Über eine moderne Deutung von Mozarts Oper „Idomeneo“ in Stuttgart
Wer erzieht, erwirbt sich – wenn es gut geht – bleibende Verdienste. Aber unweigerlich geht damit einher, sich schuldig zu machen; meist, ohne es zu bemerken. Ein zu oft überladener Familienalltag, das ununterbrochene, enge Zusammenleben, die Arbeit, der ständige Blick aufs Handy, die Sehnsucht, vom quengelnden Kind endlich einmal in Ruhe gelassen zu werden – alles das verführt zu unüberlegter Gereiztheit. Dazu begegnen die Kinder ihren Eltern meist in bedingungsloser, geradezu unzerstörbar erscheinender Liebe, die vieles wegsteckt. Schließlich verleiten die eigenen Laster und Süchte, die persönlichen Leidenschaften und Prioritäten dazu, jetzt und hier schnell etwas zu tun oder zu unterlassen. Und schon hat man sich schuldig gemacht.
Auch wenn es gut ausgeht – die Schuld verschwindet nicht
Oft gibt es eine Ahnung darüber, schon während es geschieht. Meist aber handelt der Erziehende in fester Überzeugung, das Richtige, das Notwendige, das Zulässige zu tun. Im Fernsehkrimi sind das die Fälle, in denen fehlerhaftes Verhalten den Tod eines Kindes verursacht hat, und davon ausgehend ganze Existenzen zerbersten. Im realen Leben endet solche Schuld erfreulicherweise nur selten so katastrophal. Oft braucht es Jahre des Abstandes, um zu erkennen: Ich habe mich schuldig gemacht. Auch wenn alle Beteiligten scheinbar unversehrt überleben, verschwindet die Schuld deshalb nicht, sie blitzt auf in den Gedanken des schlechten Gewissens, in bösen Erinnerungen, manchmal auch in der realen Welt, in psychischen oder körperlichen Symptomen.
Nach allem, was bekannt ist, war Wolfgang Amadeus Mozart seinem Vater durchaus respektvoll und zugewandt verbunden. Der Vater hatte ihn gefördert und auch gefordert; ohne ihn wäre er vielleicht niemals das Genie geworden, als das wir ihn heute kennen. Ob der Vater, Leopold Mozart, überhaupt darüber nachdachte – etwa hundert Jahre vor den Anfängen der modernen Psychologie – dass auch er Schuld haben könnte am rastlosen Leben seines Sohnes, das wissen wir nicht. Das frühe Sterben des Genies musste er nicht erleben.
Vaters Schuld und Sohnes Liebe – in Verzweiflung vereint
Was also mag den Sohn im Jahr 1781 bewogen haben, eine Oper zu schreiben, in der Vater und Sohn schicksalhaft verbunden sind in gemeinsamer Verzweiflung über väterliche Schuld und Sohnes Liebe? Den Stoff dafür entlehnte sich Mozart aus der griechischen Sagenwelt. Stark vereinfacht geht es darum: Der kretische König Idomeneo hat Troja besiegt. Kurz bevor er als strahlender Held in seine Heimat zurückkehrt, gerät er in einen wütenden Sturm und verspricht in höchster Not dem Meeresgott Neptun, zur Rettung des eigenen Lebens ein Menschenopfer zu bringen. Und zwar, so sagt er zu, solle der erste Mensch, dem er am Strand von Kreta begegnen würde, dem Gott gehören. Neptun lässt sich auf den Handel ein, Idomeneo kommt nach Hause – und trifft am Strand auf seinen Sohn, der ihm glücklich ob der Rückkehr und voller Liebe in die Arme fällt. Nichts ahnend über die schuldhafte Zusage des Vaters, versteht der Sohn nicht ansatzweise, warum der Vater ihn auf einmal meidet, sogar fortschicken möchte.
Mit allerlei Tricks versucht der König, den Vollzug des grausigen Menschenopfers hinauszuzögern oder, noch besser, gar nicht vollstrecken zu müssen. Aber der Gott lässt sich so leicht nicht besänftigen, und so ist Idomeneo schließlich bereit, sich zu fügen, sogar der inzwischen eingeweihte Sohn anerkennt die Pflicht, die dem grausamen Gott gegebene Zusage einzuhalten. Aber so wie der biblische Abraham von Engeln abgehalten wird, seinen Sohne Isaac zu töten – so verhindert schließlich die Liebe einer Frau und göttlicher Großmut auch bei Mozart den Tod des jungen Thronfolgers. Es gibt also ein Happy End in der Oper, das seine Kraft auch aus einer glücklichen Liebesgeschichte zieht, die das Geschehen begleitet, auf die hier aber nicht näher eingegangen werden soll.
Der Sturm tobt, das Wasser kommt – und die Schuld bleibt
Zurück bleibt einmal mehr ein Vater, der überlebt, sich aber schuldig gemacht hat. Er war bereit gewesen, für seine eigene Rettung das Leben eines anderen zu opfern. In der Stuttgarter Neuinszenierung der Mozart-Oper „Idomeneo“ setzt Regisseur Bastian Kraft diese Schuld vom Einzelnen ins Allgemeine: Nicht nur der einzelne Vater macht sich schuldig gegenüber seinem Sohn, auch eine ganze Generation von Vätern lädt Schuld auf sich. Die kretische Gesellschaft watet auf der Opernbühne von Stuttgart über weite Teile des Abends durch ein Überschwemmungsgebiet, das ganz real ausgebreitet wird auf dem Bühnenboden. Der Sturm tobt, das Wasser kommt, die langen Kleider saugen sich voll, während leidendes Volk und eine ratlose Königsclique versuchen, einen Ausweg aus dem väterlich herbeigeführten Sumpf zu suchen.
Was dabei entsteht, sind starke Bilder zu grandioser Musik, die gemeinsam viel erzählen von der Schuld, welche die heutigen Väter-(und Mütter-)generationen sich aufgeladen haben – und die nun die Söhne (und Töchter) als Dürreperioden, Waldbrände, Sturm- und Überschwemmungskatastrophen im wahrsten Sinne des Wortes ausbaden müssen. Dass dabei in Stuttgart ein weiteres Mal (wie bereits in einer anderen Inszenierung wenige Monate zuvor) das Knäuel des vom Sturm herabgefegten Opernhaus-Daches herhalten muss, ist ein eher überflüssiger Wink mit dem Zaunpfahl. Sie macht die Grundidee dieser Regiearbeit platt, anstatt ihr Tiefe zu verleihen. Der wache Betrachter hat längst verstanden: Es waren niemals die Götter oder irgendwelche Ideale, um deren Willen wir Väter uns schuldig machten. Es waren schon immer unsere eigenen, ganz egoistischen Wünsche. Und es sind bis heute unsere Kinder, die damit klarkommen müssen.
Dieser Text erhebt nicht den Anspruch einer Aufführungskritik. Mein Fokus liegt ausschließlich auf dem (kultur-)politischen Aktualitätsbezug von Werk und Inszenierung. Daher gibt es in diesem Text auch nur Bemerkungen zur Konzeption der Inszenierung, nicht zu den Leistungen von Sänger/innen und Orchester. Gesehen habe ich die Generalprobe am 21. November 2024.
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