Da sitzt er, der selten gewordene Freund des Kreuzworträtsels, und grübelt: „Misstrauen, Verdacht“ mit sieben Buchstaben? Heute kann man alles googeln, weshalb der Zeitvertreib aus dem vor-digitalen Zeitalter kaum noch Konjunktur hat. Es geht um „Argwohn“. Des Rätsels Lösung ist also schnell gefunden. Auch in unserer Gesellschaft müssen wir ihn nicht mehr suchen.
Es macht sich Argwohn breit im ganzen Land
Überbordender Argwohn ist täglicher Begleiter unseres pandemischen Lebens geworden, es macht sich Argwohn breit im ganzen Land. Wir misstrauen unserem Sitznachbarn in der Bahn, im Kino, im Restaurant. Wir misstrauen ihm, wenn er keine Maske trägt, oder wenn sie nicht richtig sitzt. Wir verdächtigen diejenigen, die keinen Impfnachweis haben, und wir beginnen, sogar dem Impfnachweis selbst zu misstrauen, weil wir davon lesen, dass der Impfschutz nachlässt. Wir hören, dass es Fälle gibt, in denen der Impfnachweis gefälscht wurde.
Wir begegnen den müden Männern aus Osteuropa mit Argwohn, wenn sie nach Feierabend verstaubt und farbbekleckert von unseren Baustellen kommen als abstandslose Gruppe hinter uns in der Schlange am Supermarkt stehen. Hatten wir nicht gelesen von den niedrigen Impfquoten in ihrer Heimat, von der Ansteckungsgefahr in billigen Sammelunterkünften? Argwöhnisch halten wir die Luft an, wenn sich in den engen Regalgassen des Supermarktes der Obdachlose auf dem Weg zum Flaschenautomaten an uns vorbeischiebt. Ja, es macht sich Argwohn breit in unserem Land.
Die Plage des Misstrauens wächst in der Kälte
Und die Plage des Misstrauens wächst, je kälter es wird. Die sommerliche Wärme hat uns eingelullt in einer Wolke freundlichen Vertrauens, nicht nur wegen der niedrigen Inzidenz-Zahlen. Sondern auch weil draußen Platz war für das selbst gewählte Maß an Wohlfühl-Distanz, weil Wind und Sonne unsere Sinne lüfteten. Aber jetzt ist es dunkel, und drinnen regiert der Argwohn.
Dabei wissen wir es doch: Fehlendes Vertrauen ist die Quelle vielen Unglücks. Tausende Romane und zahllose Bühnenstücke basieren in ihren Erzählungen auf dem Argwohn. Falscher Verdacht beschuldigt zu Unrecht, vergiftet unser Miteinander, seinetwegen wurden Kriege angezettelt und Menschen vernichtet. Argwohn sickert wie Gift in unsere Seele, macht uns hart, abweisend und ungerecht.
Der Argwohn hat einen Zwilling
Des Argwohns Zwilling ist die naive Gutgläubigkeit. Sie lullt uns ein in das süße Gefühl, dass schon alles gut werden kann, auch wenn wir uns nicht anstrengen. Wie der Argwohn uns verfinstert im Gemüt, so trübt uns die Gutgläubigkeit den Blick, raubt uns unsere Scharfsichtigkeit. Es ist naiv, eine offenkundige Gefahr nicht sehen zu wollen, anstatt ihr entgegenzutreten. Es ist kein Argwohn, sondern vorausschauende Klugheit, dem Räuber ein einbruchssicheres Schloss entgegenzusetzen.
Im Jahr 2015 wurde das Wort „Gutmensch“ zum „Unwort des Jahres“ gekürt, da es zu Unrecht diejenigen in ein schlechtes Licht rückt, die mit hoffnungsfroh-positivem Blick auf unser Zusammenleben blicken. Mit dem Schimpfwort „Gutmenschen“, so die Jury, würden „Toleranz und Hilfsbereitschaft pauschal als naiv, dumm und weltfremd, als Helfersyndrom oder moralischer Imperialismus diffamiert.“ Wer sich für das Gute in der Gesellschaft engagiert, muss eben nicht immer naiv und gutgläubig sein.
Die Dreifach-Impfung gegen den Argwohn
Erste Dosis: Zuhören. Wir wissen Vieles von unserer Welt, wenn wir Experten und Wissenschaftlern im gegenseitigen kritischen Diskurs einfach einmal zuhören. Aktives Zuhören, kritisches Nachfragen, Bereitschaft, sich überzeugen zu lassen – sie bilden die Basis unseres gesellschaftlichen Immunsystems. Wir können es stärken. Einfach mal zuhören!
Zweite Dosis: Solidarität. Sie ordnet unser Denken und unser Zusammenleben, und sie schützt uns vor naiver Gutgläubigkeit. Solidarität weitet unseren Blick darauf, was dem anderen zusteht, nicht nur einem selbst. Solidarität braucht auch einen gesunden Schuss Argwohn. Denn niemand, der Solidarität erfährt, kann aus der Verantwortung entlassen werden, nach seinen Kräften sich selbst zu helfen.
Und schließlich der Booster mit fünf Buchstaben: Demut. Demut macht uns bewusst, dass wir nicht alles wissen, und dass wir jederzeit irren können. Demut macht den Argwöhnischen tolerant und den Naiven vorsichtig. Das macht beide reicher.
Mit der Pandemie-Politik in Deutschland habe ich mich in einem weiteren Text als #Politikflaneur auseinandergesetzt: Von Macht und Machthabern