Querschläger (11. Juni 2021)

Strandbad Wannsee

Das Berliner Mädchen Karla war vielleicht mit einem Fahrrad gekommen. Sieben Jahre war es alt, geboren 1945, mittendrin in den Wirren des Kriegsendes, in der Armut und Not, im Chaos der Wochen und Monate, nachdem die Waffen endlich schwiegen. Im Sommer 1952 war das Gröbste vorbei, die Verhältnisse hatten sich einigermaßen geordnet. Karla war gestrampelt durch den Grunewald, vielleicht zusammen mit ihren Eltern. „Nischt wie raus zum Wannsee!“ hatte ein Jahr zuvor Cornelia Froboess als Kinderstar berlinerisch geträllert, ein Schlagerhit der Nachkriegsjahre, dessen Refrain sich sofort als Ohrwurm in unseren Kopf einnistet. Bestimmt hatte es die Siebenjährige auch schon gehört, vielleicht lag es ihr auf den Lippen – „Pack die Badehose ein, nimm Dein kleines Schwesterlein, und dann …“. Es war ein heißer Augusttag.

Manchmal waren die Schüsse zu hören

Wenn der Wind entsprechend stand, konnten die Nachkriegs-Badegäste am Wannsee die Schüsse hören. Sie hatten sich daran gewöhnt. Wer 1952 hier badete, hatte den Krieg erlebt, kannte das Zusammenzucken, wenn ein Schuss fiel, hatte sich tausendmal geduckt bei Detonationen, und hatte zahllose Todesängste ausgestanden. Aber hier am Wannsee musste man die Schüsse nicht mehr fürchten. Die Berliner wussten, dass amerikanische Soldaten in den aufgeschütteten Böschungen unweit des Strandbades ihre Schießfertigkeit übten. „Keerens Range“ nannte die Besatzungs- und Schutzmacht dieses Areal. Das Knallen der Schüsse am Wannsee war nicht beliebt, aber so gewohnt wie das ohrenbetäubende Jaulen der Jagdbomber, gewohnt wie der staubige Knall, wenn in Berlin die Ruinen gesprengt wurden und in sich zusammenfielen in einer Staubwolke.

Doch an diesem 5. August war es plötzlich anders; Klara greift sich an den Hals, Blut rinnt durch ihre Finger, das Kind schreit und schluckt und sinkt auf die mitgebrachten Decken.

So kann man sich das Geschehen vorstellen, das sich vor fast siebzig Jahren abgespielt hat – so oder so ähnlich. Ein Querschläger aus amerikanischer Waffe hatte sich aus dem Übungsareal verirrt, hinüber zum Wannseebad, und dort das unglückliche Kind am Hals getroffen. Das Leben des Mädchens konnte gerettet werden. Es war nicht das erste Ereignis dieser Art seit Kriegsende, und auch nicht das letzte. Die Verletzung des Kindes wurde propagandistisch ausgeschlachtet; sogar eine Ost-Version des „Pack die Badehose ein“-Schlagers wurde produziert, in der vom Einpacken der Badehose dezidiert abgeraten wurde, „weil der Ami schießt am Wannsee“.

Ein weiter Ort voller Friedfertigkeit

Wer heute in das Strandbad am Wannsee kommt, braucht keine Schüsse zu fürchten. So sitzt der Flaneur denn also dort im Strandkorb, überwältigt von der Friedfertigkeit dieses weiten Ortes, geblendet von der glitzernden Wasserfläche vor ihn, und gedenkt kurz der kleinen Karla. Dann wird er zum Teil des bunten Treibens an diesem Vormittag: Fröhliche Rentner bemühen sich um sommerliche Bräune, kommunikative Damen gehen ihrem Sozialleben nach, junge Familien genießen ruhige Momente, weil sie hier ihre Kinder sorglos durch den Sand toben lassen können.

Wannsee: Strandkörbe in der Großstadt

Das Strandbad Wannsee ist ein Sehnsuchtsort für Nicht-Berliner, die fasziniert und verlockt sind von den Bildern dieser größten Badeanstalt an einem Binnensee in Europa:  weit mehr als ein Kilometer öffentlicher Sandstrand, um die 50 Meter breit, massenhaft Sand, herangekarrt in Güterwaggons von der Ostsee, darauf 250 Strandkörbe – welche Stadt kann damit aufwarten, wenn sie nicht am Meer liegt? Davor glitzert die Wasserfläche des Sees, der weniger ein See als eine Verbreiterung der Havel ist. Aber gerade deshalb trägt jedes vorbeiziehende Boot auch das Versprechen in sich, dass dieses Wasser fast so wie das Meer unendlich ist, dass es weitergeht, dass man hinausschwimmen könnte in die weite Welt, wenn man nur möchte. Man käme vorbei an der verträumten Pfaueninsel, wo das Geschrei der exotischen Vögel wie akustische Querschläger zu hören ist. Und an den fantastischen Gärten und Schlössern des Landschaftsparks rund um Potsdam, deren Bild uns einfängt wie eine Theaterkulisse, in der wir zu Gästen einer anderen Welt werden. Ein geübter Schwimmer müsste man dafür schon sein, zugegeben – aber möglich wäre es.

Kein Spaßbad, ein nostalgisches Freizeitparadies

Der Flaneur ist kein geübter Schwimmer und bleibt im Strandkorb sitzen. Vielleicht ein Kaffee, ein kühles Getränk? Kein Problem, zwar stehen die Gebäude des Strandbades unter Denkmalschutz, aber sie halten alles vor, was der Badegast verlangt. Vieles wirkt freundlich aus der Zeit gefallen und erfreulich unkommerziell. Das hier ist kein modernes „Spaßbad“ – Wannsee ist ein in die Jahre gekommenes, nostalgisches Freizeitparadies, in dem die Zeit ganz wohltuend anstrengungsfrei verrinnt.

Welcher Prachtbau steht da am anderen Ufer?

Aber wie immer, wenn es droht, allzu schön zu werden, bewährt sich der genaue Blick. Also nochmal die sommerlich sonnengeblendeten Augen im Strandkorb scharfgestellt: Was ist denn das da für ein schöner Prachtbau, fast ein Schloss, am Ufer direkt gegenüber? Ausgebreitet in einem Park steht er dort still und stumm und mahnend. Es ist die Villa am Wannsee, in der am 20. Januar 1942 sich unvorstellbare Kälte ausbreitete, als Funktionäre des NS-Regimes die weiteren Schritte zur systematischen Ermordung der Juden in Europa geschäftsmäßig diskutierten und festlegten.

 

Ein sehr schöner geschichtlicher Überblick zum Strandbad Wannsee auf der Website der Berliner Bäder: https://www.berlinerbaeder.de/fileadmin/user_upload/Baeder/35_strandbad_wannsee/Geschichte_Strandbad_Wannsee/Geschichtliches_zum_Strandbad_Wannsee_Stand-20-2-17.pdf

 

Die ganze Geschichte von den Schüssen am Wannsee hat der Tagesspiegel aufbereitet; der Artikel ist im Archiv dort online abrufbar: https://web.archive.org/web/20070702211345/http://www.tagesspiegel.de/zeitung/Sonntag;art2566,2259339

 

Das „Haus der Wannseekonferenz“ hat eine eigene Website: https://www.ghwk.de/de