Luftige Männerträume in Zuffenhausen

Über einen Kampfjet auf dem Dach und Sportkarossen, die zum Himmel streben

In Stuttgart-Zuffenhausen gibt es teure Autos, und auch einen Starfighter. Vor zwölf Jahren wurde er hier auf ein Dach gesetzt und seither ist er dort: Ein echtes Kampfflugzeug, Typ Lockheed F104.  Auf dem Dach einer schmucklosen Industriehalle in einem Mischgebiet verharrt es im erstarrten Flug; direkt daneben arbeiten Menschen und wohnen auch dort.  Wenn man den unmittelbaren Wohn-Nachbarn glaubt, dann blicken sie seither jeden Morgen beim Aufwachen auf einen Starfighter.

Gehört das da hin oder kann das weg? Ein wohlhabender Flugzeugliebhaber hat sich in Zuffenhausen einen Starfighter aufs Dach gesetzt – mit Gedenktafel.

Keine hundert Meter vom Flugzeug entfernt streben drei Edelkarossen zum Himmel – auch schon seit zehn Jahren. Hochgestemmt sind sie in der Mitte eines Kreisverkehrs vor dem Stammsitz der Sportwagenschmiede Porsche. Die Stadt hat die drei Boliden vom Typ 911 auf ihrem Streben in den Himmel als Kunst anerkannt. „Inspiration 911“ heißt die Auto-Skulptur, die auf öffentlichem Grund steht, aber von Porsche finanziert wurde. Sie erinnert an den ersten Porsche 911, der an dieser Stelle zusammengeschraubt wurde – im Jahr 1963. Da stürzten gerade die ersten Starfighter ab.

Ein Kampfflugzeug als Lebenstraum

Also zurück zum Flugzeug auf dem Dach. Der Eigentümer der Halle mit dem Starfighter, ein selbstbewusster schwäbischer Unternehmer, hat eine Leidenschaft für solche Fluggeräte. So, wie andere als Lebenstraum haben, einmal in die Karibik zu segeln, oder einmal einen Porsche zu besitzen – so hatte er als Lebenstraum, einen ausrangierten Starfighter sein Eigen zu nennen. Es hat viel Geld gekostet, das alte Flugzeug zu kaufen und nach Zuffenhausen zu schaffen, und viele Stunden Arbeit, um es zu restaurieren und mit einem Kran auf das eigene Dach zu heben. Dort ist der Starfighter seit 2013 weithin zu sehen.

Eine Gedenktafel erinnert an die 116 Bundeswehr-Piloten, die bei Abstürzen dieses Flugzeugtyps in den sechziger Jahren ums Leben gekommen sind. Der Starfighter war alles andere als ein Erfolgsflugzeug, er war eine ausgesprochen problematische Luftnummer. Mehr als 900 der Flugzeuge beschaffte die alte Bundesrepublik, und fast ein Drittel davon stürzte ab. Und das alles ohne Feindeinwirkung, in den Friedenszeiten des „kalten“ Krieg.

Es gibt kein Recht, ohne Blick auf einen Starfighter zu leben

Als der Kampfjet auf das Dach in Zuffenhausen geschraubt wurde, war die Aufregung groß. Deutschland war längst wiedervereinigt, und niemand dachte daran, dass schon bald in Europa ein heißer Krieg geführt werden könnte. Es gab heftige Proteste gegen das Militärflugzeug auf dem Nachbardach. Eine Anwohnerinitiative ging erfolglos gegen das Flugzeug vor. Die Stadt „tolerierte“ nach Prüfung die ungewöhnliche Dachgestaltung. Es liege zwar eine Überschreitung der Grenzen im Bebauungsplan vor – aber nun sei das Flugzeug schon mal da, und eigentlich beeinträchtige es niemanden: Es stinkt nicht, macht keinen Lärm, wirft keinen Schatten. Abgesehen von der Frage, ob man es schön findet, neben einem alten Kampfbomber zu leben, sei durch die tolerierte Grenzüberschreitung niemand in seinen Rechten beeinträchtigt. Und es sei nirgends niedergeschrieben, dass man Anspruch darauf hätte, ohne Blick auf ein Flugzeug aufwachen zu dürfen, schon gar nicht, wenn es im Mischgebiet auf einer Industriehalle schwebt. So blitzt der aufs Dach gestemmte Männertraum bis heute im Sonnenlicht.

Ist das Kunst oder kann das weg? Am Stammsitz der Firma Porsche in Zuffenhausen streben drei Sportkarossen in den Himmel.

Wie die Zeit den Blick verändert

Als das Porsche-Denkmal entstand, strotzte der schwäbische Sportwagenbauer noch vor Kraft, verkaufte seine teuren Autos weltweit mit jahrelangen Lieferfristen und versuchte sogar, die Herrschaft über den eigentlichen Mutterkonzern Volkswagen zu übernehmen. Porsche – das war Synonym für ein global voranrollendes schwäbisches Wirtschaftswunder. Viel Wohlstand hat der Bau dieser Superkarossen eingebracht, zahllose Häuschen finanziert, schöne Urlaubsreisen ermöglicht – kurz: Sorglosigkeit gesichert. Das ist vorbei. Wer heute am „Porschekreisel“ um die drei hochgestemmten Karossen herumfährt, denkt eher an Stellenabbau, Managementfehler und die wegbrechende Nachfrage in China. Und wie viele Menschen sind schon in oder wegen einem Porsche zu Verkehrsopfern geworden? Wieviel Co2 haben die Sportwagen in die Luft gepustet und damit geholfen, das Klima aufzuheizen? Keine Gedenktafel stört hier den hochstrebenden Männertraum.

Wie die Zeit den Blick verändern kann: Vor zwölf Jahren kritisierten viele friedensbewegt den Starfighter als deplatzierten Dachaufbau. Heute steht der Starfighter auch dafür, dass die deutsche Demokratie seit dem Weltkriegsende mit wechselnder Intensität auf der Suche nach Wehrhaftigkeit war – und es nun wieder ist. Und dafür, dass auch die bedauernswerten Soldaten, die in Friedenszeiten mit dem fehleranfälligen Todesvogel ihr Leben verloren, zur deutschen Geschichte gehören. Ihrem Schicksal darf auch ein Pazifist gedenken.

 

Der Starfighter von Zuffenhausen hat eine eigene Website, die allerdings schon länger nicht mehr aktualisiert wurde. Über die unrühmliche Geschichte des amerikanischen Kampfflugzeugs informiert u.a. Wikipedia.

Mehr über das Kunstwerk „Inspiration 911“ finden Sie auf der Website des Porsche-Museums.

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Das schnelle Ende der Finnlandisierung

Über den „Helsinki-Effekt“ und was sich seither verändert hat

Prächtig weiß schimmert der Marmor an der Fassade im Sonnenlicht und steht damit in Verbindung zum prunkvollen Baustil, der die finnische Hauptstadt Helsinki auch sonst neoklassizistisch prägt. Die Rede ist hier von der Finlandia-Halle. Sie wurde Anfang der 70er Jahre eröffnet, als Konzert- und Kongresshaus, und jede und jeder politisch Interessierte kennt sie. Weltgeschichte wurde dort geschrieben, eine Art Friedensschluss als Ende des „Kalten Krieges“ zwischen Ost und West, dreißig Jahre nach der Weltkriegskatastrophe.

Die Finlandia-Halle in Helsinki: Vor 50 Jahren wurde hier Weltgeschichte geschrieben – aber die damals Beteiligten glaubten, es bliebe alles beim Alten. Foto: gemeinfrei von Thermos  https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=738580

Europa war geteilt. Bis auf kleinere Konflikte hatte es seit Kriegsende keine direkten militärischen Konfrontationen der Weltmächte in Europa gegeben. Das Konzept „Abschreckung“ kam an seine Grenzen, denn es verlangte einen hohen Preis. USA und Sowjetunion ächzten unter den enormen Kosten der gegenseitigen Hochrüstung. Dieses gemeinsame Interesse führte zur Lösung: „Entspannung“ hieß nun das Motto. Denn schließlich wollte niemand neue Kriege führen in Europa.

Viele dachten: Alles geht so weiter wie zuvor

So verständigten sich nach einem mehrjährigen, sehr zähen Verhandlungsprozess 33 europäische Staaten dies- und jenseits des „Eisernen Vorhangs“ zusammen mit den USA und Kanada auf eine Schlussakte der „Konferenz zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE). Dort festgehalten: Keine gewaltsame Verschiebung von Grenzen, Streit friedlich beilegen, Wahrung der Menschenrechte. Das völkerrechtlich unverbindliche Papier wurde in genau dieser Halle unterschrieben. Das war am 1. August 1975. Damals meinten allerdings nahezu alle Beteiligten, vor allem auf der West-Seite, dass Aufwand und langfristiger Nutzen dieses diplomatischen Kraftaktes in keinem vernünftigen Verhältnis zueinander stünden. Es würde ohnehin alles so weitergehen wie zuvor.

Aber das war ein Irrtum.

Fünfzig Jahre ist das nun her. Die Geschichte der Konferenz hat der finnische Filmemacher Arthur Franck im Dokumentarfilm „Der Helsinki-Effekt“ auf äußerst unterhaltsame Weise nachgezeichnet – und dabei einige Lehren für das Heute entdeckt. Der Film ist vor allem ein Appell an die Kraft von Diplomatie, die freilich Geduld, Höflichkeit, Respekt und Verständnis für das Gegenüber erfordert – allesamt Tugenden, die im internet-getriebenen, erhitzten Dauerdiskurs der Gegenwart unter die Räder geraten sind. Vielleicht ist der seither eingetretene Ansehensverlust von Außenpolitik auch darin begründet, dass genau diese Primärtugenden nichts mehr gelten? Alle schauen nur noch auf sich, und ein US-Präsident, der genau diese Unkultur zum Prinzip erhoben hat, verordnet seinem Land folgerichtig den Austritt aus der UNESCO. Was interessiert einen Amerikaner das Welterbe andernorts?

Auch vor fünfzig Jahren wurde gespottet – aber höflich

Wie anders muten da die Bilder aus den 70er Jahren an. Auch da wurde gespottet über die jahrelangen Diskussionen um ein Papier, das im wesentlich beschrieb, was ohnehin alle für unstrittig hielten. Immerhin geschah es weitgehend höflich. In der historischen Rückschau war die KSZE-Schlussakte von Helsinki allerdings nicht irgendein belangloses Papier. Es war der Ausgangspunkt des Umsturzes im Osten, der Befreiungsbewegungen in den osteuropäischen Ländern, von Solidarnosc und auch der friedlichen deutschen Einigung. Die Möglichkeit dazu wurde auf Druck der westdeutschen Regierung unter Helmut Schmidt ausdrücklich in den Text aufgenommen. Die Option zur friedlichen und gemeinsamen Lösung der „deutschen Frage“ war die vom Westen erwünschte Ausnahme des sonst von der Sowjetunion besonders nachdrücklich eingeforderten Prinzips der Unverrückbarkeit von Grenzen.

Beste Stimmung zwischen den Atommächten: Im KSZE-Prozess achtete man noch darauf, sich mit Respekt und Höflichkeit zu begegnen (Gerald Ford und Leonid Breschnew in Helsinki) Foto: bereitgestellt von rise and shine cinema

Die KSZE-Schlussakte ist daher auch eine Dokument des Bruchs zwischen der von Wladimir Putin sonst so hoch gehaltenen Traditionslinie zwischen der untergegangenen Sowjetunion und dem heutigen Russland.

Finnland suchte sein Glück siebzig Jahre lang in der Neutralität, …

Glaubt man dem Film, dann wäre die ganze Konferenz nie zustande gekommen ohne die vermittelnde Rolle des damaligen finnischen Präsidenten Urho Kekkonen. Finnland ist in seiner Geschichte mehrfach nach Russland einverleibt worden, wusste sich aber seit dem 20. Jahrhundert auch zu wehren. Und blieb standhaft auf die eigenen Grenzen bedacht, als Hitler die finnischen Nationalisten für seinen Kampf gegen Stalin einspannen wollte.

Nach dem 2. Weltkrieg fanden die 5,5 Millionen Finnen ihre politische Rolle in der Neutralität zwischen den Blöcken. Kulturell gehörte das Land dem Westen an, war demokratisch und weltoffen. Aber es versuchte, durch maximale Zurückhaltung den großen Nachbarn im Osten keinen auch noch so kleinen Anlass zu geben, die 1344 Kilometer lange Grenze zum kleinen Finnland erneut zu überschreiten. Dieses Prinzip der Zurückhaltung wurde damals „Finnlandisierung“ genannt – fast ein Schimpfwort für lasche Politik. Kein Staat Europas wollte so neutral sein wie Finnland, so zurückhaltend gegenüber der sowjetischen Unterdrückungspolitik vor der eigenen Haustür. Kein Land war so restriktiv im Umgang mit Geflüchteten von dort, die man einfach zurückschickte, um die eigene Neutralität nicht zu gefährden. Auch deshalb engagierte sich Urho Kekkonen für den KSZE-Prozess und schloss ihn mit der Vertragsunterzeichnung in Helsinki erfolgreich ab. Ein diplomatischer Triumph für das kleine Finnland.

… aber brauchte nur zwei Jahre, um sich neu zu orientieren

Was danach geschah, ist allerdings das Scheitern der Finnlandisierung. Die Neutralität der Finnen hatte sich erledigt, als Russland die Ukraine überfiel – unter Bruch aller Prinzipien, die in der Helsinki-Akte festgelegt waren. Mehr als siebzig Jahre hatte Finnland seine Neutralität gepflegt. Nach der russischen Aggression brauchte die finnische Gesellschaft nur zwei Jahre, um sich radikal umzuorientieren. Seit 2023 ist Finnland Mitglied der NATO.

Was also kann Europa von den Finnen lernen? Mit Diplomatie kann man viel erreichen – aber nicht die eigene Existenzsicherung in einer Welt, in der die Allermächtigsten auf Verträge pfeifen. Es gibt keine Neutralität gegenüber purer Gewalt.

 

Die KSZE-Schlussakte von Helsinki kann im Originaltext im Internet abgerufen werden. Wer nachlesen möchte, findet sie hier.

Der Film „Der Helsinki-Effekt“ wird vor allem in kleineren Programmkinos gezeigt. Am 5. August zeigt ihn der Sender arte. Trailer, Informationen zum Film und zu den Kinos finden Sie hier. 

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier. 

Helsinki war der Schlusspunkt einer Reise durch Polen und die baltischen Staaten. Texte von dieser Reise sind auch

 

Waffen und Gewissen – Eine Selbstkritik

E-Mails gab es noch nicht. Also war die Einladung mit der Post gekommen. Billiges Papier, ein grauer, grobfaseriger Briefbogen. Ein Vordruck, die Leerstellen ausgefüllt mit Schreibmaschine.

Der Raum: Eine Amtsstube, Resopaltische, an der Wand ein Foto von Walter Scheel, ein Gummibaum. Graustichige Gardinen an den Fenstern.

Der Prüfling saß alleine an einem Tisch; ihm gegenüber die Kommission: drei ältere Herren, freundlich, graue Haare, graue Anzüge, schlechtsitzende Krawatten. An einem eigenen Tisch rechts daneben: eine Dame mit Hochsteckfrisur, erwartungsvoller Blick über die Schreibmaschine.

Der Gegenstand der Verhandlung: Eine Gewissenprüfung.

Zwei Zeitenwenden sind seither vergangen

Zwei „Zeitenwenden“ sind seither vergangen. Die eine, Herbst 1989, die wir erlebten, als wir mit Tränen in den Augen vor dem gewölbten Bildschirm unseres Röhrenfernsehers hockten. Angespannt und ungläubig starrten wir die verschwommenen Bilder von Menschen an, die auf der Berliner Mauer tanzten, die mit jubelnd-suchendem Blick hindurchtraten durch die wilde, unerwartete Lücke der Geschichte, die hinaustraten in die verheißungsvolle Welt westlich des Brandenburger Tores.

Und dann die andere, Februar 2022: Jetzt sind die Bilder gestochen scharf und sie rühren uns nicht nur an, sie machen Angst. Es sind Bilder eines brutalen Überfalls mitten in Europa, von brennenden Wohnhäusern, von Menschen im fragilen Schutz der Metrostationen, weinend, verzweifelt, ihrer Existenz beraubt und um ihr blankes Leben fürchtend, auf der Flucht. Wir spüren: Das könnten auch unsere Wohnhäuser sein, unsere U-Bahn, unsere Existenz, unser Leben.

Naiv-pazifistische Überzeugung, Angst und Feigheit

Zurück in die Amtsstube von 1977. Der Prüfling wollte nicht zum „Bund“. Es war eine diffuse Mischung, die da zusammenkam. Naiv-pazifistische Überzeugung, aber auch schlotternde Angst vor dem legendär gefürchteten Gebrüll der Grundausbilder, die im Ruf sadistischer Wesenszüge standen.  Und bange Feigheit vor der alkoholgeschwängerten Stubenkultur jener Rekruten, die gegen jedes Monatsende an den Bahnhöfen ohrenbetäubend lärmten und randalierten; an deren aggressivem Glück der wiedergewonnenen Freiheit nach ihrer Entlassung aus dem Wehrdienst er sich besser unauffällig vorbeidrückte.

Als es noch eine Wehrpflicht gab, erhielt jeder junge Mann in der Bundesrepublik einen Wehrpass. Wer nicht zur Bundeswehr wollte, musste zur Gewissensprüfung.

Dem unsportlich-schmächtigen Jugendlichen voller pubertärer Verklemmung und intellektuellem Hochmut schwante nichts Gutes, wenn er sich mit dieser Sorte Gleichaltriger einen Raum mit Stockbetten und Spinden teilen sollte. Die da am Bahnhof, die waren gleichen Schlages wie jene, die dem Grundschüler schon auf dem Schulweg aufgelauert hatten. Das waren die gleichen grobschlächtigen Rabauken, die plötzlich herausgekrochen kamen aus dem schützenden Gebüsch, sich ihrem schwächlichen Opfer in den Weg stellten, voller Vorfreude auf das angebliche Recht des Stärkeren. Sie nahmen den Mitschüler in den „Schwitzkasten“, rissen an seinem Ranzen, zerstreuten den Inhalt auf das staubige Trottoir, verhöhnten seine Tränen. Dorthin wollte er nicht zurück.

Keine Stechmücke töten?

Dann also lieber die Gewissensprüfung. Immerhin, das war sein Terrain. Ganz sicher war sich der Prüfling gewesen in seiner Argumentation: „Ich kann wirklich keiner Fliege etwas tun“, soll er gesagt haben, „auch eine Stechmücke kann ich nicht erschlagen, wenn sie noch so heftig sticht.“ So steht es geschrieben im Schreibmaschinen-getippten Protokoll auf hauchdünn durchscheinendem Durchschlagpapier. „Wenn wir uns in einem gedachten Ernstfall nicht verteidigen“, habe er danach weiterhin ausgeführt, „dann fügt uns der Angreifer weniger Leid zu. Er zwingt uns zwar ein anderes System auf, aber ich kann damit leben. Es gibt weniger Tote, wenn man sich ergibt.“

Aber die drei Herren waren nicht überzeugt. Der Antragsteller habe, so die Begründung der Gewissensprüfer, „für das Empfinden des Ausschusses mitunter zu deutlich übertrieben.“ Der Prüfling habe „taktiert, anstelle ehrlich preiszugeben, was er wirklich empfindet.“

Was für ein Glück der Rechtsstaat bereithält! Auch im Verfahren der Gewissenprüfung für Kriegsdienstverweigerer, das 1983 ganz abgeschafft wurde, gab es ein Widerspruchsrecht. Auch dort: Resopaltische und Gummibaum. Jetzt hing Karl Carstens im Rahmen. Drei andere Herren prüften nun das Gewissen in zweiter Instanz. Erneut galt es, die Gewissennöte darzulegen, und jetzt überzeugten sie dank größerer Demut und besserer Vorbereitung.

Der Prüfling entkam somit erfolgreich gefürchteten fünfzehn Monaten Kommissgebrüll und Stubenterror. Er bezahlte seine Erleichterung mit dem um einen Monat verlängerten Zivildienst, den er in einem neonbeleuchteten Kellerraum damit verbrachte, ungezählte Luftmatratzen auf ihre Dichtigkeit zu prüfen und die mangelhaften zu reparieren. Kiloweise kratzte er Wiesendreck von der Unterseite großer Gruppenzelte, damit die nächsten Jugendgruppen saubere Zeltböden auf erdige Wiesen stellen und ungestört luftgepolstert auf diesen nächtigen konnten.

Das Gleichgewicht war bedrohlich, aber stabil

Es war die Zeit des „Kalten Krieges“. Die atomar bewehrten Weltmächte standen sich in starren Blöcken entlang des „Eisernen Vorhangs“ gegenüber, das Gleichgewicht der Abschreckung war bedrohlich, aber stabil. Es war die Welt, in die Putin zurückwill. Der Prüfling liest seine damalige Argumentation, und sie treibt ihm die Schamesröte ins Gesicht. Wie kann man nur so naiv sein? Nicht mal einer Stechmücke könne er etwas zuleide tun? Das praktische Leben hat das Gegenteil bewiesen. Lieber jede denkbare Gewalt-Knechtschaft erdulden, als sich zu wehren?

Der Prüfling von damals ist heute differenzierter unterwegs: Der Überfall eines Übermächtigen auf einen Schuldlosen, einen Schwachen, empört die Gerechtigkeit. Die blanke militärische Gewalt, nicht oder nur fadenscheinig begründet, schreit nach legitimer Gegenwehr. Der Schwache muss sich doch wehren dürfen, wenn die Raketen oder Panzer seine Wohnhäuser zertrümmern. Dann braucht er eben auch Raketen und Panzer, die das verhindern können. Und dafür braucht es allseits geachtete Menschen, die im Militär ihr Leben aufs Spiel setzen, damit die Möglichkeit erhalten bleibt, Zeilen wie diese hier zu verfassen. Dies alles mit pazifistisch-überheblicher Moral abzutun, ist egoistisch und selbstgerecht.

Ein Plädoyer für Selbstkritik

Selbstkritik ist also angebracht für alle, die es sich – überzeugt davon, dass wir nur noch von Freunden umgeben wären – im Wohlfühl-Pazifismus bequem gemacht haben. Und doch: Auch wer militärische Gegenwehr, Unterstützung mit militärischer Ausrüstung und harte Sanktionen in einem solchen Fall als gerechtfertigte Nothilfe akzeptiert und unterstützt, darf doch immer gleichzeitig auch zweifeln. Wir sollten „wachsam bleiben, jede noch so berechtigte Genugtuung über Waffenlieferungen als Zumutung zu empfinden“, schreibt der Historiker Prof. Roman Birke (Universität Jena) in einem überaus klugen Beitrag in der Süddeutschen Zeitung.

Man darf auch jetzt der sich hochschraubenden Gewaltspirale des Militärischen jederzeit mit Skepsis und Zweifeln begegnen. Eine demokratisch organisierte Gesellschaft kann ihre Regierung unter Schmerzen legitimieren, trotzdem wehrhaft zu handeln. Für den Einzelnen aber bleibt es eine Gewissensentscheidung, ob er oder sie sich mit einer Waffe in die Hand schuldig machen will an Leib und Leben anderer. Und prüfen kann das nur jeder selbst.

 

Der Aufsatz von Roman Birke ist überaus lesenswert: https://zeitung.sueddeutsche.de/webapp/issue/sz/2022-03-03/page_2.518607/article_1.5540030/article.html

 

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier. Um den Überfall auf die Ukraine geht es auch in dem Essay „Der Krieg ist da“.