Der lange Schatten der kleinen Mauer

Vom Berliner Reichstag zur Danziger Werft und zurück

In diesem Text geht es um zwei Mauern, und was sie verbindet. Beide stehen in Berlin, und eine davon auch in Danzig. Diese Mauer ist unscheinbar, verglichen mit jener Mauer, die Deutschlands Hauptstadt einst durchschnitt, und die wundergleich vor 35 Jahre in sich zusammenstürzte. An den Fall der großen Mauer durch Berlin erinnern heute zahlreiche Gedenkstellen, etwa eine Mauer-Ausstellung im neuen Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Bundestages. Original rekonstruiert wurde sie dort im früheren Verlauf mit echten alten DDR-Mauer-Bauteilen, und steht so wettergeschützt im Souterrain der Abgeordnetenbüros. Erinnert wird auch an die mindestens 327 Toten, die beim Versuch, diese Mauer zu überwinden, verstorben sind.

Die weltberühmte Berliner Mauer – hier als Museumsstück im Souterrain des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses des Deutschen Bundestages – direkt am Spreeufer.

Die andere Mauer ist gleich gegenüber, auf der anderen Seite der Spree. Unscheinbar wurde sie als Gedenkstätte in eine Ecke neben die gewaltige Pracht des Reichstagsgebäudes gequetscht. Immerhin erzählt eine kleine Tafel ihre Geschichte. Wie viele Menschen mögen wohl schon an diesem kleinen Stück Backstein-Mauer achtlos vorübergegangen sein? Es muss sich gegen den stolzen Parlamentsbau behaupten. Die Fahnen Deutschlands und Europas flattern auf seinen wuchtigen Ecktürmen, glänzend schimmert die gläserne Kuppel im Sonnenlicht. Plenumsbetrieb ist im Bundestag, reihenweise schwarze Ministerlimousinen lassen die Touristen nach ihren Handys greifen. Es herrscht erhöhte Alarmbereitschaft, Polizei patrouilliert vorbei. Die Aura von Bedeutung und Macht durchtränkt den Äther rund um dieses „hohe Haus“. Wer wird da auf ein kleines Stück Backsteinmauer achten?

Die andere Mauer in Berlin: In einer Ecke des Reichstagsgebäudes steht ein Stück Mauer von der Danziger Werft.

Auch die kleine Backstein-Mauer ist ein Erinnerungsort. Sie steht für das Staunen darüber,  dass nichts bleibt und sich alles immer wieder ändern kann, auch grundlegend, und auch wenn man es für unglaublich hält. Verschwommene Erinnerungsbilder tauchen vor dem geistigen Auge auf; verwackeltes Schwarz-weiß-Fernsehen: Es kann Risse geben im festgefügten Block der kommunistischen Welt. Erinnerungen an das Geschehen im Nachbarland Polen im Jahr 1980.

Zwei Tage später in Danzig

Zwei Tage später in Danzig: Da ist es wieder, das gleiche Gemäuer. Backsteine, aufeinandergeschichtet, hier nun über und über behängt mit Tafeln, davor ein großes Denkmal: Es geht um die Toten des Arbeiteraufstandes von 1970, um Schüsse, Streiks, Niederlagen und Siege. Einer der Siege hat mit jenem kleinen Mauerstück zu tun, das jetzt als Geschenk des polnischen Parlaments Sejm an den deutschen Bundestag neben dem Reichstagsgebäudes steht. Es ist ein Stück Mauer von der Danziger Werft, über die der Elektriker und Gewerkschafter Lech Wałęsa im August 1980 kletterte, um die Führung der in der Werft streikenden Arbeiter zu übernehmen. Das waren damals die Bilder, die den Riss zeigten.

Im „Europäischen Zentrum für Solidarität“ auf dem früheren Werftgelände wird die Geschichte der Werftarbeiter in Danzig und die Gründung der Gewerkschaft „Solidarnosc“ aufgearbeitet. Das Zentrum ist ein moderner Begegnungsort für das neue Polen.

Heute muss niemand mehr die Mauer in Danzig überwinden. Die Tore stehen offen, Schiffe werden hier schon lange nicht mehr gebaut. Wer heute unter den großen Buchstaben „Stocznia Gdańska“ hindurchgeht, den erwartet ein im Jahr 2014 eröffnetes, eindrucksvolles Gebäude, das als „Europäisches Zentrum für Solidarität“ betrieben wird. Ein lichtdurchflutetes Foyer mit Café, Pflanzen, Sitzbänken, Rolltreppen empfängt die Besucher – hier wurde dem modernen, demokratischen Polen ein schicker Begegnungs-, Diskussions- und Erinnerungsort gewidmet. Die multimedial gestaltete Ausstellung führt mitten hinein in die Streiks der Werftarbeiter, in die Gewalt, die sie erlebten, macht ihren Widerstandswillen spürbar. Letztlich haben sie gewonnen: Unter ihrem Druck wurde im Sommer 1980 „Solidarność“ gegründet, die erste freie Gewerkschaft im „Ostblock“. Solidarność übernahm bald eine zentrale Rolle in der polnischen Politik. Freiheiten wurden erkämpft zu einer Zeit, als an vergleichbare Bestrebungen in Ostdeutschland nicht zu denken war. Die Gewerkschaft überlebte sogar das polnische Kriegsrecht.

Der Held: Lech Wałęsa führt den Arbeitskampf in der Werft und veränderte ganz Polen zu einer Zeit, als im restlichen Ostblock an Liberalisierungen nicht zu denken war. 1990 wurde er zum Präsident Polens gewählt. Aber für den Alltag der Politik erwies er sich als untauglich.

Alles das ist mit einem Namen verbunden: Lech Wałęsa, der Mann, der einst über die Werft-Mauer kletterte. Im „Europäischen Zentrum für Solidarität“ atmet alles den Geist dieses Mannes, der – inzwischen 82 Jahre alt – dort sogar ein Büro hat. Ein polnischer Volksheld war er in den 80er Jahren, bestaunt vom Ausland, gefeiert und bejubelt in Polen. Die kommunistischen Machthaber internierten ihn, aber sie konnten ihn nicht unter Kontrolle bringen. Er erhielt 1983 den Friedensnobelpreis, führte eine gewaltfreie Revolte an, und wurde mit Begeisterung auf den Schultern der Massen getragen. Nach der politischen Wende wählten die Polen Wałęsa im Jahr 1990 mit 70 % der Stimmen zu ihrem Präsidenten. Aber für den politischen Alltag schien sich der Revolutionär nicht zu eignen. In der Wiederwahl 1995 scheiterte er knapp, fünf Jahre später trat er noch einmal an und bekam nur ein Prozent der Stimmen.

Brutaler kann ein Held kaum stürzen

Brutaler kann ein Held kaum stürzen. Im heutigen Polen spielt Lech Wałęsa keine Rolle mehr, trotz dieses prächtigen Zentrums, das auch ihm zu Ehren auf dem Gelände der Danziger Werft errichtet wurde. Vorwürfe der Kooperation mit dem kommunistischen Geheimdienst belasten sein Andenken genauso wie fragwürdige Äußerungen, die als homophob gedeutet werden müssen. In einem Interview von 2023 für den Sender „Arte“ zeigt sich der damals 80-Jährige entschlossen proeuropäisch, kritisiert die Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz und unterstützt die Abwehrkämpfe der Ukraine gegen den russischen Aggressor. Trotzdem wirken viele seiner Äußerungen erratisch, wie aus der Zeit gefallen. Wałęsa erkennt das selbst und blickt vor allem zurück. „Wir waren es“, sagt er, und der Stolz blitzt aus seinen Augen, „die dem russischen Bären die Zähne ausgeschlagen haben.“ Manches spricht dafür, dass ohne Lech Wałęsa und die von ihm gegründete Solidarność die Weltordnung der Moskauer Politbüro-Greise vielleicht niemals ins Wanken geraten wäre.

Und wieder zurück in Berlin

Zurück in Berlin. Wer steht da nun also in wessen Schatten? Fast scheint es, als könnte der Schatten der kleinen Backsteinmauer so lang sein, dass das ganze Reichstagsgebäude darin verschwinden kann.

 

Mehr über das Europäische Zentrum für Solidarität in Danzig finden Sie hier (in englisch). Das Interview mit Lech Wałęsa aus dem Jahr 2023 ist auf arte abrufbar. 

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier. 

 

 

 

Berlin blüht (22. April 2021)

Noch sind die Balkone der Genossenschaftshäuser unbelebt, noch fehlen bunte Sonnenschirme, noch färben sich die Blumenkästen nicht. Aber ganz langsam, unaufhaltsam weicht das Grau. Grün sprießt es schon aus jeder Ritze, an jedem Ast. Die ersten Tulpen kämpfen sich bunt durch das noch matte Grün der Wiesen, das gelbleuchtende Gebüsch zieht magisch jedes Auge an, die Kirschen recken ihr Rosaweiß in den stahlblauen Himmel. Schon fallen die Magnolienkelche ab in ergrauter Schönheit.

Leben in den Hochbeeten zwischen den Hochhäusern

Berlin blüht. Deutschlands Hauptstadt liegt mit 59 Prozent Grünflächenanteil diesbezüglich im Mittelfeld deutscher Großstädte (Hamburg über 70, München unter 50 Prozent). Und doch erscheint es so, als dürste dieser Stadt ganz besonders danach, endlich das urbane Grau zur Seite zu drängen. Als müsse sich hier jeder Baum ganz besonders anstrengen, zwischen den vielen Pflastersteinen, zwischen all den Giften und Zumutungen endlich wieder vitalen Schimmer tragen zu dürfen. Grün zu sprießen – das ist keine Kunst im feuchten Hamburg, aber hier, wo die Winter kalt und trocken sind? Im Frühling die prächtigen Blumenrabatten erblühen zu lassen – das ist keine Kunst im königlichen München, wo der Reichtum jedem Gärtner Brot gibt – aber hier, zwischen Plattenbauten und Dönerläden, belagert von zu vielen Menschen, geschunden von zu viel Verkehr? Hier ist es etwas Besonderes, wenn sich die Beete bunt färben, jedes hart erkämpfte Stück offene Erde grün wird und nicht grau bleibt. Auch das Urban Gardening erwacht, da kommt Leben auf in den Hochbeeten zwischen den Hochhäusern!

Wie viele große Gärten und Parks hat diese Stadt zu bieten, in denen es nun blüht und grünt aller Orten? Den Tiergarten mit seinen verschlungenen Wegen, die nach jeder Biegung den Blick auf eine glitzernde Überraschung, ein Kunstwerk, eine Idee von Gartenkunst freigeben! Oder die modernen Gärten der Welt, in denen man von einer Seilbahn aus die ganze blühende Pracht auch von oben bewundern kann. Wie ungerecht, nur zwei hier zu erwähnen, gibt es doch Hunderte kleiner und großer Parks mit angelegten Beeten und Flächen, mit abgenutzten Spielflächen, mit plätschernden Wasserspielen, mit stillen Teichen und spiegelnden Seen. Sie alle erwachen im Frühjahr zu neuem Leben, zu neuer Hoffnung, bevor sie doch wieder Opfer werden. Getreten und geknickt von der Lust der Menschen, zu ihnen nach draußen zu drängen, ihre Pracht zu benutzen und zu missachten. Und das, wo doch bald schon die Hitze des Sommers dafür sorgen wird, dass ihnen der Lebenssaft knapp wird. Der Herbst wird ihnen nochmal die kurze bunte Pracht der fallenden Blätter gönnen – und dann, dann ist es wieder vorbei und alles wird zurückgedrängt in das urbane Grau.

Verschachtelte Paradiese

Jetzt aber steht dieser Kreislauf auch in Berlin an seinem bunten, hoffnungsfrohen Beginn. Den Flaneur hat es frühlingstrunken hinausgetrieben bei kühlem Wind und strahlender Sonne, hinaus an die alte Grenze zwischen Ost und West, zwischen Treptow und Neukölln. Hier stand die Mauer, und westlich wie östlich von ihr gab und gibt es nur eines: Kleingartenkolonien. Eine einzige Ansammlung von verschachtelten Paradiesen, Natur-Fluchtpunkte, wohl geordnete, kleine Königreiche für Gartenzwerge und ihre Besitzer. Jedes Gärtchen „ein klein Häuschen“, jede Parzelle schöner, frühlingsbunter als die nächste. Und sie haben Namen, die das kleine Glück versprechen: „Alt-Köllner Pracht“ oder „Wiesengrund“ oder „Märkische Schweiz“.

Eine dieser Kolonien an dieser Stelle, an der früheren deutschen Grenze mitten durch unser deutsches Hauptstadt-Herz, heißt noch immer „Sorgenfrei“. Frei von den Sorgen um Arbeit, Gesundheit und Leben, frei von den Sorgen deutscher Teilung, alles das suchten auch im März 1966 die Kleingärtner in ihrem eigenen Stück Grün im Schatten der Grenzmauer. Sorgenfrei! Sie suchten es in jedem zwitschernden Vogel, in jeder zum Leben erwachten, sich der Sonne entgegendrehenden Blüte, die den Blick ablenkte vom Todesstreifen, direkt nebenan. War am 14. März 1966 auch dort schon ein Hauch von Frühling zu spüren? Sprießte in den Gärten der Kolonien auch schon das Gras, das erste zarte Grün an den Bäumen, die ersten Krokusse?

Geboren auf der falschen Seite der Mauer

Zwei Jungs, 10 und 13 Jahre alt, versteckten sich einen ganzen Tag in dieser gärtnerischen Idylle, um in dieser Nacht über die Mauer von Treptow nach Neukölln zu gelangen. Wenn es dunkel war, wenn die Nacht die Blüten geschlossen hatte und das frische Grün zu Grau geworden war, das Schutz zu bieten vorgaukelte, – dann wollten sie die Grenze überwinden. Der Jüngere der beiden – im gleichen Jahr geboren wie der Flaneur, aber am falschen Ort, auf der falschen Seite der Mauer – wollte zu seinem im Westen lebenden Vater, sein bester Freund machte mit bei diesem traurigen Abenteuer. Beide wurden erschossen, auf der Höhe der Kolonie „Sorgenfrei“, und starben noch am gleichen Tag. Der Staat, über dessen Charakter als „Unrechtsstaat“ heute noch einige Anlass zur Diskussion sehen, vertuschte den Vorgang, den entsetzten Eltern wurde vorgelogen, ihre Kinder seien verunglückt. Zwei DDR-Grenzbeamte waren an dieser mörderischen „Grenzsicherung“ beteiligt; einer davon lebte noch, als die Mauer fiel. Im Prozess, der ihm dann gemacht wurde, sagte er aus, er habe nicht erkannt, dass die dunklen Gestalten im Grenzstreifen Kinder gewesen seien. Er wurde zu einer Bewährungsstrafe verurteilt

So war das im Frühjahr 1966, als eine tödliche Mauer die blühende Pracht der Gartenkolonien durchschnitt. Heute tut dies eine neu angelegte Straße. Aber dort, wo der alte Mauerstreifen von der Straße abbiegt, füllt nun ein breiter Parkstreifen den Mauer-freien Platz, ein Bächlein wurde angelegt, eine Birkenreihe angepflanzt. Bedächtige Spaziergänger und sportliche Radfahrer streifen sorgenfrei unter dem frischen Grün der Birken in beide Richtungen dahin. Ein kluges Denkmal erinnert an die beiden getöteten Kinder. Berlin blüht. Blüht auch deshalb, weil wir es überwunden haben, dass hier Menschen sterben.

Das Denkmal für die bei der Flucht erschossenen Kinder an der Kiefholzstraße bei der Gartenkolonie „Sorgenfrei“

 

Die beiden getöteten Kinder waren Jörg Hartmann und Lothar Schleusener.