Deutschland im Hitze-August 2022

Ein politisch-musikalischer Reisebericht

Im Württembergischen

Der ganze Hang durstet vor sich hin. Eine Rebsorte für samtroten Wein ist nach diesem sonnigen Bergrücken benannt, aber jetzt hilft ihm das wenig. Die Reben, die hier zu überleben versuchen, knorriges, ins Spalier gezwungenes Geäst, lassen trotz Bewässerung ihre hitzegeplagten Blätter hängen. Viele sind es ohnehin nicht mehr, die meisten Flächen am Hang wurden über die Jahre des Traums von ewigem Wachstum und immer weiter wachsendem Wohlstand umgewandelt in teuren Baugrund und blühende Gärten. Nun blüht hier nichts mehr. Fast einen Monat lang fiel kein Tropfen Regen vom Himmel, kaum eine Wolke linderte die Kraft der erbarmungslosen Sonne. die den Hang seit vier Wochen bescheint, Stunde um Stunde der Glut. Das Bewässern der Gärten zur Errettung des grünen Rasens, der bunten Blumenwiesen, ist zwar nicht verboten, aber schlecht beleumundet. Also sind die Flächen rund um die heiligen Orte der deutschen Familienidyllen längst nicht mehr grün. Unter den Trampolinen und am Rand der Grillterrassen ist alles Pflanzliche braun, abgestorben, vom Hitzetod dahingerafft. Die Trockenheit frisst sich in das Erdreich, Risse spalten den Boden, die Hitze zerrt an der verdorrten Krume.

Deutschland schwitzt und sehnt sich nach Schatten, diskutiert über die Kälte im Winter, sorgt vor, damit es warm bleibt im Wohnzimmer der Familien. Ventilatoren quirlen die heiße Luft, aber wo man es sich leisten kann, da säuselt die Klimaanlage.

In der Weltstadt mit Herz

Zu Gast für nur wenige Stunden in der Stadt, die das 50. Jubiläum ihrer Olympiade feiert, die in einem deutschen Sommer noch ohne Diskussion um Klimaschäden begonnen hatte, federleicht und bunt, und die dann zur tonnenschweren tödlichen Last wurde. Heiß ist es nun auch hier, aber offensichtlich ist hier mehr Regen gefallen in den letzten Wochen. Die Kinder springen durch die Parks, die Mütter und Väter lagern unter dem Schatten noch satt beblätterter Kastanien, einzelne Stellen der Wiesen schattieren ins Bräunliche, aber es dominiert das Grün.

Ein lauwarmer Abend des sommerlichen Glücks im Biergarten, ein frisch gezapftes Bier, der Rettich tränt ordnungsgemäß – und dann das erste Grollen, bedrohlich und finster wie zu Beginn des Gewitters in Beethovens Pastorale. Unheilkündend? Nein, erlösend, rauschend und rauschauslösend, prasselt in Sekunden das Wasser hernieder wie aus Kübeln, ergießt sich auf die durstigen Wiesen, saugt sich in das erfrischte Grün, tropft im Überfluss von den Bäumen, stürzt sich in die Kanalisation, bildet Bäche und Strudel. Wütend zucken die Blitze von Himmel, zornig grollen die Donner. Wer zu Fuß unterwegs ist, gerade noch in der Gewissheit des trockenen Sommers, flüchtet in Wartehäuschen, die Radfahrer ducken sich in den schwachen Schutz der Alleebäume. Auch die Autos zögern, stocken im steten Vorwärtsdrang, warten das Inferno ab, weil die schwächlichen Arme der Scheibenwischer die Flut nicht mehr ordnen können. Machtlos bleiben sie gegen die zuckende und donnernde Wucht, die die Sicht zerfließen lässt. Ein Aufatmen geht durch die Stadt: Wasser, Wasser!

Noch ein Gewitter: Ob es nicht Zeit wäre, sich zu entschuldigen für das, was palästinensische Terroristen angerichtet haben, als sie den deutschen Traum der heiteren Spiele vor fünfzig Jahren in dieser Stadt zerstörten? Das wird der Präsident von Palästina gefragt, als er auf dem edlen Teppich neben dem Bundeskanzler in Berlin steht. Mahmut Abbas war auch schon politisch aktiv, als damals die Schüsse fielen. Jetzt verweigert er eine Antwort. Stattdessen behauptet er, Israel habe seither schon „Fünfzig Holocausts“ angerichtet. Die Aussage bleibt zunächst unwidersprochen, der Kanzler schüttelt dem geschichtsvergessenen Gast die Hand. Ein medialer-Entrüstungssturm lässt ihn wissen, dass das ein Fehler war. Es ist zu heiß in Deutschland.

Am kleinen See im Blauen Land

Und wieder scheint die Sonne. „Mitten im Schimmer der spiegelnden Wellen, gleitet, wie Schwäne, der wankende Kahn“, träumt in dem von Franz Schubert vertonten Gedicht von Franz von Stolberg der Urlaubsgast in der Idylle des kleinen Moorsees vor den sanft blauschimmernden Hügeln der bayerischen Voralpenlandschaft. Es ist die Zeit der Sommerfrische im „Blauen Land“, das schon Gabriele Münter, Franz Marc und Wassily Kandinsky inspirierte zu verträumten Bildern dieser stillen Landschaft. Die Kühe glocken gemütlich von den sattgrünen Hängen herüber, an die braun verkrusteten Risse im glutheißen Württemberg erinnert hier nichts. Auf dem gut gefüllten See spiegelt sich eitel der Zwiebelturm der Dorfkirche vor weiß-blauem Himmel.

„Ach, auf der Freude sanft schimmernder Wellen, gleitet die Seele dahin wie der Kahn.“ Im oberbayerischen „Blauen Land“ atmet die Natur im saftigen Grün.

Also eingestiegen in den Kahn, Schubert im Kopfhörer: „Ach, auf der Freude sanft schimmernder Wellen, gleitet die Seele dahin wie der Kahn. Denn von dem Himmel herab auf die Wellen, tanzet das Abendrot rund um den Kahn.“ Es wird still am Abend rund um den See, was will man da rudern? Das Paddel stört nur. Meditative Wanderer blicken von den Parkbänken ins glitzernde Nass, glücklich-müde Urlaubskinder umrunden ein letztes Mal für heute den See. Ihre Eltern wandeln hinterher mit stillem Blick auf die kostbare Zeit sorgloser Gemeinsamkeit, die ihnen noch bleibt, bis Pflicht und Last wieder auf ihren Schultern liegen werden. Das Lied weiß, wie es weitergeht: „Ach, es entschwindet mit tauigem Flügel, mir auf den wiegenden Wellen die Zeit …“.

Der Gast verlässt das Blaue Land bei ruhig herabströmendem Landregen. Die Straße ist nass, die Reifen singen das Geräusch der friedlichen Regenfahrt, triefendes Gewölk ballt sich über dem ganzen verwöhnten Landstrich. Im Autoradio ist zu hören, dass noch immer unklar ist, woran genau die Millionen Fische in der Oder gestorben sind. Aber sicher sei, dass die Trockenheit der letzten Monate ihren Anteil habe am tonnenschweren Massentod.

Dort schon nicht mehr, und hier: Wie lange noch wird Tau auf unseren Flügeln liegen?

Durch Franken

Tausend Kilometer Autofahrt, tausend Kilometer Freiheit, einmal längs durch Deutschland. Zunächst Regen, bald schon wieder Sonne, nur noch Sonne. Der Wald an den Rändern der Autobahn verfärbt sich. In Franken herrscht Indian Summer Mitte August. Dort, wo um diese Jahreszeit noch grüne Bäume erwartet werden dürfen, ist schon Herbst. In Gelb und Graubraun, fahlem, mattem Gold klagt uns das Laub an. In wenigen Tagen wird es verdorrt herabfallen, wird uns den Herbst bringen zu einer Zeit, da Rudi Carell sich im Jahr 1975 noch „endlich richtigen Sommer“ gewünscht hatte.

Wie reiten doch die Jäger in Antonio Vivaldis „Herbst“ aus den „Vier Jahreszeiten“ hinaus in den bunten Wald? Voller Vorfreude auf Jagd und Natur, auf den Rausch der bunten Blätter, galoppieren sie dahin. Dieses Jahr werden, wenn es Herbst ist, die Jäger in Franken nur noch kahles Geäst über sich finden, denn das grau-gelb verdorrte Laub wird schon im August gefallen sein.

Es wird ein garstiger Herbst werden in Deutschland, und die Bundesregierung fürchtet den Volkszorn. Deshalb beschließt sie, die Mehrwertsteuer auf den Gaspreis zu senken. Sie mindert damit das Preissignal, das nötig ist, um den klimarettenden Umstieg von fossilen zu erneuerbaren Energien zu beschleunigen. Sie reduziert den Anreiz zur notwendigen Veränderung, und zwar für alle, auch für diejenigen, die genügend Geld haben, um teure Gaspreise zu bezahlen. „Lieb Vaterland, magst ruhig sein“, tönt, schon immer fragwürdig, die „Wacht am Rhein“.

Im Münsterland

Der Rhein bleibt links liegen. Je weiter die Reise nach Norden führt, desto häufiger wachsen die Windräder in den Himmel. Lange Rotoren, die beim flüchtigen Blick fürchten lassen, dass sie das Gras unter sich zermalmen könnten. Oder kürzere Rotoren auf hohem, schlankem Stamm. Wie auch immer: Viele davon!

Dann Rast in Deutschlands Westen, in seiner ganzen, unberührten Selbstsicherheit: Strohgelbe Stoppelfelder, hochstehender Mais, grüne Bäume. Radelnde Rentner durchmessen stolz die flache Landschaft und belohnen sich mit schäumendem Bier im Schatten. Münsterländer Pferde grasen auf der grünen Koppel, prächtige Backsteinhöfe kauern sich in die flache Natur, kaum einer davon ohne Sonnenkollektoren auf dem tief herabgezogenen Dach.

Ein lockerer Abend mit Freunden auf der lauwarmen Terrasse unterbricht die lange Reise. Glückliche Gäste genießen, was der Gasgrill hergibt. Die Gespräche sind besorgt: Schlagen bald auch bei uns die Bomben ein? Allgemeiner Tenor: Wohl eher nicht, hoffentlich. Es wird gemeldet, dass russisches Militär Raketenwerfer auf das Gelände des ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja gekarrt habe, um sie so vor Angriffen durch den Kriegsgegner zu schützen. Die Älteren auf der Terrasse erzählen ihre Erlebnisse in den Wochen nach dem Atomunfall von Tschernobyl.

Vielleicht bedarf es gar keiner Bomben, um uns zu bedrohen? Ein Ministerpräsident, in dessen Bundesland wir kaum Windräder gesehen haben, fordert, Atomkraftwerke länger zu betreiben.

Auf der Insel im Meer

Die Unendlichkeit ist hier zu Hause. Unermesslich breit dehnt sich der Strand, immer weiter, bis der Horizont sich krümmt. Im Nichts verliert sich der Blick über das wogende Wasser. Wollte man sie zählen, die Wellen, so würde man versagen. Oder die Sandkörner? Schon nach einer Handvoll würde man aufgeben. Scharfkantig bohren sich die Scherben Millionen gestorbener Muscheln in den blanken Fuß, der den Gast über den weiten Strand trägt. Er muss ausweichen, will er nicht in eine der angeschwemmten Quallen treten, von der Flut der Sonne zum Fraß vorgeworfen. Sterbende Quallen liegen heuer so häufig am Strand wie noch in keinem Jahr der Besuche zuvor. Diese traurigen Glibberwesen im Sand müssen sterben, aber die Nesseltiere insgesamt sind Gewinner des Klimawandels. Die Erwärmung auch der Nordsee begünstigt die Verbreitung der Quallen im kalten Nass des Nordens.

„Es säuseln die Winde, geschwinde, geschwinde! Es teilt sich die Welle, es naht sich die Ferne!“ Die Insel droht zu versinken im Meer, aber es gibt noch Hoffnung.

Und auch hier liegt die Hitze dieser späten Augusttage bleiern auf den Dünen. Kraftvoll scheint die Sonne vom Himmel, nur wenig Wind kühlt die Stirn, dreißig Grad zeigt das Thermometer. Seit drei Tagen kein Regen auf der Insel, deren Besuch ohne wasserdichten Schutz nicht ratsam ist. Nun war das schüchterne Nieseln bei der Überfahrt der vorerst letzte Niederschlag. Aber die Wiesen sind grün, glückliche Rinder teilen sie sich mit geduldigen Pferden und neugierigen Alpakas.

Die Insel ist sommerlich getunkt in den dickflüssigen Sirup der Idylle. Familien träumen sich durch den Tag, glückliche Kinder toben über den Sand und quengeln um die Aufmerksamkeit ihrer im Strandkorb dösenden Großeltern. Dann bauen sie Sandburgen, werfen sich Frisbees zu und staunen über die schwache Brise, die ausreicht, um ihre Drachen tanzen zu lassen. Und abends dann ein Eis beim Laternen-Denkmal für Lale Andersen, die auf der Insel lebte und starb, und die mit ihrem Durchhalte-Lied „Lili Marleen“ zum Tagtraum einer Soldatengeneration wurde. Manche Straßen der Insel nutzen die Betonpisten des von Zwangsarbeitern errichteten Militärflugplatzes der Nazis noch heute als Straßenbelag.

Diese Insel könnte untergehen, wenn der globale Anstieg des Meeresspiegels nicht gestoppt werden kann. Große Maschinen pumpen jeden Sommer Tausende Tonnen Sand an die verwundbarste Stelle des Eilands. Beim abendlichen Strandspaziergang herrscht windstille Ebbe: Glatte Oberfläche des Wassers in den Prielen, kein Rauschen der Wellen zu sehen, nicht einmal vorne am Brandungssaum. Leise, ganz leise, kaum hörbar hebt im Kopfhörer der Chor an: „Tiefe Stille herrscht im Wasser, ohne Regung ruht das Meer …“ Ludwig van Beethoven hat in seiner Vertonung der Gedichte „Meeresstille“ und „Glückliche Fahrt“ von Johann Wolfgang von Goethe den ganzen Gegensatz der Gewalten des Wassers in betörend schöne Töne gefasst. Jetzt und hier ist es die Meeresstille, die den Gast umgibt: Quälend leise, träge, abwartend, nimmt er uns mit in das erwartungsvolle Nichts der Windstille. Dann aber, vielleicht nur wenige Momente später, jubeln seine Töne über den aufkommenden Wind, sind voller Freude, fantasievoll und gewaltig, denn er wird die „Glückliche Fahrt“ ermöglichen.

Das Anschwellen dieser Töne ist ein triumphales Erlebnis der Zuversicht, ganz so wie seine „Ode an die Freude“, die Europa als Hymne dient. „Es säuseln die Winde, geschwinde, geschwinde!“, jubelt der Chor, „es teilt sich die Welle, es naht sich die Ferne!“

Am Horizont blinkt in der Dämmerung der dichte Wald der Windräder vom Festland. Noch gibt es Hoffnung.

 

 

Die hier angesprochenen Musikstücke habe ich im Text verlinkt; durch das Anklicken der Links stimmen Sie zu, zu YouTube weitergeleitet zu werden.

Hier sind sie alle noch einmal zusammengefasst:

Ludwig van Beethoven, 6. Sinfonie („Pastorale“), daraus das Gewitter im 3. Satz: https://www.youtube.com/watch?v=_eq14DWRko8

Franz Schubert „Auf dem Wasser zu singen“, Gedicht von Franz von Stolberg: https://www.youtube.com/watch?v=TEvo9PTnIlo

Rudi Carell: „Wann wird´s mal wieder richtig Sommer?“: https://www.youtube.com/watch?v=KzEOvyDcVas

Antonio Vivaldi, Vier Jahreszeiten, Herbst, 1. Satz: https://www.youtube.com/watch?v=qNwZgKw2wiU

Patriotisches Lied „Die Wacht am Rhein“ von 1840: https://www.youtube.com/watch?v=oKkRS4rL6Pw

Lale Andersen, „Lili Marleen“, Lied von 1939, hier gesungen von Marlene Dietrich: https://www.youtube.com/watch?v=7heXZPl2hik

Ludwig van Beethoven, „Meeresstille“ und „Glückliche Fahrt“, Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe: https://www.youtube.com/watch?v=NQE4u9VnHYM

 

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier. 

 

Mauersegler, könnt Ihr nicht bleiben?

Eine Fabel-hafte Idee für den nächsten Winter

Schon im Aufbruch, Ihr Mauersegler? So bleibt doch noch!

Wir brauchen Euer quirliges Leben so sehr im lichtblauen Äther dieses Sommers über den Häusern und Straßen und Plätzen unserer bedrohten Welt! Wir brauchen es so sehr, Euer Flirren und Kreisen, Euer ruheloses Tänzeln und Gleiten und Stürzen in unserer Luft. Uns steht ein Winter des Missvergnügens bevor – könnt Ihr uns nicht beistehen mit Eurem Fleiß und eurer Energie, Eurer mutigen Dynamik?

Noch seid Ihr da, Ihr rastlos flatternden und taumelnden Vögel. Im Frühjahr seid Ihr gekommen, und seither dreht Ihr Eure Kreise hoch über uns. Ihr seid zurückgekehrt in die gleichen Nischen und Höhlen unserer Gemäuer, in denen Ihr schon im Jahr zuvor gewesen ward. Oder dorthin, wo Ihr einst selbst aufgewachsen seid. Ihr seid zurückgekommen, und wir haben Euch staunend beobachtet: Wie Ihr in Treue Euer Zusammensein aus dem letzten Sommer wieder aufgenommen habt oder Euch ganz neu zusammenfinden konntet. Wie Ihr Euch neu geliebt, gebrütet, Euer neues Leben genährt habt. Wenige Wochen nur lag das Ei im Nest, wenige Wochen nur musste der kleine Mauersegler auf seinen ersten Flug warten. Als er endlich abhob, die traute Höhle seiner kurzen Kindheit verließ, dann war dieser Flug auch gleich sein bisher einziger gewesen, für Wochen und Monate, denn seither segelt und gleitet und schwingt er mit Euch durch unsere Lüfte, ist einer von Euch, einer über uns.

Mauersegler entfliehen der Kälte unseres Winters lange bevor er eintritt. Drei Monate sind sie unterwegs. Aber wir müssen bleiben, dabei könnten wir Ihre Dynamik, Ihre Ausdauer, ihre Energie so gut gebrauchen, gerade jetzt, da uns ein Winter des Missbehagens droht. Foto: Tomasz Kuran alias Meteor2017, CC BY-SA 3.0 <http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/>, via Wikimedia Commons

 

Immer in der Luft müsst Ihr sein. Ihr alle fliegt und kreist, Ihr bleibt im Flug, am Tag und in der Nacht, zum Schlafen wie zum Essen, einfach immer, denn das Fliegen ist Eure Heimat. Ihr dürft es nicht verlernen, immerzu zu segeln, zu gleiten, zu taumeln. Eure Brut muss es in wenigen warmen Wochen begreifen, sonst droht ihr der Tod.

Wie schön, dass Ihr noch da seid!

Noch dürfen wir Euch bewundern, wenn Ihr Eure luftigen Kapriolen schlagt, noch können wir dabei sein, wenn Ihr hoch hinaus steigt und dann tief hinab stürzt, voller Vergnügen und Kraft. Wir hören Euer Si-rii, si-rii,  anschwellend laut, wenn Ihr herabstürzt, leiser werdend, fast verschwindend, wenn Ihr Euch entfernt. Wenn wir unseren Kopf in den Nacken legen, hinaufschauen aus unseren staubigen, hitzeflirrenden Straßenschluchten, bestaunen wir Euch: Wie kunstvoll Ihr flattert im gleißenden Sonnenlicht, wie Ihr jubelnd die Thermik der Aufwinde erspürt. Wie Ihr Euch gegenseitig und Eurer flüchtenden Beute hinterherjagt im schwindelerregenden Flug, weit und hoch oben im Himmel, weit über unseren Köpfen, so hoch und wild, dass Eure ganze Lebendigkeit für unsere schwachen Augen oft kaum noch zu sehen ist, Eure wilden Flüge dann nur noch winzige schwarze Punkte sind vor dem Blau des Firmaments.

Und auch dann, wenn in den warmen Nächten unseres nördlichen Sommers der Julihimmel sich schwärzt, wenn die Unendlichkeit über uns dunkel zu glänzen beginnt wie poliertes Ebenholz, wenn keine Wolke zu sehen ist, aber die ersten Sterne ein schüchternes Funkeln wagen, wenn wir Menschen durchatmen, weil die Hitze nachlässt – auch dann suchen wir Euch. Dort, wo die Sonne verschwunden war, der Tag noch ein paar Minuten nachlebt in zartem Blau, dort kreist Ihr dann noch immer, geduldig und zäh im Training für Euren Flug in den Süden, Eurer Flucht vor der Kälte. Fern und leise, aus weiter Höhe, klingt Euer Si-riii, si-riii – es ist der Klang einer Ahnung.

Denn bald werdet Ihr bereit sein für Eure lange Reise.

Drei Monate werdet Ihr unterwegs sein. Der drohenden Kälte Eurer Brutplätze in unserem Winter entflieht Ihr rechtzeitig, klug und vorausschauend, entschlossen, noch lange bevor die Nächte länger und die Blätter traurig werden. Ihr braucht die Wärme für Euer schwebendes Leben. Mutig überquert Ihr die schroffen Spitzen der Alpen, deren ewiger Schnee längst zu schmutzigem Schorf verkümmert ist. Ausholend gleitet Ihr über das azurblaue Mittelmeer, in dem Menschen ertrinken, die auf der Flucht sind, so wie Ihr. Schlau nutzt Ihr die flirrende Hitze der Wüsten. Unbeachtet lasst Ihr die geschäftige Umtriebigkeit Arabiens unter Euch, wo der Reichtum von Wenigen in Form babylonisch glitzernder Türme dem Himmel entgegenstrebt, die doch nur auf die bittere Armut derjenigen weisen, die sie errichten mussten.

Mit ungezählten Flügelschlägen, getragen von Eurer Leichtigkeit und strengen Disziplin werdet Ihr über die dumpfen Nebel der üppig grünen, und doch sterbenden, tropischen Wälder von Afrika hinweg gaukeln, über die austrocknenden Steppen, bis Ihr den heißen Atem des Südens erreicht. Am Ziel seid Ihr dort, wo Atlantik und der Ozean von Indien sich begegnen, wo Ihr einen südlichen Sommer lang von den salzigen Lüften der großen Meere getragen werdet.

Mit instinktiver Geduld werdet Ihr dort warten, bis es wieder zurückgeht. Dann gleitet Ihr den ganzen Weg wieder nach Norden, zurück in unseren Frühling im verunsicherten, zerrütteten Europa der vagen Hoffnungen, zurück zu unseren alten Häusern und Euren Brutnischen.

Seit Jahrtausenden macht Ihr sie das so. Ihr seid über die Kriege hinweggeflogen, die wir geführt haben, bemerktet nichts vom Sterben mächtiger Dynastien und Weltreiche, habt flügelschlagend weggesehen, wenn unter Euch die Welt brannte, wusstet nichts von unseren Verbrechen und Abgründen, interessiertet Euch nicht für unsere Momente des Glücks und der Niedertracht.

Aber noch seid Ihr da.

Noch übt Ihr für Euren weiten Weg durch die Lüfte. Noch vertraut Ihr der Wärme unserer Städte, unserer Felder und Wälder. Noch kreist Ihr in den heißen Tagen und lauwarmen Nächten unseres Sommers.

Ach Mauersegler, könntet Ihr nicht bleiben?

Mehr denn je werden wir Eure Leichtigkeit brauchen, Euer Vertrauen in unsere Lüfte und Winde, Eure Treue zu unseren Häusern und Höhlen! Wir werden Eure Erfahrung brauchen im Aufspüren einer wärmenden Thermik, die uns trägt und schützt im nächsten kalten Winter. Könntet Ihr sie uns nicht lehren, Eure Klugheit und Zähigkeit im Umgang mit drohender Kälte, Eure Fähigkeit, sich zusammenzutun und gemeinsam so einen mühsamen weiten Weg in die Wärme zu wagen?

Wenn Ihr fortfliegt, fort von uns, dann werden wir zurückbleiben, festgenagelt am kalten Boden unserer heraufordernden Tatsachen, eingesperrt in den trägen Gewohnheiten unseres geborgten, oft sogar geraubten Wohlstandes.

Oder, Ihr Mauersegler, könntet Ihr uns nicht mitnehmen?

Vielleicht könnten wir von Euch etwas lernen über Demut und Ausdauer für einen langen Weg, über Geduld und Leichtigkeit und die unerschöpflichen Kräfte des Windes und der Sonne, die euch tragen?

Aber nein, wir könnten Euch nicht begleiten, viel zu belastet sind wir, viel zu wenig mutig, viel zu zaudernd. Wir würden palavern und streiten, statt Euren kräftigen Flügelschlag zu lernen, um voranzukommen. Eurer Freiheit würden wir misstrauen; sie würde uns Angst machen, scheuen würden wir all die Mühe der vielen tausend Kilometer, die Ihr gemeinsam auf Euch nehmt, ohne zu fragen, ohne zu diskutieren, ohne einen Anführer. Ihr gleitet in luftiger Selbstbestimmung der Wärme hinterher, statt faul und klagend herum zu hocken in einem goldenen Käfig, in dem es übel riecht nach Unfreiheit, Blut und Gas. Nein, leider, wir müssen hier bleiben.

Mauersegler, wie wird unser Winter wohl werden ohne Euch?

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Mauersegler leben mehr als 90 Prozent ihres Lebens in der Luft. Sobald ein Jungvogel das Nest verlassen hat, bleibt er fast zwei Jahre ohne Unterbrechung in der Luft und legt zweimal  die Strecke von Europa in den Süden Afrikas zurück, bevor er sich erstmals wieder niederlässt, um ein Nest zu bauen. Wer mehr über diese faszinierenden Vögel wissen möchte, kann sich z.B. hier informieren: https://de.wikipedia.org/wiki/Mauersegler#:~:text=Der%20Mauersegler%20(Apus%20apus)%20ist,Der%20Mauersegler%20ist%20ein%20Langstreckenzieher.

Zu diesem Text inspiriert haben mich u.a. auch die faszinierenden Fotos von Lothar Schiffler über die Flugbahnen von Mauerseglern: https://lothar-schiffler.de/home/ Die Bilder sind auch in Ausstellungen zu sehen, zuletzt in Schorndorf, ab 12. Juli 2022 bis Jahresende im Naturkundemuseum Bamberg.

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