Glaubten wir nicht, dass wir weiter wären?

„Zaide“ und „Otello“ – Zwei heiße Stuttgarter Opernabende und was sie erzählen

Ein sommerheißer Abend in Südwestdeutschland: Festspielpublikum rottet sich zusammen im Schlosshof von Ludwigsburg. Gegeben wird mit Unterstützung der Stuttgarter Staatsoper „Zaide“, das Fragment einer Mozart-Oper aus dem Jahr 1780. Das historische Barocktheater ist nicht gebaut für Tage der Klimaerhitzung, und so lassen die erglühten Verhältnisse die Sommerkleider an den Körpern festkleben und Schweißflecken bemustern die Herrenhemden. Da passt es gut, dass auch die Handlung im heißen Orient spielt. Komplex ist sie nicht, also auch vom hitzegeschädigten Gemüt schnell begriffen: Allmächtiger Sultan liebt die schönste Frau im Harem, aber die liebt einen anderen. Sie flieht also mit ihrem Angebeteten, wird eingefangen, und danach dem ungezügelten Zorn des gekränkten Sultans ausgeliefert. Wird er sie töten oder begnadigen?

Das staunt der Sultan: Junge Frauen stauchen den Alleinherrscher ob seines Frauenbildes zusammen. Szene aus Mozarts „Zaide“ bei den Ludwigsburger Festspielen. Foto: Martin Sigmund, bereitgestellt von Oper Stuttgart

Der 24-jährge Mozart konnte sich selbst zu keiner Antwort auf diese Frage durchringen und brach die Arbeit an der frühen Oper ab. Zwei Jahre später wusste er für einen ähnlichen Stoff die Lösung: Die „Entführung aus dem Serail“ endet glücklich für alle Beteiligten und war vielleicht auch deshalb ein großer Erfolg. „Türkenoper“ wird das Sujet genannt, in dem Mozart und andere zu ihrer Zeit unterwegs waren, ein westlich-kolonialer Blick auf die heranrückende Gefahr der Osmanen.

Othello ist verunsichert – und eifersüchtig. Das nutzen seine Gegner aus.

Ein Tag später, wieder ein glühender Sommerabend, nicht ganz so heiß. Das große, wegen seiner Renovierungsbedürftigkeit längst nicht mehr moderne Opernhaus von Stuttgart hat eine wenigstens halbwegs wirksame Klimatisierung. Als das Gebäude im Jahr 1912 eröffnet wurde, war die Oper, die hier nun zur Aufführung kommt, gerade fünfzehn Jahre alt.

Shakespeares Schauspiel „Othello“ ist noch viel älter. Vor sagenhaften 400 Jahren ist es entstanden und erzählt die Geschichte von der krankhaften Eifersucht seines Helden. Verdi hat daraus 1887 eine Oper gemacht. Othello kann also gedanklich durchaus als ein Nachfahre des sklavenhaltenden Sultans von Mozart betrachtet werden. Hier wie dort spielt ein vermeintlicher Orientale die zentrale Rolle. Märchenhafte Allmacht wird diesen Herrschern zugeschrieben – vor allem über Frauen. Über das sonstige Leben von Mozarts Sultan wissen wir wenig, aber Othello ist ein gefeierter Feldherr, Kapitän, Kriegsheld der Venezianer, der (inzwischen widerlegten) Legende nach ein „Mohr“. In seiner Geschichte macht dieser Umstand alle Verdienste des Fremden für die prächtige venezianische Heimat nahezu zunichte. Othello ist darüber, ob er nun dazugehört oder nicht, so verunsichert, dass er sich in Intrigen verstricken lässt. Neider und Konkurrenten zielen auf seine Schwachstelle, die Eifersucht, die ihn zur leichten Beute im bösen Spiel macht. Am Ende bringen die einheimischen Gegenspieler den kriegstraumatisierten, selbst-verunsicherten Helden dazu, seine vermeintlich untreue Gattin umzubringen; grundlos, wie sich bald zeigt. Dann, nach dieser Erkenntnis, richtet er sich selbst.

Der (in der Legende) dunkelhäutige Kriegsheld Othello bleibt ein Fremder in einer Mehrheitsgesellschaft, die ihm misstraut und seine Verunsicherung ausnutzt: Szene aus Verdis „Otello“ an der Staatsoper Stuttgart. Foto: Martin Sigmund, bereitgestellt von Oper Stuttgart

Es ist ein Zufall, diese beiden Stücke – „Zaide“ und „Otello“ – hintereinander zu erleben, eine Opern-Zeitreise hinein in die Selbstgerechtigkeit der „alten“ gegenüber der „kolonialisierten“ Welt. Ganz gewiss erzählen diese beiden Opern wenig davon, wie der Orient war oder ist. Mozart wie Verdi (oder Shakespeare) richten stattdessen unfreiwillig einen entlarvenden, männlich-westlichen Blick auf das Fremde. Ihre Perspektive auf einen Farbigen, auf angeblich menschenverachtende Allmächtigkeit im Orient, auf ihr Frauenbild, ordnen wir heute schnell und entschlossen als überkommen, islamophob und rassistisch ein.

Irgendwas muss noch dran sein an diesen Stoffen

Fertig? Offenbar nicht, denn sonst kämen solche Werke nicht mehr zur Aufführung. Irgendwas muss noch dran sein an dieser Stoffen, wenn sie heute für ausverkaufte Häuser sorgen. Mozarts Sultan muss sich im erhitzten Schlosstheater den respektlosen Vorwürfen einer Art Girlsgroup erwehren, die den alten weißen Mann in Rap-Texten abkanzeln: Sein Umgang mit Frauen sei schlicht indiskutabel. Zum von Mozart offengelassenen Ende hin bieten die höchst selbstbewussten jungen Damen gleich mehrere Lösungen an – eine davon könnte auch in der Rebellion der Sexsklavin Zaide bestehen, die den Sultan schlicht aus dem Spiel nimmt. Vielleicht sogar mit Gewalt?

Ganz so platt kann man es sich mit dem von Selbstzweifeln gezeichneten Othello nicht machen. In Stuttgart wird seine Geschichte erzählt als die Unmöglichkeit des Fremden, in der Fremde dazuzugehören, mag er auch noch so bemüht sein darum, sich zu „integrieren“, der neuen Heimat zu dienen und zu nutzen. Gleichzeitig ist es doch auch die gleiche Geschichte wie beim Sultan: Immer diese Männer, die Gewalt ausüben über Frauen. Der offenkundig kriegstraumatisierte Othello verübt einen Femizid auf offener Bühne. Die männerkritischen Girls vom Abend zuvor hätten also allen Grund, auch hier nahtlos ihre Anklage herauszuschreien.

Es hat sich weniger geändert, als wir glauben

Und dass das so ist, macht den eigentlichen Clou dieser beiden hitzigen Abende aus: Glaubten wir nicht, dass wir weiter wären? Wenigstens bei uns, wenn schon nicht bei den Arabern? Stattdessen läuft, wer abweicht von der Norm, alltäglich Gefahr, ausgegrenzt zu werden. Männliche Gewalt bedroht und tötet noch immer Frauen, hier wie anderswo. Wer in den Krieg gezogen ist, kommt psychisch zerstört zurück. Es hat sich weniger geändert als wir glauben seit Shakespeare, Mozart und Verdi.

 

Dieser Text erhebt nicht den Anspruch einer Aufführungskritik. Mein Fokus liegt ausschließlich auf dem (kultur-)politischen Aktualitätsbezug von Werk und Inszenierung. Daher gibt es in diesem Text auch nur Bemerkungen zur Konzeption der Inszenierung, nicht zu den Leistungen von Sänger/innen und Orchester. Gesehen habe ich „Zaide“ am 26. Juni, „Otello“ am 27. Juni 2025.

Hinweis zur Schreibweise: Das Shakespeare-Drama heißt „Othello“, ich habe diese Schreibweise auch für meinen  Text verwendet, wenn es um die Hauptfigur geht. Die in italienisch geschriebene Oper verzichtet auf das „h“ und schreibt sich daher „Otello“. 

„Zaide“ ist noch bis 12. Juli bei den Ludwigsburger Festspielen zu erleben; „Otello“ bis 18. Juli in Stuttgart, und dann wieder ab Oktober 2025. 

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Vaters Schuld im Überschwemmungsgebiet

Über eine moderne Deutung von Mozarts Oper „Idomeneo“ in Stuttgart

Wer erzieht, erwirbt sich – wenn es gut geht – bleibende Verdienste. Aber unweigerlich geht damit einher, sich schuldig zu machen; meist, ohne es zu bemerken. Ein zu oft überladener Familienalltag, das ununterbrochene, enge Zusammenleben, die Arbeit, der ständige Blick aufs Handy, die Sehnsucht, vom quengelnden Kind endlich einmal in Ruhe gelassen zu werden – alles das verführt zu unüberlegter Gereiztheit. Dazu begegnen die Kinder ihren Eltern meist in bedingungsloser, geradezu unzerstörbar erscheinender Liebe, die vieles wegsteckt. Schließlich verleiten die eigenen Laster und Süchte, die persönlichen Leidenschaften und Prioritäten dazu, jetzt und hier schnell etwas zu tun oder zu unterlassen. Und schon hat man sich schuldig gemacht.

Die Schuld des Vaters droht das Leben des Sohnes zu zerstören – in der Stuttgarter Inszenierung von „Idomeneo“ (Musik: Wolfgang Amadeus Mozart) überträgt Regisseur Bastian Kraft die individuelle Psychologie der antiken Sage auf die kollektive Schuld, die sich die heutige Väter-Generation aufgeladen hat – und ihren Kindern hinterlässt. (Foto: Matthias Baus, bereitgestellt von Oper Stuttgart)

Auch wenn es gut ausgeht – die Schuld verschwindet nicht

Oft gibt es eine Ahnung darüber, schon während es geschieht. Meist aber handelt der Erziehende in fester Überzeugung, das Richtige, das Notwendige, das Zulässige zu tun. Im Fernsehkrimi sind das die Fälle, in denen fehlerhaftes Verhalten den Tod eines Kindes verursacht hat, und davon ausgehend ganze Existenzen zerbersten. Im realen Leben endet solche Schuld erfreulicherweise nur selten so katastrophal. Oft braucht es Jahre des Abstandes, um zu erkennen: Ich habe mich schuldig gemacht. Auch wenn alle Beteiligten scheinbar unversehrt überleben, verschwindet die Schuld deshalb nicht, sie blitzt auf in den Gedanken des schlechten Gewissens, in bösen Erinnerungen, manchmal auch in der realen Welt, in psychischen oder körperlichen Symptomen.

Nach allem, was bekannt ist, war Wolfgang Amadeus Mozart seinem Vater durchaus respektvoll und zugewandt verbunden. Der Vater hatte ihn gefördert und auch gefordert; ohne ihn wäre er vielleicht niemals das Genie geworden, als das wir ihn heute kennen. Ob der Vater, Leopold Mozart, überhaupt darüber nachdachte – etwa hundert Jahre vor den Anfängen der modernen Psychologie – dass auch er Schuld haben könnte am rastlosen Leben seines Sohnes, das wissen wir nicht. Das frühe Sterben des Genies musste er nicht erleben.

Vaters Schuld und Sohnes Liebe – in Verzweiflung vereint

Was also mag den Sohn im Jahr 1781 bewogen haben, eine Oper zu schreiben, in der Vater und Sohn schicksalhaft verbunden sind in gemeinsamer Verzweiflung über väterliche Schuld und Sohnes Liebe? Den Stoff dafür entlehnte sich Mozart aus der griechischen Sagenwelt. Stark vereinfacht geht es darum: Der kretische König Idomeneo hat Troja besiegt. Kurz bevor er als strahlender Held in seine Heimat zurückkehrt, gerät er in einen wütenden Sturm und verspricht in höchster Not dem Meeresgott Neptun, zur Rettung des eigenen Lebens ein Menschenopfer zu bringen. Und zwar, so sagt er zu, solle der erste Mensch, dem er am Strand von Kreta begegnen würde, dem Gott gehören. Neptun lässt sich auf den Handel ein, Idomeneo kommt nach Hause – und trifft am Strand auf seinen Sohn, der ihm glücklich ob der Rückkehr und voller Liebe in die Arme fällt. Nichts ahnend über die schuldhafte Zusage des Vaters, versteht der Sohn nicht ansatzweise, warum der Vater ihn auf einmal meidet, sogar fortschicken möchte.

Mit allerlei Tricks versucht der König, den Vollzug des grausigen Menschenopfers hinauszuzögern oder, noch besser, gar nicht vollstrecken zu müssen. Aber der Gott lässt sich so leicht nicht besänftigen, und so ist Idomeneo schließlich bereit, sich zu fügen, sogar der inzwischen eingeweihte Sohn anerkennt die Pflicht, die dem grausamen Gott gegebene Zusage einzuhalten. Aber so wie der biblische Abraham von Engeln abgehalten wird, seinen Sohne Isaac zu töten – so verhindert schließlich die Liebe einer Frau und göttlicher Großmut auch bei Mozart den Tod des jungen Thronfolgers. Es gibt also ein Happy End in der Oper, das seine Kraft auch aus einer glücklichen Liebesgeschichte zieht, die das Geschehen begleitet, auf die hier aber nicht näher eingegangen werden soll.

Der Sturm tobt, das Wasser kommt – und die Schuld bleibt

Zurück bleibt einmal mehr ein Vater, der überlebt, sich aber schuldig gemacht hat. Er war bereit gewesen, für seine eigene Rettung das Leben eines anderen zu opfern. In der Stuttgarter Neuinszenierung der Mozart-Oper „Idomeneo“ setzt Regisseur Bastian Kraft diese Schuld vom Einzelnen ins Allgemeine: Nicht nur der einzelne Vater macht sich schuldig gegenüber seinem Sohn, auch eine ganze Generation von Vätern lädt Schuld auf sich. Die kretische Gesellschaft watet auf der Opernbühne von Stuttgart über weite Teile des Abends durch ein Überschwemmungsgebiet, das ganz real ausgebreitet wird auf dem Bühnenboden. Der Sturm tobt, das Wasser kommt, die langen Kleider saugen sich voll, während leidendes Volk und eine ratlose Königsclique versuchen, einen Ausweg aus dem väterlich herbeigeführten Sumpf zu suchen.

Was dabei entsteht, sind starke Bilder zu grandioser Musik, die gemeinsam viel erzählen von der Schuld, welche die heutigen Väter-(und Mütter-)generationen sich aufgeladen haben – und die nun die Söhne (und Töchter) als Dürreperioden, Waldbrände, Sturm- und Überschwemmungskatastrophen im  wahrsten Sinne des Wortes ausbaden müssen. Dass dabei in Stuttgart ein weiteres Mal (wie bereits in einer anderen Inszenierung wenige Monate zuvor) das Knäuel des vom Sturm herabgefegten Opernhaus-Daches herhalten muss, ist ein eher überflüssiger Wink mit dem Zaunpfahl. Sie macht die Grundidee dieser Regiearbeit platt, anstatt ihr Tiefe zu verleihen. Der wache Betrachter hat längst verstanden: Es waren niemals die Götter oder irgendwelche Ideale, um deren Willen wir Väter uns schuldig machten. Es waren schon immer unsere eigenen, ganz egoistischen Wünsche. Und es sind bis heute unsere Kinder, die damit klarkommen müssen.

 

„Idomeneo “ von Wolfgang Amadeus Mozart in der Inszenierung von Bastian Kraft ist an der Oper Stuttgart noch bis 27. Dezember 2024 zu sehen. 

Dieser Text erhebt nicht den Anspruch einer Aufführungskritik. Mein Fokus liegt ausschließlich auf dem (kultur-)politischen Aktualitätsbezug von Werk und Inszenierung. Daher gibt es in diesem Text auch nur Bemerkungen zur Konzeption der Inszenierung, nicht zu den Leistungen von Sänger/innen und Orchester. Gesehen habe ich die Generalprobe am 21. November 2024, sowie die Aufführung am 5.12.2024. 

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