Ich werde Ihnen zuhören, Herr Merz

Ein offener Brief an den neuen Bundeskanzler

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

gewählt habe ich Sie nicht, aber nun sind Sie trotzdem mein Bundeskanzler. Ja: „mein“ Kanzler. Denn ich habe mir vorgenommen, Ihnen mit dem Respekt zu begegnen, den das Amt, das Sie ausfüllen, verdient. Und erst recht habe ich Respekt vor der Größe der Aufgabe und Verantwortung, die nun auf Ihnen lastet. Ich danke Ihnen dafür, dass sie auch für mich diese Last tragen werden. Ich bin überzeugt, dass Sie „das Beste“ für mich wollen, auch wenn wir vielleicht streiten müssten, was genau „das Beste“ ist.

Friedrich Merz auf der Mission ins Kanzleramt – Foto: Sandro Halank, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Ich bitte Sie um nichts, was nur meinen Interessen dient. Ich bin kein Lobbyist für mich selbst. Ich erwarte keine Steuersenkungen und keine Rentenerhöhungen und auch keine anderen Wohltaten zu meinem Vorteil. Ich wünsche mir von Ihnen das, was sich alle wünschen, die guten Willens sind: Sicherheit für dieses Land durch Besonnenheit und kluge Diplomatie, aber auch in angemessener Wehrhaftigkeit. Den Wohlstand erhalten, in dem der größte Teil meiner Mitmenschen, wie ich selbst auch, leben. Dabei dürfen wir nicht weiter die begrenzten, natürlichen Ressourcen vernichten. Dass die Kinder gerne in eine intakte Schule gehen, die Straßen nicht voller Schlaglöcher oder gesperrt sind wegen der maroden Brücken. Dass die Bahn pünktlicher wird. Dass wir uns auf eine integre Polizei und eine unabhängige Justiz verlassen können. Dass wir als Gesellschaft das Ziel der sozialen Gerechtigkeit nicht aus den Augen verlieren, dass wir stets im Blick behalten, wo Not ist und wie wir sie lindern können.

Das alles wünsche ich mir wie Millionen andere, und ich zweifle nicht daran, dass Sie, sehr geehrter Herr Merz, sich genau das vorgenommen haben.

Ich möchte Sie zur Demut ermutigen

Aber ich möchte Sie zur Demut ermutigen. Ich möchte Sie darum bitten – und sei es nur für sich selbst und nicht öffentlich -, sich einzugestehen, dass es ein fraglicher Impuls war, als sie wenige Tage vor der Wahl Ihre Rhetorik gegen Geflüchtete mithilfe fraglicher Behauptungen verschärften („tägliche Gruppenvergewaltigungen“). Dass es unklug war, sich in dieser Sache von rechtsradikalen Demokratiefeinden unterstützen zu lassen. Dass Sie sich nun vornehmen, in Ihrem neuen Amt sich solche zuspitzende Impulsivität nicht mehr zu genehmigen.

Ich möchte Ihnen Mut zusprechen, den Verlockungen der scheinbar einfachen Wahrheiten entgegenzutreten. Politik ist kein Lieferdienst, daher muss sie nicht „endlich liefern“, wie derzeit alle von Ihnen fordern, sondern besonnen und entschlossen handeln. Ich brauche auch gar keinen „Politikwechsel“, sondern verlässliches, nachvollziehbares Regieren im Diskurs, aber ohne verletzenden Streit.

Sie sind Christ, wie ich.

Ganz gewiss werden Sie politische Entscheidungen treffen müssen, die ich inhaltlich kritisieren werde. Ich würde mir wünschen, dass Sie dann so viel an Bedächtigkeit zeigen, passende Worte der Abwägung finden, so dass ich Ihre Entscheidung vielleicht wenigsten verstehen, wenn auch nicht billigen kann.

Sie sind Christ, wie ich. Ich möchte Ihr Sprechen daran messen können. Wenn ich Ihnen künftig zuhören werde, dann hoffe ich auf Worte, die jederzeit dem Ideal einer unteilbaren Menschenwürde gerecht werden. Dem grundlegenden Verständnis für jeden Menschen in Not, egal welcher Rasse, Glaube oder Herkunft er sei. Der immerwährenden Achtung vor der Bewahrung unserer natürlichen Lebensgrundlagen.

Nach allem, was ich über Sie und von Ihnen gehört und gelesen habe, bin ich sicher, dass Sie in reflektierten Momenten genau so denken. Und ich verstehe durchaus, dass ich Ihr politisches Handeln nicht immer nur an diesem Maßstab werde messen dürfen. Denn Sie müssen nun die Interessen Deutschlands in einer Welt und Wirklichkeit vertreten, die sich nicht ausschließlich an den Grundwerten der UN-Charta oder unseres Grundgesetzes orientiert. Ich weiß das.

Aber Ihre Worte, sehr geehrter Herr Merz, – Ihre Worte sollten es sein. In diesem Sinne vertraue ich Ihnen. Vielleicht bin ich naiv, aber ich werde aufmerksam sein. Nehmen Sie sich in Acht. Ich werde Ihnen zuhören.

Ich wünsche Ihnen gutes Gelingen!

Ihr Andreas Vogt

aktualisiert am 6. Mai 2025

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier – auch zwei weitere Texte über Friedrich Merz aus der Wahlkampf-Phase: Friedrich, der Zaubergeselle und Trump, Merz und der Fosbury-Flop

 

Die Fünfe gerade kleben lassen?

Über Gelassenheit und den Sand im Getriebe

So eine Spielstraße hat ein wechselvolles Leben. Vor vielen Jahren waren alle Häuser neu und die Straße war voller Kinder, tobend, tanzend, seilhüpfend beherrschten sie den damals noch frisch getrockneten Asphalt. Wenn ein Paket gebracht wurde, war das ein seltenes Ereignis, und es kam in einem gelben Postauto, das vorsichtig zwischen den spielenden Kindern hindurch schlich. Ist ja eine Spielstraße.

Kein Rechtsbruch: Diese fünf Finger kleben nicht auf dem Asphalt, und sie sind gerade – ein Signal für friedliches Miteinander.
Ein Rechtsbruch: Es ist verboten, Zigarettenkippen auf die Straße zu werfen. Trotzdem geschieht es täglich. Ein Fall für „Fünfe gerade sein lassen“?

Dann wuchsen die Kinder wie auch die Büsche und Bäume. Bald waren sie groß genug, um den Jugendlichen, die hier mal als Kinder herumsprangen, Schatten zu spenden für ihre Treffen, für die ersten heimlichen Zigaretten, den billigen Fusel und die Chipstüten aus dem Supermarkt. Dann zerstreuten sich die Jugendlichen in alle Welt und niemand spielte mehr auf der Spielstraße. Die Autos eroberten sie sich zurück, darunter auch die verschiedenen bunten, nicht mehr nur gelben Transporter.

Inzwischen sind neue Familien eingezogen und warten auf ihre vielen Pakete. Hurtig brettern die getriebenen Fahrer durch die Spielstraße. Nun sind da aber auch wieder Kinder, die Fangen spielen oder Fußball und Seiltanzen. Hier nur Schrittgeschwindigkeit!, mahnen besorgte Eltern. Da staunt der Lieferant: Ach, sagt er, wissen Sie, wie viele Pakete ich noch zu liefern habe? Man muss auch mal fünfe gerade sein lassen. Ist ja noch nichts passiert.

Ist ja noch nichts passiert

An der Ecke, neben seiner Stammkneipe, steht der rauchende Rentner, der da immer steht. Früher, sagt er, früher hab´ ich da nicht so drauf geachtet. Wenn die Zigarette zu Ende war, dann hab´ ich die Kippen einfach auf den Boden geworfen. Kennt jeder: Kippen auf der Straße. Oder vor einem fährt ein Auto, und aus dem Fenster fliegt der noch glühende Zigarettenstummel.

Streng genommen wär´s verboten

Streng genommen, ergibt die Internet-Recherche, ist das eigentlich verboten. Rücksichtslos und gefährlich ist es auch, Kippen sind umweltschädlich, giftig, gefährden die Gesundheit vor allem von Kindern, und können Brände auslösen. Trotzdem liegen Milliarden Zigarettenstummel auf unseren Straßen und Wegen.

Früher hab´ ich gedacht, sagt der rauchende Rentner, was kümmert mich das? Muss man mal fünfe gerade sein lassen. Aber jetzt, sagt er, mach ich das nicht mehr. Er zieht eine kleine Metallschachtel aus der Hosentasche.

Bringt Gelassenheit Deutschland nach vorne?

So ein Döschen hat Bundeskanzler Olaf Scholz sinnbildlich den Deutschen verordnet, als er im Rahmen seiner Sommerpressekonferenz vor wenigen Tagen mehr Gelassenheit empfohlen hat. Es brauche mehr Kompromisse, in der Politik und auch in unserem gesellschaftlichen Diskurs. „Kompromisse finden und Fünfe gerade sein lassen, das bringt Deutschland nach vorne.“

Der Redewendung von den geraden Fünfen ist nicht etwa ein Plädoyer für weniger Genauigkeit in der Mathematik, sondern stammt aus dem Mittelalter und bedeutete: Wer „die Fünfe gerade sein lässt“, der ballt die fünf Finger seiner Hand nicht zur Faust. Dies konnte als Friedenssignal gedeutet werden, denn wenn es anders war, drohte Gewalt.

Also kein Faustschlag in das Gesicht der Raucher, die ihre Kippen einfach fallen lassen, keine Handgreiflichkeiten gegen den eiligen Paketboten. Der Kompromiss lautet: Dein Verhalten ist ist grenzwertig, aber ich toleriere es, es ist keiner Gewalt würdig.

Der Sand im Getriebe fordert Gelassenheit

Solche Gelassenheit könnte auch das Motto sein im Umgang mit denjenigen, die ihre Fünfe auf den Asphalt kleben, um auf einen unbestreitbaren Missstand hinzuweisen. Immerhin ist diese Aktionsform ein Musterbeispiel für gewaltfreien Widerstand im Sinne der Redewendung: Wenn die Finger mal kleben, dann wird es ganz sicher erstmal nichts mit einer Faust.

Der Kanzler hat die Klimakleber bei anderem Anlass einmal als „bekloppt“ bezeichnet. Das darf man so sehen, wenn man möchte, aber sein Motto von der Gelassenheit und dem „Fünfe gerade sein lassen“ passt doch gut auch auf viele Situation, die von den festgeklebten Blockaden verursacht werden. Schon blöd, dass viele dann nicht weiterfahren können, manche Pakete die Spielstraße nicht pünktlich erreichen, der Tagesplan durcheinandergerät. Auch die Straßenreinigung bleibt stecken, die sich um die Kippen kümmert. Es ist der Sand im Getriebe des Alltags, der Gelassenheit erfordert. Der Ärger darüber ist gut zu verstehen, so wie Ärger über einen Bahnstreik, oder den Selbstmörder, der den Zug aufhält, oder die Kita-Schließung wegen Personalausfällen.

Nein, nein, wird da nun schnell jemand rufen, das ist ja ganz etwas anderes! Der Streik ist legitim, und der Krankenstand der Erzieher auch, aber den Verkehr behindern, das ist doch ein Rechtsbruch! Das ist kein Fall für Gelassenheit, sondern für die ganze Unerbittlichkeit des Rechtsstaates!

Mag sein, nur gilt das auch für die weggeworfenen Zigarettenkippen und das flinke Tempo in der Spielstraße. Die Faust zu ballen, wird in allen diesen Situationen wenig helfen.

 

Über die Entstehung der Redewendung „Die Fünfe gerade sein lassen“ kann man z.B. hier mehr erfahren: https://www.abendblatt.de/region/stormarn/article205497179/Warum-kann-man-fuenf-gerade-sein-lassen.html

Die Sommerpressekonferenz von Bundeskanzler Olaf Scholz gibt’s nachzuerleben bei Phoenix via YouTube:  https://www.youtube.com/live/ft4HZittxKk?feature=share

 

 

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