Tag 9: Hitzestress und Blaulicht

Tag 9 (1. Juli 2025)

Von Neustadt-Schierschnitz bis – irgendwo zwischen Rotheul und Mogger

Es war möglicherweise von Anfang an keine gute Idee, an diesem Tag überhaupt zu wandern. Angesagt war „extreme Hitze“, aber die Sehnsucht nach einem Wiedersehen mit dem Kolonnenweg paarte sich mit der Hoffnung, im Wald werde es schon nicht so heiß werden wie in der glühenden Großstadt.

Aber Wandern im Hitzestress ist dann doch eine größere Herausforderung als erwartet. Der Weg entlang der Grenze führt rund um Sonneberg, der alten thüringischen Spielzeugstadt, die wie eine Halbinsel ins bayerische Oberfranken hineinragt. Sonneberg war zu DDR-Zeiten vom Rest der Welt abgeschnitten – nach Süden lag der Todesstreifen, und nach Norden wurde jede und jeder streng kontrolliert, der in diese grenznahe Stadt einreisen wollte.

Der Grenzweg führt auch, aber nicht nur durch Wald. Auf freiem Feld wogen links und rechts die Ähren im heißen Hauch; erleichternd ist jede Luftbewegung, auch wenn sie schnell wieder erstirbt. Traumhaft schön durchziehen die unterschiedlichen Grade der Reifung das weite Gerstenfeld und lassen es im gnadenlosen Glanz der Sonne zwischen blassgrün und goldgelb schimmern. Darüber ein makelloser Himmel. Weit vorne flüchten Rehe aus dem Korn in das schützende Gebüsch. Was trinkt Rotwild an solchen Tagen?

Wie Schatten ziehen sich die Grade der Reifung durch das Gerstenfeld. Vom Himmel brennt die Sonne.

Bei der Mittagspause auf einer schattigen Bank zeigt das Handy 33 Grad Temperatur an. Die Getränkevorräte unterliegen einer strengen inneren Rationierung, sie müssen noch ein paar Stunden und einige Kilometer ausreichen. Dann eine Wegeverirrung, die mich zwingt, einen Kilometer am Rande einer kaum befahrenen Landstraße zu gehen. Glut von oben, Hitze auf dem Asphalt, keine Chance auf Schatten. Herbeigesehnt und schließlich erreicht ist endlich die Stelle, da der Kolonnenweg mit seinen vertrauten Lochplatten die Straße kreuzt und in den erhitzten, aber schattigen Wald hineinführt.

Schatten! Aber was ist das da vorne? Das erste Innehalten war vom Licht veranlasst. Woher kommt hier dieser leichte Grauschleier zwischen den Bäumen – ein Lichteffekt? Dann nehme ich Brandgeruch wahr, dann wenige Meter weiter: züngelnde Flammen links des Kolonnenweges. Das Handy hat 5G-Netz und die Herstellung der Verbindung zur Feuerwehr klappt zügig. Aber wo ist das hier? Der Begriff „alter DDR-Kolonnenweg“ sagt dem jungen Mann am Telefon nichts. Es gelingt mir schließlich, meinen Standort elektronisch zu fixieren und freizugeben. Der junge Mann in der Notrufzentrale ist zufrieden: „Wir kümmern uns.“

Ein Weitergehen an der Brandstelle vorbei kommt nicht in Frage, also wieder zurück bis zur Straße. Es dauert etwa 20 Minuten, bis sich mit Blaulicht ein Polizeiauto von der bayerischen Seite nähert. Kolonnenweg? Was soll das sein?, fragt der junge Polizist. Die beiden Beamten bleiben an der Straße stehen und lotsen die Feuerwehr an die richtige Stelle. Nach und nach nähern sich mit Tatü-tata Feuerwehren aus beiden Richtungen. Das Handy zeigt: 35 Grad. Die Feuerwehrleute können mit ihren schweren Fahrzeugen nicht in den Wald einfahren. Sie schleppen in voller Montur Schläuche und Gerätschaften hinein, mindestens 500 Meter sind es bis zur Brandstelle.

Nach der Brandmeldung dauert es einige Zeit, bis die Feuerwehr kommt. Aber dann wuchten Männer, für die es keine Ausrede gibt, bei glühender Hitze schweres Gerät in den Wald.

Ich breche die Wanderung ab. Ein freundlicher Mann nimmt mich im Auto zur nächsten Bushaltestelle mit. Alle Getränkeflaschen sind leer. Im Schatten des Rathauses von Neustadt-Schierschnitz warte ich auf den Bus. Eine besorgte Angestellte hat mich von innen beobachtet und kommt heraus. Sie bietet mir ein Glas Wasser an. Ich muss ganz schön fertig aussehen.

Distanz: 16,4 Kilometer, 22.900 Schritte

Begegnungen mit Wanderern: fünf (zwei Wanderer,  ein Pferd mit Reiterin, ein Spaziergänger-Pärchen mit Hund)

Jäger-Hochsitze am Weg: 14

Alle Texte aus meinem Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

 

 

Tag 4: Die Flucht am Schwarzen Teich

Tag 4 (19.9.2024)

Von Blechschmidtenhammer nach Hermesgrün

Verfall der Infrastruktur in Deutschland: Die erste benutzbare Sitzbank am Kolonnenweg der DDR-Grenzer taucht nach zehn Kilometern auf. Dort dann immerhin mit einer Gedenktafel über die Flucht am Schwarzen Teich.

„So viel der Helden, tapfer, deutsch und weise, – ein stolzer Eichwald, herrlich, frisch und grün!“, singt in der Wagner-Oper „Tannhäuser“ der Barde Wolfram von Eschenbach. Das fand der Sage nach unweit vom Frankenwald statt, auf der waldumstandenen Wartburg bei Eisenach in Thüringen. Der deutsche Wald meines Weges wird solchen Erwartungen nicht gerecht. Er ist kein stolzer Eichwald, sondern ein  grau zerfasertes Einerlei aus kränklichen Fichtenstämmen, frisch und grün ist er auch nicht. Der deutsche Wald, jedenfalls hier, krankt.

Ich bin in der Mitte Deutschlands, auch geografisch, und auf dem teilweise fast zugewachsenen Kolonnenweg herrscht absolute Einsamkeit. Die Geräusche der Natur begleiten mich auf dem Weg, auf dem mir den ganzen Tag über kein einziges menschliches Wesen begegnet. Eine nicht bewachte, aber umzäunte Schafherde grast auf einer Wiese, sonst nur Wald, Gebüsch, Schmetterlinge, Käfer, Spinnen, die ganze Vielfalt der Schöpfung.

Hinsetzen, anlehnen, ausruhen – das wäre gut. Ein für Wanderer gedachter Rastplatz nach etwa fünf Kilometern erweist sich als archäologisches Artefakt, verfallen und unbrauchbar. Nach zehn Kilometern endlich die erste nutzbare Rastbank am Schwarzen Teich.  Ich setze mich und lese eine Gedenktafel über die Geschichte der Flucht an dieser Stelle: Ein Vater mit zwei Kindern versuchte hier vor sechzig Jahren, im Sommer 1964,über die bereits befestigte Grenze von Ost nach West zu gelangen. Die Kinder erreichten unversehrt die bayerische Seite, der Vater aber trat auf eine Bodenmine und blieb schwer verletzt im Grenzstreifen liegen.

Zufällig griff ein fränkisches Pärchen im Auto die zwei an der Straße herumirrenden Kinder auf und übergaben sie der Polizei. Diese kehrte zurück an den Platz des grausigen Geschehens und brachte auch gleich den örtlichen Landarzt mit. Der Vater der Kinder lag noch immer schreiend vor ihnen, in Rufweite, aber auf DDR-Gebiet. Die DDR-Grenzer warnten vor Betreten ihres Staatsgebietes, aber die beiden Polizisten fassten sich ein Herz: Einer schoss als Feuerschutz in die Luft, und der andere zog den Schwerverletzten auf westdeutsches Gebiet. Der so Gerettete verlor durch die Detonation der Mine ein Bein, aber hatte die Freiheit gewonnen. Nach seiner Genesung und Rehabilitation kam er zur Polizeistation zurück und hat sich dort bedankt.

Das waren noch Zeiten, denke ich mir bei dieser Geschichte, als bayerische Polizei einen Flüchtenden nach Bayern hinein rettete! Die Zeiten sind anders, und ganz sicher ist es trotz allem, was man aktuell kritisieren kann und muss, nun doch besser als damals, da dies hier eine todbringende Grenze war.

Ein Plätschern , ein paar Steine – sie sieht die Landesgrenze zwischen Thüringen (vorne) und Bayern (hinten) am Schwarzen Teich heute aus. Vor 60 Jahren halfen hier bayerische Polizisten einem Flüchtenden über die Grenze, nachdem ihm eine Tretmine das Bein zerfetzt hatte.

Ich breche wieder auf, denke über meine Freiheit nach und über meine beiden gesunden Beine, während ich auf Flusskieseln hinüberhüpfe über den kleinen Bach, der einst die Grenze war. Menschenleere Stille – auf beiden Seiten.

Distanz: 13,9 Kilometer, 22.000 Schritte

Begegnungen mit Wanderern: 0

Jäger-Hochsitze am Weg: 19

 

Alle Texte aus meinem Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

Mehr Informationen über die Flucht am Schwarzen Teich als PDF auf der Website Grenzer-Stammtisch.de 

 

Tag 3: Der Gesang der Zivilisation

Tag 3 (18.9.2024)

Von Mödlareuth nach Blankenstein

Deutsche Einheit von unten: Rechts die Bogenbrücke der alten Hitler-Autobahn, links die ergänzte Brücke aus den 90er Jahren. Gemeinsam überspannen sie das Saaletal zwischen Thüringen und Bayern.

Ein Gärtner bläst das erste Herbstlaub vom Museumsgelände in Mödlareuth; das Museum ist noch geschlossen, aber das habe ich ja auch schon besucht. Es ist ein Aufbruch im spätsommerlichen Morgennebel, aber die feuchten Schwaden verziehen sich schnell. Strahlende Sonne über dem Grenzstreifen. Es herrscht vormittägliche Stille in der Natur, links ein Rascheln, rechts ein Pfeifen, oben das Keckern der Elstern. Eichhörnchen huschen über den Kolonnenstreifen. Die Blätter in den Bäumen rauschen im Wind.

Viele Gebäude im einst so stolzen Hirschberg, einem Zentrum der Lederproduktion, verfallen. Die Lederfabrik selbst wurde nach der „Wende“ abgerissen.

Der Weg führt durch Hirschberg und Rudolphstein. Beide Ortsnamen habe ich schon hunderte Male gelesen: Autobahnprominenz. Es gibt auch Orte dazu: Hirschberg in Thüringen war zweihundert Jahre ein Schwerpunkt der Lederfabrikation. Der DDR war das Leder von dort so wichtig, dass sie sogar akzeptierte, dass das Fabrikgelände bis unmittelbar an die tödlich bewachte Staatsgrenze reichen durfte. Nur drei Jahre benötigte dann das wiedervereinigte Deutschland (in Form der Treuhand), das riesige Fabrikgelände an einen österreichischen Investor zu veräußern, der ein halbes Jahr später Konkurs anmeldete. Das ganze Gelände, ein Labyrinth von Hallen, Gruben, Lagern wurde abgeräumt, heute erinnert eine Parklandschaft unmittelbar am alten Grenzstreifen an die Geschichte der Lederproduktion in Hirschberg.

Der Großstädter in mir vermisst den Müll. Am Weg liegt nichts, was nicht von der Natur selbst stammt. Keine Dosen, keine Kippen, keine Pizzakartons. Die Zivilisation nähert sich nur akustisch. Je näher ich der sechsspurigen A9 entgegenkomme, desto lauter liegt ihr ewiger Gesang in meinen Ohren. Zuerst ganz weit weg, eher zu ahnen, dann immer lauter singen die LKW-Bässe ihre Arie, schmachten die Tenöre der PKWs, dringt der Mezzosopran der Motorräder zu mir durch. Wüsste ich nicht, dass es sich um Vorbeirasende handelt, könnte man es für moderne E-Musik halten.

Mit diesem Gesang im Ohr gehe ich unter der „Brücke der Deutschen Einheit“ hindurch, die das Saaletal überspannt und damit Thüringen und Bayern verbindet. Ursprünglich war das ein Teil einer Hitler-Autobahn; die Bogenkonstruktion der Brücke galt schon in den 30er Jahren als spektakulär und beispielgebend. Nach der Einheit wurde sie kühn ergänzt um eine zweite Spannbetonbrücke. Nichts davon nehmen wir wahr, wenn wir oben auf der Fahrbahn zwischen Rudolphstein und Hirschberg entlangrasen. In ihrer ganzen Unterschiedlichkeit nebeneinander und einig verkraften diese Brücken die tägliche Last von Tausenden LKW und PKW und Motorrädern, dienen stumm dem nun so selbstverständlichen Hin und Her unseres deutschen Zusammenlebens. Ich schreite weiter, an der Saale entlang, und das rätselhafte Lied der Mobilität wird hinter mir immer leiser, bis es ganz verstummt.

Nur sehr gelegentlich begegne ich Menschen: Plötzlich, mitten im Wald, kommt mir eine junge Frau mit Baby im Tragetuch entgegen. Sie telefoniert und unterbricht ihr Gespräch, da sie genauso überrascht ist wie ich über diese Begegnung im Nirgendwo. Wo kam sie her? Später treffe ich zwei Damen meines Alters, plaudernd auf dem Spazierweg entlang der Saale. Sie bemitleiden mich darüber, dass ich in der Großstadt wohnen muss. Ein Rentner im akribisch gepflegten Trabi freut sich, mir seine Geschichte als geschasster DDR-Zöllner erzählen zu können.

 

Distanz: 22,2 km, 30.700 Schritte

Begegnung mit Wanderern: 4

Jäger-Hochsitze am Weg: 15

Alle Texte aus meinem deutschen Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

Mehr über die Geschichte der Brücke der Deutschen Einheit bei Wikipedia, über die Geschichte der Lederfabrik von Hirschberg hier.

 

 

 

 

Tag 2: Todesstreifen, einst und heute

Tag 2 (11.8.2024)

Von Heinersgrün nach Mödlareuth

Das menschenleere „Zonenrandgebiet“ hat einen neuen Zweck: Energiegewinnung.

Ob Peter Stegemann von den Schießscharten wusste? Vermutlich. Sie hatten Schießscharten in den Wachtürmen der Grenzanlagen, aber für Peter Stegemann mussten sie nicht schießen.

Der Kolonnenweg kreuzt in Hochfranken zwei Autobahnen. Beim Wandern habe ich mich schnell an die beglückende Stille gewöhnt, zu der auch das Rauschen der Blätter, das Pfeifen und Rascheln der vielen Lebewesen um mich herum gehört. Wie brutal zischt und jault dagegen der rasende Alltag der Autobahn, die mit jedem Schritt näher kommt. Heute ist sie der Todesstreifen, wenn ich versuchen würde, sie zu Fuß zu überqueren. Ich suche also Unterführungen oder Brücken, die sicheren Durchlass gewähren.

Für Peter Stegemann gab es keinen sicheren Durchlass. Er versuchte, an der Stelle, die heute Autobahn ist, den Grenzzaun im Todesstreifen zu überklettern. Damals herrschte hier bleierne Stille, und dann löste sich der Schuss. Aber er kam nicht aus den Schießscharten des bis heute erhaltenen Grenzturms von Heinersgün. Tausende sehen ihn täglich von der Autobahn aus, brausen achtlos vorbei.

Die Verwaltung des Todes: Steuerungseinheit über die Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze (gesehen im Wachturm Heinersgrün).

Ich bin einer von acht Besuchern, die das Innere des Turms aufsuchen können, dank ehramtlich Engagierten, die das Denkmal einige Male im Jahr öffnen. Der Turm war schon fast verfallen und wurde erst 2023 wieder hergestellt. Schießscharten, archaisch wie einst in den Stadtmauern des Mittelalters, sind da zu besichtigen, und verstaubte Elektrotechnik mit vielen Knöpfen und Schaltern, aus einer Zeit, als es noch keine Microchips und Touchscreens gab. Hier diente sie dazu, die einzelnen Abschnitte der Selbstschussanlagen am Grenzzaun an- und abschalten zu können. Am 21. Juli 1978 hatte Peter Stegemann beim Versuch, die DDR zu verlassen, eine solche Anlage ausgelöst, und einen Tag später starb er an seinen Verletzungen.

Dann weiter des Weges. Der Kolonnenweg führt im wohligen Halbschatten durch menschenleeres Gelände bis zum „Drei-Freistaaten-Stein“, wo Bayern, Sachsen und Thüringen aneinanderstoßen. Der Stein ist kümmerlich, wurde schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts gesetzt und hat vermutlich wegen seiner Banalität alle DDR-Grenzsicherungsaktivitäten unbeschadet überstanden. Heute langweilen sich rund um den Stein in jedem Freistaat jeweils eine Parkbank. Ich setze mich auf die bayrische, weil sie als einzige im Schatten steht.

Dann hinab nach Mödlareuth. Ein paar Traktoren begegnen mir, sonst nur Sonne, Wind und Stille. Über allem zwitschern ein paar Vögel und surren die gewaltigen Windräder. Ich habe gezählt: mindestens 26 waren es nur an dieser Stelle, Grenzland ist auch Energieland! Das menschenleere „Zonenrandgebiet“ hat einen neuen Zweck. Wenn die gewaltigen Flügel auch sonst fast lautlos ihre Kreise drehen, geben die Turbinen in luftiger Höhe doch beim An- und Abschalten ein fernes, Brummen von sich, kurz und geschäftig.

Schließlich erreiche ich das Dorf, dessen 300 Einwohner einmal durch eine Mauer und die komplette Grenzanlage der DDR geteilt waren.  Als „Klein-Berlin“ wurde es einst Präsidenten, Soldaten und Schaulustigen gezeigt. Im Museum spüre ich das stille Grauen des Kalten Krieges und frage mich, wo die Hoffnungen alle hingeraten sind, die Europa einst mit der Überwindung dieser Zeit verbunden hatte. In den Museums-Wachturm von Mödlareuth muss ich gar nicht mehr hinaufklettern. Die Schießscharten sehe ich auch von außen.

Hier aber, hier war jemand klug genug, sich einen Winkel der Mauer zu suchen, der vom Wachturm aus kaum einsichtig war, und am 25. Mai 1975 mit einer Leiter über die Mauer zu klettern. Er besaß als ortskundiger Kraftfahrer die Erlaubnis zur Einfahrt in den Grenzstreifen und machte sich dieses Privileg zu Nutze. Und er hatte viel Glück: Das Klettern in den Westen gelang ihm, auch weil die Soldaten im letzten Moment seiner späten Entdeckung wohl einen Moment zu lange zögerten, die Schusswaffe einzusetzen.

Die erfolgreiche Flucht in Mödlareuth: mit einer Leiter über die Mauer (Rekonstruktion der DDR-Grenztruppen, Foto: Bundesarchiv)

 

Distanz: 12,7 Kilometer, 18.000 Schritte

Begegnungen mit Wanderern: 2

Jäger-Hochsitze am Weg: 11

 

Alle Texte aus meinem Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

Mehr Informationen zum Grenzturm von Heinersgrün und die Geschichte des Ortes Mödlareuth finden Sie auf der Website des deutsch-deutschen Museums. 

Wie anders das Schicksal geteilter Dörfer verlaufen konnte, zeigt Kleintettau, das ich an Tag 8 besucht habe. 

 

Tag 1: Innehalten am Ende unserer Welt

Tag 1 (10.8.2024)

Vom Dreiländereck bis Ullitz

Vielleicht zehn Jahre war ich alt, als ich mit meinen Eltern im Bayerischen Wald Urlaub machte. Eine Wanderung führte uns an die bayerisch-tschechische Grenze. Ich sehe mich dort stehen, es ist wie ein Foto der Erinnerung: Meine Eltern neben mir, der gemeinsame Blick über den Stacheldraht, den Deutsche dort gespannt hatten, davor das Schild „Halt! Staatsgrenze“. Der Blick ins fremde Tal, ein Blick ins Unerreichbare, denn eine andere Weltmacht herrschte dort. Im Tal tief unter uns waren Häuser zu sehen. Ob es wohl Menschen sind wie Du und ich, die da lebten? Zum „Ostblock“ gehörten sie. Die Wanderung war zu Ende, von hier gab es nur den Rückweg, keine Chance, auf die andere Seite zu gelangen. Wir waren am Ende unserer Welt.

Wie anders ist der Eindruck am Dreiländereck heute. Nun beginnt hier mein Weg, der mich in Abschnitten bis an die Ostsee führen soll. Die Grenzschilder stehen nur noch dekorativ herum, ein Dreiecksstein markiert die bayerische, die sächsische und die tschechische Seite. Der Grenzübertritt nach Tschechien ist nur ein harmloser Schritt, auf einem Bohlenweg, über ein Rinnsal hinüber, ein paar Stufen hinauf. Dann wartet dort ein tschechischer Rastplatz, ein Mountainbiker-Pärchen bevölkert die Pausenbank. Der Ostblock ist entschwunden.

Auf der deutschen Seite liegt ein unbekannter Soldat, nicht symbolisch, sondern vermutlich real, dessen Grab von engagierten Menschen gepflegt wird. Über seine Geschichte finde ich nicht mehr als, dass er „dort 1945 ermordet worden“ sei. So erzählt es die Webseite der Deutschen Kriegsgräber-Fürsorge. Sein Grab, mit Gedenkschrift in Fraktur und einem Stahlhelm auf dem Kreuz, weckt heute fremde Gefühle, die nichts zu tun haben mit dem armen Mann, der da ruht.

Das Dreiländereck im Rücken, beginnt mein Weg in Sachsen. Und wird meist auf dieser Seite der Grenze, die keine mehr ist, bleiben. Es ist der Kolonnenweg der Soldaten der DDR, die hier mit Gewehr und Schießbefehl entlanggingen, Kilometer um Kilometer, Hügel auf und Hügel ab. Auf der Westseite gab es keinen Kolonnenweg. Jetzt ist auch hier nur noch wilde Natur, die sich die Betonplatten zurückerobert.

Der Ostblock ist weg.

Distanz: 14,5 Kilometer

Begegnungen mit Wanderern: 1

Jäger-Hochsitze: 22

 

Alle Texte aus meinem Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

Mehr Informationen über das Dreiländereck und den dort bestatteten unbekannten Soldaten finden Sie hier.