Artikel Siebenunddreißig und Vierundachtzig

Über Populismus im Föderalismus – und zwei heimliche Stars des deutschen Grundgesetzes

Fabian Hinrichs als „Volksbürger“-Ministerpräsident. (Screenshot von der ARTE-Aufzeichnung)

Man solle doch regieren nach „gesundem Menschenverstand“, sagen Politikerinnen und Politiker – und auch viele Wählende – immer dann, wenn sie sich der Komplexität der Dinge verweigern möchten. Es sei doch ganz einfach, es müsse sich „was ändern im Land“, „die Mehrheit“, „das Volk“ habe in der Demokratie doch ein Anrecht darauf, dass ihr Wille geschehe.

Es sind diese Floskeln des Populismus, die Raum greifen im gesellschaftlichen Diskurs, und denen zu widersprechen schwerfällt. Wer sollte schon etwas haben gegen „Vernunft“, auch wenn jederfrau und -mann weiß, dass jedes seine eigene „Vernunft“ hat. Und heißt denn Demokratie nicht tatsächlich, dass die Macht vom Volk, und damit letztlich von dessen mehrheitlichem Willen ausgeht?

Föderalismus heißt oft: Bund beschließt, Land setzt um

Wohin das führen kann, ist ansatzweise im Freistaat Bayern zu besichtigen. Dort gibt es bekanntlich einen Ministerpräsidenten, der bei jeder Gelegenheit behauptet, die Bundesregierung würde sein Land benachteiligen. „Es dauert nicht lange“, schreibt zum Beispiel die Allgäuer Zeitung über Söder-Auftritte, „und schon ist die Rede vom Vorwurf, der Bund mache bewusst dem Freistaat das Leben schwer.“ Söder sage dann gerne: „Es soll bewusst der Norden bevorzugt und der Süden benachteiligt werden“, oder nennt es gar eine spürbare „Anti-Bayern-Stimmung“, die sich schon darin zeige, dass es keine Bundesminister aus Bayern gebe.

Nun sieht das Grundgesetz vor, dass in vielen Bereichen der föderalen Struktur in Deutschland der Bundestag unter jeweils gestaffelt strenger Mitwirkung der Länderkammer Gesetze erlässt, und diese in der Regel durch die Landesbehörden umzusetzen sind. Ein Beispiel: Man muss kein Freund der neuen Cannabis-Gesetzgebung sein (wie z.B. der Autor dieser Zeilen), man kann auch aus guten Gründen der Überzeugung sein, dass sie nicht den Mehrheitswillen der Bevölkerung entspricht und vielleicht sogar gegen den gesunden Menschenverstand verstößt – das Gesetz ist trotzdem gültig. Bei der nun folgenden Umsetzung durch Landesbehörden gibt es freilich einen Spielraum. „Wer mit Cannabis glücklich werden will, ist anderswo besser aufgehoben als in Bayern“, sagte Söder schon im Februar. Laut BR24 werde Bayern das Gesetz „extremst restriktiv“ anwenden. Später ergänzte der Ministerpräsident Söder: Der Freistaat soll „kein Kiffer-Paradies“ werden, was die Frage aufwirft, ob diese Gefahr je bestanden hätte. Alles das mag an der Grenze zwischen einer legitimen politischen Positionierung einer Landesregierung und ihrer Verpflichtung zur regelkonformen Umsetzung eines Bundesgesetzes liegen. Gegen den restriktiven bayerischen Kurs in dieser Sache regt sich inzwischen Widerstand, eine Klage dagegen wurde gerade angekündigt.

„Der Volksbürger“ regiert nach dem Prinzip „Freistaat first“

Was aber, wenn ein Land sich ganz und gar weigern würde, ein Bundesgesetz umzusetzen? Auf ARTE ist dies noch bis 2.10.2027 anschaulich, unterhaltsam und sehr lehrreich zu besichtigen. Gezeigt wird die Aufzeichnung eines Theaterereignisses, das Ende September im bekannten großen Saal der Bundespressekonferenz stattfand. Als „Politische Farce“ bezeichnet sich das zweistündige Stück, und der Titel lautet: „Der Volksbürger“. Gespielt vom famosen Fabian Hinrichs wird dort der jung-dynamische Ministerpräsident eines nicht näher bezeichneten „Freistaats“ gezeigt, der nach dem Prinzip „Freistaat first“ seine Landtagswahl mit absoluter Mehrheit gewinnt und sich dann tatsächlich daran macht, die bundesgesetzlich vorgegebenen Regelungen zum Ausländerrecht durch Nicht-Umsetzung ins Leere laufen zu lassen. Die betroffenen Menschen werden entweder obdachlos oder suchen sich ein anderes Bundesland zur Geltendmachung ihrer Rechte, wären also gewissermaßen „anderswo besser aufgehoben“ – um noch einmal Söder in anderem Zusammenhang zu zitieren.

Dabei ist dieser vom Schauspieler Hinrichs interpretierte, smarte Politik-Charakter kein unsympathischer Radikalinski, sondern ein charismatischer, sich seiner Außenwirkung allzu bewusster Populist, der das hässlich Konkrete im Vagen lässt, sein Volk glauben lässt, er hätte die Macht, vieles zu verwirklichen, was (früher) der Stammtisch und (heute) das Netz als „gesunden Menschenverstand“ palavert. Er müsse im Interesse seines Volkes dem „moralischen Gesetz“ folgen, nicht dem „Gesetz zwischen Aktendeckeln“.

Eitle Medien, Lokalpolitiker ohne Rückrad

Zu erleben ist auch allerhand nebenbei. Wie etwa die Medien zwar zunächst Freude daran haben, Aufmerksamkeit auf die rechtswidrige Praxis im „Freistaat“ zu lenken, mit der langfristigen Strategie des regierenden „Volksbürgers“ aber überfordert sind in ihrer Sucht nach der schnellen Schlagzeile. Oder: Wie der Politikbetrieb im Land sich blitzschnell nach den jeweils neuen, realen Machtverhältnissen ausrichtet wie die Nägel auf einen Magneten.

Allerdings: Der Rechtsstaat wehrt sich. Wie müsste die Bundesregierung in einem solchen Fall vorgehen (denn noch nie hat es diese Notwendigkeit wirklich gegeben)? Die Eskalation endet in einer Auseinandersetzung auf Messers Schneide, und wie sie ausgeht, soll hier nicht verraten werden. Das zu Recht so viel gelobte deutsche Grundgesetz hat 146 Artikel, und es ist ein gutes Zeichen für den Zustand unserer Demokratie, dass der gesunde Menschenverstand der großen Mehrheit der Volksbürger in Deutschland die meisten davon nicht zu kennen braucht. Das gilt auch für die Artikel 37 und 84 GG.

Aber dass es sie gibt, das ist auch ein gutes Zeichen.

 

Den Film finden Sie auf  ARTE hier, aber auch in den Mediatheken von ZDF und 3sat.

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Der große alte Kater auf dem Baum

Eine politische Fabel

(1)

Als der große alte Kater auf schwankendem Geäst in der Baumkrone hockte, mühsamen Halt suchte am einzigen halbwegs stabilen Ast, ärgerte er sich sehr über sich selbst. Es dunkelte bereits sachte, und der Wind zerwühlte sein Fell unangenehm.

Bild von Amy auf Pixabay

 

Wie war er nur in diese Lage geraten? Er hatte doch den jungen Katzen schon ungezählte Male gepredigt, dass sie sich hüten sollten vor den Verlockungen der hohen Bäume. Das Hinaufklettern lohne sich nicht, die flinken Vögel seien ohnehin schneller weggeflogen, als so eine Katze dort oben sein könnte. Und so verlässlich die gebogenen Krallen beim Heraufsteigen helfen würden, so untauglich würden sie sich erweisen, wenn man wieder hinunterwill. Dann geben sie kaum Halt, mühsam müsse man sich rückwärts hinabarbeiten, ohne den sicheren Blick dorthin, wo es entlang geht. Es sei kein guter Platz für Katzen und Kater auf den Bäumen, hatte er doziert, und die Jungen hatten respektvoll genickt und geschnurrt und ihm geschworen, an seine Worte zu denken.

Nun aber saß er selbst auf diesem Baum, und seine große Erfahrung hatte ihm nichts genutzt, um die peinliche Lage zu vermeiden, in die er geraten war. Es war schrecklich.

(2)

Begonnen hatte alles bei der letzten Wahl zum Mächtigsten aller Tiere. Es gab sehr viele Tiere in diesem Land, und alle gemeinsam hatten sie einen Gegner: die Menschen. Die Menschen zerstörten systematisch alles, was die Tiere zum Leben brauchten. Die Menschen waren es, die das Gras und die Blumen vergifteten und damit den Mücken und Bienen und Wespen die Grundlage ihrer Existenz nahmen. Die Menschen warfen Plastikmüll in das Wasser, in dem die Fische schwammen. Sie fällten die Bäume, auf denen die Eichhörnchen und Fledermäuse wohnten und verpesteten die Luft, durch die die Vögel flogen. Manche Tiere hielten die Menschen sogar in schauderhaften Gefängnissen, schlachteten sie, und aßen sie auf.

Die Tiere waren sich also zwar grundsätzlich einig, dass sie alle ihre Kräfte auf den Kampf gegen den Menschen richten sollten – aber wie dieser Kampf zu führen sei, darüber stritten sie erbittert. Viel zu viele interessierten sich überhaupt nicht für die Geschicke der Gemeinschaft, sondern waren nur damit beschäftigt, wie sie etwas zu fressen finden. Die unpolitischen Rinder und Schweine zum Beispiel hatten noch immer nicht begriffen, welches Ende ihnen bevorstand. Andere, wie die flinken Rehe oder die stolzen Hirsche waren einfach nur dumm. Die eitlen Pudel und die schillernden Pfaue betrachteten von morgens bis abends nur sich selbst im Spiegel. Es gab verachtungswürdige Anpasser in der Tierwelt, wie die Mäuse und die Ratten, die glaubten, sie könnten sich den ganzen giftigen Unrat der Menschen auch noch zunutze machen.

Die Lage der Tiere war ernst, und der große alte Kater wusste das schon seit langem. Aber seit vielen Jahren hatte die Chefin der Katzen und Kater die Position als Mächtigste aller Tiere inne. Sie war mit ihrer ganzen Geduld und Ausdauer, mit Klugheit und Raffinesse tätig gewesen, hatte vermittelt zwischen den Füchsen und Gänsen, hatte die Katzen gemahnt, nicht mehr als nötig den Mäusen oder Vögeln nachzustellen, hatte sogar den größten Teil der Hunde, soweit sie nicht blaubraun waren, bei halbwegs erträglicher Laune gehalten.

Ihn, den großen alten Kater, hatte diese machtbewusste Katze allerdings weggebissen, verscheucht mit Fauchen und scharfen Krallen, und er hatte deshalb lange warten und ausharren und sich verstecken müssen, bis endlich die Chance bestand, selbst zur Wahl des Mächtigsten aller Tiere anzutreten.

Aber es kam anders. Als die kluge alte Katze ihr Amt abgab, drängte sich ein freundlicher Grinsekater als Chef der Katzen vor. Der Grinsekater grinste allerdings auch dann, wenn es nicht passte, und verstand zu spät, dass ihm das Ansehen und Wahlsieg kosten würde. Bei der großen Wahl aller Tiere hatten so die roten Ameisen, die grünen Vögel und die gelben Badeenten gemeinsam die Katzen von der Macht verdrängt. Sie hatten eine rote Ameise zum Mächtigsten aller Tiere gewählt und sofort zu regieren begonnen.

(3)

Der große alte Kater konnte es nicht fassen, dass es soweit gekommen war. Er war fest überzeugt davon, dass er nicht nur größer, sondern auch schneller und auch viel klüger war als alle diese roten, grünen und gelben Kleintiere zusammen. Deshalb verjagte er den freundlichen Grinsekater und wurde bald selbst Chef der Katzen und Kater. Im neuen Amt verspottete er die fleißigen roten Ameisen, und warf deren Chef vor, nicht wirklich ein Mächtigster aller Tiere zu sein, sondern nur und ohne Orientierung auf dem Boden der Tatsachen herumzukrabbeln. Er fauchte den flatternden grünen Vögeln nach und schlug mit seinen scharfen Krallen auf die gelben Badeenten ein, die ohnehin damit rangen, im Teich der Meinungen nicht ganz zu ertrinken. Sie alle sollten keine ruhige Minute haben, solange nicht er der Mächtigste aller Tiere sein würde.

Dabei wusste der große alte Kater, dass in der Tierwelt die blaubraunen Hunde besonders gefährlich und rücksichtslos waren. Die waren nicht dumm, sondern bösartig. Sobald sie andere Tiere auch nur sahen, kläfften sie ganz fürchterlich, verbreiteten Angst und Schrecken. Die blaubraunen Hunde waren intrigant und verlogen, erzählten zum Beispiel den Gänsen, dass allein die Enten daran schuld wären, wenn sie von den Füchsen angegriffen werden. Die blaubraunen Hunde waren ein echte Plage, sie wurden immer mehr, und sie bedrohten auch die Katzen. Der große alte Kater hatte daher alle Pfoten voll damit zu tun, seinen Katzen und Katern gut zuzureden, dass sie sich nicht fürchten sollten vor diesen Hunden, sondern sich ihrer eigenen Krallen, ihrer Schnelligkeit und ihrer Klugheit bewusst sein sollten.

Wenn der große alte Kater in ruhigen Momenten auf seinen Samtpfoten durch das Gras streifte, so dachte er sich, dass alle Tiere gemeinsam den Terror der blaubraunen Hunde irgendwie loswerden müssten, um sich ganz und gar gegen die Zerstörungswut der Menschen wehren zu können. Andererseits ärgerte er sich so sehr darüber, dass nicht er, sondern die lächerlichen Ameisen, die flatterigen Vögel und die albernen Badeenten den Staat der Tiere regierten, dass er sich weigerte, mit diesen bunten Kreaturen irgendetwas gemeinsam zu unternehmen. Und über diesen Ärger vergaß er auch immer wieder die blaubraunen Hunde.

(4)

Eines schönen Tages war der große alte Kater mal wieder auf einem seiner Rundgänge unterwegs. Er war noch immer ein guter Streuner, er konnte sich lautlos heranschleichen, wenn es sein musste, aber auch wild fauchen, wenn er sich bedroht fühlte. Die Sonne stand schon tief über dem Horizont und tauchte die Welt der Tiere in ein mildes Licht – als plötzlich eine ganze Horde der blaubraunen Hunde auf den großen alten Kater zugestürmt kam. Es war furchterregend; die Biester fletschten ihre Zähne, die Zungen hingen gierig heraus, sie bellten wie wild und machten einen Höllenkrach.

Was hätte er tun sollen? Der große alte Kater war allein unterwegs, er war ratlos, und die Hundehorde kam immer näher. In höchster Not fauchte er sie an, buckelte so hoch er konnte, zeigte den heranbrausenden Biestern sein giftigstes Funkeln und seine schärfsten Krallen, aber die ließen sich davon nicht beeindrucken.

Da erinnerte sich der große alte Kater an die verlockende Höhe des Baumes der einfachen Wahrheiten. Er verehrte und bewunderte diesen Baum schon seit Längerem: So ein schöner starker Stamm, so eine prächtige Höhe! Von seiner Krone, gut geschützt vom rauschenden Blätterwald, sicher geborgen im starken Geäst – das versprach Rettung vor der gierigen blaubraunen Meute. Im allerletzten Moment flüchtete er sich dorthin, sprang auf dem Stamm hinauf, krallte sich fest in der borkigen Rinde der Zustimmung, die seinen Krallen wunderbaren Halt gab, vergaß alle Warnungen, die er selbst so oft gepredigt hatte, und stieg hoch und immer höher, während unten die blaubraunen Hunde bellten und kläfften, ihre Zähne in die Rinde schlugen, ihren Geifer ins Gras tropfen ließen – aber nicht an ihn herankamen.

(5)

Das war knapp gewesen. Doch nun saß er auf dem Baum, ganz oben, erstmal in Sicherheit. Das Geäst war nicht so stabil, wie er erwartet hatte, der Sichtschutz der Blätter weniger dicht als gewünscht. Und vor allem: Wie sollte er von dort wieder herunterkommen?

Da hörte er ein leises Krabbeln und Kribbeln, ein Zirpen und Zischeln, ein Trippeln und Trappeln. Es war zunächst mehr ein Rauschen als ein definierbares Geräusch. Der alte Kater stellte seine Ohren auf und bald lauschte er aus dem ganzen Durcheinander sogar einzelne Töne heraus. Nun war auch schüchternes Piepen zu vernehmen, mutiges Quaken, fröhliches Brummen. Ungläubig blickte der alte Kater aus seinem Versteck nach unten: Hunderttausende Ameisen wanderten dort, auch Zikaden und Grillen, schüchterne Mäuse, ein paar vorlaute Ratten, lärmende Laubfrösche, auch die eine oder andere Katze schlich mit, sogar ein paar ungelenke Badeenten waren dabei – sie alle zogen unter ihm vorbei. Ein nicht enden wollender Strom von Tieren aller Art zog dahin, und sie alle zirpten und brummten und quakten und miauten nur den einen Satz: „Weg mit den blaubraunen Hunden!!“

Das ganze Land der Tiere war hier unterwegs, endlos zogen die Kolonnen unter ihm entlang, pfeifend und singend flatterten die Vögel mit, brummend und keuchend, bunt und vielfältig, aber einig und ohne Streit ging es voran im großen Marsch der Tiere. Da saß er nun, der alte Kater, oben auf dem Baum, und wusste nicht, wie er von dort wieder herunterkommen sollte. Aber am schlimmsten war: Offenbar vermisste ihn niemand.

 

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Ausgeträumt. Ein Weckruf an meine Generation

Israel, umringt von Todfeinden, muss um seine fragile Sicherheit bangen, mehr denn je. In Europa überfallen aggressive Staaten ihre Nachbarn. Und in Deutschland ist es erfolgreich, mit  rechtsradikalen Parolen aufzutreten. Es ist Zeit zum Aufwachen für eine verträumte Generation. 

Als wir noch glaubten, die Welt könnte sich zum Besseren wandeln, da wähnten wir uns fast glücklich. Aufgewachsen nach dem Krieg, gnädig geschont von der „späten Geburt“ (Helmut Kohl) haben wir die Verheerungen der Bomben und der Schuld in den Seelen unserer Eltern und Großeltern besichtigt. Aber wir sahen vor allem, wie die Wunden verheilten, die Trümmer verschwanden, der Wohlstand sich ausbreitete.

Hinter dem „Eisernen Vorhang“, der Europa teilte, lag das Reich der Finsternis, ein paar Mal flackerte die Gefahr auf, dass sich an der Nahtstelle zwischen unserer und deren Welt etwas entzünden könnte, aber es kam niemals wirklich dazu. Unsere misstrauisch beäugten amerikanischen Freunde schützten uns mit ihren Atomwaffen. Und als sie aus Vietnam vertrieben wurden, fanden wir das auch irgendwie richtig.

Die Gründung des Staates Israel, so lernten wir, war auch eine Antwort darauf, dass unsere Erzeuger sich beispiellos mörderisch vergangen hatten am migrantischen  Kulturvolk der Juden. Israel musste seither mehrfach um sein Bleiberecht auf biblischem Boden kämpfen. Eine Gewissheit schien es uns, dass es dabei unter amerikanischem Schutz stets erfolgreich sein würde.

Ausgeträumt! Nichts wird so bleiben, wie es ist, und es wird uns Geld kosten. Viel Geld. Foto: Sarah Richter, lizenzfrei auf Pixabay

 

 

 

 

Mehrfach überschüttete uns das Glück

Mehrfach überschüttete uns das Glück. Der Staat der Juden vergaß die Gräuel der Nazis nicht, aber konnte sie uns verzeihen. Deutschland und Israel schlossen Freundschaft. Zwar wuchsen wir in einem geteilten Land auf, aber damit hatten wir uns abgefunden. Und sogar diese Last wurde uns genommen, als die deutsche Mauer zu nutzlosem Beton wurde. Freudetrunken stürmten wir unüberwindlich geglaubte Grenzen. Die einen staunten über die Sonne am blau glitzernden Mittelmeer, die ihnen lange unerreichbar gewesen war. Und die anderen konnten endlich problemlos dorthin fahren, wo die eigenen Eltern geboren waren, durften die schönen Städte an der Ostsee kennenlernen, vielleicht sogar die prächtigen Metropolen Russlands besuchen.

Ja, es gab auch Irritationen

Ja, es gab auch Irritationen in diesen glücklichen Jahren. Im Balkan fielen die Völker übereinander her. Und unser Blick auf die Welt sah großzügig über die globalen Ungerechtigkeiten hinweg, obwohl es genau diese waren und sind, denen wir eine ständige Mehrung unseres Reichtums verdankten. Wir bildeten uns ein, dass der heiße Stein der globalen Armut mit dem Tropfen unserer Entwicklungsarbeit abkühlen könnte.

Während unser Reichtum wuchs, glitten die Flugzeuge immer preiswerter dahin. So stiegen wir ein, staunten über das orientalische Bunt, das asiatische Jing-Jang, die fremde Tierwelt Afrikas, die glühenden Sonnenuntergänge Australiens und die plastikverliebte Luxuspracht der Amerikaner.

Und nun ist es vorbei

Und nun ist es vorbei. Ausgeträumt! Die verwöhnte Generation muss aufwachen.

Die hitzig flackernden Displays der globalen Vernetzung erzählen den Verzweifelten dieser Welt, wie wir leben: Wie die Maden im Speck. Ein Stück davon, eine Chance darauf, wollen auch sie. Warum sollten sie es nicht versuchen? Migration war schon seit biblischen Zeiten ein Ausweg aus purer Not. Das jüdische Volk lehrt es uns. Und noch vor gut hundert Jahren waren es die Europäer, die von feudal verursachter Armut vertrieben wurden. Voller Hoffnung brachen sie auf in die keineswegs unbesiedelten Weiten der „Neuen Welt“.

Und dann lockt auch noch die Freiheit. Millionen sind es auf dieser Welt, die jedes Wort wägen müssen in den Diktaturen, die keine Freiheit darüber haben, was sie anziehen und ob sie ihre Haare verhüllen wollen oder nicht, die nicht frei sprechen und handeln können, die nur flüstern dürfen auf ihrer Flucht vor dem eigenen Staat. Sie alle suchen ihre Chance. Sie nehmen dafür in Kauf, ihr ganzes Hab und Gut windigen Schleusern in den Rachen zu werfen, um dann doch zu ertrinken, erschossen zu werden, zu verdursten auf der Suche nach Löchern in unseren Grenzzäunen. Sie handeln nicht anders als die vielen Deutschen, die in den dumpfen Jahren der Wachtürme und Selbstschussanlagen den schnellen Tod riskierten für ihre Freiheit.

Es wird nicht aufhören

Ausgeträumt! Es wird nicht aufhören damit.

Die Chancenlosen, Verzweifelten, Hoffnungsfrohen dieser Welt werden weiterhin zu uns kommen, werden Wege finden für ihre Chance auf Glück und Leben und Freiheit, egal, ob wir ihnen Sozialleistungen kürzen, Bezahlkarten statt Geld verordnen oder Grenzkontrollen in den Weg stellen. Wir werden sie nicht aufhalten, jedenfalls nicht zu Bedingungen, die unser Gewissen beruhigen.

Ausgeträumt! Wir haben die Ressourcen des Planeten mithilfe korrupter Mördereliten ausgeplündert, die zufällig Herren über die flüssigen und gasförmigen Schätze der Erde wurden. Jetzt wollen wir auch noch die gleiche Clique dafür in den Dienst nehmen, uns die Flüchtenden aus aller Welt vom Hals zu schaffen. Es wird nicht gelingen.

Gierig haben wir Luft und Wasser vollgepumpt mit Giften, die Meere verseucht, Tiere ausgerottet oder versklavt, die Gletscher und Polkappen zum Schmelzen gebracht. Es sind auch unsere Überschwemmungen, unsere Dürren, unsere Waldbrände, die immer mehr Menschen weit fort von uns aus purer existentieller Verzweiflung dorthin treiben, wo ihnen ein lebenswertes Leben noch möglich erscheint: In den Norden, zu uns.

Wir sind Süchtige

Ausgeträumt! Unsere Demut haben wir verräumt in die hinterste Ecke unseres satt gefüllten Vorratsschranks. Wir sind Süchtige. Süchtig nach Öl und Gas, süchtig nach unserem billigen Vorteil. Wir fürchten um unsere Glitzerpaläste und Einfamilienhäuser, und delirieren davon, dass unser altes Glück zurückkehren könnte. Unsere Freiheit halten wir für selbstverständlich, und die Demokratie, so glauben wir, gibt es bei möglichst wenig Steuern fast gratis dazu.

Jetzt aber ist Schluss.

Die finsteren Mächte greifen zu und verwandeln unsere Welt, als wäre sie die Kulisse einer Grusel-Serie auf Netflix. Diese Monster sind echt: Sie fallen her über unsere Welt, sie massakrieren ihre Nachbarn in der Ukraine und in Israel, vielleicht bald auch im Kosovo oder anderswo. Sie bauen ihre perfiden Unterdrückungsregime aus mit den digitalen Waffen gegen das eigene Volk. Und auch manche Demokratie wankt schon unter dem populistischen Druck der gewissenlosen Rattenfänger, die versprechen, dass es so bleiben könnte, wie es ist. Die bösen Mächte wissen um unsere Träume, sie kennen unsere fettleibige Bequemlichkeit, sie lachen uns aus.

Lauter wird der Wecker nicht klingeln

Aufwachen! Lauter wird der Wecker nicht mehr klingeln.

Unser Wohlstand wird nichts Wert sein, wenn die Hitze die Felder versengt und das Wasser die Plantagen davonschwemmt. Unsere Freiheit wird verloren gehen, wenn wir nicht entschlossen für sie eintreten. Der Kampf für Demokratie entscheidet sich nicht daran, ob wir gendern oder Cannabis legalisieren, er wird nicht an der Fleischtheke verteidigt oder mithilfe der Radarfallen auf der Autobahn. Für gleichmacherische Phantasien der Sozialromantiker ist kein geeigneter Zeitpunkt, denn wir brauchen Initiative und Tatendang. Der Rückwärtsgang der Ewiggestrigen führt uns in den Abgrund.

Nichts wird bleiben

Ausgeträumt!  Entschlossen handeln werden wir müssen, um die Trümmer unserer Träume aus dem Weg zu räumen. Sonst werden wir ersticken an unserer bürokratischen Trägheit, an faktenfreier Streitlust, am Hin- und Herschieben von Verantwortung.

Respekt müssen wir haben für Polizei und Bundeswehr, wenn sie die Waffen zur Verteidigung unserer Freiheit bedienen und sich in unseren Dienst stellen. Respektvoll willkommen heißen müssen wir diejenigen, die unsere Pflegeheime, Krankenhäuser und Industriehallen, unsere Rentenkassen und Steuern mit ihrer Schaffenskraft füllen sollen.

Ausgeträumt! Es wird uns Geld kosten, viel Geld. Nichts wird so bleiben, wie es ist. Aber es ist unsere einzige Chance.

 

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Die allerletzte Generation – Eine Polemik

Die letzte Generation? Zur Illustration des Textes dieser Polemik müssen hier symbolisch  jene sechs rechtschaffenen Bürger von Calais herhalten, die im 14. Jahrhundert bereit gewesen waren, ihr Leben zu opfern, damit ihre Stadt nach elf Monaten Belagerung vor Plünderung und Zerstörung bewahrt werden konnte. Ihr Mut beeindruckte die Frau des siegreichen englischen Königs Edward III. so sehr, dass sie bei Ihrem Gemahl einen Verzicht auf die Hinrichtung der sechs erreichte. Das Foto zeigt eine Vorstudie zur späteren Skulptur in lebensgroßen Figuren von Auguste Rodin (gesehen im Musée Rodin, Paris).

 

Schaut hin!

Schaut hin, da kommt er heran, der große Marsch der allerletzten Generation! Ein Zug von düsteren Gestalten nähert sich. Sind es Totengräber?

Vorne: Die Populisten

Vorne voran stapft schaufelschwingend die wohlgeordnete Abteilung der schwarzbraunen Populisten. Sie sind Schnäppchenjäger! Ihre Spaten haben sie im großen Kaufhaus der Vereinfachungen erworben. Jetzt, hier im großen Marsch, brüsten sie sich mit nationalem Stolz, aber dass ihre billigen Werkzeuge aus China oder Russland stammen, stört sie nicht. Daheim verschanzen sie ihre SUVs, die Statussymbole ihrer gedanklichen Ärmlichkeit, gut sichtbar hinter den hässlichen Zäunen ihrer gasbeheizten Reihenhäuser, ganz so wie dies früher ihre Väter mit den Gartenzwergen taten.

Einige von ihnen rasieren sich die Köpfe und tragen Springerstiefel. Manche arbeiten bei Springer und verätzen mit ihrem Gift den Konsens der Willigen. Viele aber stecken in maßgeschneiderten Anzügen und sonnen sich im Licht ihrer Ämter und Mandate. Sie verweigern sich bewusst kenntnisgetriebener Debatte, zum eigenen Vorteil lügen sie und missverstehen böswillig. Geschichtsvergessen und dummdreist schläfern sie ihr Publikum ein mit fadenscheinigen Versprechungen: Dass wir so weiterleben könnten wie bisher, oder dass wir noch Zeit hätten, bis das Klima kippt.

Dann: Die Besserwisser

Dahinter die nächste Abteilung im großen Marsch: Laut krakeelen die Besserwisser, die schon immer wussten, was richtig ist oder falsch, und doch gebückt daherkommen unter der schweren Last des Irrtums. Gnadenlos sind sie mit ihren Mitmenschen. Jeden grüblerischen Zweifel deuten sie als Schwäche, die sie mit Häme und Hass überziehen. Im kräftigen Bogen schütten sie Benzin auf das Publikum, damit es lichterloh brennen möge im Streit der Meinungen, damit nur niemand Luft holen kann zum Zuhören und Nachdenken. Denn das Zuhören, das Abwägen, das Nachdenken hassen die Besserwisser am allermeisten.

Weiter: Die Selbstgerechten

Was für ein Lärm dringt da voran? Laut und schrill tönen die Trompeten der Selbstgerechten. Eine Marschkapelle haben sie mitgebracht, aber sie spielt falsch. Die grünen, roten und gelben Töne passen nicht aufeinander. Ein Jedes hier macht seine eigene Musik, ohrenbetäubende Kakophonie bedrängt die Szene. Einige fordern lautstark mehr Tempo, andere stolzieren, staunend wie uneinsichtige Geisterfahrer, in die gegensätzliche Richtung.

Erschreckt wendet sich das Volk ab, hält sich die Ohren zu, blickt um sich, sucht den Dirigenten dieses Chaosorchesters. Da kommt er, ganz allein schlurft er hinter seiner tobenden Kapelle her, der Kanzler, der die ständigen Respektlosigkeiten seiner Musikanten duldet, obwohl er einst Respekt versprochen hatte.

In der Mitte: Die Masse der Unpolitischen

Die große Masse der Unpolitischen trottet heran. Schlaff am Boden schleift ihr Fähnchen, das sie in den Wind halten wollen. Jederzeit sind sie bereit, sich benachteiligt zu fühlen in einer Welt, die ihnen alles gibt zum Erhalt ihrer eigenen Dürftigkeit. Wohlig wichtig fühlen sie sich dabei, „wütend“ zu sein auf einen Staat, von dem sie erwarten, dass er sie versorgt mit Schulen, Straßen und Sozialleistungen. Von dem sie Sicherheit und Schutz erwarten, immer die Polizei in Bereitschaft, und dann Gerechtigkeit im Rechtsstaat, für dessen Erhalt sie aber keinen Finger krumm machen würden. Während sie sich diebisch freuen über jeden eingesparten Steuer-Euro, schimpfen sie lautstark über die verspätete Bahn und jede Straßenbaustelle.

Am Ende: Die schwarzen Männer der Kirche.

Nun ist er ganz still, der große Marsch. Stumm schreiten die schwarzen Männer der Kirche heran. Den Blick meist scheinheilig zum Himmel gerichtet, haben sie nichts zu sagen. Dabei könnten sie Haltung zeigen, könnten für die Werte einstehen, die hier Gefahr laufen, dass sie zu Grabe getragen werden: Toleranz, Respekt, Erhalt der Lebensgrundlagen. Aber die Kirchenmänner sind zu beschäftigt mit sich selbst. Schwer schleppen sie an ihrem Versagen, suchend blicken sie um sich nach den Sündern in ihren lichten Reihen.

Wo sind die Frauen?

Männer, fast nur Männer bisher! Wo sind die Frauen in diesem Marsch? Einzelne marschieren mit. Aber Männer sind und waren es, die sie an den Rand geschoben haben, und manche haben sich sogar schieben lassen. Es wäre Zeit, dass sie ihren  Männern in den Arm fallen, wenn diese mit vereinten Kräften sich schuldig machen an der Zukunft, wenn sie die Uhr zurückdrehen wollen in Zeiten ohne „Wokeness“, aber mit geduldetem Sexismus, rassistischen Übergriffen und Herabsetzungen.

Dann steht die Kolonne still

Da stockt der lange Marsch. Die Kolonnen stehen still. Junge Menschen haben sich ihm in den Weg gestellt, viele Frauen, alle voller Energie, aber auch voller aggressiver Ängstlichkeit. In Panik um ihre eigene Zukunft schwingen sie die Sekundenkleber und Farbeimer. Sie schreien sich und den Marschierern ihren grausigen Verdacht ins Gesicht: Ist es unsere Zukunft, die Ihr mit Euren Schaufeln verscharren wollt im schon erhitzten Erdreich der Dürre, im Schlamm der Überschwemmungen? Sie lärmen und zetern und zappeln, nicht immer klug, aber mit dem Mut der Verzweiflung.

Aber die Populisten an der Spitze des großen Marsches stopfen sich die Ohren zu, damit sie das Geschrei nicht hören müssen, das sie aufhalten will. Schon trampeln sie hinweg über die festgeklebten Hände, und alle anderen trotten hinterher.

So zieht er weiter, der große Marsch der allerletzten Generation, und der Abgrund naht.

 

Mit dem Begriff „Wokeness“ und seiner missbräuchlichen Nutzung als Schimpfwort habe ich mich auch in einem Text auseinandergesetzt, der anlässlich der Ausstellung „What happened“ mit Werken von Nicole Eisenman im Museum Brandhorst in München entstanden ist. Sie finden ihn hier.

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier. 

Die „Bürger von Calais“ habe ich hier etwas missbräuchlich zur Illustration herangezogen. Unabhängig von meinem Text ist die Geschichte ihres Opfergangs interessant zu lesen, und vielleicht lässt sie auch darüber nachdenken, was wir heute bereit sind zu opfern für unsere Zukunft: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_B%C3%BCrger_von_Calais