Claus, Alfred und der verhüllte Käfer

Über den „Wrapped VW Beetle“ von Christo und Jeanne-Claude in der Neuen Nationalgalerie Berlin

Nennen wir den Unglücksraben Claus. Das neue Auto war sein ganzer Stolz. Der Krieg war gerade erst seit achtzehn Jahren vorbei. Claus schlich um seinen nagelneuen VW-Käfer herum, bestaunte ihn von allen Seiten. Was für ein Prachtstück! Ein Sehnsuchtsziel von Millionen Nachkriegsdeutschen, und dieser hier gehörte ihm. Der fünfmillionste Käfer war eben ausgeliefert worden, fast jeder wollte einen VW-Käfer haben. Noch dazu war er ein internationaler Verkaufsschlager, made in Germany, dieser verfemten Nation der Mörder und Kriegstreiber. Volkswagen musste massenhaft Menschen aus Südeuropa anwerben, die als „Gastarbeiter“ mithelfen sollten, der Nachfrage nach dem rollenden Käfer gerecht zu werden.

„Wrapped VW Beetle“ von Christo und Jeanne-Claude in der neuen Nationalgalerie Berlin.

Claus hatte also ein solches Auto ergattert. Mintgrün, mit breiter Heckscheibe, Baujahr 1961. Und nun sollte er es gleich wieder verleihen? Es kostete ihn viel Überwindung, dem Wunsch seines Freundes, nennen wir ihn Alfred, nachzukommen. Aber man tut doch einem Freund gerne einen Gefallen! Alfred musste schließlich auch hart kämpfen in diesen Nachkriegsjahren als Galerist für moderne Kunst. Jetzt hatte er gerade ein besonders verrücktes Projekt am Haken: Er wollte einem jungen Künstlerpaar aus Frankreich zum Durchbruch in Deutschland verhelfen. Kein Mensch kannte diese Leute mit den merkwürdigen Namen. Ihre Idee: Sie verhüllten Dinge und nannten sie in verpacktem Zustand Kunstwerke.

Das soll Kunst sein?

Außerhalb der engen Kunstszene stieß das auf wenig Verständnis. Das soll Kunst sein? Kopfschüttelnd nahm das Wirtschaftswunder-Volk davon Kenntnis. Aber der Galerist Alfred war überzeugt, dass diese jungen Leute einen neuen, einen wegweisenden künstlerischen Blick auf die Realität schaffen würden mit ihrer Verpackerei, mit ihren verschnürten Folien und Tüchern.

Ein besonderer Hingucker für die Galerie in Düsseldorf wäre es doch, dachte sich Alfred, wenn diese jungen Franzosen ganz speziell für seine Galerie ein einzigartiges Verpackungskunstwerk schaffen könnten. Und nichts war 1963 deutscher und zeittypischer als ein VW-Käfer! Also bat Alfred seinen Freund Claus um einen Gefallen: Er solle ihm doch bitte seinen nagelneuen mintgrünen Käfer leihen, nur für ein paar Tage, damit die jungen Leuten ihn verhüllen können. Claus Harden ließ sich überzeugen. „Danach will ich ihn zurück, und zwar sofort und ohne einen Kratzer!“ wird er dem Galeristen eingeschärft haben.

Dieses Foto entstand am 19. Februar 1963. In einem Hinterhof in Düsseldorf verhüllt der Künstler Christo einen VW Käfer, der seinem Galeristen zu diesem Zweck geliehen wurde. Copyright: bpk / Charles Wilp, © 1963 Christo und
Jeanne-Claude Stiftung; Foto zur Berichterstattung bereitgestellt durch Neue Nationalgalerie Berlin

„Wrapped Volkswagen Beetle“ war ein Hingucker für die Galerie von  Alfred Schmela in Düsseldorf. Das Kunstwerk existierte nur wenige Tage. Wie versprochen wurde danach das Auto enthüllt und Claus Harden bekam es zurück – und er rollte und rollte und rollte (wie die VW-Werbung versprochen hatte) damit noch jahrelang durch die Gegend.

Die Sicht auf Dinge veränderten die Künstler grundlegend

Und doch war dies eine wirtschaftlich folgenschwere Fehlentscheidung, und Claus Harden hat sie nach eigenen Worten sehr bereut. Wer hätte denken können, dass diese beiden Künstler mit ihrer Verhüllerei irgendwann einmal zu den populärsten Kunstschaffenden der Welt gehören würden? Jeanne-Claude und Christo revolutionierten den Kunstbegriff und veränderten grundlegend die Sichtweise vieler Menschen auf Dinge. Sie verhüllten einen ganzen Küstenabschnitt in Australien, montierten einen Vorhang in die Rocky Mountains, verpackten die Pont Neuf in Paris und das Berliner Reichstagsgebäude – vor genau dreißig Jahren. Noch nach dem Tod der beiden Künstler wurde die Verhüllung des Arc de Triumphe in Paris im Jahr 2021 realisiert. Millionen Menschen pilgerten zu diesen Großkunstwerken, allein der Verkauf von Planungsskizzen dafür erzielt heute auf dem Kunstmarkt Höchstwerte.

Ein von Christo und Jeanne Claude verpackter Volkswagen ist heute Millionen Wert. Ist, und nicht wäre, denn der verhüllte VW-Käfer existiert und kann besichtiget werden. Er ist derzeit Teil einer Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Im Jahr 2014 entstand bei einem Besuch von Christo und Jeanne-Claude in Düsseldorf die Idee, das Kunstwerk von damals zu rekonstruieren. Ein anderer mintgrüner Original-Käfer aus dem Jahr 1961 war schnell gefunden – und die inzwischen weltberühmt gewordenen Verhüllungskünstler schritten erneut zur Tat.

Wer auspackt, kann daneben liegen

So steht man nun also vor dem zweiten verpackten Käfer in der Ausstellung „Zerreißprobe“, die Kunst im Spanungsfeld der deutschen Geschichte seit 1945 thematisiert. Mehr als 21 Millionen Käfer wurden weltweit produziert. Das Auto steht für deutsche Ingenieurskunst, für den deutschen Wohlstandstraum von Mobilität, der bis heute nachwirkt. Es steht für breite Autobahnen und verstopfte Innenstädte, für CO2-Überschuss, Stau-Erlebnisse und Geschwindigkeitsrausch. Der verpackte Käfer steht für ein deutsche Wirtschaftswunder aus einer Zeit, in der wir uns ein solches noch zutrauten.

Da er verhüllt ist, kann jede und jeder Kunstfreund sich aussuchen, was er darin sehen möchte. Also steht er auch für unsere allgegenwärtige Möglichkeit des Irrtums. Wer auspackt, kann daneben liegen. So, wie es Claus ergangen ist.

 

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier. Über den verhüllten Arc de Triomphe in Paris gibt es einen eigenen Text. 

Mehr Informationen über die Ausstellung „Zerreißprobe“ in der Neuen Nationalgalerie in Berlin finden Sie hier. 

 

 

 

Wokes Kunstvergnügen in Söders Reichweite

Nicole Eisenman im Münchner Museum Brandhorst – ein Ausstellungsbesuch

Frühlingsgrün schimmert es im Geäst der Bäume. Saftiges Gras deckt die Wiese. Tauben flattern, ein Hund tollt herum. Fast schon Schwabing ist das hier, umzingelt von Universitäten, Studentenviertel. Die Sonne glänzt vom weiß-blauen Himmel. Ein großes Lächeln tönt durch diese Stadt, ein vielsprachiges Palavern der Jugend dieser Welt, die hier studiert und lebt und genießt. Man teilt sich eine Pizza, trinkt aus mitgebrachten Plastikflaschen.

Ermattet im Klimawandel: Die New Yorker Künstlerin Nicole Eisenman hält der Wohlstandsgesellschaft den Spiegel vor – unterhaltsam, anregend, witzig. (Bildausschnitt aus: Tail End)

Dies ist kein Bild, sondern bayerische Realität. Die Bilder sind daneben untergebracht, in einem quaderförmigen Gebäude. Die Fassade schillert bunt, zusammengestückelt ist sie aus Tausenden kleinen bunten Klötzchen. Zu nüchtern für einen Prachtbau, aber angemessen schön für moderne Kunst.

Im trunkenen Rausch wacher Erwartung

Aufbruch der fröhlichen Gruppe, die gerade noch auf der Wiese saß in lockerer Runde. Niemand ist betrunken, und doch ist es ein trunkener Rausch von wacher Erwartung, der diese jungen Menschen hereinspült in das Museum Brandhorst im Münchner Museumsviertel, gleich neben der Pinakothek der Moderne. Die Siebträgermaschine des Museumscafés dampft und zischt, die Studierenden biegen erst einmal dorthin ab, bilden eine gesittete, geduldig und angeregt schnatternde Warteschlange. Englisch, französisch, deutsch – alles durcheinander. Nur keine Eile, der Barista braucht seine Zeit für einen perfekten Cappuccino. Noch ein Croissant dazu, ein italienisches Gebäck? Im Café werden erwartungsfroh die Tische zusammengeschoben.

Wach sind sie, vermutlich auch „woke“

„Wach“ sind diese jungen Menschen, und vermutlich auch „woke“. Denn der heute zum Schimpfwort mutierte Begriff war bei seinem Eintritt in den modernen Sprachgebrauch einfach nur eine Beschreibung. „Stay woke!“ mahnten sich gegenseitig engagierte Menschen nach den Polizeiübergriffen gegen Schwarze in den USA (z.B. gegen Michael Brown 2014 in Missouri). Sie wandten sich mit wachem Geist den gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten in den USA zu. Schnell verbreitete sich das kurze Wort aus vier Buchstaben über die ganze westliche Welt, und als „woke“ wurden bald alle bezeichnet, die sich gegen rassistische, homophobe, sexistische Traditionen und Verwurzelungen wehrten.

Aber Sprache ist nicht neutral, Sprache ist ein Gefechtsfeld. In den nur knapp zehn Jahren seither war eine erfolgreiche Fremdermächtigung dieses Wortes durch rechtsgerichtete und konservative Kreise zu beobachten. „Wokeness“ wurde in ein Schimpfwort umgedeutet, gerade so, als wäre etwas falsch daran, dunkelhäutige Menschen nicht mehr kolonialistisch beleidigen zu wollen. Oder sexistischen Darstellungen in der Öffentlichkeit entgegenzutreten und für die Toleranz gegenüber queeren Lebenskonzepten zu werben, auch wenn sie einem selbst vielleicht fremd sein mögen.

„Bayern ist anders als Berlin.“ Hoffentlich nicht.

„Bayern ist anders als Berlin“, rüpelte jüngst Markus Söder, der bayerische Ministerpräsident, gegen die Bundeshauptstadt und die dort regierende Ampel-Koalition. „Wir lehnen Wokeness, Cancel Culture und Genderpflicht ab. Bei uns darf man sagen und singen, was einem einfällt.“ Hoffentlich nicht, möchte man ihm da zurufen, denn auch in Bayern darf erfreulicherweise nicht beleidigt und Gewalt verherrlicht werden.

So ganz hoch und abweisend kann die bayerische Mauer gegen die böse Wokeness nicht sein.  Noch bis 10. September zeigt das vom Freistaat Bayern getragene „Museum Brandhorst“, wenige hundert Meter Luftlinie vom Amtssitz des Ministerpräsidenten entfernt, eine spektakulär erfolgreiche Ausstellung der feministisch und bekennend homosexuell positionierten amerikanischen Künstlerin Nicole Eisenman. Was dort im wunderbar luftig hell ausgeleuchteten Keller des Museums auf die oben geschilderten Cappuccino-Trinker wartet, ist beste „woke“ Wohlstandskunst.

Eisenman bietet, was moderne Kunst zugänglich macht

Das Digitale wird Teil der menschlichen Identität: „Selfie“ von Nicole Eisenman.

Die Ausstellung zeigt eine Retrospektive von mehr als 100 Werken der 58-jährigen New Yorkerin unter dem Titel „What Happened“. Es sind Szenen aus dem gesellschaftlichen Leben in den USA – von der Künstlerin eingefangen „auf ebenso humorvolle wie mitfühlende Weise“ (Ausstellungstext). Die Bilder und Installationen bieten alles, was moderne Kunst zugänglich macht. Sie sind oft witzig und laden doch zum Nachdenken ein. Sie stellen die Fragen unserer Zeit, fangen die Ödnis einer oftmals sich selbst überdrüssig gewordenen Welt im Wohlstand ein, stets mahnend, aber nicht klagend. Eisenmans Figuren sehen den Betrachtenden an und fragen ihn, ob er so leben möchten, wie es da zu sehen ist – mehr im Nebeneinander als im Miteinander; mit sich selbst beschäftigt, statt wach für die Welt; verharrend in trostloser Monotonie des kommerziellen Erwartungsdruckes.

Beziehungslose Menschen mit ausdruckslosen Gesichtern hocken in einem Biergarten und wissen mit sich und den vielen anderen, die um sie herum die Zeit totschlagen, nichts anzufangen. In ihrer Verblendung dösen Tea-Party-Republikaner dahin, festgefahren in ihrer Blase aus gegenseitiger Trostlosigkeit, die eine das Gewehr im Blick, während der andere an einem Sprengsatz herumfummelt. Menschen sind gefangen in einer digitalen Welt, die ihnen Kontaktfülle suggeriert, sie aber doch mutterseelenalleine auf das Sofa fesselt. Für ein Selfie teilen wir unsere ganze Identität mit dem Bildschirm.

Gesellschaftliche Missstände im Wohlstand

Im Gemälde „Tea Party“ warten konservative Aktivisten auf ihren Einsatz.

Eisenman zeigt gesellschaftliche Missstände im Wohlstand, auch deren politische Folgen. Daran gibt es nichts zu kritisieren. Im Gegenteil: Dieser Text möchte eine engagierte Aufforderung sein, die inspirierende Kunst von Nicole Eisenman kennenzulernen. Und doch: Möglicherweise kann man am Blick der Künstlerin  auf ihre Welt besser verstehen, warum der Begriff „Wokeness“ eine solche abwertende Umdeutung erfahren hat, zum Kampfbegriff wurde gegen alles, was unbequeme Veränderung befürchten lässt.

Kommt man aus der passenden Ecke der Gesellschaft, so wird man sich bei Eisenman moralisch überlegen wohlfühlen. Die Künstlerin stellt das Patriarchat in Frage und geißelt Rassismus, sie sieht die Folgen des Klimawandels vorher und verspottet uns als Sklaven der digitalen Transformation. Und doch sind dabei die Betrachtenden stets wohlig unterhalten, dürfen grübeln und schmunzeln, müssen keine Schmerzen fürchten.

Die „woke“ Weltsicht ist nicht frei von Selbstgerechtigkeit

Eine so komfortabel ausgestaltete, „woke“ Weltsicht, die nicht frei ist von Selbstgerechtigkeit, musste zwischen die Mühlsteine des politischen Diskurses geraten. Für die einen ist sie selbstgerechte Nestbeschmutzung des mühsam der Geschichte und der Natur abgerungenen Wohlstandes, den der konservative Teil der reichen Gesellschaften lieber verteidigt sähe als verspottet. Auf diese Gefühle adressieren Markus Söder und andere, wenn sie pauschal „Wokeness“ zum Feindbild erklären.

Und den anderen, den Aktivisten für mehr Gerechtigkeit auf dieser Welt, geht das alles nicht weit genug. Für sie finden die wirklichen Miseren des menschlichen Daseins nicht in der Beziehungslosigkeit eines Biergartenbesuchs statt oder auf der Couch eines Psychotherapeuten, sondern in den Hungerlagern der sonnenversengten Sahelzone, in den Folterkellern im Iran oder in den Fluten des Mittelmeeres, wo Menschen auf der Suche nach Hoffnung gegen ihr Ertrinken ankämpfen.

Da strömt schon die Gruppe die breite Museumstreppe hinab! Gerade hatten sie sich noch mit Cappuccinos gestärkt, nun streben sie der Kunst entgegen – erwartungsvoll, bunt gemischt, multikulturell, in lustig bedruckten T-Shirts und schwingenden Sommerröcken. Sie werden über Eisenmans Kunst lachen und grübeln, sie werden nachdenklich sein, und dann werden sie hinausstreben in ihre reiche, bunte Welt und sagen und singen, was ihnen so einfällt.

 

Weitere Informationen zur Ausstellung „What Happened“ im Museum Brandhorst (noch bis 10. September 2023) in München: https://www.museum-brandhorst.de/ausstellungen/nicole-eisenman/

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