Das Schicksal des weitgereisten Tauchrohrs

„Made in China“ – ein Bestell-Erlebnis, und was es erzählt

„Made in China“ steht auf der Schachtel. Das Leben des kleinen Stückes Plastik hat also irgendwo in weiter Ferne begonnen, irgendwann in den letzten Monaten oder Jahren, zwischen Tausenden wohlgeformter Artgenossen. Es ist ein Migrant und hat wie Millionen andere den mühsamen Weg gefunden bis nach Deutschland. Und nun?

Das gesuchte Teil ist ein ziemlich schlichter Gefährte des Alltags. Der Einsatz besteht aus einem weißen Plastikrohr im Durchmesser von sieben und der Höhe von sechs Zentimetern.

Dies ist eine Geschichte von einer Irrfahrt zwischen Sinn und Sinnlosigkeit. Von Hoffnungen und ungewisser Zukunft. Sie beginnt damit, dass eine Dusche geputzt wurde. Die Dusche hat einen Abfluss, und die unangenehme Tätigkeit, diesen Abfluss zu reinigen, hatte die Frau des Hauses übernommen. Tapfer befreite sie den herausnehmbaren, und noch namenlosen Einsatz von eklig nassen Haarbüscheln und undefinierbarem Schlamm. Auch nach gründlicher Reinigung stellte sie fest, dass dieser Einsatz selbst schon arg in die Jahre gekommen war. Aufgeraut von unermüdlichen Filteranstrengungen gegen Hautschuppen, Schweiß und Haare war er reichlich angegriffen und unansehnlich geworden. Gesucht: Ersatz für den Einsatz.

Gesucht: Ersatz für den Einsatz

Das gesuchte Teil ist ein ziemlich schlichter Gefährte des Alltags. Der Einsatz besteht aus einem weißen Plastikrohr im Durchmesser von sieben und der Höhe von sechs Zentimetern. Ein Bügelchen in seinem Inneren sorgt dafür, dass man ihn leicht herausnehmen kann, und ein schwarzer Gummiring dichtet ihn nach oben ab. Die Sanitärabteilung des Baumarktes kennt das kleine Plastikrohr aber leider nicht. Zwischen zig anderen rätselhaften Plastikeinsätzen ist der fragliche in seinen Maßen nicht aufzufinden. Immerhin, das gesucht Objekt erlangt hier seinen Namen. „Tauchrohr“, nennt sich ein solcher Gegenstand, analysiert der Fachmann hinter dem Tresen das unansehnlich gewordene Altobjekt in der Hand des Kaufwilligen. Aber leider nicht im Sortiment, sorry.

„Jetzt schnell abholen!“

Mit dem bisher im Wortschatz des Suchenden unbekannten Begriff „Tauchrohr“ erbringt eine Recherche im allwissenden Netz schnell hoffnungsfrohe Ergebnisse: Ja, sogar die bevorzugte Online-Plattform bietet das kleine Tauchrohr ohne Versandkosten für die schnelle Lieferung am übernächsten Tag an. Preis: 8.99 Euro. Nun ja, geschätzter Herstellungswert in China vielleicht fünf Cent – aber was soll man machen? Geklickt, bestellt, bezahlt, bestätigt.

Planmäßig taucht in der Verfolgungsapp des großen Versenders auch noch am gleichen Abend die Nachricht auf, dass sich das Tauchrohr auf den Weg gemacht hätte. Beruhigt packt der Käufer seine Koffer, denn am dritten Tag nach der angekündigten Lieferung des Tauchrohrs steht eine längere Reise an. Aber das Tauchrohr verirrt sich auf seinem Weg, in der App stockt der Sendefortschritt. Einen Tag lang tut sich nichts, dann noch einer, und noch einer; die Plattform entschuldigt sich bereits automatisiert und nutzlos für Verzögerung. Und just an dem Tag, da der Käufer frohgemut im Auto sitzt, weit fort und unterwegs in die Ferne, meldet die App: „Sendung liegt in der Packstation. Jetzt schnell abholen!“

Daran ist nicht zu denken. Die Fähre ruft, das Meer rauscht, die Wolken ziehen, die Sonne scheint, und das Tauchrohr schmachtet wartend in seinem Metallkäfig. Nicht schlimm, denkt sich der Käufer: Nicht abgeholt, geht also zurück, wird erstattet, dann neuer Kauf. Die heimische Dusche hat ohnehin auch Urlaub.

Bestellt, abgeholt und eingebaut

Zwei Tage vor Erreichen der Heimat meldet die App: „Zu lange nicht abgeholt! Sendung geht zurück.“ Der Urlauber kehrt heim, sichtet die spärliche Post, sortiert die Wäsche, lüftet die Koffer – und bestellt schließlich das Tauchrohr erneut, damit es endlich voranschreiten möge mit der Hygiene in der Dusche. Das neue Tauchrohr kommt wie versprochen noch am nächsten Tag an. Abgeholt, ausgepackt, eingebaut.

Am darauffolgenden Morgen meldet die App erneut eine Sendung in der Abholstation. Stirnrunzelnd wird das Fach geöffnet, und was liegt dort? Das nicht abgeholte Tauchrohr, säuberlich als „nicht abgeholt, zurück“ etikettiert – aber irrtümlich nicht an den Versender zurückgesendet, sondern erneut dem Besteller zugestellt.

Zwei Tauchrohre braucht die Dusche nicht. Also rasch einmal den doppelten Kauf online storniert. Pling, die Elektronik quittiert den Rücksendewunsch und meldet Sekunden später den Erhalt des Erstattungs-QR-Codes. Ein paar Schritte nur sind es zum nächsten Paketshop, Code  gescannt, piep, schon wird die Erstattung des überflüssigen Tauchrohr-Kaufs auf dem Konto bestätigt.

„Was passiert nun damit?“, fragt der Kunde. „Das schicken wir zurück“, versichert der nette Mensch im Paketshop und greift zu einer Versandtasche. Die Verkaufsplattform versichert, dass sie von solchen Retouren so wenig wie möglich vernichtet. Eine zweite Chance für das kleine Tauchrohr.

Ergeht es nur dem Tauchrohr so?

Und doch, was ist das für ein bitteres Schicksal! Von weit her im muffigen Container über die Weltmeere der Globalisierung geschaukelt, dann hinein in das riesige, langweilige Lagerregal. Endlich wird das Plastikteil benötigt, könnte einen Nutzen stiften! Also rein in den Umschlag und los quer durchs schöne Deutschland. Bestellt, aber nicht abgeholt, durchleidet das Tauchrohr zehn Tage in einem dunklen, sonnen-überhitzten Schließfach. Nutzlos rollt es im Lieferauto einmal zurück ins Verteilzentrum, und wieder zurück in die Packstation. Dann endlich erbarmt sich jemand, das Plastikrohr trifft am Bestimmungsort ein – aber nun ist es überflüssig. Also wieder zurück ins Lagerregal, wenn die Allmacht der Plattform es zulässt. Immerhin, es ist eine neue Hoffnung auf Sinn, besser als der kalte Wurf in die Abfalltonne.

Ergeht es nur dem kleinen Plastik-Tauchrohr so, das nun einmal Pech hatte? Nicht ausgeschlossen, grübelt der Käufer, dass sich hierzulande auch Menschen ganz ähnlich fühlen: Herumgeschubst, hin- und her sortiert und immer in der Sorge, aussortiert zu werden. Sicher ist nur, die Menschen fühlen – und das kleine Tauchrohr nicht.

 

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier. 

Über den Umgang der Versandplattformen mit Retouren informiert das Netz, z.B. hier. Ob man es glauben kann?