallen, wenn diese mit vereinten Kräften sich schuldig machen an der Zukunft, wenn sie die Uhr zurückdrehen wollen in Zeiten ohne „Wokeness“, aber mit geduldetem Sexismus, rassistischen Übergriffen und Herabsetzungen.

Dann steht die Kolonne still

Da stockt der lange Marsch. Die Kolonnen stehen still. Junge Menschen haben sich ihm in den Weg gestellt, viele Frauen, alle voller Energie, aber auch voller aggressiver Ängstlichkeit. In Panik um ihre eigene Zukunft schwingen sie die Sekundenkleber und Farbeimer. Sie schreien sich und den Marschierern ihren grausigen Verdacht ins Gesicht: Ist es unsere Zukunft, die Ihr mit Euren Schaufeln verscharren wollt im schon erhitzten Erdreich der Dürre, im Schlamm der Überschwemmungen? Sie lärmen und zetern und zappeln, nicht immer klug, aber mit dem Mut der Verzweiflung.

Aber die Populisten an der Spitze des großen Marsches stopfen sich die Ohren zu, damit sie das Geschrei nicht hören müssen, das sie aufhalten will. Schon trampeln sie hinweg über die festgeklebten Hände, und alle anderen trotten hinterher.

So zieht er weiter, der große Marsch der allerletzten Generation, und der Abgrund naht.

 

Mit dem Begriff „Wokeness“ und seiner missbräuchlichen Nutzung als Schimpfwort habe ich mich auch in einem Text auseinandergesetzt, der anlässlich der Ausstellung „What happened“ mit Werken von Nicole Eisenman im Museum Brandhorst in München entstanden ist. Sie finden ihn hier.

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier. 

Die „Bürger von Calais“ habe ich hier etwas missbräuchlich zur Illustration herangezogen. Unabhängig von meinem Text ist die Geschichte ihres Opfergangs interessant zu lesen, und vielleicht lässt sie auch darüber nachdenken, was wir heute bereit sind zu opfern für unsere Zukunft: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_B%C3%BCrger_von_Calais

 

 

 

 

 

Unbeugsam-weiblich gegen den „Ökozid“ (27. September 2021)

Am Tag nach der Wahl steht nicht viel fest. Aber vermutlich wird es ein Mann sein, der Angela Merkel im Kanzleramt folgen wird. Er wird einlösen müssen, was die heutige Kanzlerin einmal für sich in Anspruch nahm: ein Klima-Kanzler sein.

In „Ökozid“ am Schauspiel Stuttgart muss Angela Merkel (hier die Schauspielerin Nicole Heesters) als Zeugin vor Gericht aussagen. Foto: Björn Klein

Diese Vorrede lenkt den Blick auf ein aktuelles Kultur-Ereignis am Schauspiel Stuttgart. Dort sind es Frauen, die zu Gericht sitzen, und es sind Frauen, die sich verteidigen. Wir befinden uns gedanklich im Jahr 2034, und eine dann stolz-ergraute Angela Merkel, seit 13 Jahres aus dem Amt geschieden, wird als Zeugin befragt. Sie wird gespielt von Nicole Heesters als noch immer hoch kontrolliert in ihren Bewegungen, ihren Aussagen, ihrem Auftritt. Hätte sie die Klimakatastrophe abwenden können, wenn sie gemäß dem gehandelt hätte, was bereits bekannt war?

Vorwurf: Untätigkeit gegen die Katastrophe

Die Rede ist von dem Schauspiel „Ökozid“ (Premiere war am 24. September). Den Vorsitz in einem Internationalen Gerichtshof führt eine strenge, verständige Richterin, die Anklage wird von zwei Frauen vertreten: einer stimmgewaltigen Sprecherin des Verbundes der 31 klagenden Staaten „des globalen Südens“ und ihrer Anwältin. In dieser Besetzung unterscheidet sich das Theaterstück, das in Stuttgart uraufgeführt wird, von dem gleichnamigen Film, der im November letzten Jahres bei der ARD zu sehen war. Auch sonst hält der Theaterabend zahlreiche künstlerische Überraschungen und Ergänzungen parat, der den Besuch lohnen lässt, auch wenn man den Film bereits gesehen hat.

Zur Sprache kommt alles, was uns in den zurückliegenden Wochen des Bundestagswahlkampfs täglich beschäftigt hat, und es in den kommenden noch viel dringlicher tun wird. Hätten die deutschen Regierungen seit Gerhard Schröder es hätten besser wissen können? Hat Deutschland im internationalen Zusammenspiel der klimafeindlichen Kräfte überhaupt relevantes Gewicht? Verletzt die Untätigkeit des Nordens gegenüber den erkennbaren Folgen einer Klimakatastrophe vor allem im Süden der Weltkugel grundlegende Menschenrechte, wie sie die UN-Charta allen Menschen gleichermaßen verspricht? Oder ist alles ganz anders, war davon nichts erkennbar, ist irgendwas davon noch strittig oder nicht?

Empörende Erfahrungen im Wahlkampf

Männer spielen während dieses nachdenklich machenden und trotzdem unterhaltsamen Theaterabends allenfalls kauzige Nebenrollen. Sie plustern sich auf in oft substanzloser Rechthaberei, womit eine Brücke gebaut wäre zu einem geschlechterspezifischen Blick auf den Wahlkampf und auf das, was nun folgen wird in den Verhandlungen über eine neue Regierung. Der Blick zurück macht fassungslos. Wie selbstgerecht und rechthaberisch mit einigen Spitzenfrauen in diesem Wahlkampf umgegangen worden ist – oft, aber nicht nur, von Männern – ist für jeden sensiblen Geist eine empörende Erfahrung.

Frauen in der Politik können ganz generell darüber viel berichten. Daher hier nur einziges, aber besonders prominentes Beispiel aus den letzten Wochen: Die Republik zu „warnen“ vor einer Machtübernahme durch die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken, der unterstellt wurde, dass sie wie eine strippenziehende Mephista den SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz marionettenartig über die politische Bühne zappeln lassen würde – das adressierte zumindest zum größeren Teil nicht deren inhaltliche Aussagen. Sondern es appellierte an dumpfe Assoziationen, die sich gegen ihr selbstbewusstes Auftreten und ihre von manchen vielleicht als ruppig empfundene Sprechweise richteten.

Engagierte Frauen waren nicht willkommen, …

Also raus aus dem Theater, wenige Häuser weiter, rein ins Kino! In fast zwei Stunden breiten dort im aktuellen Film „Die Unbeugsamen“ politisch erfahrene Frauen aus, welche Mühen, Gemeinheiten, Niederlagen, Zurücksetzungen und Zumutungen aller Art sie aushalten mussten, bis sie in der Männerwelt der deutschen Nachkriegspolitik angekommen waren. Der Film lässt keine Zweifel offen, dass engagierte Frauen alles andere als willkommen waren, und auch, dass die Männer sich kaum Mühe gaben, ihre ehrverletzende Überheblichkeit wenigstens höflich zu verbergen. Um sich in diesem Umfeld durchzusetzen, mussten Frauen Männern so ähnlich wie möglich werden. Für einen ersten Einblick genügt schon der Trailer des Films (Link siehe unten). Die Verhältnisse sind zweifellos besser geworden – aber gut sind sie noch nicht, wenn im neu gewählten Bundestag der Frauenanteil von 31 auf gerade mal 35 Prozent gestiegen ist.

… sind jetzt aber Mehrheit und Stimme der Klimaaktiven

Beim Stuttgarter „Ökozid“ fehlt es den Frauen nicht an Macht. Trotzdem haben sie in der Diktion des Theaterstücks vollständig männlich versagt. Ihr Scheitern bei der rechtzeitigen Rettung der Welt ist im Schauspiel ein Generationenproblem, keines der Geschlechter. Daher die Frage: Vielleicht können Frauen doch die besseren Klimaretter sein? Weil sie sich als Mütter eben doch noch immer stärker mit dem Schicksal ihrer Kinder identifizieren, als dies Väter tun? Warum sonst hat Annalena Baerbock im Wahlkampf dauernd von ihren Kindern geredet, Olaf Scholz (keine Kinder) und Armin Laschet aber nicht? In der „Fridays for Future“-Bewegung dominieren nach einer Studie des Berliner Instituts für Protest- und Bewegungsforschung die jungen Frauen mit 60%. Alle wesentlichen Repräsentantinnen der Bewegung sind weiblich.

Vielleicht ist das nun die neue Generation unbeugsamer Frauen, die nach Kriegsende in der deutschen Politik fehlten. In der neuesten Folge des „unendlichen Podcast“ der ZEIT (Link unten) formuliert die Schauspielerin Nora Tschirner einen weiteren Aspekt. Für Frauen und für unsere Gesellschaft kann es nicht nur darum gehen, Männer an  ihren Machtpositionen gleichwertig zu ersetzen.  Als „Seitenprodukt“ des jahrhundertealten Patriarchats sei ein „Privileg auf Frauenseite entstanden, eine Weisheit in Beziehungen, Kommunikation, Gefühle und zwischenmenschlichen Geschichten“. Dieses Potenzial sei bisher gesellschaftlich noch nicht ausreichend hochgewertet.

Die Klimakrise fordert neue Kompetenzen

Mehr Weiblichkeit in diesem Sinne hätte der Politik in den letzten 50 Jahren vielleicht weniger Orientierung am Automobil ermöglicht, mehr Naturschutz durchgesetzt, vielleicht auch insgesamt weniger Wachstum und  weniger Reichtum in Kauf genommen, aber dafür eine andere Balance aus Arbeit und sozialem Leben ermöglicht, ein anderes Geben und Nehmen, weniger Raffen, mehr Fürsorge.

Für eine Abwendung der drohenden Klimakatastrophe benötigen wir genau all das. Schade, dass dieser Aspekt im Stuttgarter „Ökozid“-Prozess keine Rolle spielt. Er endet jedoch mit einer eindrücklich sinnlichen Inszenierung, die den Theaterbesucher hinunterzieht in die Flut der steigenden Meeresspiegel. Und wenig überraschend: Es ist eine junge Frau, deren Stimme uns dort hineinführt und uns darin ertrinken lässt.

 

„Ökozid“ ist am Schauspiel Stuttgart noch mehrfach bis November auf dem Spielplan, jeweils verbunden mit einer Rede von Klima-Aktiven: https://www.schauspiel-stuttgart.de/spielplan/a-z/oekozid-2021/

Der Trailer zu „Die Unbeugsamen“ ist hier zu finden, der Film läuft (noch) in den Kinos: https://www.youtube.com/watch?v=yLjAayYEgOQ

Der Podcast und die Videoaufzeichnung von „Alles gesagt“ mit Nora Tschirner dauert fast vier Stunden. Die hier zitierte Passage (und mehr zu ihrer Sicht auf modernen Feminismus) ist etwa zehn Minuten vor dem Ende zu finden: https://www.zeit.de/video/2021-09/6271162956001/lange-nacht-der-zeit-2021-alles-gesagt-mit-nora-tschirner-christoph-amend-und-jochen-wegner?utm_referrer=https%3A%2F%2Fverlag.zeit.de%2F