Hamilton? Seibold? Ideen zu einer Parallele

Über das Politik-Musical „Hamilton“ und was man in Deutschland daraus lernen könnte

Vielleicht könnte es „Seibold“ heißen? Eignet sich der Name für Rap-Reime? Der Vorname wäre schon mal vielversprechend: Kaspar. Kaspar Seibold könnte der Held sein, um den alle herumtanzen und wirbeln, zu dessen Schicksal sie mitfiebern, mitsingen, schließlich trauern, bis der Schlussakkord sie von den Sitzen reißt.

Ja, vielleicht könnte es „Seibold“ heißen, das Musical über die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Auf keinen Fall „Adenauer“ oder „Schumacher“.

So schmissig kann Geschichte vermittelt werden: Das Musical „Hamilton“ erzählt einen Ausschnitt der Gründungsgeschichte der USA. Foto: Stage Entertainment

Jeder historische Vergleich ist falsch. Das gilt auch hier, aber um das Wagnis zu ermessen, das die Macher des US-amerikanischen Erfolgsmusicals „Hamilton“ eingegangen sind, darf man der Phantasie freien Lauf lassen. „Seibold“ also. Als Kaspar Seibold beträte ein Rapsänger, Tänzer, Schauspieler die Bühne, vom begeisterten Johlen des Publikums begrüßt, schmissig von der elektronisch verstärkten Musik untermalt, und würde erzählen, was er schon erlebt hat:

Die Geschichte von Kaspar Seibold

Kaspar Seibold aus Oberbayern war der jüngste Delegierte im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz verabschiedete. Er zählt zu den Mitunterzeichnern, obwohl er in der Schlussabstimmung gegen den Text des GG gestimmt hatte. Damit bekannte er sich zu dem demokratischen Prozess, auch wenn er inhaltlich unterlegen gewesen war. Foto: Bestand Erna Wagner-Hehmke, Stiftung Haus der Geschichte

Als er geboren wurde, war der erste Krieg des letzten Jahrhunderts gerade begonnen worden von Deutschland. Dann kamen die wilden Jahre der 20er, von denen er als Kind auf dem Land nicht viel mitbekam, dann die braunen Zeiten der Nazis. Auf dem Bauernhof seiner Eltern waren alle beschäftigt von früh bis spät, hatten keine Zeit, sich viel mit Politik zu befassen. Vermutlich bestellten bedauernswerte Zwangsarbeiter die elterlichen Felder, während sich der junge Kaspar in der Wehrmacht dem Zusammenbruch entgegenstellen musste. Als Gebirgsjäger wurde er schwer verletzt. Kaspar Seibold überlebte, und nach dem Ende de Krieges suchten auch in seiner Heimat, im oberbayerischen Lenggries, zerlumpten Flüchtlinge aus dem Osten Deutschlands und aus den zerbombten Städten kraftlos und erschöpft nach Essbarem.

Da entschied Kaspar Seibold: So konnte es nicht weitergehen. Er engagierte sich in der staatlichen Landwirtschaftsverwaltung. 1948 trat er in die neu gegründete CSU ein, und schon im Herbst des gleichen Jahres fand er sich als jüngster Abgeordneter im Parlamentarischen Rat wieder, jenem Vorab-Parlament, das nach der Katastrophe des Nazireichs ein neues, demokratisches Deutschland schaffen sollte. Und es schuf. Kaspar Seibold war einer der Gründerväter des neuen demokratischen Deutschlands.

Auch Alexander Hamilton schrieb an der Verfassung der USA mit

Alexander Hamilton lebte gut 150 Jahre früher und half mit, die USA zu gründen. Am Anfang seines Weges stand eine uneheliche Herkunft in der Karibik, aber blitzgescheit war er wohl, ehrgeizig dazu. So stieg er im Militär des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges zum wichtigsten Unterstützter für George Washington auf, der später erster amerikanischer Präsident wurde. Die britischen Kolonialherren gaben auf, und die Siedler machten sich daran, einen neuen demokratischen Staat zu schaffen. Weiße Männer waren es, die den Ton angaben, die Frauen, die Ureinwohner ihres Landes, gar die gewaltsam aus Afrika herbeigeschleppten Sklaven, durften nicht mitreden bei ihren Überlegungen.

Seibolds Einfluss war gering im Gründungsparlament der Bundesrepublik (61 Männer, vier Frauen) zwischen Konrad Adenauer, Theodor Heuss und Carlo Schmid, die allesamt den Terror der Nazi-Schergen mit mehr oder weniger tiefen Wunden überstanden hatten. Seibold war jung und politisch unerfahren, während die alten Wortführer schon in der Weimarer Republik politisch aktiv gewesen waren. So musste sich der junge bayerische Landwirtssohn mit einer Statistenrolle unter den Gründervätern des demokratischen Deutschland abfinden.

Statistenrolle für Seibold, aber Hamilton wollte hoch hinaus

Alexander Hamilton aber wollte hoch hinaus. Er wurde 1787 Mitglied im Verfassungskonvent der Vereinigten Staaten, spielte bald mit in der ersten Garde der amerikanischen Politik. Als Minister schuf er das bis heute wirksame Finanzsystem der USA, das mit einer Stärkung der Zentralgewalt in den USA einherging. Seine Gegner bekämpften ihn deshalb, weil sie lieber einen lockeren Staatenbund anstrebten.

Von seinem stürmischen Gemüt angetrieben ließ er sich in einen undurchsichtigen Ehrenhändel verstricken, ruderte im Morgennebel über den Hudson River zu einem Duell nach New Jersey (weil der schießwütige Unsinn in New York bereits verboten war). Vielleicht glaubte er, dass auch sein Widersacher Aaron Burr, immerhin der amtierende Vizepräsident der USA, nur zum Schein auf ihn anlegen würde, aber Hamilton irrte sich. Er wurde getroffen und erlag am nächsten Tag 49-jährig seinen Verletzungen.

So schlimm meinte es das Schicksal nicht mit Kaspar Seibold. Der junge Mann aus Bayern musste sich nur in einem politischen Duell schlagen und unterlag. Typisch bayrisch wollte er das neue Deutschland eher als einen lockeren Staatenbund etablieren, aber es setzte sich doch die Idee einer deutlichen Machtkonzentration auf Bundesebene durch. Seibold verweigerte deshalb in der Schlussabstimmung am 8. Mai 1949 seine Zustimmung zum Grundgesetz.

59 Männer und vier Frauen unterschrieben das Grundgesetz

Trotz seiner Ablehnung in der Abstimmung unterzeichnete er in der feierlichen Zeremonie am 23. Mai 1949 in Bonn neben den Ministerpräsidenten der Länder, den Parlamentspräsidenten der Landtage und den 59 weiteren Männern und vier Frauen aus dem Parlamentarischen Rat (nur die beiden Kommunisten verweigerten die Signatur) die Urfassung des deutschen Grundgesetzes. Der jüngste Gründervater der Bundesrepublik war zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt.

Dr. Kaspar Seibold: Das jüngste Mitglied de Parlamentarischen Ragtes unterschieb 1949 die Urfassung des deutschen Grundgesetzes, obwohl er dagegen gestimmt hatte.

Wer kennt heute noch Kaspar Seibold? Schnell findet man seinen Namen in den allwissenden Suchmaschinen. Seibold ist nicht vergessen, aber zurückgesetzt gegenüber den großen Figuren seiner Zeit. So erging es auch Alexander Hamilton. Im Central Park von New York steht er als Statue herum und die Zehn-Dollarnote zeigt sein Gesicht. Trotzdem müssen wohl auch die meisten Amerikaner den Namen erst einmal googeln, wenn sie ihn einordnen wollen zwischen die großen Helden seiner Zeit: George Washington, Thomas Jefferson, John Adams.

Politik als Bühnenshow: Ein kühner Plan, …

Es war also ein kühner Plan, diese weitgehend vergessene Figur in den Mittelpunkt eines Stücks Musiktheater zu stellen, das noch dazu ohne öffentliche Subventionen auskommen muss. In New York und London wurde „Hamilton“ zum hochdekorierten Kassenschlager. Der Cast ist zeitgeistig divers besetzt, ein subtiler Hinweis darauf, dass die Hamiltons und ihre Zeitgenossen ganz sicher ausschließlich weiß waren. Die Musik kommt schmissig-modern daher, der Rap ist auch für Silverager erträglich und nachvollziehbar, und für das Auge wird ohnehin jede Menge geboten. Eine schwungvolle Bühnenshow, in der noch dazu die tragisch endende Lebensgeschichte dieses unterschätzten Gründervaters publikumsgerecht mit einer romantischen Liebe verflochten wurde.

… aber die Handlung zeigt Politik, wie sie ist.

Aber die Handlung zeigt eben Politik, so wie sie ist. Sie erzählt von komplizierten Fragen, die sich dem mehrheitlich auf fröhlich-gefühlige Unterhaltung  eingestimmten Publikum nicht schnell erschließen. Bis vor wenigen Tagen war „Hamilton“ auf Deutsch in Hamburg zu besuchen, jetzt muss man wieder nach London oder New York reisen. Noch im September 2023 erhielt die Hamburger Produktion den Deutschen Musical-Theaterpreis. Trotzdem war nun nach gerade mal einem Jahr Schluss. Die amerikanische Gründungsgeschichte füllte offenbar nicht so wie „Cats“, „König der Löwen“ oder „Das Phantom der Oper“ jeden Abend das privat betriebene Musical-Theater ausreichend.

Hätte eine deutsche Bühne den Mut, die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik so zu erzählen, halbwegs realistisch, niemals langweilig, überhaupt nicht belehrend? Musik und Rap als tragendes Element für bunte Bilder aus einer grauen Zeit? Der Parlamentarische Rat als divers besetztes Tanzballett? Die Debatten über die Stellung der Grundrechte, ob Bundesstaat oder Staatenbund, als Pop-Duette im Gesang? Und das alles vielleicht mit Kaspar Seibold mittendrin?

 

 

Der nicht in die USA reisen möchte, kann sich „Hamilton“ in London ansehen, täglich, an vielen Tagen sogar zweimal am Tag: https://hamiltonmusical.com/london/#/

Wer nicht verreisen möchte, kann sich auf Youtube Ausschnitte der Hamburger Produktion (auf Deutsch) ansehen (Klick führt zu Youtube).

Über die Beratungen des Parlamentarischen Rates zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland informiert sehr anschaulich eine eigene Website des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik in Bonn, auch mit weiteren Informationen über Dr. Kaspar Seibold, den jüngsten Abgeordneten des Parlamentarischen Rates.

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

Vom Frieden träumen, im Krieg aufwachen

Über die Aktualität des Musicals „Hair“ am Staatstheater in Saarbrücken

Es wäre eine bösartige Verkürzung, würde behauptet, dass Deutschland gespalten sei über die Frage von Krieg oder Frieden. Es mag zwar sein, dass – grob gesagt – unter den Deutschen jeweils etwa die Hälfte meint, es solle mehr Waffen für die Ukraine geben oder eher weniger. Würde man aber fragen (was aus guten Gründen niemand tut), ob man für Krieg oder für Frieden sei, dann würden sich natürlich alle für den Frieden aussprechen. Wer kann da schon dagegen sein?

Es ist vielleicht gerade deshalb jetzt ein guter Zeitpunkt, nach Saarbrücken zu fahren. Im dortigen Staatstheater kann man bis tief in diesen Sommer hinein (letzte Vorstellung am 2. Juli 2023) als einzigem Ort in Deutschland das Musical „Hair“ erleben, in dem es um Krieg und Frieden geht, oder genauer gesagt: Um den Traum vom Frieden.

Langes Haar, bunter Fummel: Die Hippies sind bester Laune. Aber sie werden aufwachen aus ihrem Traum vom unbeschwerten Leben – Szene aus „Hair“ in Saarbrücken; Foto: Oliver Dietze, bereitgestellt von Saarländisches Staatstheater

Es war chic, gegen die USA zu opponieren

Das „American Tribal Love-Rock Musical“ aus dem Jahr 1968, an der Saar vor zwei Jahren neu aufgepeppt für die Opernbühne, gehört zur biografischen Erfahrung vieler Silver-Ager von heute. Auch wenn sie jetzt eher von Haarmangel betroffenen sind, füllen die Vertreter der 68er Generation die meisten der weichen Polstersessel des Staatstheaters. Angetreten zur bequemen Besichtigung einer besonders bunten Phase ihrer eigenen Biografie ist also die Generation, die sich erst gegen die sinnlose Brutalität der Amerikaner in Vietnam, und dann gegen deren Pershing-Atomraketen in Deutschland gewehrt hatte. Es war eine Zeit, in der es chic war, gegen die USA zu opponieren.

Ende der achtziger Jahre glitten diese Babyboomer dann ungläubig staunend in ihren eigenen Traum: Der „Ostblock“ kollabierte, der „Kalte Krieg“ schien zu enden, die gefürchteten Atomraketen wurden allseits eingemottet. Die Geschichte schenkte den Deutschen ihre Wiedervereinigung und es konnte endlich Frieden gemacht werden mit den Nachbarn im Osten. Es war ein Traum vom Frieden für immer.

Das Spektakel funktioniert noch immer

Als das geschah, war „Hair“ längst out. Einst hatte es aber den musikalischen Begleitsound geliefert für eine Zeit, in der junge Menschen sich entscheiden mussten: Zur Bundeswehr oder nicht? Für oder gegen die USA? Mehr als fünfzig Jahre später funktioniert die fetzige Musik (eine achtköpfige Band treibt das Geschehen auf der Bühne) noch immer und ist das farbenfrohe Tanzspektakel eine einzige sinnliche Freude. Knapp zwei Stunden wirbelt das Personal des Saarbrücker Staatstheaters äußerst kurzweilig über die Bühne. Die langhaarigen Blumenkinder führen ein Leben voller Müßiggang, Anpassungsverweigerung, Drogen, Sex und Illusionen. Religiöse Versprechungen aller Art würzen den berauschenden Cocktail. Dann drängen sich düstere Vorahnungen von Gewalt ins Bild, sei es im Krieg oder in der eigenen Welt der Vorurteile und Rücksichtslosigkeiten. Und auch der Raubbau an der Natur ist nicht mehr zu leugnen in dieser heilen Welt.

Ja, schön wär´s gewesen! Aber die Hippies müssen erwachen aus ihrem Traum. Noch rammdösig, benommen, verkatert – mindestens von ihrem letzten Marihuana-Trip, vielleicht auch vom ohnehin anstrengenden Rausch des Jungseins, stolpern sie herum in der Wirklichkeit. Ihr Gastwirt, der Hausherr ihrer durchgeknallten Partylokation, ist tot, rassistisch ermordet. Wie wollen sie es denn nun halten mit dem wahren Leben ihrer Zeit: Krieg oder Frieden?

Schlapp und antriebslos suchen sich die erwachten Blumenkinder aus der Altkleidersammlung zivile Klamotten heraus, werfen den lächerlichen Bunt-Fummel ab, und staunen über ihre alten Geldbeutel, die sie nicht vermisst hatten in ihrer Kapitalismus-kritischen Traumwelt. Als nächstes stünde wohl ein Friseurbesuch an.

Am Rande aber liegt der tote Gastwirt

In Saarbrücken entscheiden sich die ernüchterten Hippies schließlich für den bequemen Weg der Illusion. Das ist auch in der Originalvorlage des Musicals so vorgesehen. Einer von ihnen folgt dem Einberufungsbefehl, geht in die Armee, aber die anderen singen: „Let the sunshine in“, erst leise und verhalten und dann immer machtvoller anschwellend wie eine trotzige Hymne auf das unbeschwerte Leben. Als hätte man ein Recht darauf. „Let the sunshine in“, und die nostalgisch erwachte Schar der Grauhaarigen im Saal klatscht und singt mit. Am Rand aber, da liegt der tote Gastwirt. Vorhang.

Eine Ikone der 68er-Generation, die heute 80 Jahre alte Journalistin und Frauenrechtlerin Alice Schwarzer, ist zur gleichen Zeit in der Frage nach Krieg oder Frieden medial allgegenwärtig. Vor wenigen Tagen stand auch sie auf einer Bühne. Mit ausdrucksstarker Haarpracht, mit ihrer ganzen kantigen Persönlichkeit und Lebensleistung, rief sie vor dem Brandenburger Tor Ihrer Gefolgschaft zu: Wie es denn sein könne, dass wir uns an die Barbarei eines Krieges gewöhnen? Warum das Wort „Pazifist“ zu einem Schimpfwort geworden sei? Wie „verbrecherisch“ es sei, „der Ukraine einzureden, sie könne gegen Russland siegen.“

Das wäre dann der Moment, gedanklich kurz auf die Bühne in Saarbrücken und den historischen Hintergrund von „Hair“ zurückzukommen. Den auch von der damaligen Sowjetunion unterstützten Vietnamesen ist es im Jahr 1975 eben doch gelungen, die Soldaten der Atommacht USA aus ihrem Land zu vertreiben. Nicht mit selbstgeflochtenen Traumfängern oder Blumenkränzen auf dem Haupt, sondern mit aufreibendem Kampf und tödlichen Waffen. „Putin hört nicht auf das Geträllere von Friedensliedern“, kanzelte die FDP-Frontfrau Agnes Strack-Zimmermann die Überlegungen von Alice Schwarzer und ihren Anhängern ab, und erwischt gleich alle mit, die „Hair“ einfach nur als nostalgische Erfahrung genießen möchten.

So eine schöne Welt hätte es sein können, in die wir uns bei „Hair“ hätten zurückträumen dürfen! Geht leider nicht, geträumt haben wir vom Frieden, jetzt herrscht Krieg. Also zu Ende geklatscht, herausgestemmt aus den tiefen Polstersesseln, zurück in die brutale Realität.

Auf nach Saarbrücken!

Ein „Geschenk des Führers“ an das Saarland: Das heutige Staatstheater in Saarbrücken.

Schon beim Verlassen des prächtigen Baus in Saarbrücken gilt es, nicht zu stolpern. Ein „Geschenk“ war dieses Theater gewesen (auch wenn danach die Stadt Saarbrücken die Hälfte selbst zahlen musste). Als Dankeschön des „Führers“ wurde es errichtet. Die Bewohner des Saargebietes hatten im Jahr 1935 bei einer Volksabstimmung zu mehr als 90 Prozent für den Anschluss ihrer Heimat an Deutschland und gegen ihre Eigenständigkeit unter Aufsicht des Völkerbundes votiert. Nacherleben kann man das alles im nahegelegenen „Historischen Museum“ der Saarmetropole. Ein Sieg der Nazi-Propaganda war das gewesen, und auch ein tragischer Akt plebiszitärer Selbstunterwerfung unter ein Gewalt-Regime. In vollem Wissen über den rassistischen Judenhass der in Deutschland regierenden Nationalsozialisten und deren blutig-brutale Verfolgung jedes Andersdenkenden wählten die Saarländer den Abgrund.

Sie träumten damals von Wohlstand und Frieden – und wachten auf in einem Albtraum von Repression und Krieg. Auf nach Saarbrücken! Es gibt viel mitzunehmen von dort, wenn man über Krieg und Frieden nachdenken möchte.

 

 

 

„Hair“ ist am saarländischen Staatstheater in Saarbrücken das nächste Mal am 12. März und dann an zahlreichen weiteren Terminen bis 2. Juli 2023 zu erleben. Weitere Informationen: https://www.staatstheater.saarland/stuecke/musiktheater/detail/hair-1

Lohnend ist bei dieser Gelegenheit ein Besuch im Historischen Museum des Saarlandes: https://www.historisches-museum.org/startseite

Auch mein Text über „Langes Haar und die Sehnsucht nach Freiheit“  greift Motive aus „Hair“ auf. Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier. 

Dieser Text erhebt nicht den Anspruch einer Aufführungskritik. Mein Fokus liegt ausschließlich auf dem (kultur-)politischen Aktualitätsbezug von Werk und Inszenierung. Daher gibt es in diesem Text auch nur Bemerkungen zur Konzeption der Inszenierung, nicht zu den Leistungen von Sänger/innen und Orchester.

Gesehen habe ich die Aufführung am 1. März 2023.  

Langes Haar und die Sehnsucht nach Freiheit

Eine haar-sträubende Betrachtung über Hippies, Gerd Müllers Denkmal und den Aufstand im Iran

Die ganze Welt kann ein einziger Wirbel von Haaren sein. Die singende Truppe tanzt, die Köpfe kreisen synchron nach vorne geneigt, auf gemeinsamer Augenhöhe. Aber von Augen ist nichts zu sehen. Denn die Haare wirbeln herum, glatte lange und wilde krause Haare, bilden gemeinsam eine blond-braun-schwarze Wolke. „Wunderbar ist so langes Haar, lass es leben, Gott hat´s mir gegeben, mein Haar!“, singt die sich entfesselt fühlende Jugend.

„Bürstenborstig, löwenmähnig“

„Bürstenborstig, rabenhorstig, ruppig, schuppig, struppig, zopfig, eisenherzig, bubikopfig, kämmungslos verludert, hemmungslos geölt, gepudert, löwenmähnig, strähnig“, geht der deutsche Liedtext weiter. Langes Haar schwingt herum in der Drehung, kann sich vor das Gesicht legen, sich verfangen an den Augenbrauen oder im Gestell der Brille. Es bedarf der Pflege, kostet Zeit und kann hinderlich sein für eine freie Sicht auf die Welt. Und doch ist langes Haar Symbol für Schönheit und auch kraftvoller Ausdruck von Vitalität und Freiheitsliebe. Manchen Menschen hat das Schicksal keine oder zu wenig oder eine sich allzu schnell verflüchtigende Haarpracht zugeteilt. Viele davon leiden darunter.

Die haarige Szene der tanzenden Jugend ist mehr als fünfzig Jahre alt. Sie stammt von der Bühne des amerikanischen Antikriegs-Musicals „Hair“, das im Jahr 1968 Premiere hatte. Das Spektakel im Dreieck zwischen Rebellion, Hippie-Glückseligkeit und Drogenrausch war ein Welterfolg der damals modernen westlichen Welt. Es ging darum, einer aufbegehrenden amerikanischen Jugend künstlerischen Ausdruck zu verleihen.

Lange Haare für Männer waren viel mehr als eine Mode

Gerd Müller – langhaarig während des WM-Endspiels von 1974. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-N0716-0314 / Mittelstädt, Rainer / CC-BY-SA

Die Rollenteilung zwischen Männern und Frauen kam dabei noch ziemlich traditionell daher, aber neu war: Auch viele Männer hatten eine wilde, ungebändigte Haarpracht. Ihre langen Haare, ihre wilden Locken waren für die Männer aus der Generation „Hair“ viel mehr als nur eine Mode. Die männliche Haarpracht war ganz konkret gefährdet vom brutalen Scheren-Schnitt nach einer drohenden Einberufung zum Militär. Und so wurde das wildwachsende Haar zum Zeichen des Widerstands gegen die latente, kalte Kriegsgefahr, in den USA gegen den Vietnam-Krieg. Es ging um eine ganz grundsätzliche Ablehnung jener Weltordnung, in der die Atommächte – militärisch gestützt – die Länder der sogenannten „Dritten Welt“ in Einflusssphären aufteilten und ausbeuteten. „Hair“ war auch ein Statement gegen den innergesellschaftlichen Stillstand, gegen Rassismus und soziale Ungerechtigkeiten.

Das Musical hatte am Broadway fast 2000 Aufführungen, schon im Oktober 1968 wanderte die übersetzte Aufführung von „Haare“ nach Deutschland. Zuerst wurde sie in die damalige Hippie-Lifestyle-Metropole München gezeigt, und von dort aus wanderte sie durch den ganzen deutschsprachigen Raum. Erst zehn Jahre später, als die Hippie-Glückseligkeit schon fast vorübergezogen und die bunten Schlaghosen von den wohlkalkulierten Lumpen der Punks verdrängt wurden, verfilmte der Oscar-Preisträger Milos Forman den haarigen Stoff.

Gewiss kein Hippie, aber lange Haare hatte auch der „Bomber“

Das Gerd-Müller-Denkmal in Nördlingen mit schicker Föhnfrisur.

Gerd Müller war ein Kind dieser Zeit, wenn auch gewiss kein Hippie. Kurz nach Kriegsende geboren, erfüllte er sich und der ganzen deutschen Nation den Traum des sportlichen Jungen, der aus einfachsten Verhältnissen zum Weltstar aufstieg. Als „Hair“ noch die Hallen füllte, erzielte der „Bomber der Nation“ als Mittelstürmer der Männer-Fußballnationalmannschaft 1974 das Siegtor zur zweiten deutschen Weltmeisterschaft. Er schoss es, unvergleichlich und ganz typisch für ihn, aus einer wuchtigen Körperdrehung heraus, und er hatte dabei fliegendes, schulterlanges Haar. Wild und frei schwang es ausweislich der unscharfen Fotos und wackeligen Videos, die es dazu gibt, um sein Haupt herum.

Gerd Müller verstarb im Jahr 2021. Als ihm nun seine schwäbische Heimatstadt Nördlingen ein Denkmal setzte, da hatten die auftraggebenden Verantwortlichen und der ausführende Aschaffenburger Künstler Herbert Deiss nicht den Mut, das lange Haar des Bombers abzubilden. Der aktuelle Zeitgeschmack meinte wohl Gerd Müller etwas Gutes tun zu müssen, wenn in seiner erstarrten Denkmal-Drehung zum legendären Siegtor keine Mähne fliegt, sondern eine moderne Föhnfrisur das Haupt des Helden ziert.

Der griechische Athlet von 360 v.Chr. reinigt sich – dabei ist er ganz makellos; kein Härchen klebt, die Lockenfrisur sitzt perfekt.

Nun ist ein Denkmal ein geübter Ort für legalisierte Idealisierung. Schon jener griechische Athlet aus der Zeit um 360 vor Christus, der zu Vergleichszwecken mit der neuzeitlichen Müller-Statue in der Münchner Glyptothek geduldig bereitsteht, könnte von der Freude seiner Zeitgenossen an der Idealisierung profitiert haben.  So, wie er sich in einer geradezu Müller-ähnlichen Körperdrehung „nach dem Sieg reinigt“, wie dem Besucher erklärt wird, wirkt er allzu schön und makellos. Seine Haare liegen in wohlgeordneten Locken auf dem Haupt, hier schwitzt nichts und klebt kein Härchen.

Warum wird Jesus langhaarig dargestellt?

Zugegeben, ein gewagter Vergleich! Noch viel mutiger ist in dieser Hinsicht der bereits zitierte Liedtext aus „Hair“. „Ging vor rund zweitausend Jahren,“ fragt die haarige Hippietruppe, „Jesus nicht mit langen Haaren?“ Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass der historische Jesus so aussah, wie wir ihn uns nach zahllosen Bildern und Filmen inzwischen vorstellen. Das haben Wissenschaftler ermittelt. In der Antike waren lange Haare unüblich, vermutlich glich Jesus äußerlich eher unserem schönen Athleten mit säuberlich gestutztem Lockenkopf. Als Kronzeuge für Langhaarigkeit taugt der Gottessohn also nicht, wohl aber als weiteres Symbol dafür, dass wallendes Männerhaar steter Ausdruck von Veränderungswille und Aufbruch ist. Ganze christliche Künstlergenerationen hatten offenkundig das Bedürfnis, den Erneuerer seiner Zeit, den Mann, der dem Kommerz die Stirn bot und die Händler aus dem Tempel warf (falls die Geschichte stimmt), den Mann, nach dem wir unseren Kalender neu geordnet haben, langhaarig darzustellen und nicht mit kurzen Stoppeln auf dem heiligen Haupt.

Alle Lebenserfahrung zeigt, dass es ohnehin nicht darauf ankommt, ob die Abbildung korrekt ist. Sondern nur darauf, ob das Bild in uns lebendig bleibt, das wir mit dem Werk, der Idee des Abgebildeten verbinden. Ob Gerd Müller lange Haare hatte, spielt keine Rolle für den kleinen Steppke, der vor dem Müller-Denkmal steht und davon träumt, einmal im Leben das entscheidende Tor bei einer Weltmeisterschaft zu erzielen. Ob Jesus lange Haare hatte, ist vollkommen nebensächlich für diejenigen, die daran glauben, dass er für sie qualvoll am Kreuz gestorben ist.

Haare für die Freiheit: Szene aus dem Iran. Ganzes Video bei ttt in der ARD-Mediathek, ab Min. 8:30: https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/videos/Iran-Frauen-ttt-video-100.html

Wer das Haar zeigt, dem droht Folter und Tod im Iran

Welches Denkmal wird einst jenen Frauen errichtet werden, die derzeit im Iran um Ihre Freiheit kämpfen? Das Nicht-Verdecken des Haares ist für die Frauen dort zum religiös motivierten Politikum und zur Lebensgefahr geworden. Eine junge Frau war im September 2022 in den Foltergefängnissen der Mullahs umgekommen, weil sie zu viel von ihrem Haar öffentlich gezeigt hatte. Nun rebellieren Millionen Frauen gegen diese Sittenvorschrift. Immer mehr Männer schließen sich dem Frauenprotest an. Sie alle riskieren, im Gefängnis zu landen, gefoltert und getötet zu werden. Die Schergen des Regimes schießen mit scharfer Munition auf die haarige Rebellion. Staunend blicken die langhaarigen Hippies von einst auf den Mut dieser Menschen von heute.

Eine Szene, die zum Denkmal werden sollte

Ein Mittel des Protestes und der Trauer im Iran (und der Solidarität mit den iranischen Frauen weltweit) ist das Abschneiden der Haare. Das Netz ist voller Videos mit Bildern dieses mutigen Kampfes der Menschen im Iran. Eines davon zeigt eine junge Frau, mitten im Großstadtverkehr, Autos fahren vorbei, öffentlich steht sie da und schneidet sich ihre schönen langen Haare ab, hält die abgetrennten Büschel mahnend der Welt entgegen. Eine Szene, die zum Denkmal werden sollte.

 

 

Den Link zur vollständigen Szene mit der mutigen jungen Frau aus dem Iran , die sich die Haare abschneidet, finden Sie unter der Bildunterschrift.

Ausschnitte von „Hair“ kann man sich im Internet ansehen, auch den Film. Das zitierte Lied über die Haare finden Sie als Ausschnitt des Films von Milos Forman z.B. hier: https://www.youtube.com/watch?v=PgrIAIHTho8&t=27s

Das Musical ist bis heute auf deutschen Bühnen präsent; zum Beispiel wird das Staatstheater Saarbrücken den haarigen Antikriegs-Klassiker ab Mitte Februar 2023 wieder ins Programm nehmen.

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