Was wir brauchen, ist wehrhafter Anstand

Fünf unbequeme Vorschläge nach Trump-Triumph und Ampel-Aus

Ok, Amerika! Du hast einen verurteilten Straftäter, Vergewaltiger und Lügner erneut zu Deinem Präsidenten gewählt – nicht, weil Du es nicht wusstest, sondern weil er so ist, wie er ist. Du hast Dich gegen den Anstand entschieden, ganz bewusst.

Ok, Deutschland! Mehr als jede/r zehnte Deiner Wählenden gibt einer rechtsradikalen Partei die Stimme – nicht, weil sie es nicht wüssten, sondern weil sie es wollen. Sie entscheiden sich gegen den Anstand, ganz bewusst.

Ok, Lindner! Du willst für Deutschland keine neuen Schulden machen. Nicht, weil Du nicht verstehen würdest, dass dies für unsere Wehrhaftigkeit unausweichlich ist – sondern weil Du weißt, dass es so ist, es aber nicht verantworten willst. Aus Angst vor den Illusionen Deiner Wähler/innen hast Du Dich gegen den Anstand entschieden, ganz bewusst.

Es ist Zeit für einen Aufbruch

Es ist Zeit für einen Aufbruch. Politik und Gesellschaft brauchen eine neue Idee, einen breiten Konsens der Gutwilligen: Den wehrhaften Anstand. Anstand ist die Grundlage von allem, was uns wichtig ist:

Der Frieden, in dem wir seit siebzig Jahren leben, verdanken wir den Anständigen und ihrem Militär, mit dem sie die deutschen Nazi-Verbrecher vertrieben.

Die Freiheit, die halb Deutschland seither und ganz Deutschland seit 35 Jahren genieß, hat der Westen geschenkt bekommen. Der Osten hat sie ohne Gewalt erkämpft – ein wahrer Aufstand der Anständigen gegen die Stasi-Schergen.

Unseren Wohlstand haben sich die meisten von uns anständig erarbeitet, aber es gäbe ihn nicht ohne die Schuld, mit der unsere Vorfahren und wir Millionen anderer Menschen ausgebeutet und unsere natürlichen Lebensgrundlagen massiv geschädigt haben. Dies zu erkennen, zu benennen und zu ändern – das ist anständig.

 

Hier fünf unbequeme Vorschläge, wie wir zu wehrhaftem Anstand kommen:

Mehr Resilienz für die Anständigen

Wir Anständige sind im Recht, lasst Euch nicht verunsichern! Es ist unanständig, ein Nachbarland zu überfallen oder zu bedrohen. Es ist unanständig, den politischen Diskurs mit Gewalt, Lügen und Simplifizierungen zu durchtränken. Eine anständige Gesellschaft muss sich das nicht gefallen lassen. Sie braucht mehr Widerstandskraft nach innen und außen. Der Staat muss robuster auftreten, klar die Wahrheit benennen, mehr investieren in Sicherheit und Wehrhaftigkeit, aber auch in breite (politische) Bildung. Wir alle sollten aktiv eintreten für eine anstandsbasierte Kultur der Kommunikation.

Anstand erträgt keine Armut

Es ist nicht anständig, den eigenen Reichtum als unteilbar zu betrachten. Viel zu viele Menschen auf der ganzen Welt, aber auch in Deutschland, leiden reale Not, während andere gar nicht wissen, wohin mit ihrem Geld. Dieser Zustand ist unanständig und unerträglich. Ein legitimes Mittel dagegen ist staatlich gelenkte Umverteilung, beispielsweise durch Steuern. Früher waren Steuern eine unanständige Ausbeutung durch die Obrigkeit. Bis heute versuchen Ideologen, dieses Zerrbild auch auf das legitime Interesse des modernen Staates anzuwenden. Aber das ist falsch: In den Demokratien von heute ist Umverteilung ein notwendiges Instrument auf der Suche nach Gerechtigkeit. Wer sich ihm entzieht, wer es diskreditiert, handelt unanständig.

Anständige sind keine politischen Gegner

Wer den Anstand wahrt, ist kein Gegner. Die Anständigen im demokratischen Spektrum dürfen ihre Kräfte nicht im Streit mit den falschen Gegnern verschleißen.  Konservative sind nicht automatisch Populisten, so wie Grüne nicht immer Besserwisser sind. Anständige, gesprächsbereite Konservative sind keine Gefährder der Demokratie. Radikale und Populisten dagegen wollen Probleme zum eigenen Nutzen lieber vergrößern, anstatt mitzuhelfen, sie zu lösen. Das ist unanständig, und muss genau so bezeichnet und bekämpft werden.

Das Grundgesetz setzt politischen Anstand voraus

Es ist höchste Zeit, den Anstand wehrhaft zu machen. Gewalt, Lügen, radikale Vereinfachungen wider besseren Wissens und demokratieschädliche Tricksereien zielen auf die Grundlagen unseres demokratischen Zusammenlebens. Sie beabsichtigen, die Gesellschaft dumm zu machen und die demokratische Prozesse des Staates zu zersetzen. Jeder Blick in soziale Medien zeigt, wie tief dieses Gift bereits eingesickert ist. Wer da mitmacht, verstößt gegen die Idee des Anstandes, wie ihn das Grundgesetz für den politischen Raum voraussetzt. Auch hier ist wehrhafter Anstand gefordert – notfalls mit einem Verbotsverfahren.

Wer zu Unanständigkeit schweigt, macht sich mitschuldig

Jede und jeder kann zu wehrhaftem Anstand in einer Gesellschaft der demokratischen Resilienz beitragen, kann täglich gegen die Zersetzungskräfte der Billighändler der politischen Niedertracht eintreten – in der Arbeit, in der Familie, im Verein, in der Nachbarschaft. Wer schweigt, wenn der Anstand verletzt wird, macht sich mitschuldig.

 

Über Anstand hat der Autor Axel Hacke ein ganzes Buch geschrieben: „Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen“ – das ich zur Lektüre sehr empfehle.

Die Idee für meinen Texteinstieg „Ok, Amerika!“ verdanke ich einem gleichnamigen Podcast von ZEITonline, mit dessen Hilfe ich viel besser verstanden habe, wie der Wahlkampf in den USA verlief und warum er das bekannte Ende nahm.

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Neue 10 Gebote für Deutschland

Die Heimeligkeit ist vorbei. Der Baum, der gerade noch im Mittelpunkt stand, wird entsorgt – und zwar irgendwohin. Soll sich doch irgendwer drum kümmern. Es ist Zeit, klarzustellen, was sich die wohlwollende Mehrheit nicht mehr gefallen lassen will. Foto: MolnarSzabolcsErdely lizenzfrei via Pixabay

Was wir sozialen Rüpeln, Populisten, Besserwissern und Hetzern im neuen Jahr nicht mehr durchgehen lassen sollten

Deutschland zittert. Nicht nur vor der Januar-Kälte, sondern auch vor den Konflikten und Wahlen des neuen Jahres. Dabei hätte dieses Land alle Chancen, seine freiheitliche Ordnung zu erhalten, den breiten Wohlstand zu sichern und die aktuellen Krisen zu bewältigen, vielleicht sogar gestärkt aus ihnen hervorzugehen.

Wichtiger als klick-gieriger Alarmismus wäre es, dass sich die wohlwollende Mehrheit in Deutschland neu darauf verständigt, auf welcher Grundlage wir zusammenleben wollen. Wer wach durch unseren Alltag geht, erlebt Zumutungen, an die wir uns nicht gewöhnen sollten, egal welchen politischen Standpunkt wir jeweils einnehmen, die wir nicht praktizieren wollen und auch nicht ertragen wollen, wenn es andere tun.

Hier ein Vorschlag für  Zehn Gebote für das Miteinander in einem freiheitlich-demokratischen Deutschland und gegen die Spaltung unserer Gesellschaft:

 

(1) Verhalte Dich rücksichtsvoll

Eine Gruppe Jugendlicher feiert Silvester. Sie haben sich mit Böllern eingedeckt, es kracht und scheppert nach Herzenslust. Damit es noch lauter wird, werfen sie die Knallkörper in eine fremde Tiefgarageneinfahrt. Den Müll lassen sie liegen. 

Die Bereitschaft und Sensibilität für Rücksicht ist eine zentrale Basis unseres Zusammenlebens. Es gibt keine Freiheit ohne Rücksicht. Freiheit als simple Durchsetzung der eigenen Interessen führt zu massiver Unfreiheit vieler. Nicht jeder Schaden, nicht jede Beeinträchtigung ist rücksichtslos, beabsichtigt oder vermeidbar. Aber das allgegenwärtige Bemühen, größtmögliche Rücksicht zu üben, würde das gesellschaftliche Klima grundlegend zum besseren verändern.

 

(2) Achte Deine Mitmenschen, wer und wie auch immer sie sind

Karl Lauterbach postet auf X (Twitter) ein Foto mit sich und seinem Doktorvater Amartya Sen, Nobelpreisträger für Ökonomie, der inzwischen 89 Jahre alt ist. Neben Sen steht dessen Frau: Emma Rothschild. Es ergießt sich über Lauterbach eine Flut von antisemitischem Hass und düsteren Verdächtigungen.

Menschen aufgrund irgendwelcher Wesensmerkmale anders zu beurteilen als alle anderen Menschen, ist inhuman und widerspricht den Werten des Grundgesetzes: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ (Art. 3 GG).

Dort steht nicht, dass man bestimmte Menschen mögen muss. Niemand muss sich individuell anfreunden, sie einladen, ihnen helfen, sie unterstützen. Aber das Gegenteil ist unethisch und zudem oft verboten. Traditionelle, kulturelle und moralische Übereinkünfte regeln unser Zusammenleben. Für viele Situationen gelten darüber hinaus regulär zustande gekommene Gesetze. Innerhalb dieses Rahmens gilt: Jeder ist zu akzeptieren so, wer oder wie er ist. Ohne Wenn und Aber.

 

(3) Übe Respekt

Die junge Frau steht an der Supermarktkasse, das Handy zwischen Kopf und Schulter geklemmt. Sie telefoniert. Den Mann an der Kasse würdigt sie keines Blickes, das Gespräch unterbricht sie nicht. Er ist kein Mensch für sie, nur eine Funktion.  

Am Anfang jeder Begegnung steht Respekt. Im menschlichen, wie im demokratischen Diskurs darf Respekt erwartet werden, gegenüber jeder Meinung, jeder Herkunft, jeder Einstellung. Auf dieser Grundlage gilt es, Meinungsverschiedenheiten auszutragen, sich für oder gegen eine Fortsetzung des Kontaktes zu entscheiden. Respekt ist eine Haltung, Respektlosigkeit eine Beleidigung.

Respekt endet dort, wo er auf Respektlosigkeit trifft. Gegen Intoleranz und Verleumdung ist aktives Handeln mit den Mitteln des Rechtes und der öffentlichen Auseinandersetzung angezeigt.

 

(4) Verteidige das Recht

Der Weihnachtsbaum, gerade noch bestaunter Mittelpunkt des Wohnzimmers, liegt am Straßenrand. Ein paar Plastikkugeln baumeln noch daran, niemand hat sich die Mühe gemacht, das nun plötzlich lästig gewordene Grünzeug kompostierfähig dorthin zu bringen, wo es gesammelt werden kann. 

Auf der Parkbank liegt bergeweise Müll, Pizzakartons, halbleere Flaschen, Getränkebecher, Plastiktüten. Hier wurde gefeiert.

Es gilt Tempo 40, alle paar Meter steht ein Schild. Kinder springen auf dem Gehweg herum, Eltern schieben Kinderwagen. Da braust mit aufheulendem Motor der SUV heran und jagt vorbei, legt sich mit quietschenden Reifen in die nächste Kurve.

In Deutschland gilt das Recht auf der Basis von Gesetzen. Es ist aus gutem Grund geregelt, wie schnell wir fahren dürfen, wohin wir unseren Müll zu entsorgen und wie viele Steuern wir zu bezahlen haben. Gegen diese Regeln absichtsvoll zu verstoßen oder sie zu ignorieren, gefährdet das Wohl der Allgemeinheit.

Nicht überall kann Polizei stehen. Und nicht jede Regel ist in jeder Situation relevant. Gerade deshalb ist jede und jeder Einzelne gefordert, das eigene Handeln auf die Wirkung für die Allgemeinheit zu reflektieren, Regeln zu kennen, sie einzuhalten und für ihre Einhaltung zu werben.

 

(5) Sieh hin, wenn Dir Not begegnet

„Laut Paritätischem Armutsbericht 2022 hat die Armut in Deutschland mit einer Armutsquote von 16,9 Prozent im zweiten Pandemie-Jahr (2021) einen traurigen neuen Höchststand erreicht. 14,1 Millionen Menschen müssen demnach hierzulande derzeit zu den Armen gerechnet werden, 840.000 mehr als vor der Pandemie. “ (Paritätischer Wohlfahrtsverband)

Menschlichkeit ist eine Haltung. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Mit diesem Satz beginnt das deutsche Grundgesetz. Existenzielle Not und Armut sind in jedem Fall Verstöße gegen die Würde des Menschen, und zwar auch dann, wenn sie eventuell ganz oder teilweise selbst verschuldet sind. Es kann tausend gute Gründe geben, warum der einzelne sich nicht in der Lage sieht, durch eigenes Handeln das Leid auf der Welt zu lindern. Nicht jeder kann oder will spenden. Nicht jede muss sich engagieren. Und auch Deutschland als Staat kann sich gewiss nicht alles Leid auf der Welt aufladen.

Niemand wird gezwungen, sich mit Armut auseinanderzusetzen, zu spenden oder zu helfen. Das Wegsehen ist empathielos. Foto: Alan Dobson lizenzfrei auf Pixabay

 

Die Alternative dazu ist nicht das Wegsehen. Wegsehen ist das Gegenteil von Menschlichkeit. Wenigstens das Wahrnehmen, eine empathische Sicht auf die Not um uns herum und in der Welt, darf in einer humanen Gesellschaft von jedem und jeder erwartet werden.

 

(6) Hüte Dich vor der Lüge

Die Grünen stehen letztendlich für diese Kultur: Nein, nein, nein. Verbot, Verbot, Verbot. Nur das einzige Mal überhaupt sind sie bei etwas nicht fürs Verbot. Es gibt nur eine Geschichte, wo die Grünen für eine Erlaubnis sind: Das sind Drogen.“ (Markus Söder im Bierzelt Trudering, 12.5.2023)

Die Lüge ist das böse Gift des Zusammenlebens. „Du sollst kein falsches Zeugnis geben“, lautet das achte der zehn christlichen Gebote. Niemand muss eine bestimmte Meinung teilen. Jeder darf mit Argumenten fechten, auch mit Zuspitzungen, im persönlichen Gespräch genauso wie im öffentlichen Diskurs. Aber die pure Lüge ist unsittlich, genauso wie absichtsvolles, böswilliges Missverstehen des Gegenübers.

 

(7) Überwinde die Gleichgültigkeit gegenüber unseren Lebensgrundlagen

„Ab dem 4. Mai 2023 leben wir ökologisch gesehen auf Kredit: Wenn alle Menschen auf der Welt so leben und wirtschaften würden wie wir in Deutschland, wäre bereits an diesem Tag das Budget an nachhaltig nutzbaren Ressourcen und ökologisch verkraftbaren Emissionen für das gesamte Jahr aufgebraucht.“ (Germanwatch)

Überwinde die Gleichgültigkeit gegenüber unseren Lebensgrundlagen. Foto: Annette lizenzfrei via Pixabay

Was sichert den Wohlstand? Die Industrie und der Mittelstand, die Startups und die Handwerker, die Arbeitsplätze bereitstellen. Die globale, vor allem europäische Vernetzung unserer Volkswirtschaften. Das Engagement und die Veränderungsbereitschaft der Menschen, die sich in die Prozesse der Volkswirtschaft einbringen. Deshalb haben wir Arbeit, deshalb zahlen wir Steuern.

Das alles stimmt. Aber wenn wir dabei die Grundlagen unseres Lebens zerstören, dann sägen wir an dem Ast, auf dem wir sitzen. Diese Herausforderung ist existenziell und unbestreitbar. Es gibt gute Gründe, über die richtigen Wege aus dieser Situation zu streiten. Wer ihr aber mit Gleichgültigkeit begegnet und gar so tut, als gäbe es das Problem nicht, oder als gehe es ihn nichts an, der spricht oder handelt verantwortungslos.

 

(8) Achte das Eigentum der Gemeinschaft

„Graffiti-Schmierereien machen den größten Anteil von Vandalismus bei der Deutschen Bahn (DB) aus. In bundesweit knapp 24.000 von insgesamt rund 35.000 Fällen seien im vergangenen Jahr Schäden durch Graffiti festgestellt worden, teilte eine Bahn-Sprecherin der Deutschen Presse-Agentur mit.“ (rbb)  

„Open Piano nach zwei Tagen zerstört“ – eine engagierte Bürgerin hatte in Stuttgart im Sommer 2023 ein Klavier in eine U-Bahn-Unterführung gestellt und geschmückt. Alle Beteiligten waren einverstanden, niemand hatte einen Schaden, viele eine Freude. Es war als Angebot an Passanten gedacht, „im Vorbeigehen“ ein kleines Klavierstück zu spielen. An einem Freitag aufgestellt – schon am darauffolgenden Sonntag war es zerstört, die Dekoration zerfetzt. In zwischen wurde es repariert. 

Der öffentliche Raum ist das Wohnzimmer der Gesellschaft. Vandalismus ist ein Anschlag auf fremdes, gemeinschaftliches Eigentum, er verletzt Gefühle der Mitmenschen, und das Eigentum aller – strafbar ist er noch dazu. Vandalismus hinzunehmen oder zu verharmlosen, bedeutet, die Werte der Gemeinschaft als disponibel zu betrachten.

 

(9) Wenn Du Verantwortung trägst, sorge für Funktionsfähigkeit

„Der durchschnittliche Zeitaufwand für einen Amtsbesuch in einer Großstadt betrage 2 Stunden und 18 Minuten, in einer mittelgroßen Stadt 2 Stunden und 20 Minuten und in einer Kleinstadt 2 Stunden und 21 Minuten.“ (FOCUS Online unter Bezug auf eine Umfrage von Bitkom, 3.1.2024) 

„Derzeit beträgt die Bearbeitungszeit für einen Wohngeldantrags 14 Monate.“ (Eine Amtsleiterin in Stuttgart).  

So wie die Bürger ihren Pflichten gegenüber dem Staat nachzukommen haben, so muss auch der Staat sein Leistungsversprechen halten. Überbordende Bürokratie, fehlende Digitalisierung, unsinnige Formulare, schleppende Abläufe untergraben die Identifizierung des Einzelnen in den freiheitlichen Staat. Daher tragen alle dort besondere Verantwortung für das Gelingen des Zusammenlebens. Sie haben für angemessene Funktionsfähigkeit zu sorgen.

Diese Prinzip gilt immer, auch in der freien Wirtschaft. Für den Staat und seine Institutionen gilt es aber in besonders hervorgehobener Weise. Im Umgang mit Behörden ist der Bürger Kunde. Er ist angewiesen auf eine funktionsfähige Verwaltung, denn er hat dazu keine Alternative. Mangel an Personal ist keine Rechtfertigung für versagende Funktionalität, sondern Ausdruck für ein Versagen in der Wahrnehmung von Verantwortung.

Dies alles begründet jedoch keine unangemessene Anspruchshaltung gegenüber der Verwaltung. Der Staat muss sparsam wirtschaften, daher kann er nicht beliebig viele Ressourcen bereitstellen.

 

(10) Gestalte die Veränderung

„So soll es sein, so kann es bleiben, So hab´ ich es mir gewünscht. Alles passt perfekt zusammen, weil endlich alles stimmt.“ (Liedtext Annette Humpe / Adel Tawil)

Nichts bleibt, wie es ist. Im Privaten kann jeder Mensch versuchen, seine Dinge so zu belassen, wie er sie sich geordnet hat. Wer aber sein Haus verlässt, stellt fest: Alles ändert sich. Alles ist anders als vor zehn oder zwanzig Jahren. Und es wird in zehn Jahren anders sein als heute.

Wer also der Gesellschaft in Aussicht stellt, dass die Dinge so bleiben könnten, wie sie sind, ist unredlich. Wer Veränderungen gestaltet, Vorschläge dazu macht, Verantwortung übernimmt, handelt im Interesse des Gemeinwohls. Über den Umgang mit Veränderung zu streiten, ist notwendig und richtig. Die Notwendigkeit zur Veränderung selbst zu leugnen, ist unehrlich und respektlos gegenüber den kommenden Generationen.

 

Alles Selbstverständlichkeiten?

Umso besser. Wenn nur die Mehrheit unserer Gesellschaft im neuen Jahr danach handelt und nicht mehr hinnimmt, dass dagegen verstoßen wird, dann werden sie schnell verschwinden: Die Sozialrüpel, die großen Verführer, die Billighändler der einfachen Wahrheiten, die bösartigen Hetzer gegen die Menschlichkeit. Lasst uns beginnen!

 

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Hamilton? Seibold? Ideen zu einer Parallele

Über das Politik-Musical „Hamilton“ und was man in Deutschland daraus lernen könnte

Vielleicht könnte es „Seibold“ heißen? Eignet sich der Name für Rap-Reime? Der Vorname wäre schon mal vielversprechend: Kaspar. Kaspar Seibold könnte der Held sein, um den alle herumtanzen und wirbeln, zu dessen Schicksal sie mitfiebern, mitsingen, schließlich trauern, bis der Schlussakkord sie von den Sitzen reißt.

Ja, vielleicht könnte es „Seibold“ heißen, das Musical über die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Auf keinen Fall „Adenauer“ oder „Schumacher“.

So schmissig kann Geschichte vermittelt werden: Das Musical „Hamilton“ erzählt einen Ausschnitt der Gründungsgeschichte der USA. Foto: Stage Entertainment

Jeder historische Vergleich ist falsch. Das gilt auch hier, aber um das Wagnis zu ermessen, das die Macher des US-amerikanischen Erfolgsmusicals „Hamilton“ eingegangen sind, darf man der Phantasie freien Lauf lassen. „Seibold“ also. Als Kaspar Seibold beträte ein Rapsänger, Tänzer, Schauspieler die Bühne, vom begeisterten Johlen des Publikums begrüßt, schmissig von der elektronisch verstärkten Musik untermalt, und würde erzählen, was er schon erlebt hat:

Die Geschichte von Kaspar Seibold

Kaspar Seibold aus Oberbayern war der jüngste Delegierte im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz verabschiedete. Er zählt zu den Mitunterzeichnern, obwohl er in der Schlussabstimmung gegen den Text des GG gestimmt hatte. Damit bekannte er sich zu dem demokratischen Prozess, auch wenn er inhaltlich unterlegen gewesen war. Foto: Bestand Erna Wagner-Hehmke, Stiftung Haus der Geschichte

Als er geboren wurde, war der erste Krieg des letzten Jahrhunderts gerade begonnen worden von Deutschland. Dann kamen die wilden Jahre der 20er, von denen er als Kind auf dem Land nicht viel mitbekam, dann die braunen Zeiten der Nazis. Auf dem Bauernhof seiner Eltern waren alle beschäftigt von früh bis spät, hatten keine Zeit, sich viel mit Politik zu befassen. Vermutlich bestellten bedauernswerte Zwangsarbeiter die elterlichen Felder, während sich der junge Kaspar in der Wehrmacht dem Zusammenbruch entgegenstellen musste. Als Gebirgsjäger wurde er schwer verletzt. Kaspar Seibold überlebte, und nach dem Ende de Krieges suchten auch in seiner Heimat, im oberbayerischen Lenggries, zerlumpten Flüchtlinge aus dem Osten Deutschlands und aus den zerbombten Städten kraftlos und erschöpft nach Essbarem.

Da entschied Kaspar Seibold: So konnte es nicht weitergehen. Er engagierte sich in der staatlichen Landwirtschaftsverwaltung. 1948 trat er in die neu gegründete CSU ein, und schon im Herbst des gleichen Jahres fand er sich als jüngster Abgeordneter im Parlamentarischen Rat wieder, jenem Vorab-Parlament, das nach der Katastrophe des Nazireichs ein neues, demokratisches Deutschland schaffen sollte. Und es schuf. Kaspar Seibold war einer der Gründerväter des neuen demokratischen Deutschlands.

Auch Alexander Hamilton schrieb an der Verfassung der USA mit

Alexander Hamilton lebte gut 150 Jahre früher und half mit, die USA zu gründen. Am Anfang seines Weges stand eine uneheliche Herkunft in der Karibik, aber blitzgescheit war er wohl, ehrgeizig dazu. So stieg er im Militär des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges zum wichtigsten Unterstützter für George Washington auf, der später erster amerikanischer Präsident wurde. Die britischen Kolonialherren gaben auf, und die Siedler machten sich daran, einen neuen demokratischen Staat zu schaffen. Weiße Männer waren es, die den Ton angaben, die Frauen, die Ureinwohner ihres Landes, gar die gewaltsam aus Afrika herbeigeschleppten Sklaven, durften nicht mitreden bei ihren Überlegungen.

Seibolds Einfluss war gering im Gründungsparlament der Bundesrepublik (61 Männer, vier Frauen) zwischen Konrad Adenauer, Theodor Heuss und Carlo Schmid, die allesamt den Terror der Nazi-Schergen mit mehr oder weniger tiefen Wunden überstanden hatten. Seibold war jung und politisch unerfahren, während die alten Wortführer schon in der Weimarer Republik politisch aktiv gewesen waren. So musste sich der junge bayerische Landwirtssohn mit einer Statistenrolle unter den Gründervätern des demokratischen Deutschland abfinden.

Statistenrolle für Seibold, aber Hamilton wollte hoch hinaus

Alexander Hamilton aber wollte hoch hinaus. Er wurde 1787 Mitglied im Verfassungskonvent der Vereinigten Staaten, spielte bald mit in der ersten Garde der amerikanischen Politik. Als Minister schuf er das bis heute wirksame Finanzsystem der USA, das mit einer Stärkung der Zentralgewalt in den USA einherging. Seine Gegner bekämpften ihn deshalb, weil sie lieber einen lockeren Staatenbund anstrebten.

Von seinem stürmischen Gemüt angetrieben ließ er sich in einen undurchsichtigen Ehrenhändel verstricken, ruderte im Morgennebel über den Hudson River zu einem Duell nach New Jersey (weil der schießwütige Unsinn in New York bereits verboten war). Vielleicht glaubte er, dass auch sein Widersacher Aaron Burr, immerhin der amtierende Vizepräsident der USA, nur zum Schein auf ihn anlegen würde, aber Hamilton irrte sich. Er wurde getroffen und erlag am nächsten Tag 49-jährig seinen Verletzungen.

So schlimm meinte es das Schicksal nicht mit Kaspar Seibold. Der junge Mann aus Bayern musste sich nur in einem politischen Duell schlagen und unterlag. Typisch bayrisch wollte er das neue Deutschland eher als einen lockeren Staatenbund etablieren, aber es setzte sich doch die Idee einer deutlichen Machtkonzentration auf Bundesebene durch. Seibold verweigerte deshalb in der Schlussabstimmung am 8. Mai 1949 seine Zustimmung zum Grundgesetz.

59 Männer und vier Frauen unterschrieben das Grundgesetz

Trotz seiner Ablehnung in der Abstimmung unterzeichnete er in der feierlichen Zeremonie am 23. Mai 1949 in Bonn neben den Ministerpräsidenten der Länder, den Parlamentspräsidenten der Landtage und den 59 weiteren Männern und vier Frauen aus dem Parlamentarischen Rat (nur die beiden Kommunisten verweigerten die Signatur) die Urfassung des deutschen Grundgesetzes. Der jüngste Gründervater der Bundesrepublik war zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt.

Dr. Kaspar Seibold: Das jüngste Mitglied de Parlamentarischen Ragtes unterschieb 1949 die Urfassung des deutschen Grundgesetzes, obwohl er dagegen gestimmt hatte.

Wer kennt heute noch Kaspar Seibold? Schnell findet man seinen Namen in den allwissenden Suchmaschinen. Seibold ist nicht vergessen, aber zurückgesetzt gegenüber den großen Figuren seiner Zeit. So erging es auch Alexander Hamilton. Im Central Park von New York steht er als Statue herum und die Zehn-Dollarnote zeigt sein Gesicht. Trotzdem müssen wohl auch die meisten Amerikaner den Namen erst einmal googeln, wenn sie ihn einordnen wollen zwischen die großen Helden seiner Zeit: George Washington, Thomas Jefferson, John Adams.

Politik als Bühnenshow: Ein kühner Plan, …

Es war also ein kühner Plan, diese weitgehend vergessene Figur in den Mittelpunkt eines Stücks Musiktheater zu stellen, das noch dazu ohne öffentliche Subventionen auskommen muss. In New York und London wurde „Hamilton“ zum hochdekorierten Kassenschlager. Der Cast ist zeitgeistig divers besetzt, ein subtiler Hinweis darauf, dass die Hamiltons und ihre Zeitgenossen ganz sicher ausschließlich weiß waren. Die Musik kommt schmissig-modern daher, der Rap ist auch für Silverager erträglich und nachvollziehbar, und für das Auge wird ohnehin jede Menge geboten. Eine schwungvolle Bühnenshow, in der noch dazu die tragisch endende Lebensgeschichte dieses unterschätzten Gründervaters publikumsgerecht mit einer romantischen Liebe verflochten wurde.

… aber die Handlung zeigt Politik, wie sie ist.

Aber die Handlung zeigt eben Politik, so wie sie ist. Sie erzählt von komplizierten Fragen, die sich dem mehrheitlich auf fröhlich-gefühlige Unterhaltung  eingestimmten Publikum nicht schnell erschließen. Bis vor wenigen Tagen war „Hamilton“ auf Deutsch in Hamburg zu besuchen, jetzt muss man wieder nach London oder New York reisen. Noch im September 2023 erhielt die Hamburger Produktion den Deutschen Musical-Theaterpreis. Trotzdem war nun nach gerade mal einem Jahr Schluss. Die amerikanische Gründungsgeschichte füllte offenbar nicht so wie „Cats“, „König der Löwen“ oder „Das Phantom der Oper“ jeden Abend das privat betriebene Musical-Theater ausreichend.

Hätte eine deutsche Bühne den Mut, die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik so zu erzählen, halbwegs realistisch, niemals langweilig, überhaupt nicht belehrend? Musik und Rap als tragendes Element für bunte Bilder aus einer grauen Zeit? Der Parlamentarische Rat als divers besetztes Tanzballett? Die Debatten über die Stellung der Grundrechte, ob Bundesstaat oder Staatenbund, als Pop-Duette im Gesang? Und das alles vielleicht mit Kaspar Seibold mittendrin?

 

 

Der nicht in die USA reisen möchte, kann sich „Hamilton“ in London ansehen, täglich, an vielen Tagen sogar zweimal am Tag: https://hamiltonmusical.com/london/#/

Wer nicht verreisen möchte, kann sich auf Youtube Ausschnitte der Hamburger Produktion (auf Deutsch) ansehen (Klick führt zu Youtube).

Über die Beratungen des Parlamentarischen Rates zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland informiert sehr anschaulich eine eigene Website des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik in Bonn, auch mit weiteren Informationen über Dr. Kaspar Seibold, den jüngsten Abgeordneten des Parlamentarischen Rates.

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