Tag 5: Der Rennsteig und das Space

Tag 5 (20.9.2024)

Von Nordhalben nach Reichenbach

Nicht nur die kleinen Orte im Osten verfallen, auch das bayerische Nordhalben stemmt sich gegen den Niedergang: Hilferuf im Ortszentrum.

„Ein deutscher Bergpfad ist’s! Die Städte flieht er und birgt im Dickicht seinen scheuen Lauf.“

So beschreibt der Dichter Joseph Victor von Scheffel den Rennsteig. Der berühmte Fernwanderweg über die Thüringer Gipfel ist uralt, und erst seit der deutschen Wiedervereinigung wieder komplett begehbar. Meine Wanderstrecke dieses Tages führt mich auf den Rennsteig, denn mehrfach kreuzt er auch den Kolonnenweg, auf dem ich in der Regel unterwegs bin.
Die Begegnung mit dem Rennsteig ist in zweifacher Hinsicht prägend:
Erstens sind plötzlich andere Menschen da. Während mir auf dem Kolonnenweg so gut wie nie Menschen begegnen, sind es auf den wenigen Kilometern, die ich heute auf dem Rennsteig unterwegs bin, gleich mehrere Wanderer und Mountain-Biker. Der Rennsteig ist hervorragend ausgeschildert und komfortabel; es gibt Rastplätze und Schutzhütten.
Zweitens irritiert mich, dass bei den Kreuzungspunkten des Rennsteigs mit dem Kolonnenweg der DDR-Grenzer nur selten ein Hinweis darauf zu finden ist, was das für merkwürdige Lochplatten sind, die da kilometerweit in der Landschaft liegen. Wanderer sind unpolitisch? Vielleicht, aber man muss sie nicht unwissend lassen.

Mein Weg begann vor fünf Tagen in der Nähe der sächsischen Kleinstadt Adorf. Auf der Suche nach Wanderproviant schlenderte ich damals dort durch das Städtchen und war entsetzt: Ein wunderbar renovierter Marktplatz, einladende Bänke, ein plätschernder Brunnen – aber sonst alles völlig verödet. Leere Schaufenster, verfallende Häuser, blickten mich an, und nur mit Mühe habe ich eine Bäckerei gefunden, die wenige Stunden geöffnet hat. Der Osten verfällt, habe ich mir da gedacht.

Nun Quartier in Nordhalben, gut siebzig Kilometer westwärts entlang der früheren Grenze, diesmal auf bayerischer Seite. Dasselbe Bild: Verfallende Häuser, leere Schaufenster, dröhnende Leblosigkeit trotz renoviertem Ortskern. Der Westen verfällt auch, denke ich mir.

Der Ort ist so sehr aus der Zeit gefallen, dass der Kino-Erfolgsfilm „Ballon“ im Oktober 2017 zu einem guten Teil hier gedreht wurde. Nicht nur, weil die atemberaubende Handlung sich tatsächlich in der Nähe abspielte – sondern auch, weil man zwischen diesen Häusern die graue Stimmung der späten DDR am besten nachbilden konnte. Überall im Ort wird an die Zeit erinnert, da Nordhalben Drehort für „Bully“ Herbig und seine Schauspieler war.

Straßenszene aus Nordhalben: In den Schaufenstern steht nichts, und ein Graffiti erinnert an die Aufnahmen für die Film „Ballon“, die hier gemacht wurden – auch, weil der Ort so sehr an die graue Realität der späten DDR erinnert.

Danach aber sank Nordhalben zurück in die ländliche Perspektivlosigkeit. Ein großes Transparenz beim Rathaus ruft um Hilfe: „Wir suchen: Ärzte, Handwerker … Wir bieten: Arbeitsplätze, bezahlbare Häuser“. Der einzige Supermarkt kündigt an, früher zu schließen. eine Jugendgruppe lädt zum Theaterabend: „Kerwa im Weltall“ heißt das Stück, das gezeigt wird, wobei man wissen muss, dass „Kerwa“ fränkisch ist für „Kirchweih“ – also Volksfest.

Das Stück ist Programm. Denn mittendrin in Nordhalben findet sich ein „Space“, gelandet wie ein Ufo auf einem vergreisenden Himmelskörper. Via Buchungsportal war ich zum Übernachten dort gelandet. Gut geschlafen habe ich, vor allem aber habe ich Unglaubliches gelernt: Als Maßnahme der bayerischen Wirtschaftsförderung wurde hier, inmitten des berechtigt befürchteten Niedergangs, eine alte Schule zu einem hochmodern renovierten Experiment umgestaltet: Konferenzräume, Co-Working-Räume, leistungsstarkes W-Lan, Gästeapartments.  Der verwaltende Hausherr, als ITler im Hauptberuf ortsungebunden, ist selbst mit Prämien und billigem Leben aus der Großstadt hierher gelockt worden. Nun kümmert er sich um seinen „Space“, sprüht vor Ideen, wie er mit dem ungewöhnlichen Bau dem sterbenden Nordhalben neues Leben einhauchen könnte. Vielleicht Yoga-Kurse? Rückzugsort zum Lernen und Schreiben für Studierende und Schriftsteller? Co-Working als Fluchtpunkt für erschöpfte Home-Office-Väter und -Mütter? Oder eine Akademie gründen, um das überbordende, stylische Raumprogramm zu füllen? Auch ein Verein gründet sich: Im Space wehrt sich Nordhalben gegen den Absturz.

Allein: Außer mir ist bisher wohl kaum noch einer da, der hier co-worken will. Und auch ich wandere  weiter.

 

Distanz: 17,2 Kilometer, 24.500 Schritte

Begegnungen mit Wanderern: 10, dazu 4 Mountainbiker (alle auf dem Rennsteig) 

Jäger-Hochsitze am Weg: 14

 

Alle Texte aus meinem Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

Das Nordwald Space finden sie im Netz hier. 

Für mich ist der teilweise auch in Nordhalben gedrehte Film „Ballon“ ein herausragendes Beispiel dafür, wie man Geschichte erzählen kann, mit unfassbarer Spannung und Action, ohne dass ein einziger Schuss fällt oder sonst irgendeine körperliche Gewalt gezeigt werden muss. Der Film ist über verschiedene Streaming-Dienst zu erhalten. Hier der Trailer (Link führt zu Youtube):

 

 

Tag 4: Die Flucht am Schwarzen Teich

Tag 4 (19.9.2024)

Von Blechschmidtenhammer nach Hermesgrün

Verfall der Infrastruktur in Deutschland: Die erste benutzbare Sitzbank am Kolonnenweg der DDR-Grenzer taucht nach zehn Kilometern auf. Dort dann immerhin mit einer Gedenktafel über die Flucht am Schwarzen Teich.

„So viel der Helden, tapfer, deutsch und weise, – ein stolzer Eichwald, herrlich, frisch und grün!“, singt in der Wagner-Oper „Tannhäuser“ der Barde Wolfram von Eschenbach. Das fand der Sage nach unweit vom Frankenwald statt, auf der waldumstandenen Wartburg bei Eisenach in Thüringen. Der deutsche Wald meines Weges wird solchen Erwartungen nicht gerecht. Er ist kein stolzer Eichwald, sondern ein  grau zerfasertes Einerlei aus kränklichen Fichtenstämmen, frisch und grün ist er auch nicht. Der deutsche Wald, jedenfalls hier, krankt.

Ich bin in der Mitte Deutschlands, auch geografisch, und auf dem teilweise fast zugewachsenen Kolonnenweg herrscht absolute Einsamkeit. Die Geräusche der Natur begleiten mich auf dem Weg, auf dem mir den ganzen Tag über kein einziges menschliches Wesen begegnet. Eine nicht bewachte, aber umzäunte Schafherde grast auf einer Wiese, sonst nur Wald, Gebüsch, Schmetterlinge, Käfer, Spinnen, die ganze Vielfalt der Schöpfung.

Hinsetzen, anlehnen, ausruhen – das wäre gut. Ein für Wanderer gedachter Rastplatz nach etwa fünf Kilometern erweist sich als archäologisches Artefakt, verfallen und unbrauchbar. Nach zehn Kilometern endlich die erste nutzbare Rastbank am Schwarzen Teich.  Ich setze mich und lese eine Gedenktafel über die Geschichte der Flucht an dieser Stelle: Ein Vater mit zwei Kindern versuchte hier vor sechzig Jahren, im Sommer 1964,über die bereits befestigte Grenze von Ost nach West zu gelangen. Die Kinder erreichten unversehrt die bayerische Seite, der Vater aber trat auf eine Bodenmine und blieb schwer verletzt im Grenzstreifen liegen.

Zufällig griff ein fränkisches Pärchen im Auto die zwei an der Straße herumirrenden Kinder auf und übergaben sie der Polizei. Diese kehrte zurück an den Platz des grausigen Geschehens und brachte auch gleich den örtlichen Landarzt mit. Der Vater der Kinder lag noch immer schreiend vor ihnen, in Rufweite, aber auf DDR-Gebiet. Die DDR-Grenzer warnten vor Betreten ihres Staatsgebietes, aber die beiden Polizisten fassten sich ein Herz: Einer schoss als Feuerschutz in die Luft, und der andere zog den Schwerverletzten auf westdeutsches Gebiet. Der so Gerettete verlor durch die Detonation der Mine ein Bein, aber hatte die Freiheit gewonnen. Nach seiner Genesung und Rehabilitation kam er zur Polizeistation zurück und hat sich dort bedankt.

Das waren noch Zeiten, denke ich mir bei dieser Geschichte, als bayerische Polizei einen Flüchtenden nach Bayern hinein rettete! Die Zeiten sind anders, und ganz sicher ist es trotz allem, was man aktuell kritisieren kann und muss, nun doch besser als damals, da dies hier eine todbringende Grenze war.

Ein Plätschern , ein paar Steine – sie sieht die Landesgrenze zwischen Thüringen (vorne) und Bayern (hinten) am Schwarzen Teich heute aus. Vor 60 Jahren halfen hier bayerische Polizisten einem Flüchtenden über die Grenze, nachdem ihm eine Tretmine das Bein zerfetzt hatte.

Ich breche wieder auf, denke über meine Freiheit nach und über meine beiden gesunden Beine, während ich auf Flusskieseln hinüberhüpfe über den kleinen Bach, der einst die Grenze war. Menschenleere Stille – auf beiden Seiten.

Distanz: 13,9 Kilometer, 22.000 Schritte

Begegnungen mit Wanderern: 0

Jäger-Hochsitze am Weg: 19

 

Alle Texte aus meinem Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

Mehr Informationen über die Flucht am Schwarzen Teich als PDF auf der Website Grenzer-Stammtisch.de 

 

Tag 3: Der Gesang der Zivilisation

Tag 3 (18.9.2024)

Von Mödlareuth nach Blankenstein

Deutsche Einheit von unten: Rechts die Bogenbrücke der alten Hitler-Autobahn, links die ergänzte Brücke aus den 90er Jahren. Gemeinsam überspannen sie das Saaletal zwischen Thüringen und Bayern.

Ein Gärtner bläst das erste Herbstlaub vom Museumsgelände in Mödlareuth; das Museum ist noch geschlossen, aber das habe ich ja auch schon besucht. Es ist ein Aufbruch im spätsommerlichen Morgennebel, aber die feuchten Schwaden verziehen sich schnell. Strahlende Sonne über dem Grenzstreifen. Es herrscht vormittägliche Stille in der Natur, links ein Rascheln, rechts ein Pfeifen, oben das Keckern der Elstern. Eichhörnchen huschen über den Kolonnenstreifen. Die Blätter in den Bäumen rauschen im Wind.

Viele Gebäude im einst so stolzen Hirschberg, einem Zentrum der Lederproduktion, verfallen. Die Lederfabrik selbst wurde nach der „Wende“ abgerissen.

Der Weg führt durch Hirschberg und Rudolphstein. Beide Ortsnamen habe ich schon hunderte Male gelesen: Autobahnprominenz. Es gibt auch Orte dazu: Hirschberg in Thüringen war zweihundert Jahre ein Schwerpunkt der Lederfabrikation. Der DDR war das Leder von dort so wichtig, dass sie sogar akzeptierte, dass das Fabrikgelände bis unmittelbar an die tödlich bewachte Staatsgrenze reichen durfte. Nur drei Jahre benötigte dann das wiedervereinigte Deutschland (in Form der Treuhand), das riesige Fabrikgelände an einen österreichischen Investor zu veräußern, der ein halbes Jahr später Konkurs anmeldete. Das ganze Gelände, ein Labyrinth von Hallen, Gruben, Lagern wurde abgeräumt, heute erinnert eine Parklandschaft unmittelbar am alten Grenzstreifen an die Geschichte der Lederproduktion in Hirschberg.

Der Großstädter in mir vermisst den Müll. Am Weg liegt nichts, was nicht von der Natur selbst stammt. Keine Dosen, keine Kippen, keine Pizzakartons. Die Zivilisation nähert sich nur akustisch. Je näher ich der sechsspurigen A9 entgegenkomme, desto lauter liegt ihr ewiger Gesang in meinen Ohren. Zuerst ganz weit weg, eher zu ahnen, dann immer lauter singen die LKW-Bässe ihre Arie, schmachten die Tenöre der PKWs, dringt der Mezzosopran der Motorräder zu mir durch. Wüsste ich nicht, dass es sich um Vorbeirasende handelt, könnte man es für moderne E-Musik halten.

Mit diesem Gesang im Ohr gehe ich unter der „Brücke der Deutschen Einheit“ hindurch, die das Saaletal überspannt und damit Thüringen und Bayern verbindet. Ursprünglich war das ein Teil einer Hitler-Autobahn; die Bogenkonstruktion der Brücke galt schon in den 30er Jahren als spektakulär und beispielgebend. Nach der Einheit wurde sie kühn ergänzt um eine zweite Spannbetonbrücke. Nichts davon nehmen wir wahr, wenn wir oben auf der Fahrbahn zwischen Rudolphstein und Hirschberg entlangrasen. In ihrer ganzen Unterschiedlichkeit nebeneinander und einig verkraften diese Brücken die tägliche Last von Tausenden LKW und PKW und Motorrädern, dienen stumm dem nun so selbstverständlichen Hin und Her unseres deutschen Zusammenlebens. Ich schreite weiter, an der Saale entlang, und das rätselhafte Lied der Mobilität wird hinter mir immer leiser, bis es ganz verstummt.

Nur sehr gelegentlich begegne ich Menschen: Plötzlich, mitten im Wald, kommt mir eine junge Frau mit Baby im Tragetuch entgegen. Sie telefoniert und unterbricht ihr Gespräch, da sie genauso überrascht ist wie ich über diese Begegnung im Nirgendwo. Wo kam sie her? Später treffe ich zwei Damen meines Alters, plaudernd auf dem Spazierweg entlang der Saale. Sie bemitleiden mich darüber, dass ich in der Großstadt wohnen muss. Ein Rentner im akribisch gepflegten Trabi freut sich, mir seine Geschichte als geschasster DDR-Zöllner erzählen zu können.

 

Distanz: 22,2 km, 30.700 Schritte

Begegnung mit Wanderern: 4

Jäger-Hochsitze am Weg: 15

Alle Texte aus meinem deutschen Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

Mehr über die Geschichte der Brücke der Deutschen Einheit bei Wikipedia, über die Geschichte der Lederfabrik von Hirschberg hier.

 

 

 

 

Tag 2: Todesstreifen, einst und heute

Tag 2 (11.8.2024)

Von Heinersgrün nach Mödlareuth

Das menschenleere „Zonenrandgebiet“ hat einen neuen Zweck: Energiegewinnung.

Ob Peter Stegemann von den Schießscharten wusste? Vermutlich. Sie hatten Schießscharten in den Wachtürmen der Grenzanlagen, aber für Peter Stegemann mussten sie nicht schießen.

Der Kolonnenweg kreuzt in Hochfranken zwei Autobahnen. Beim Wandern habe ich mich schnell an die beglückende Stille gewöhnt, zu der auch das Rauschen der Blätter, das Pfeifen und Rascheln der vielen Lebewesen um mich herum gehört. Wie brutal zischt und jault dagegen der rasende Alltag der Autobahn, die mit jedem Schritt näher kommt. Heute ist sie der Todesstreifen, wenn ich versuchen würde, sie zu Fuß zu überqueren. Ich suche also Unterführungen oder Brücken, die sicheren Durchlass gewähren.

Für Peter Stegemann gab es keinen sicheren Durchlass. Er versuchte, an der Stelle, die heute Autobahn ist, den Grenzzaun im Todesstreifen zu überklettern. Damals herrschte hier bleierne Stille, und dann löste sich der Schuss. Aber er kam nicht aus den Schießscharten des bis heute erhaltenen Grenzturms von Heinersgün. Tausende sehen ihn täglich von der Autobahn aus, brausen achtlos vorbei.

Die Verwaltung des Todes: Steuerungseinheit über die Selbstschussanlagen an der innerdeutschen Grenze (gesehen im Wachturm Heinersgrün).

Ich bin einer von acht Besuchern, die das Innere des Turms aufsuchen können, dank ehramtlich Engagierten, die das Denkmal einige Male im Jahr öffnen. Der Turm war schon fast verfallen und wurde erst 2023 wieder hergestellt. Schießscharten, archaisch wie einst in den Stadtmauern des Mittelalters, sind da zu besichtigen, und verstaubte Elektrotechnik mit vielen Knöpfen und Schaltern, aus einer Zeit, als es noch keine Microchips und Touchscreens gab. Hier diente sie dazu, die einzelnen Abschnitte der Selbstschussanlagen am Grenzzaun an- und abschalten zu können. Am 21. Juli 1978 hatte Peter Stegemann beim Versuch, die DDR zu verlassen, eine solche Anlage ausgelöst, und einen Tag später starb er an seinen Verletzungen.

Dann weiter des Weges. Der Kolonnenweg führt im wohligen Halbschatten durch menschenleeres Gelände bis zum „Drei-Freistaaten-Stein“, wo Bayern, Sachsen und Thüringen aneinanderstoßen. Der Stein ist kümmerlich, wurde schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts gesetzt und hat vermutlich wegen seiner Banalität alle DDR-Grenzsicherungsaktivitäten unbeschadet überstanden. Heute langweilen sich rund um den Stein in jedem Freistaat jeweils eine Parkbank. Ich setze mich auf die bayrische, weil sie als einzige im Schatten steht.

Dann hinab nach Mödlareuth. Ein paar Traktoren begegnen mir, sonst nur Sonne, Wind und Stille. Über allem zwitschern ein paar Vögel und surren die gewaltigen Windräder. Ich habe gezählt: mindestens 26 waren es nur an dieser Stelle, Grenzland ist auch Energieland! Das menschenleere „Zonenrandgebiet“ hat einen neuen Zweck. Wenn die gewaltigen Flügel auch sonst fast lautlos ihre Kreise drehen, geben die Turbinen in luftiger Höhe doch beim An- und Abschalten ein fernes, Brummen von sich, kurz und geschäftig.

Schließlich erreiche ich das Dorf, dessen 300 Einwohner einmal durch eine Mauer und die komplette Grenzanlage der DDR geteilt waren.  Als „Klein-Berlin“ wurde es einst Präsidenten, Soldaten und Schaulustigen gezeigt. Im Museum spüre ich das stille Grauen des Kalten Krieges und frage mich, wo die Hoffnungen alle hingeraten sind, die Europa einst mit der Überwindung dieser Zeit verbunden hatte. In den Museums-Wachturm von Mödlareuth muss ich gar nicht mehr hinaufklettern. Die Schießscharten sehe ich auch von außen.

Hier aber, hier war jemand klug genug, sich einen Winkel der Mauer zu suchen, der vom Wachturm aus kaum einsichtig war, und am 25. Mai 1975 mit einer Leiter über die Mauer zu klettern. Er besaß als ortskundiger Kraftfahrer die Erlaubnis zur Einfahrt in den Grenzstreifen und machte sich dieses Privileg zu Nutze. Und er hatte viel Glück: Das Klettern in den Westen gelang ihm, auch weil die Soldaten im letzten Moment seiner späten Entdeckung wohl einen Moment zu lange zögerten, die Schusswaffe einzusetzen.

Die erfolgreiche Flucht in Mödlareuth: mit einer Leiter über die Mauer (Rekonstruktion der DDR-Grenztruppen, Foto: Bundesarchiv)

 

Distanz: 12,7 Kilometer, 18.000 Schritte

Begegnungen mit Wanderern: 2

Jäger-Hochsitze am Weg: 11

 

Alle Texte aus meinem Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

Mehr Informationen zum Grenzturm von Heinersgrün und die Geschichte des Ortes Mödlareuth finden Sie auf der Website des deutsch-deutschen Museums. 

 

Tag 1: Innehalten am Ende unserer Welt

Tag 1 (10.8.2024)

Vom Dreiländereck bis Ullitz

Vielleicht zehn Jahre war ich alt, als ich mit meinen Eltern im Bayerischen Wald Urlaub machte. Eine Wanderung führte uns an die bayerisch-tschechische Grenze. Ich sehe mich dort stehen, es ist wie ein Foto der Erinnerung: Meine Eltern neben mir, der gemeinsame Blick über den Stacheldraht, den Deutsche dort gespannt hatten, davor das Schild „Halt! Staatsgrenze“. Der Blick ins fremde Tal, ein Blick ins Unerreichbare, denn eine andere Weltmacht herrschte dort. Im Tal tief unter uns waren Häuser zu sehen. Ob es wohl Menschen sind wie Du und ich, die da lebten? Zum „Ostblock“ gehörten sie. Die Wanderung war zu Ende, von hier gab es nur den Rückweg, keine Chance, auf die andere Seite zu gelangen. Wir waren am Ende unserer Welt.

Wie anders ist der Eindruck am Dreiländereck heute. Nun beginnt hier mein Weg, der mich in Abschnitten bis an die Ostsee führen soll. Die Grenzschilder stehen nur noch dekorativ herum, ein Dreiecksstein markiert die bayerische, die sächsische und die tschechische Seite. Der Grenzübertritt nach Tschechien ist nur ein harmloser Schritt, auf einem Bohlenweg, über ein Rinnsal hinüber, ein paar Stufen hinauf. Dann wartet dort ein tschechischer Rastplatz, ein Mountainbiker-Pärchen bevölkert die Pausenbank. Der Ostblock ist entschwunden.

Auf der deutschen Seite liegt ein unbekannter Soldat, nicht symbolisch, sondern vermutlich real, dessen Grab von engagierten Menschen gepflegt wird. Über seine Geschichte finde ich nicht mehr als, dass er „dort 1945 ermordet worden“ sei. So erzählt es die Webseite der Deutschen Kriegsgräber-Fürsorge. Sein Grab, mit Gedenkschrift in Fraktur und einem Stahlhelm auf dem Kreuz, weckt heute fremde Gefühle, die nichts zu tun haben mit dem armen Mann, der da ruht.

Das Dreiländereck im Rücken, beginnt mein Weg in Sachsen. Und wird meist auf dieser Seite der Grenze, die keine mehr ist, bleiben. Es ist der Kolonnenweg der Soldaten der DDR, die hier mit Gewehr und Schießbefehl entlanggingen, Kilometer um Kilometer, Hügel auf und Hügel ab. Auf der Westseite gab es keinen Kolonnenweg. Jetzt ist auch hier nur noch wilde Natur, die sich die Betonplatten zurückerobert.

Der Ostblock ist weg.

Distanz: 14,5 Kilometer

Begegnungen mit Wanderern: 1

Jäger-Hochsitze: 22

 

Alle Texte aus meinem Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

Mehr Informationen über das Dreiländereck und den dort bestatteten unbekannten Soldaten finden Sie hier.