Doppelter Tumult auf den Rücksitzen

Eine Assoziation zur Neuinszenierung von Puccinis „Il trittico“ in Hamburg

Schon zu lange dauert die Fahrt. Kilometer um Kilometer zieht sich die Autobahn dahin. Tochter und Sohn sind festgeschnallt auf der Rückbank, aber die Stimmung droht zu kippen. „Erzähl uns eine Geschichte!“, wird von hinten gefordert. „Wir sagen Dir drei Worte“, übernimmt die Tochter die Regie, „und daraus machst Du eine Geschichte!“ „Aber eine coole!“, verlangt der Sohn. Die Mutter steuert und schweigt.

„Ein Einhorn soll vorkommen, ein wunderschönes Einhorn“, fordert die Tochter. „Und ein Dinosaurier“, schreit der Sohn. Die Tochter verdreht die Augen.

„Also gut“, sagt die Mutter, „ein wunderschönes Einhorn und ein Dinosaurier. Und was noch?“ Langes Beratschlagen auf den Rücksitzen über den dritten Begriff. Ein Fahrrad? Ein Feuerwehrauto? Die Kinder können sich nicht einigen. Da taucht vor ihnen ein LKW auf. Aufgemalt ist ein großer, runder Donut, gelbe Glasur, bunte Zuckerstreusel. „Ein Donut!“, ruft der Sohn. „Ohh, lecker“, bestaunt die Tochter das aufgemalte Riesen-Schmalzgebäck. Die Mutter lenkt und denkt.


Drei kurze Opern an einem Abend, das verspricht „Il trittico“. In Hamburg werden aber vier Geschichten erzählt. Es beginnt mit der witzigen Erbschleicher-Soap „Gianni Schicchi“ (hier Narea Son und Roberto Frontali) …

Tumult! Irreführende Ankündigung! Hier soll es doch um eine Oper gehen!

An der Staatsoper Hamburg geht es dieser Tage nicht um drei Worte, sondern um drei Kurzopern. „Il trittico“ heißt der Opernabend, den der auch damals schon weltberühmte italienische Komponist Giacomo Puccini, sechs Jahre vor seinem Tod im November 1924, als letztes komplettes Werk vertonte. Auf dem Programm stehen drei Einakter, jeder etwa eine Stunde lang, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Trotzdem wünschte sich der Komponist ganz ausdrücklich, dass sie gemeinsam an einem Abend gegeben werden sollten – als „Triptychon“, als dreiteiliges Gesamtkunstwerk. „Il trittico” ist ein Sittengemälde, in dem jede einzelne Oper für sich steht. „Der Mantel” erzählt dramatisch von Armut und der mörderischen Verzweiflung über eine erkaltete Liebe. „Schwester Angelica” schildert tragisch die Unerbittlichkeit von Moralvorstellungen, die ein junges Leben erst ins Kloster und dann in den Tod treibt. Und “Gianni Schicchi” schließlich spottet heiter über geldgierige Erbschleicherei und endet in der glücklichen Liebe eines jungen Paares.

Schöne, elegante Bilder verwöhnen das Publikum

In Hamburg hat das Regieteam um Axel Ranisch diese drei Opern in schöne, elegante Bilder gesetzt. Es ist eine Lust, auf diese Bühne zu schauen. Die Kulissen sind stimmig und erzählfreudig, das Licht strahlt und schimmert in jeder dargestellten Seelenlage genauso, wie es sein muss. Die Kostüme sind bunt und fantasievoll. Alles ist angenehm modernisiert, nicht angestaubt, und doch stören keine allzu gewagten Regie-Experimente die schönen Bilder zur schmelzenden Musik. Die Tragödie rund um den Mantel, der am Ende die Leiche eines Liebhabers verbirgt, wird – wie vom Komponisten gewünscht – in der düsteren Tristesse des Pariser Prekariats um 1900 verortet. Im Italien des Mittelalters ist die Komödie „Gianni Schicchi“ angesiedelt und erzählt in Hamburg äußerst unterhaltsam  den trickreichen Kampf der Erben am zu verteilenden Kuchen in der bunten Bildersprache einer Vorabendserie auf RTL2. Nur das tragische Schicksal von Angelica, der traurigen Klosterschwester wider Willen, wird aus dem 17. Jahrhundert auf ein modernes Filmset verlegt.

Aber trotzdem hält es Empörte kaum auf den Sitzen

…, dann folgt ein Sozialdrama mit mörderischem Ausgang: „Der Mantel“ (hier: Roberto Frontali und Elena Guseva). Und schließlich …

Es gäbe also für alle Puccini-Fans, für die oft romantisch veranlagten Genießer dahinschmelzender Arien und rauschhafter Orchesteraufwallungen, wahrlich nichts zu bemängeln an dieser Umsetzung der drei Einakter. Und doch ist der ganze Abend ein großes Experiment, das offenbar stark an den Nerven des Hamburger Opernpublikums zerrt. Auch am zweiten Abend der Neuinszenierung (Premiere war am 15. März 2023) hält es manche Empörte und Enttäuschte zeitweise kaum auf den Sitzen. “Aufhören!” wird gebrüllt, laut stöhnend raunt mehrstimmig „Nein, nicht schon wieder“ und vielfaches „Ojee“ durch das Auditorium. „Wir wollen Puccini hören!“, wird gerufen, sogar demonstratives Aufstehen und Türenknallen ist zu vernehmen.

Ein anderer – wie man am Ende sieht: weitaus größerer – Teil des Opernpublikums ereifert sich über genau diese Störungen: „Ihr habt alle keinen Anstand!“, hallt es durch die Polsterreihen. Ruhe kehrt erst ein, als sich der Vorhang wieder hebt und die Musik den genervten Protest zum Schweigen bringt.

Ein Leben blüht auf und fällt in sich zusammen

Was hat da so erregt? Es ist eine Rahmenhandlung, die vor jeder der drei Kurzopern in Videointerviews ausgebreitet wird. Wegbegleiter/innen einer fiktiven Schauspielerin berichten über deren Karriere-Höhepunkte. Wer zuhört (und nicht seinem demonstrativ empörten Desinteresse Ausdruck verschafft), erfährt die Lebensgeschichte einer Künstlerin, die einen steilen Aufstieg erlebte, auf dem Höhepunkt von Ansehen und Erfolg einen schweren privaten Schicksalsschlag erlitt, und schließlich ihrem Leben verzweifelt ein Ende setzte. Kurz: Ein Leben blüht auf und fällt dann in sich zusammen.

… verzweifelt in „Schwester Angelica“ eine Klosterschwester (hier: Elena Guseva) an Moral und Trauer über ihr verstorbenes Kind. Regisseur Axel Ranisch gelingt es, diese drei Geschichten intelligent zu einem spannenden Drama miteinander zu verbinden. Fotos: Brinkhoff/Mögenburg, bereitgestellt von Oper Hamburg

Das Hamburger Regieteam rund um Axel Ranisch mutet den wohlsituierten Großstadt-Grauköpfen zu, sich für wenige Minuten der ganzen Härte eines Menschenschicksals auszusetzen, bevor sie in rauschhafter Musik und schönen Bildern versinken dürfen. Die jeweils danach gezeigten Einakter werden zu fiktiven Filmproduktionen umgedeutet – ohne sie in der Substanz zu verändern. Ranischs Kunstgriff ergänzt die drei Handlungen der Opern um eine vierte, bindet sie schlüssig zusammen, und wenn man das „Trittico“ noch niemals anders gesehen hätte, würde man diese Zusammenführung als absolut naheliegend, geradezu zwingend, betrachten. Vielleicht hätte man statt einer imaginären Figur sogar ein historisch belegtes Künstlerinnenschicksal einführen können? Aber auch so entlassen Puccini und Ransich das Publikum nachdenklich und bereichert. Rauschender Applaus beendet einen Abend, der in Erinnerung bleibt.


„Langweilig!“, schreit der Sohn

„Es war einmal ein kleiner Dinosaurier,“, hob die Mutter an, „und der hatte sich im Wald verlaufen. Einsam und ängstlich stolperte er über die umgefallenen Bäume und kaute an den trockenen Blättern, denn er hatte Hunger. Bald schon würde es dunkel sein, und der Dinosaurier machte sich große Sorgen, ob er seine Familie bis dann wiederfinde würde.“

Blick in den Rückspiegel. Das Publikum wartet aufmerksam auf die Fortsetzung.

„Da sah der kleine Dino zwischen den Bäumen ein helles rosafarbenes Leuchten. Als er darauf zulief, erkannte er ein wunderschönes Einhorn, das weiß und rosa glitzerte und einen prächtigen weißen Haarschweif hatte. Mit großen blauen Augen sah es den Dinosaurier an. Suchst Du etwas?, fragte es freundlich, kann ich Dir helfen?“

Die Mutter unterbricht ihre Erzählung, setzt den Blinker und überholt einen Donut-LKW.

„Langweilig!“, schreit der Sohn.

„Weiter!“, fordert die Tochter.  

„Da klagte der kleine Dinosaurier: Ich suche meine Familie, und so viel Hunger habe ich auch! – Das wundersame Glitzertier wies mit seinem Horn in eine Richtung und sagte: Deine Familie ist hinter diesen Bäumen dort, die habe ich vorhin dort gesehen. Dann machte es Pling! – und im nächsten Moment ringelte sich um das Horn des Einhorns ein großer, fetter, bunter Donut, gelbe Zuckerglasur und darauf ganz viele bunte Streusel.“

Der Sohn gähnt vernehmlich.

„Der ist für Dich!, sagte das Einhorn und der kleine Dinosaurier verschlang den Kringel in Windeseile. Das Einhorn verschwand so schnell wie es erschienen war, und der Dinosaurier hörte seine Familie nach ihm rufen. Er lief schnell zu ihnen hin und gemeinsam stapften sie weiter durch den Wald. Und wenn sie nicht gestorben sind …“

„Jaja. Sind aber schon gestorben, die Dinos. Und Einhörner gibt es überhaupt nicht“, belehrt der Sohn. 

Stille auf der Rückbank. Dann beide Kinder im Chor: „Mama, wie haben sooo viel Hunger!“

 

„Il Trittico“ in Hamburg ist noch an mehreren Terminen im März und April 2023, und dann wieder im Januar und Februar 2024 zu sehen. Weitere Informationen hier: https://www.staatsoper-hamburg.de/de/spielplan/stueck.php?AuffNr=183686

Dort gibt es auch einen Trailer, der Lust auf Mehr macht: https://www.youtube.com/watch?v=G-MClvcIIo4&t=3s

Dieser Text erhebt nicht den Anspruch einer Aufführungskritik. Mein Fokus liegt ausschließlich auf dem (kultur-)politischen Aktualitätsbezug von Werk und Inszenierung. Daher gibt es in diesem Text auch nur Bemerkungen zur Konzeption der Inszenierung, nicht zu den Leistungen von Sänger/innen und Orchester.

Gesehen habe ich die Vorstellung am 18. März 2023. 

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