Kleiner Ausflug ins Konservative

Sieben Miniaturen, erlebt auf einer Reise durch Polen

Grabsteine als Zeitzeugen der polnisch-deutschen Geschichte: Eine Szene im Schatten der Kirchenruine von Milkow.

Krakow, früher Nachmittag

Die Maisonne wärmt die Straßen der alten Residenzstadt, vom Berg leuchtet die stolze Burg der polnischen Könige. Das Leben beginnt zu pulsieren im jüdischen Viertel, die Bars warten auf verfrühte Nachmittagsgäste, eine Gruppe orthodoxer Juden läuft  herum, ihre Locken wippen, während sie Reisekoffer in das Taxi wuchten, das die enge Gasse versperrt. Dort Synagogen, im Stadtzentrum Kirchen. Touristen bestimmen das Bild, viele Europäer in kurzen Hosen und bunten Hemden. In der ganzen Stadt ist fast ausschließlich weiße Haut zu sehen, ein paar Gäste mit asiatisch anmutenden Gesichtszüge. Dann, am Rand der Innenstadt, lockt in einem der alten Häuser das Wort „Döner“. Ein weißer Mann blickt aus dem Fenster. Menschen mit südeuropäischer oder arabischer Prägung gibt es nicht im Straßenbild. Da sage nochmal jemand, Politik habe keine Folgen.

Wroclaw, gegen Mittag

Die Straßenbahn rollt heran. Der Kauf einer Fahrkarte war kein Problem, der Automat versteht auch deutsch oder englisch, ein Tastendruck genügt. Die Kreditkarte akzeptiert er mit einem befriedigten Piepsen, und schon spuckt die Maschine das Kärtchen aus. Es ist warm auf dem schmalen Bahnsteig, und der Gast spürt, wie ihm die Tropfen auf die Stirn treten. Die Bahn ist voll, und in ihrem Inneren ist es noch wärmer. Klack!, macht der Entwerter, und der Gast richtet sich auf eine ruckelige Fahrt im Stehen ein. Schon Sekunden später springt ein junger Mann auf.

Es wird zum stabilen Eindruck bei dieser und weiteren Gelegenheiten: Hier ist wenig woke, und öffentlich noch weniger queer. Selten ein Kuss auf der Straße, das Private ist privat, und in der Sauna bleibt die Badehose an. Lastenräder fehlen im Stadtbild genauso wie Väter, die Kinderwägen schieben. Aber Höflichkeit zählt noch etwas in Polen. Man bietet Älteren den Platz an, Männer lassen Frauen den Vortritt, die Tür wird aufgehalten.

 

Opole, früher Samstagabend

Die Kirchenglocken hatten durch das offene Hotelfenster hindurch geläutet, als wollten sie die Stabilität ihrer Aufhängung prüfen. Dann war Stille gewesen. Beim Spaziergang eine halbe Stunde später durch die Kleinstadt war der fromme Lärm längst vergessen. Warum nicht einmal hineinsehen in die schöne Kirche am Weg? Schnell ist klar: Hineinsehen bedeutet: den laufenden Gottesdienst besuchen. Das war nicht der Plan. Es wäre auch kaum Platz. Die Kirche ist bestens besucht, auch viele junge Menschen sitzen in den Bänken und blicken in ihr Gesangbuch. Es ist nicht Weihnachten und auch nicht Ostern. Es ist ein normaler Samstagabend in Polen.

 

Jelena Gora, später Nachmittag

Ein winziges Café hatte gelockt, und das frisch gemahlene und gebrühte Koffeingebräu war unter schattigen Arkaden ein glücklicher Genuss gewesen, der kleine Kuchen dazu auch. Nun aber würde der Gast eine Toilette benötigen. Die Barista im Rentenalter bedauert, keine eigene Gelegenheit anbieten zu können und gestikuliert deutlich in Richtung Rathaus gegenüber. Richtig, da steht ja: Tourist Information. Aber die Information hat seit 15.30 Uhr geschlossen, nun ist es schon fünf Minuten später, und die Not wird größer. Schließlich Hoffnung: ein anderer Eingang des Rathauses ist noch offen. Schon auf dem Weg zur ersehnten Lokalität stürmt ein Wachmann herbei, verweist grimmig auf seine Uhr und schüttelt entschlossen den Kopf. Ordnung muss sein, Gnade keine Pflicht.

Wie gut: Nebenan, das große Steak- und Burger-Lokal ist schon geöffnet. Beim ersten schüchternen „Sorry, could I …?“ lächelt die Bedienung am Eingang ein entschlossenes „Of course!“ und weist den erleichternden Weg.

 

Milkow (Podgorzyn), am Vormittag

Gerade erst losgefahren, schon ein erster Halt, ungeplant. Fasziniert hat der Blick durch die Windschutzscheibe. Ein grauer Turm steht da, mit löchriger Haube, rabenumflattert, und das Kirchengebäude daneben ist eine Ruine. Sattes, hohes Grün bahnt sich den Weg durch die gähnend leeren Fensterhöhlen und wiegt sich im Wind, wo das Dach fehlt. Ein Bauzaun versperrt jeden Weg dorthin. Immerhin, drumherum lädt ein großer Friedhof ein. Hunderte Grablaternen, bunte Plastikblumen auf den Gräbern mit polnischen Namen.

Eine Erläuterungstafel bleibt unverständlich, da nur polnisch. Aber ein Blick ins allwissende Netz hilft: Die evangelische Pfarrkirche des einstmals deutschen Dorfes wurde im Krieg durch Bombeneinschlag zerstört. Nach Kriegsende war die evangelische Bevölkerung geflohen oder vertrieben worden. Die neuen Bewohner waren katholisch, und es gab keinen Bedarf mehr an einer evangelischen Kirche. Warum also wieder aufbauen? Der Friedhof wurde weiter betrieben. Die alten deutschen Grabsteine liegen als steinerne Zeitdokumente zusammengewürfelt im Schatten der Ruine. Dieses Erlebnis schärft den Blick auf der weiteren Fahrt: An vielen anderen Stellen wurden die alten Friedhöfe schlicht rückstandslos eingeebnet.

 

Wroclaw, am Vormittag

Die runde Halle steht in jedem Reiseführer, wird beworben als besondere Sehenswürdigkeit. Unesco-Welterbe! Bei ihrem Bau im Jahr 1927 war die „Jahrhunderthalle“ die größte freitragende Halle Deutschlands, eine Ikone des frühen Stahlbeton. Aber die Dame am Ticketschalter schaut nur widerwillig vom Handy auf. Nein, erklärt sie auf Englisch, eine Besichtigung sei jetzt nicht möglich. Es sei eine Gruppe in der Halle, und daher die Kapazität für die Besichtigung erschöpft. Wie lange das dauere? Könne sie nicht sagen. Ob man schon mal ein Ticket kaufen könne? Nein, besser nicht, vielleicht überlege man es sich ja doch noch anders.

Zwanzig Minuten später ein erneuter Vorstoß. Ob die Gruppe jetzt draußen sei? Wieder ein zögerndes Aufblicken vom privaten Display. Nein, das wisse sie nicht. Da kommen zwei Besucher aus der Halle. Hoffnungsvoller Verweis: Wenn die beiden da jetzt draußen sind, könnten wir doch rein? Richtig, freut sich die Dame, legt das Handy aus der Hand und verkauft zwei Tickets. In der riesigen Halle sind zur Besichtigung zwei Logen freigegeben. Sie haben mindestens hundert Plätze. Besetzt sind etwa zwanzig.

 

Karpacz, um die Mittagsstunde

Das ehemalige Bergdorf ist ein Touristenhotspot mit einer alten Holzkirche als herausragende Attraktion. Die Szenerie gleicht der Annäherung an Schloss Neuschwanstein. Vorbei an Hotels und Restaurants nähert sich das Auto, schon frühzeitig lotsen geschäftstüchtige Helfer auf gebührenpflichtige Parkplätze. Der Anstieg von dort zur Stabkirche Wang ist steil, aber kurz und kurzweilig. Rechts und links des Weges glotzt tausendäugig quietschbunter China-Plüsch von Touristenständen, locken überteuerte Porzellanverkäufe und alberner Erinnerungskitsch, warten Grillwürste und einsturzgefährdete Softeispyramiden.

Dann endlich die Kirche, vor mindestens 800 Jahren in Norwegen aus Holz erbaut, vor knapp 200 Jahren von dort nach Berlin transportiert, dann schließlich im Jahr 1844 an dieser Stelle auf halbem Weg aus dem Tal zum Gipfel der Schneekoppe wieder zusammengesetzt. Gedacht als meditativer Einkehrpunkt für Wanderer. Nun treibt ein festgefügter Ablauf im Viertelstundentakt die Touristen busladungsweise in das Kirchlein. Wie eine brave Schulklasse hören wir die Erklärung vom Band und sehen der Aufseherin zu, die mit einem langen Stock und humorlosem Blick auf das Erläuterte zeigt. Es fühlt sich an wie in einem alten Pauker-Film aus den 60er Jahren. Aber schon bald ist Schule aus.

 

Mein Text „Germania, Europa und der Stier“ nimmt ebenfalls Bezug auf meine Reiseeindrücke durch Polen.

 

Draußen dröhnt die Dult (#46)

Kath. Pfarrkirche Maria Hilf in der Au (Mariahilfkirche), Mariahilfplatz, 81541 München

Mein Besuch am 3. Mai 2023

Tief unter den Fenstern des Turms von Mariahilf warten die Stände der Auer Dult. Foto: Amrei-Marie – Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16993994

Draußen dröhnt die Dult, wobei man Nichtmünchnern erklären muss, was das ist: Dreimal im Jahr, im Mai, im August und im Oktober, findet auf dem Mariahilfplatz, einem weiten Gelände rund um jene Kirche, um die es hier geht, ein Stadtteilfest statt, jeweils etwa zehn Tage lang. Die „Auer Dult“ ist eine Mischung aus Kirmes mit Fahrgeschäften und Bratwurstbuden, Antiquitäten- und Raritätenmarkt und Verbrauchermesse im Freien. Beste Stimmung herrscht bei gutem Wetter dort, der Scooter jault und die Marktschreier rufen – und wem das zu viel ist, der darf sich in das Riesenkirchenbauwerk retten, das (zur Zeit eingerüstet) inmitten des ganzen Trubels steht.

Angeblich das größte textile Wandkunstwerk (der Welt? Wikipedia lässt das offen.) hängt im Chorraum der Mariahilfkirche in München: Ein 22,5 Meter hoher Gobelin mit dem Titel „Maria im Rosenkranz“.

Die Mariahilfkirche ist ein Backsteinbau, im neugotischen Stil aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und damit der älteste neugotische Kirchenbau Deutschlands. Im zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude grundlegend zerstört, wenigstens der Turm bleib weitgehend erhalten. Bei der Wiedererrichtung in den frühen 50er Jahren blieb außen der Eindruck der Neugotik erhalten, aber innen erwartet jetzt ein moderner Kirchenraum im Stil der Nachkriegszeit die Besuchenden. Hochstrebendes, freiliegendes Beton strebt dem fast flachen Kirchendach entgegen, das ein modernes Farbmuster in gedeckten Farben trägt. Farblich passt dazu der Wandteppich, der den Chorraum und damit die ganze Kirche prägt: „Maria im Rosenkranz“ heißt er und ist mit 22,5 m Höhe (lt. Wikipedia) der größter Gobelin christlicher Textilkunst.

„Der größte, der schnellste, der billigste!“, rief ein billiger Jakob, als ich aus der Kirche trat, wieder hinaus aus der Stille, hinein in das pralle Leben. Ob die Kirche mir gefallen hat mit ihrem etwas spröden Charme, nach meinem Geschmack auch sehr vollgestellt mit Kleinkram – das bleibt offen. Ich muss wiederkommen, um mir ein abschließendes Urteil zu bilden. Ihre Ruhekraft als Fluchtraum inmitten des Dult-Trubels aber wird mir in bester Erinnerung bleiben.

 

Mehr über die Mariahilfkirche bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Mariahilfkirche_(M%C3%BCnchen) 

Die Auer Dult hat eine eigene Website, der man auch die Termine entnehmen kann: https://www.auerdult.de/

Weitere Kirchen aus meiner Sammlung #1000Kirchen finden Sie hier. 

Hier blickte Fontane vom Turm (#0008)

St. Nikolai, Berlin-Spandau, Reformationsplatz 1, 13597 Berlin

Mein Besuch am 30. Mai 2021

St. Nikolai, Innenraum und gotischer Altar

Eine große klare Kirche, hell und doch streng. Das gotische Gewölbe weist in den Himmel, der Kirchenraum ist breit gegliedert und lädt zum stillen Rundgang ein. Die Kirche ist sehr alt; im Rohbau um 1370 erstmals fertiggestellt, ein 1398 gestiftetes gotisches Taufbecken ist bis heute erhalten. Später wurde die Kirche neugotisch von Karl Friedrich Schinkel restauriert, der Turm brannte mehrfach aus und trägt eine barocke Spitze mit einer Aussichtskanzel, die schon Theodor Fontane in seinen „Wanderungen“ für einen ersten Rundblick auf das Havelland nutzte (siehe auch „Im Brieselang“ unter #BerlinerFlaneur).

Wer das Glück hatte, wie ich die Kirche geöffnet zu erleben, und das auch noch bereichert durch  Klavierspiel einer Kirchenmusikerin, findet sein stilles Glück in diesem Raum.

Barocke Kanzel, um 1700, Holz

Während des Nationalsozialismus war hier Superintendent Martin Albertz tätig, ein mutiger Mann aus dem kirchlichen Widerstand gegen das Hitler-Regime. Diesen Widerstand musste er nicht nur gegenüber dem Staat durchsetzen, sondern auch gegenüber der Mehrheit seiner eigenen Amtsbrüder und seines Kirchengemeinderates. Er war Mitbegründer und eine der führenden Vertreter der „Bekennenden Kirche“, die sich gegen die Gleichschaltung durch das NS-Regime wehrte.

Mehr über Martin Albertz: https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Albertz

und über St. Nikolai auf der Website der Pfarrgemeinde: https://nikolai-spandau.de/page/2062/st-nikolai-kirche

und der Text von Fontane im Original: https://www.textlog.de/41235.html