Was wir brauchen, ist wehrhafter Anstand

Fünf unbequeme Vorschläge nach Trump-Triumph und Ampel-Aus

Ok, Amerika! Du hast einen verurteilten Straftäter, Vergewaltiger und Lügner erneut zu Deinem Präsidenten gewählt – nicht, weil Du es nicht wusstest, sondern weil er so ist, wie er ist. Du hast Dich gegen den Anstand entschieden, ganz bewusst.

Ok, Deutschland! Mehr als jede/r zehnte Deiner Wählenden gibt einer rechtsradikalen Partei die Stimme – nicht, weil sie es nicht wüssten, sondern weil sie es wollen. Sie entscheiden sich gegen den Anstand, ganz bewusst.

Ok, Lindner! Du willst für Deutschland keine neuen Schulden machen. Nicht, weil Du nicht verstehen würdest, dass dies für unsere Wehrhaftigkeit unausweichlich ist – sondern weil Du weißt, dass es so ist, es aber nicht verantworten willst. Aus Angst vor den Illusionen Deiner Wähler/innen hast Du Dich gegen den Anstand entschieden, ganz bewusst.

Es ist Zeit für einen Aufbruch

Es ist Zeit für einen Aufbruch. Politik und Gesellschaft brauchen eine neue Idee, einen breiten Konsens der Gutwilligen: Den wehrhaften Anstand. Anstand ist die Grundlage von allem, was uns wichtig ist:

Der Frieden, in dem wir seit siebzig Jahren leben, verdanken wir den Anständigen und ihrem Militär, mit dem sie die deutschen Nazi-Verbrecher vertrieben.

Die Freiheit, die halb Deutschland seither und ganz Deutschland seit 35 Jahren genieß, hat der Westen geschenkt bekommen. Der Osten hat sie ohne Gewalt erkämpft – ein wahrer Aufstand der Anständigen gegen die Stasi-Schergen.

Unseren Wohlstand haben sich die meisten von uns anständig erarbeitet, aber es gäbe ihn nicht ohne die Schuld, mit der unsere Vorfahren und wir Millionen anderer Menschen ausgebeutet und unsere natürlichen Lebensgrundlagen massiv geschädigt haben. Dies zu erkennen, zu benennen und zu ändern – das ist anständig.

 

Hier fünf unbequeme Vorschläge, wie wir zu wehrhaftem Anstand kommen:

Mehr Resilienz für die Anständigen

Wir Anständige sind im Recht, lasst Euch nicht verunsichern! Es ist unanständig, ein Nachbarland zu überfallen oder zu bedrohen. Es ist unanständig, den politischen Diskurs mit Gewalt, Lügen und Simplifizierungen zu durchtränken. Eine anständige Gesellschaft muss sich das nicht gefallen lassen. Sie braucht mehr Widerstandskraft nach innen und außen. Der Staat muss robuster auftreten, klar die Wahrheit benennen, mehr investieren in Sicherheit und Wehrhaftigkeit, aber auch in breite (politische) Bildung. Wir alle sollten aktiv eintreten für eine anstandsbasierte Kultur der Kommunikation.

Anstand erträgt keine Armut

Es ist nicht anständig, den eigenen Reichtum als unteilbar zu betrachten. Viel zu viele Menschen auf der ganzen Welt, aber auch in Deutschland, leiden reale Not, während andere gar nicht wissen, wohin mit ihrem Geld. Dieser Zustand ist unanständig und unerträglich. Ein legitimes Mittel dagegen ist staatlich gelenkte Umverteilung, beispielsweise durch Steuern. Früher waren Steuern eine unanständige Ausbeutung durch die Obrigkeit. Bis heute versuchen Ideologen, dieses Zerrbild auch auf das legitime Interesse des modernen Staates anzuwenden. Aber das ist falsch: In den Demokratien von heute ist Umverteilung ein notwendiges Instrument auf der Suche nach Gerechtigkeit. Wer sich ihm entzieht, wer es diskreditiert, handelt unanständig.

Anständige sind keine politischen Gegner

Wer den Anstand wahrt, ist kein Gegner. Die Anständigen im demokratischen Spektrum dürfen ihre Kräfte nicht im Streit mit den falschen Gegnern verschleißen.  Konservative sind nicht automatisch Populisten, so wie Grüne nicht immer Besserwisser sind. Anständige, gesprächsbereite Konservative sind keine Gefährder der Demokratie. Radikale und Populisten dagegen wollen Probleme zum eigenen Nutzen lieber vergrößern, anstatt mitzuhelfen, sie zu lösen. Das ist unanständig, und muss genau so bezeichnet und bekämpft werden.

Das Grundgesetz setzt politischen Anstand voraus

Es ist höchste Zeit, den Anstand wehrhaft zu machen. Gewalt, Lügen, radikale Vereinfachungen wider besseren Wissens und demokratieschädliche Tricksereien zielen auf die Grundlagen unseres demokratischen Zusammenlebens. Sie beabsichtigen, die Gesellschaft dumm zu machen und die demokratische Prozesse des Staates zu zersetzen. Jeder Blick in soziale Medien zeigt, wie tief dieses Gift bereits eingesickert ist. Wer da mitmacht, verstößt gegen die Idee des Anstandes, wie ihn das Grundgesetz für den politischen Raum voraussetzt. Auch hier ist wehrhafter Anstand gefordert – notfalls mit einem Verbotsverfahren.

Wer zu Unanständigkeit schweigt, macht sich mitschuldig

Jede und jeder kann zu wehrhaftem Anstand in einer Gesellschaft der demokratischen Resilienz beitragen, kann täglich gegen die Zersetzungskräfte der Billighändler der politischen Niedertracht eintreten – in der Arbeit, in der Familie, im Verein, in der Nachbarschaft. Wer schweigt, wenn der Anstand verletzt wird, macht sich mitschuldig.

 

Über Anstand hat der Autor Axel Hacke ein ganzes Buch geschrieben: „Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen“ – das ich zur Lektüre sehr empfehle.

Die Idee für meinen Texteinstieg „Ok, Amerika!“ verdanke ich einem gleichnamigen Podcast von ZEITonline, mit dessen Hilfe ich viel besser verstanden habe, wie der Wahlkampf in den USA verlief und warum er das bekannte Ende nahm.

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier.

 

 

Gutgelaunt Richtung Abgrund

Wagners „Rheingold“ und die Schuldenbremse 

Mit diesem alt gewordenen Patriarchen würde kein Familienunternehmen glücklich werden. Selbstbezogen regiert er sein Reich, seine Familie lungert verwöhnt herum. Schlapp und ohne eigene Meinung lässt er sich von seiner Frau verleiten, für den Clan ein neues Haus bauen zu lassen, obwohl er schon bei Auftragserteilung weiß, dass er den Preis dafür nicht bezahlen kann. So kommt es denn auch, als die noble Hütte fertig ist. Die Baufirma verlangt ihren Lohn, aber die Kasse ist leer.

Der Göttervater Wotan als Zirkusdirektor.
Foto: Matthias Baus, bereitgestellt von der Oper Stuttgart

Sein Generaldirektor soll das Problem lösen. Letztlich fällt auch dem nichts Besseres als ein Raubzug ein. Immerhin, der ist listig geplant. Der Coup gelingt, und die eroberte Beute begleicht die Rechnung der Baukosten. So gelingt es dem Patriarchen tatsächlich, unter lautem Jubelklang mit seiner ganzen fragwürdigen Sippschaft in das neue Prachtgebäude einzuziehen. Das schale Glück ist auf unsolidem Boden errichtet, wie alle wissen und ahnen – aber wen kümmert´s? The Show must go on!

Der „Ring“: Epos, Gesamtkunstwerk, Krimi

Dies ist eine verkürzte (und auch stark vereinfachte) Zusammenfassung der Handlung des „Vorabends“ für das danach folgende dreiteilige (also insgesamt eigentlich vierteilige) Opernwerk „Der Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner. Der erste Abend ist der kürzeste Teil dieses Riesenwerks, heißt „Das Rheingold“ und dauert „nur“ gut zweieinhalb Stunden. Erzählt wird die Vorgeschichte des Dramas, das sich danach entspinnt. Das hier vorgeführte Familienunternehmen ist nichts weniger als die Götterwelt, und im verlogenen Unrecht des Anfangs ist alles angelegt, was am Ende nach mehr als siebzehn Stunden Musik mit der „Götterdämmerung“ im Untergang der Mächtigen enden wird.

Der „Ring“ ist ein großes Gesamtkunstwerk, ein Epos über alles, was die Welt zusammenhält, und deshalb auch ein Krimi um Liebe, Geld und Macht. Dieser große märchenhafte Entwurf tut gut in unserer auf hektische Kurzfristigkeit angelegten Gegenwart. Aber Wagners eigenwilliges Weltengemälde ist eben auch komplex und umstritten, so wie es Wagner selbst gewesen ist zu Lebzeiten und bis heute.

Die Bilder aus der Stuttgarter Inszenierung des „Rheingold“ (Regie: Stephan Kimmig) waren  Inspiration für den saloppen Einstieg in diese Kurzzusammenfassung. Denn im Opernhaus am Eckensee ist nichts mehr übrig vom Heldenepos, der in Richard Wagners Fantasie zumindest noch partiell eine Rolle gespielt haben mag. Hier nimmt der Untergang der Götterfamilie höchst ironisch und sehr unterhaltsam in Form eines maroden Zirkusbetriebs Fahrt auf, schnurstracks dem moralischen Abgrund entgegen.

„Wir sind angefeuert vom Drang, etwas zu besitzen“

Dieser Einstieg in den vierteilig dahintreibenden Untergang der Götterwelt ist eine wunderbar sinnliche Geschichte, eine Parabel für die Anzeichen und katastrophalen Folgen von Moralverfall und Machtmissbrauch. „Wir üben Gewalt gegeneinander und übereinander aus“, sagt Regisseur Stephan Kimmig in einem Interview im Programmheft, „angefeuert vom Drang, etwas zu besitzen, was uns das Gefühl verleiht, wertvoller, mächtiger, größer und bedeutender zu sein als die Anderen.“

Sorgloses Treiben der Götter auf der Stuttgarter Opernbühne
Foto: Matthias Baus, bereitgestellt von Oper Stuttgart

Das Geschehen auf der Bühne lädt also ein zum Grübeln darüber, ob am Ende immer das Geld über die Moral siegt. „Wir verraten permanent die Liebe, das Mitgefühl mit anderen“, wie Kimmig im gleichen Interview ausführt. Seine Inszenierung gestaltet einen zeitaktuellen Abend, der jeder Fantasie über Parallelen des Gesehenen zum aktuell Erlebten freien Lauf lässt.

Eine davon könnte zum Beispiel ein Nachdenken über das hartnäckige Festhalten des aktuellen deutschen Finanzministers an der grundgesetzlich verankerten „Schuldenbremse“ sein. Im Hinblick auf die aktuellen Nöte und Erfordernisse mag sie lästig sein, aber wohin es führt, wenn es kein Halten mehr gibt, keine Moral, keinen Anstand bei der allseitigen Wunscherfüllung – das ist eben im „Rheingold“ zu besichtigen.

Kurzfristige Problemlösung mit einem Raubzug

„Prioritäten setzen“, wäre angesagt gewesen im maroden Götterstaat, ganz so wie Christian Lindner es heute für Deutschland fordert. Es ist tröstlich und demaskierend zugleich, dass die Götter in der Nibelungenwelt von Richard Wagner dazu genauso wenig Spielraum haben, wie die Politik von heute. Die Wahrheit ist nämlich: Wenn der Staat wirklich „Prioritäten“ setzen würde, wäre der Grad der verhassten Veränderungen in der Gesellschaft noch viel größer, als wenn er schuldenfinanziert möglichst viele Wünsche erfüllt, damit vieles so bleibt wie es ist.

Ein Abbau des Sozialstaates, der für viele das blanke Überleben sichert, kann kaum so viel Geld erbringen, wie nötig ist, um den weiteren Verfall unserer Infrastruktur aufzuhalten. Noch dazu leisten wir uns gegen jede Vernunft so manche moderne Götterburg: Klimaschädliche Subventionen für Diesel- und Flugbenzin, noch immer neue Autobahnen statt funktionierender  Schienenwege, Luxuslofts statt Sozialwohnungen. Rheingold-Wotan handelt also genauso rational, wie es die Politik in Deutschland früher oder später tun wird: Gegen alle Moral sich doch mehr Schuld(en) aufzuerlegen, um möglichst vieles zu ermöglichen, was unseren Wohlstand sichert. Wotan löst sein Problem übrigens kurzfristig mit purer Kriminalität – durch einen Raubzug. Wie wäre es für Christian Lindner, endlich für eine konsequente Verfolgung von Steuerbetrug zu sorgen?

Im „Rheingold“ ziehen die selbstverliebten Götter am Ende gutgelaunt und gewissenlos ein in ihr neues Haus, angelockt von seiner Pracht und Schönheit, aber noch blind für die Schuld, die sie um des schönen Baus willen auf sich geladen haben. Auf den Staat und sein Schulden-Dilemma zu schimpfen, ist einfach. Auf sich selbst zu blicken, dagegen schwer: Wer könnte sich gewiss sein, nicht bereits selbst solcher eitler Verblendung unterlegen gewesen zu sein?

Ein Besuch des „Rheingold“ ist eine überaus unterhaltsame Gelegenheit, sich dessen bewusst zu werden.

 

 

Dieser Text ist eine aktualisierte Neufassung eines Essays aus dem November 2021 nach der Premiere der Neuinszenierung in Stuttgart. Er erhebt nicht den Anspruch einer Aufführungskritik. Mein Fokus liegt ausschließlich auf dem (kultur-)politischen Aktualitätsbezug von Werk und Inszenierung. Daher gibt es in diesem Text auch nur Bemerkungen zur Konzeption der Inszenierung, nicht zu den Leistungen von Sänger/innen und Orchester.

 

Das „Rheingold“ ist an der Stuttgarter Oper ist in der laufenden Saison 23/24 noch viermal zu sehen: am 7. und 25. Mai, 10. und 13. Juni. Auf der Website der Oper Stuttgart sind auch zahlreiche weiterführende Informationen aufbereitet (einschließlich einer kompletten Handlungsbeschreibung): https://www.staatsoper-stuttgart.de/spielplan/kalender/das-rheingold/4277/

 

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.  

Dort finden Sie auch Texte zu den anderen Teilen des „Ring“:

Die Walküre

Siegfried

Götterdämmerung

sowie eine an die Ring-Idee angelehnte moderne Parabel: „Der Ring des Diktators“