Die Signatur – Ein Bucherlebnis

Die Schlange und die Signatur – Wie es dazu kam, dass in einem modernen Roman die einzige Handschrift vom Autor kommt.

Der berühmte Autor ist spindeldürr und groß wie ein Basketballspieler. Schütteres blondes Haar krönt seinen schmalen Kopf, ein Spitzbart ziert das hagere, brillenlose Gesicht.  18 Romane hat er schon geschrieben in seinen bald 75 Lebensjahren, ungezählte Kurzgeschichten – Worte über Worte, die er geschaffen hat. In seinem neuesten Buch, dem zu Ehren er in dieser Stadt, in diesem Land, auf dem alten Kontinent weilt, geht es um moderne Zeiten: Um die Selbstverständlichkeit, mit der die Klimaveränderung und ihre Folgen in den Alltag einer amerikanischen Familie hineinkriecht.

Niemand im Roman schreibt etwas auf

Weil es im Jetzt spielt, in unserer Zeit, mitten im Leben also, erzählt (ganz nebenbei) keines der Worte auf den 400 Seiten der deutschen Übersetzung, kein einziges, dass irgendwer irgendwas aufschreibt. Die Protagonisten des Romans halten keine Stifte, sie korrespondieren per e-Mail oder Messanger, sie rufen sich an oder sie begegnen sich persönlich. Aber was sie nicht tun, ist: Etwas mit der Hand zu schreiben.

Ausverkauft ist der große Saal. Im Foyer klingelt schon vor Beginn der Lesung die Kasse am Verkaufsstand der Buchhandlung. Alle wollen das neue Buch des großen Mannes. Manche, die ganz Schnellen, die fanatischen Freunde, die Süchtigen, die wahren Verehrer, die haben es sogar schon gelesen.

Dann rauscht Beifall auf, als der Schriftsteller die Bühne betritt. Als „Rockstar der Literatur“ wird er begrüßt. Es ist nicht einfach, eine Lesung zu organisieren mit einem englischsprachigen Autor, der anlässlich der gerade erschienenen deutschen Fassung seines Buches nach Deutschland kommt. Geduldig fügt sich das Publikum in die Sprachbarriere; es hört sich das teilübersetzte Interview an und auch ein paar kurze Ausschnitte, die der Autor im englischen Original vorliest. Den Rest erledigt eine routinierte Sprecherin, die den deutschen Text zum Klingen bringt. Großer Beifall.

Es geht um eine Schlange

Im Wesentlichen geht es um eine Schlange in diesem Buch, lernen die Bücherfreunde. Jedenfalls im ersten Kapitel, das hier zu Gehör gebracht wurde. Wofür die Schlange denn wohl steht?, wird der Autor gefragt. Vielleicht für die zahllosen Verführungen der modernen Zeiten? Der Hagere nutzt die Antwort zur Kaufempfehlung: Man solle besser lesen, als hier zuzuhören und über mögliche Deutungen seines Textes zu spekulieren. Er werde nichts interpretieren. Er habe das Buch geschrieben und dort alles gesagt, was er zu sagen habe.

Erwartungsgemäß macht die Lesung Lese-Appetit. Der Bücherstand ist noch mehr umlagert als zuvor. Vielstimmiges Gewühl wimmelt im engen Foyer. Die einen suchen einen Ausgang, die anderen das Ende einer Schlange, an deren Kopf der berühmte Autor sitzen sollte, um zu signieren. Zunächst ist er nicht zu entdecken im Getümmel. Erst nach zwanzig Minuten im dichtgedrängten Pulk, nach Vorrücken in Millimetern, gibt die nächste Biegung der Schlange den Blick frei: Da sitzt er auf dem Hochstuhl am Stehtisch, einen geduldigen Stift in der Hand, Wasser und Rotwein vor sich, und geht seiner Arbeit nach: Schreiben.

Da sitzt er: Wasser und Rotwein vor sich

Weitere dreißig Minuten bleibt Zeit, ihn und die Mit-Wartenden zu beobachten. Menschen, die zweifeln, ob sie sich die Warterei weiterhin antun möchten. Passionierte Autogrammjäger, die nach jedem verfügbaren Zettel zur Signatur kramen. Buchbegeisterte Ehepaare mit großen Einkaufstüten voller Bücher; ihre ganze Sammlung der Werke des berühmten Autors werden sie abzeichnen lassen. Ein Einsamer, der Bücher eines anderen Verfassers (ähnlichen, aber nicht gleichen, Namens) in den Händen hält. Wird er erfolgreich sein? Schüchterne, denen die Sorge vor dem bevorstehenden Sekunden-Gespräch mit dem Autor im ungewohnten Englisch ins Gesicht gezeichnet ist. Heitere, die wissen, wie sie ihren Charme werden einsetzen können. Selbstgewisse, die nicht ohne kleinen Plausch am bekannten Mann vorbeiziehen wollen, und dabei den nervösen Blick der Ungeduldigen hinter ihnen vielleicht sogar genießen. Erleichtert registriert das Saalpersonal: „Endlich, ich sehe das Ende!“ Denn langsam nur, aber doch: Die Schlange rückt vor.

Einer wie Du und ich, nur genial

Der berühmte Autor und sein Verehrer – ein Moment der Begegnung.

Dann ist es soweit: Der wahre Verehrer, der alle 18 Romane gelesen hat, steht vor dem freundlichen, hageren Gesicht, sieht ihm in die Augen, nimmt ihn wahr in seinem ganzen Menschsein, einer wie Du und ich, nur genial, jetzt angestrengt, trotzdem wach, natürlich sympathisch. Er sieht die Stirn, hinter der Tiefsinn, Humor, Fantasie und all die Ideen verborgen sind, die dem Verehrer seit Jahrzehnten so viele Stunden der Nachdenklichkeit, der Spannung, der Heiterkeit, geschenkt haben.

„Guten Abend“, sagt der Berühmte auf Deutsch, beantwortet freundlich eine Frage, blättert in seinem Buch („In meinem Buch!“, denkt sich der Verehrer) auf die dritte Seite, und zeichnet seinen Namen hinein, wie tausende, zigtausende Male in seinem Leben zuvor.

Vielleicht weiß er es gar nicht, dass seine schwungvolle Signatur das Buch ganz einzigartig macht. Sie ist das einzige Wort in Handschrift, das in diesem Buch vorkommt.

 

Der amerikanische Schriftsteller T. Coraghassian Boyle ist noch bis 19. Juni auf Lesereise durch Deutschland: https://www.tcboyle.de/lesereise-2023/

Im Zuge seiner Lesereise hat er auch den Tagesthemen ein Interview gegeben, das sich lohnt anzusehen: https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tagesthemen/video-1206626.html

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Deutschland im Hitze-August 2022

Ein politisch-musikalischer Reisebericht

Im Württembergischen

Der ganze Hang durstet vor sich hin. Eine Rebsorte für samtroten Wein ist nach diesem sonnigen Bergrücken benannt, aber jetzt hilft ihm das wenig. Die Reben, die hier zu überleben versuchen, knorriges, ins Spalier gezwungenes Geäst, lassen trotz Bewässerung ihre hitzegeplagten Blätter hängen. Viele sind es ohnehin nicht mehr, die meisten Flächen am Hang wurden über die Jahre des Traums von ewigem Wachstum und immer weiter wachsendem Wohlstand umgewandelt in teuren Baugrund und blühende Gärten. Nun blüht hier nichts mehr. Fast einen Monat lang fiel kein Tropfen Regen vom Himmel, kaum eine Wolke linderte die Kraft der erbarmungslosen Sonne. die den Hang seit vier Wochen bescheint, Stunde um Stunde der Glut. Das Bewässern der Gärten zur Errettung des grünen Rasens, der bunten Blumenwiesen, ist zwar nicht verboten, aber schlecht beleumundet. Also sind die Flächen rund um die heiligen Orte der deutschen Familienidyllen längst nicht mehr grün. Unter den Trampolinen und am Rand der Grillterrassen ist alles Pflanzliche braun, abgestorben, vom Hitzetod dahingerafft. Die Trockenheit frisst sich in das Erdreich, Risse spalten den Boden, die Hitze zerrt an der verdorrten Krume.

Deutschland schwitzt und sehnt sich nach Schatten, diskutiert über die Kälte im Winter, sorgt vor, damit es warm bleibt im Wohnzimmer der Familien. Ventilatoren quirlen die heiße Luft, aber wo man es sich leisten kann, da säuselt die Klimaanlage.

In der Weltstadt mit Herz

Zu Gast für nur wenige Stunden in der Stadt, die das 50. Jubiläum ihrer Olympiade feiert, die in einem deutschen Sommer noch ohne Diskussion um Klimaschäden begonnen hatte, federleicht und bunt, und die dann zur tonnenschweren tödlichen Last wurde. Heiß ist es nun auch hier, aber offensichtlich ist hier mehr Regen gefallen in den letzten Wochen. Die Kinder springen durch die Parks, die Mütter und Väter lagern unter dem Schatten noch satt beblätterter Kastanien, einzelne Stellen der Wiesen schattieren ins Bräunliche, aber es dominiert das Grün.

Ein lauwarmer Abend des sommerlichen Glücks im Biergarten, ein frisch gezapftes Bier, der Rettich tränt ordnungsgemäß – und dann das erste Grollen, bedrohlich und finster wie zu Beginn des Gewitters in Beethovens Pastorale. Unheilkündend? Nein, erlösend, rauschend und rauschauslösend, prasselt in Sekunden das Wasser hernieder wie aus Kübeln, ergießt sich auf die durstigen Wiesen, saugt sich in das erfrischte Grün, tropft im Überfluss von den Bäumen, stürzt sich in die Kanalisation, bildet Bäche und Strudel. Wütend zucken die Blitze von Himmel, zornig grollen die Donner. Wer zu Fuß unterwegs ist, gerade noch in der Gewissheit des trockenen Sommers, flüchtet in Wartehäuschen, die Radfahrer ducken sich in den schwachen Schutz der Alleebäume. Auch die Autos zögern, stocken im steten Vorwärtsdrang, warten das Inferno ab, weil die schwächlichen Arme der Scheibenwischer die Flut nicht mehr ordnen können. Machtlos bleiben sie gegen die zuckende und donnernde Wucht, die die Sicht zerfließen lässt. Ein Aufatmen geht durch die Stadt: Wasser, Wasser!

Noch ein Gewitter: Ob es nicht Zeit wäre, sich zu entschuldigen für das, was palästinensische Terroristen angerichtet haben, als sie den deutschen Traum der heiteren Spiele vor fünfzig Jahren in dieser Stadt zerstörten? Das wird der Präsident von Palästina gefragt, als er auf dem edlen Teppich neben dem Bundeskanzler in Berlin steht. Mahmut Abbas war auch schon politisch aktiv, als damals die Schüsse fielen. Jetzt verweigert er eine Antwort. Stattdessen behauptet er, Israel habe seither schon „Fünfzig Holocausts“ angerichtet. Die Aussage bleibt zunächst unwidersprochen, der Kanzler schüttelt dem geschichtsvergessenen Gast die Hand. Ein medialer-Entrüstungssturm lässt ihn wissen, dass das ein Fehler war. Es ist zu heiß in Deutschland.

Am kleinen See im Blauen Land

Und wieder scheint die Sonne. „Mitten im Schimmer der spiegelnden Wellen, gleitet, wie Schwäne, der wankende Kahn“, träumt in dem von Franz Schubert vertonten Gedicht von Franz von Stolberg der Urlaubsgast in der Idylle des kleinen Moorsees vor den sanft blauschimmernden Hügeln der bayerischen Voralpenlandschaft. Es ist die Zeit der Sommerfrische im „Blauen Land“, das schon Gabriele Münter, Franz Marc und Wassily Kandinsky inspirierte zu verträumten Bildern dieser stillen Landschaft. Die Kühe glocken gemütlich von den sattgrünen Hängen herüber, an die braun verkrusteten Risse im glutheißen Württemberg erinnert hier nichts. Auf dem gut gefüllten See spiegelt sich eitel der Zwiebelturm der Dorfkirche vor weiß-blauem Himmel.

„Ach, auf der Freude sanft schimmernder Wellen, gleitet die Seele dahin wie der Kahn.“ Im oberbayerischen „Blauen Land“ atmet die Natur im saftigen Grün.

Also eingestiegen in den Kahn, Schubert im Kopfhörer: „Ach, auf der Freude sanft schimmernder Wellen, gleitet die Seele dahin wie der Kahn. Denn von dem Himmel herab auf die Wellen, tanzet das Abendrot rund um den Kahn.“ Es wird still am Abend rund um den See, was will man da rudern? Das Paddel stört nur. Meditative Wanderer blicken von den Parkbänken ins glitzernde Nass, glücklich-müde Urlaubskinder umrunden ein letztes Mal für heute den See. Ihre Eltern wandeln hinterher mit stillem Blick auf die kostbare Zeit sorgloser Gemeinsamkeit, die ihnen noch bleibt, bis Pflicht und Last wieder auf ihren Schultern liegen werden. Das Lied weiß, wie es weitergeht: „Ach, es entschwindet mit tauigem Flügel, mir auf den wiegenden Wellen die Zeit …“.

Der Gast verlässt das Blaue Land bei ruhig herabströmendem Landregen. Die Straße ist nass, die Reifen singen das Geräusch der friedlichen Regenfahrt, triefendes Gewölk ballt sich über dem ganzen verwöhnten Landstrich. Im Autoradio ist zu hören, dass noch immer unklar ist, woran genau die Millionen Fische in der Oder gestorben sind. Aber sicher sei, dass die Trockenheit der letzten Monate ihren Anteil habe am tonnenschweren Massentod.

Dort schon nicht mehr, und hier: Wie lange noch wird Tau auf unseren Flügeln liegen?

Durch Franken

Tausend Kilometer Autofahrt, tausend Kilometer Freiheit, einmal längs durch Deutschland. Zunächst Regen, bald schon wieder Sonne, nur noch Sonne. Der Wald an den Rändern der Autobahn verfärbt sich. In Franken herrscht Indian Summer Mitte August. Dort, wo um diese Jahreszeit noch grüne Bäume erwartet werden dürfen, ist schon Herbst. In Gelb und Graubraun, fahlem, mattem Gold klagt uns das Laub an. In wenigen Tagen wird es verdorrt herabfallen, wird uns den Herbst bringen zu einer Zeit, da Rudi Carell sich im Jahr 1975 noch „endlich richtigen Sommer“ gewünscht hatte.

Wie reiten doch die Jäger in Antonio Vivaldis „Herbst“ aus den „Vier Jahreszeiten“ hinaus in den bunten Wald? Voller Vorfreude auf Jagd und Natur, auf den Rausch der bunten Blätter, galoppieren sie dahin. Dieses Jahr werden, wenn es Herbst ist, die Jäger in Franken nur noch kahles Geäst über sich finden, denn das grau-gelb verdorrte Laub wird schon im August gefallen sein.

Es wird ein garstiger Herbst werden in Deutschland, und die Bundesregierung fürchtet den Volkszorn. Deshalb beschließt sie, die Mehrwertsteuer auf den Gaspreis zu senken. Sie mindert damit das Preissignal, das nötig ist, um den klimarettenden Umstieg von fossilen zu erneuerbaren Energien zu beschleunigen. Sie reduziert den Anreiz zur notwendigen Veränderung, und zwar für alle, auch für diejenigen, die genügend Geld haben, um teure Gaspreise zu bezahlen. „Lieb Vaterland, magst ruhig sein“, tönt, schon immer fragwürdig, die „Wacht am Rhein“.

Im Münsterland

Der Rhein bleibt links liegen. Je weiter die Reise nach Norden führt, desto häufiger wachsen die Windräder in den Himmel. Lange Rotoren, die beim flüchtigen Blick fürchten lassen, dass sie das Gras unter sich zermalmen könnten. Oder kürzere Rotoren auf hohem, schlankem Stamm. Wie auch immer: Viele davon!

Dann Rast in Deutschlands Westen, in seiner ganzen, unberührten Selbstsicherheit: Strohgelbe Stoppelfelder, hochstehender Mais, grüne Bäume. Radelnde Rentner durchmessen stolz die flache Landschaft und belohnen sich mit schäumendem Bier im Schatten. Münsterländer Pferde grasen auf der grünen Koppel, prächtige Backsteinhöfe kauern sich in die flache Natur, kaum einer davon ohne Sonnenkollektoren auf dem tief herabgezogenen Dach.

Ein lockerer Abend mit Freunden auf der lauwarmen Terrasse unterbricht die lange Reise. Glückliche Gäste genießen, was der Gasgrill hergibt. Die Gespräche sind besorgt: Schlagen bald auch bei uns die Bomben ein? Allgemeiner Tenor: Wohl eher nicht, hoffentlich. Es wird gemeldet, dass russisches Militär Raketenwerfer auf das Gelände des ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja gekarrt habe, um sie so vor Angriffen durch den Kriegsgegner zu schützen. Die Älteren auf der Terrasse erzählen ihre Erlebnisse in den Wochen nach dem Atomunfall von Tschernobyl.

Vielleicht bedarf es gar keiner Bomben, um uns zu bedrohen? Ein Ministerpräsident, in dessen Bundesland wir kaum Windräder gesehen haben, fordert, Atomkraftwerke länger zu betreiben.

Auf der Insel im Meer

Die Unendlichkeit ist hier zu Hause. Unermesslich breit dehnt sich der Strand, immer weiter, bis der Horizont sich krümmt. Im Nichts verliert sich der Blick über das wogende Wasser. Wollte man sie zählen, die Wellen, so würde man versagen. Oder die Sandkörner? Schon nach einer Handvoll würde man aufgeben. Scharfkantig bohren sich die Scherben Millionen gestorbener Muscheln in den blanken Fuß, der den Gast über den weiten Strand trägt. Er muss ausweichen, will er nicht in eine der angeschwemmten Quallen treten, von der Flut der Sonne zum Fraß vorgeworfen. Sterbende Quallen liegen heuer so häufig am Strand wie noch in keinem Jahr der Besuche zuvor. Diese traurigen Glibberwesen im Sand müssen sterben, aber die Nesseltiere insgesamt sind Gewinner des Klimawandels. Die Erwärmung auch der Nordsee begünstigt die Verbreitung der Quallen im kalten Nass des Nordens.

„Es säuseln die Winde, geschwinde, geschwinde! Es teilt sich die Welle, es naht sich die Ferne!“ Die Insel droht zu versinken im Meer, aber es gibt noch Hoffnung.

Und auch hier liegt die Hitze dieser späten Augusttage bleiern auf den Dünen. Kraftvoll scheint die Sonne vom Himmel, nur wenig Wind kühlt die Stirn, dreißig Grad zeigt das Thermometer. Seit drei Tagen kein Regen auf der Insel, deren Besuch ohne wasserdichten Schutz nicht ratsam ist. Nun war das schüchterne Nieseln bei der Überfahrt der vorerst letzte Niederschlag. Aber die Wiesen sind grün, glückliche Rinder teilen sie sich mit geduldigen Pferden und neugierigen Alpakas.

Die Insel ist sommerlich getunkt in den dickflüssigen Sirup der Idylle. Familien träumen sich durch den Tag, glückliche Kinder toben über den Sand und quengeln um die Aufmerksamkeit ihrer im Strandkorb dösenden Großeltern. Dann bauen sie Sandburgen, werfen sich Frisbees zu und staunen über die schwache Brise, die ausreicht, um ihre Drachen tanzen zu lassen. Und abends dann ein Eis beim Laternen-Denkmal für Lale Andersen, die auf der Insel lebte und starb, und die mit ihrem Durchhalte-Lied „Lili Marleen“ zum Tagtraum einer Soldatengeneration wurde. Manche Straßen der Insel nutzen die Betonpisten des von Zwangsarbeitern errichteten Militärflugplatzes der Nazis noch heute als Straßenbelag.

Diese Insel könnte untergehen, wenn der globale Anstieg des Meeresspiegels nicht gestoppt werden kann. Große Maschinen pumpen jeden Sommer Tausende Tonnen Sand an die verwundbarste Stelle des Eilands. Beim abendlichen Strandspaziergang herrscht windstille Ebbe: Glatte Oberfläche des Wassers in den Prielen, kein Rauschen der Wellen zu sehen, nicht einmal vorne am Brandungssaum. Leise, ganz leise, kaum hörbar hebt im Kopfhörer der Chor an: „Tiefe Stille herrscht im Wasser, ohne Regung ruht das Meer …“ Ludwig van Beethoven hat in seiner Vertonung der Gedichte „Meeresstille“ und „Glückliche Fahrt“ von Johann Wolfgang von Goethe den ganzen Gegensatz der Gewalten des Wassers in betörend schöne Töne gefasst. Jetzt und hier ist es die Meeresstille, die den Gast umgibt: Quälend leise, träge, abwartend, nimmt er uns mit in das erwartungsvolle Nichts der Windstille. Dann aber, vielleicht nur wenige Momente später, jubeln seine Töne über den aufkommenden Wind, sind voller Freude, fantasievoll und gewaltig, denn er wird die „Glückliche Fahrt“ ermöglichen.

Das Anschwellen dieser Töne ist ein triumphales Erlebnis der Zuversicht, ganz so wie seine „Ode an die Freude“, die Europa als Hymne dient. „Es säuseln die Winde, geschwinde, geschwinde!“, jubelt der Chor, „es teilt sich die Welle, es naht sich die Ferne!“

Am Horizont blinkt in der Dämmerung der dichte Wald der Windräder vom Festland. Noch gibt es Hoffnung.

 

 

Die hier angesprochenen Musikstücke habe ich im Text verlinkt; durch das Anklicken der Links stimmen Sie zu, zu YouTube weitergeleitet zu werden.

Hier sind sie alle noch einmal zusammengefasst:

Ludwig van Beethoven, 6. Sinfonie („Pastorale“), daraus das Gewitter im 3. Satz: https://www.youtube.com/watch?v=_eq14DWRko8

Franz Schubert „Auf dem Wasser zu singen“, Gedicht von Franz von Stolberg: https://www.youtube.com/watch?v=TEvo9PTnIlo

Rudi Carell: „Wann wird´s mal wieder richtig Sommer?“: https://www.youtube.com/watch?v=KzEOvyDcVas

Antonio Vivaldi, Vier Jahreszeiten, Herbst, 1. Satz: https://www.youtube.com/watch?v=qNwZgKw2wiU

Patriotisches Lied „Die Wacht am Rhein“ von 1840: https://www.youtube.com/watch?v=oKkRS4rL6Pw

Lale Andersen, „Lili Marleen“, Lied von 1939, hier gesungen von Marlene Dietrich: https://www.youtube.com/watch?v=7heXZPl2hik

Ludwig van Beethoven, „Meeresstille“ und „Glückliche Fahrt“, Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe: https://www.youtube.com/watch?v=NQE4u9VnHYM

 

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Letzte Chance! Korallen in Baden-Baden!

Noch bis 26. Juni: Wie Politik und Kunst zu Schönheit werden

Stumm bewegt im Wasser der Tropen, in ihrer ungezählten Vielfalt und mit ihrem blendend-bunten Farbenreichtum sind sie ein großes Lachen. Eine wankende Orgie der Heiterkeit. Korallen lachen uns seit 500 Millionen Jahren an. Und sie lachen uns aus.

Das Problem ist nur: Uns, die Menschen, gibt es überhaupt erst seit 45.000 Jahren. Großzügig gerechnet.

Und die Zeitschrift „Koralle“, eine deutsche Vorkriegsillustrierte, die ihre Witzseite mit dem Spruch „Da lacht die Koralle“ überschrieb, die gibt es schon heute, weniger als 100 Jahren nach ihrem ersten Erscheinen im Jahr 1925, nicht mehr.

Korallen und die Ehrfurcht vor der Zeit

Gestrickte Korallen: Die ganze Vielfalt der tropischen Weltmeere spiegelt sich in der Phantasie der Korallen von Baden-Baden wider.

Korallen lehren uns also die Ehrfurcht vor der Zeit. Sie waren schon immer im Wasser, unvorstellbar lange schon, wir laufen auf den Resten ihrer Riffe herum. Auch in unseren Breiten, zwischen unseren Wäldern und Wiesen, hatten sich Korallenriffe gebildet, als dort vor Jahrmillionen einmal ein Meer gewesen war. Wir bauen darauf unsere Häuser und Straßen.

Wir landen auf ihnen mit dem Flugzeug. Bermudas und Bahamas heißen die Traumziele des Ferntourismus, zusammen etwa 1000 Inseln, allesamt gründen sie ihre tropische Pracht aus Palmen und Traumhotels auf abgestorbenen Korallenriffen. Jetzt geht es den Menschen darauf wie den Nesseltieren in den Tropen: Sie müssen fürchten, zu sterben. Die Korallen unter Wasser, die Menschen knapp darüber. Beide könnten bald Opfer des Klimawandels sein, der menschengemachten Erderwärmung, der abschmelzenden Gletscher, des ansteigenden Meeresspiegels, der skrupellosen Vermüllung der Meere.

Was hat das sterbende Great Barrier Reef …

Natürlich haben wir gehört vom sterbenden Great Barrier Reef, dem Weltwunder der Natur, einer Ansammlung von Tausenden Korallenriffen an der australischen Nordostküste, die zusammen eine Länge von unglaublichen 2.300 Kilometern bilden, ein lebendiger Lebensraum im Wasser, sogar von der Raumstation ISS aus erkennbar.

Sehr bedauerlich, aber weit weg! Hat das Sterben der Korallen etwas mit uns zu tun, in diesem Frühling, in dem wir hierzulande auf festem Grund aus hartem Felsen unter den blühenden Bäumen in den Cafe´s sitzen? Wenn wir – beispielsweise – im lasziv-prächtigen Kurpark von Baden-Baden einen sündteuren Eiskaffee schlürfen und uns zwischen Krieg und Klimakrise den Luxus leisten, über das nächste Wohlstandsabenteuer nachzudenken?

… mit uns zu tun?

Hier ein Vorschlag: Wenige Meter weitergehen, zur Kunsthalle Frieder Burda, einem modernen Schmuckstück im mondänen Kurort der Könige und Kaiser, im Weltkulturerbe mit angeschlossener Spielbank. Dort kann und sollte man (nur noch bis 26. Juni) die Korallen von Baden-Baden besuchen. In ihrer ganzen unfassbaren Vielfalt, in ihrer spielerisch überraschenden Heiterkeit sind sie zu besichtigen.

Wild, ungebändigt, wuchern sie an den badischen Wänden entlang, sprießen schwarz-glänzend in die Höhe; ihre Formenvielfalt treibt Schabernack mit unserem Auge, lädt uns ein zu einem unvergleichlich prächtigen Spektakel der Farben und Formen, unfassbar vielfältig, variantenreich, knallbunt. Die Korallen verhöhnen unseren Ordnungssinn, unsere Phantasielosigkeit und unsere formale Strenge, sie spotten über unsere excel-Tabellen, unsere Verwaltungsvorschriften und sauber gezirkelten Maschendraht-Gärten.

Ein atemberaubendes Kunstprojekt

Ein demokratisiertes Kunstprojekt: Mehr als 4000 Menschen haben mitgestrickt und -gehäkelt an den Korallenriffen von Baden-Baden.

Die Korallen von Baden-Baden sind ein atemberaubendes Kunstprojekt. Sie sind natürlich keine Tiere, sondern demokratisierte Kurzwaren-Kunst. Zu verdanken haben wir es den australischen Künstlerinnen Margaret und Christine Wertheim. Sie wollen das Bewusstsein der ganzen Welt für die sterbende Pracht der tropischen Meere schärfen. Überall auf der Welt sollen nachgebildete, künstlerisch gestaltete Korallenriffe aus Stoff und Garn entstehen. Tausende Menschen, Initiativen, Kindergartengruppen, Schulklassen, Strickvereine, Senioreneinrichtungen, ganze Familien auf der ganzen Welt stricken und häkeln seither künstliche Korallen in ihrer ganzen wilden, bunten Vielfalt. Unter der künstlerischen Leitung der beiden Schwestern werden sie in textile Riffe zusammenkomponiert.

Das Ergebnis kann man in Baden-Baden besichtigen. Für das „Baden-Baden Riff“ haben 4000 Beteiligte mitgestrickt und -gehäkelt, alle namentlich aufgeführt in endlosen Namenszeilen auf weißer Wand. Paketweise schickten sie ein Jahr lang Korallen-Handarbeit an das Museum: Kleine, winzige, große, gewaltige, lange, runde, schlangenförmige, ein- und vielfarbige. Kreativ gestaltet wurden daraus Korallenriffe, Orgien der Phantasie, durch die man hindurchgehen kann, ohne nass zu werden.

Ein schriller Hilfeschrei in der Lautlosigkeit

Stumm sind diese Korallen, so wie ihre lebenden Vorbilder. Aber sie sind starr, sie wiegen sich nicht im Wasser der südlichen Weltmeere und mahnen uns mit ihrer Unbeweglichkeit an unsere eigene Zerstörungsenergie. Geduckt unter einem Plastik-Müllberg, der im Eingangsbereich mahnend von der Decke hängt, wandelt der Besucher durch die die ganze bunte tote Pracht der Textil-Riffe von Baden-Baden, und kann den schrillen Hilfeschrei dieser uralten Lebensform trotz aller Lautlosigkeit hören.

Wenn die Korallen verblassen, sterben sie ab. Weiße Korallen sind ein Hilfeschrei.

Korallen sind Lebewesen, und daher sterben sie, schon seit Jahrmillionen und ganz ohne menschliche Einwirkung. Steinkorallen, welche die großen Riffe bilden, geben ihrem Tod einen Sinn, denn der Kalk der abgestorbenen Korallen-Generationen bildet die Lebensgrundlage für die jungen, nachwachsenden, dann lebenden, bunten Korallen. Dieser ständige Regenerationsprozess lässt Riffe wachsen und erhält die Vielfalt der Korallen. Wenn aber keine jungen Korallen mehr entstehen, dann stirbt das Riff, die letzte Generation der Tiere verliert ihre Farbe. Die sterbenden Riffe nehmen einen fahl-weißlichen Ausdruck an. Auch solche Riffe sind in gestrickter Form zu sehen in Baden-Baden. Hier lacht keine Koralle mehr.

Mehr Informationen zur Ausstellung im Museum Frieder Burda finden Sie hier: https://www.museum-frieder-burda.de/ausstellung.php

Über Geschichte, Vielfalt und Wesen von Korallen habe ich mich hier informiert: https://de.wikipedia.org/wiki/Koralle

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Unbeugsam-weiblich gegen den „Ökozid“ (27. September 2021)

Am Tag nach der Wahl steht nicht viel fest. Aber vermutlich wird es ein Mann sein, der Angela Merkel im Kanzleramt folgen wird. Er wird einlösen müssen, was die heutige Kanzlerin einmal für sich in Anspruch nahm: ein Klima-Kanzler sein.

In „Ökozid“ am Schauspiel Stuttgart muss Angela Merkel (hier die Schauspielerin Nicole Heesters) als Zeugin vor Gericht aussagen. Foto: Björn Klein

Diese Vorrede lenkt den Blick auf ein aktuelles Kultur-Ereignis am Schauspiel Stuttgart. Dort sind es Frauen, die zu Gericht sitzen, und es sind Frauen, die sich verteidigen. Wir befinden uns gedanklich im Jahr 2034, und eine dann stolz-ergraute Angela Merkel, seit 13 Jahres aus dem Amt geschieden, wird als Zeugin befragt. Sie wird gespielt von Nicole Heesters als noch immer hoch kontrolliert in ihren Bewegungen, ihren Aussagen, ihrem Auftritt. Hätte sie die Klimakatastrophe abwenden können, wenn sie gemäß dem gehandelt hätte, was bereits bekannt war?

Vorwurf: Untätigkeit gegen die Katastrophe

Die Rede ist von dem Schauspiel „Ökozid“ (Premiere war am 24. September). Den Vorsitz in einem Internationalen Gerichtshof führt eine strenge, verständige Richterin, die Anklage wird von zwei Frauen vertreten: einer stimmgewaltigen Sprecherin des Verbundes der 31 klagenden Staaten „des globalen Südens“ und ihrer Anwältin. In dieser Besetzung unterscheidet sich das Theaterstück, das in Stuttgart uraufgeführt wird, von dem gleichnamigen Film, der im November letzten Jahres bei der ARD zu sehen war. Auch sonst hält der Theaterabend zahlreiche künstlerische Überraschungen und Ergänzungen parat, der den Besuch lohnen lässt, auch wenn man den Film bereits gesehen hat.

Zur Sprache kommt alles, was uns in den zurückliegenden Wochen des Bundestagswahlkampfs täglich beschäftigt hat, und es in den kommenden noch viel dringlicher tun wird. Hätten die deutschen Regierungen seit Gerhard Schröder es hätten besser wissen können? Hat Deutschland im internationalen Zusammenspiel der klimafeindlichen Kräfte überhaupt relevantes Gewicht? Verletzt die Untätigkeit des Nordens gegenüber den erkennbaren Folgen einer Klimakatastrophe vor allem im Süden der Weltkugel grundlegende Menschenrechte, wie sie die UN-Charta allen Menschen gleichermaßen verspricht? Oder ist alles ganz anders, war davon nichts erkennbar, ist irgendwas davon noch strittig oder nicht?

Empörende Erfahrungen im Wahlkampf

Männer spielen während dieses nachdenklich machenden und trotzdem unterhaltsamen Theaterabends allenfalls kauzige Nebenrollen. Sie plustern sich auf in oft substanzloser Rechthaberei, womit eine Brücke gebaut wäre zu einem geschlechterspezifischen Blick auf den Wahlkampf und auf das, was nun folgen wird in den Verhandlungen über eine neue Regierung. Der Blick zurück macht fassungslos. Wie selbstgerecht und rechthaberisch mit einigen Spitzenfrauen in diesem Wahlkampf umgegangen worden ist – oft, aber nicht nur, von Männern – ist für jeden sensiblen Geist eine empörende Erfahrung.

Frauen in der Politik können ganz generell darüber viel berichten. Daher hier nur einziges, aber besonders prominentes Beispiel aus den letzten Wochen: Die Republik zu „warnen“ vor einer Machtübernahme durch die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken, der unterstellt wurde, dass sie wie eine strippenziehende Mephista den SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz marionettenartig über die politische Bühne zappeln lassen würde – das adressierte zumindest zum größeren Teil nicht deren inhaltliche Aussagen. Sondern es appellierte an dumpfe Assoziationen, die sich gegen ihr selbstbewusstes Auftreten und ihre von manchen vielleicht als ruppig empfundene Sprechweise richteten.

Engagierte Frauen waren nicht willkommen, …

Also raus aus dem Theater, wenige Häuser weiter, rein ins Kino! In fast zwei Stunden breiten dort im aktuellen Film „Die Unbeugsamen“ politisch erfahrene Frauen aus, welche Mühen, Gemeinheiten, Niederlagen, Zurücksetzungen und Zumutungen aller Art sie aushalten mussten, bis sie in der Männerwelt der deutschen Nachkriegspolitik angekommen waren. Der Film lässt keine Zweifel offen, dass engagierte Frauen alles andere als willkommen waren, und auch, dass die Männer sich kaum Mühe gaben, ihre ehrverletzende Überheblichkeit wenigstens höflich zu verbergen. Um sich in diesem Umfeld durchzusetzen, mussten Frauen Männern so ähnlich wie möglich werden. Für einen ersten Einblick genügt schon der Trailer des Films (Link siehe unten). Die Verhältnisse sind zweifellos besser geworden – aber gut sind sie noch nicht, wenn im neu gewählten Bundestag der Frauenanteil von 31 auf gerade mal 35 Prozent gestiegen ist.

… sind jetzt aber Mehrheit und Stimme der Klimaaktiven

Beim Stuttgarter „Ökozid“ fehlt es den Frauen nicht an Macht. Trotzdem haben sie in der Diktion des Theaterstücks vollständig männlich versagt. Ihr Scheitern bei der rechtzeitigen Rettung der Welt ist im Schauspiel ein Generationenproblem, keines der Geschlechter. Daher die Frage: Vielleicht können Frauen doch die besseren Klimaretter sein? Weil sie sich als Mütter eben doch noch immer stärker mit dem Schicksal ihrer Kinder identifizieren, als dies Väter tun? Warum sonst hat Annalena Baerbock im Wahlkampf dauernd von ihren Kindern geredet, Olaf Scholz (keine Kinder) und Armin Laschet aber nicht? In der „Fridays for Future“-Bewegung dominieren nach einer Studie des Berliner Instituts für Protest- und Bewegungsforschung die jungen Frauen mit 60%. Alle wesentlichen Repräsentantinnen der Bewegung sind weiblich.

Vielleicht ist das nun die neue Generation unbeugsamer Frauen, die nach Kriegsende in der deutschen Politik fehlten. In der neuesten Folge des „unendlichen Podcast“ der ZEIT (Link unten) formuliert die Schauspielerin Nora Tschirner einen weiteren Aspekt. Für Frauen und für unsere Gesellschaft kann es nicht nur darum gehen, Männer an  ihren Machtpositionen gleichwertig zu ersetzen.  Als „Seitenprodukt“ des jahrhundertealten Patriarchats sei ein „Privileg auf Frauenseite entstanden, eine Weisheit in Beziehungen, Kommunikation, Gefühle und zwischenmenschlichen Geschichten“. Dieses Potenzial sei bisher gesellschaftlich noch nicht ausreichend hochgewertet.

Die Klimakrise fordert neue Kompetenzen

Mehr Weiblichkeit in diesem Sinne hätte der Politik in den letzten 50 Jahren vielleicht weniger Orientierung am Automobil ermöglicht, mehr Naturschutz durchgesetzt, vielleicht auch insgesamt weniger Wachstum und  weniger Reichtum in Kauf genommen, aber dafür eine andere Balance aus Arbeit und sozialem Leben ermöglicht, ein anderes Geben und Nehmen, weniger Raffen, mehr Fürsorge.

Für eine Abwendung der drohenden Klimakatastrophe benötigen wir genau all das. Schade, dass dieser Aspekt im Stuttgarter „Ökozid“-Prozess keine Rolle spielt. Er endet jedoch mit einer eindrücklich sinnlichen Inszenierung, die den Theaterbesucher hinunterzieht in die Flut der steigenden Meeresspiegel. Und wenig überraschend: Es ist eine junge Frau, deren Stimme uns dort hineinführt und uns darin ertrinken lässt.

 

„Ökozid“ ist am Schauspiel Stuttgart noch mehrfach bis November auf dem Spielplan, jeweils verbunden mit einer Rede von Klima-Aktiven: https://www.schauspiel-stuttgart.de/spielplan/a-z/oekozid-2021/

Der Trailer zu „Die Unbeugsamen“ ist hier zu finden, der Film läuft (noch) in den Kinos: https://www.youtube.com/watch?v=yLjAayYEgOQ

Der Podcast und die Videoaufzeichnung von „Alles gesagt“ mit Nora Tschirner dauert fast vier Stunden. Die hier zitierte Passage (und mehr zu ihrer Sicht auf modernen Feminismus) ist etwa zehn Minuten vor dem Ende zu finden: https://www.zeit.de/video/2021-09/6271162956001/lange-nacht-der-zeit-2021-alles-gesagt-mit-nora-tschirner-christoph-amend-und-jochen-wegner?utm_referrer=https%3A%2F%2Fverlag.zeit.de%2F