Vom Blick der Ergebenheit auf große Aufgaben

Nachdenken über Jeff Walls Fotokunstwerk „Restoration“ – und den neuen Bahnhof von Stuttgart

Eine junge Frau blickt in die Weite. Sie hat dunkle Haare, ein scharf geschnittenes Gesicht, trägt eine Brille aus dünnem, dunklen Metall. Sie steht auf einem Baugerüst, stützt sich auf das provisorische Geländer. Hinter ihr ist eine weitere Frau von hinten zu erkennen, die sich mit feinem Pinsel an der Wand zu schaffen macht. Auf den zweiten Blick versteht der Betrachtende: Das sind keine Handwerkerinnen. Kleine Papierzettelchen markieren weitere Stellen, die der sachkundigen Aufmerksamkeit der beiden Frauen bedürfen. Sie renovieren ein Gemälde, das viel größer ist als sie selbst. Es ist etwas wahrhaft Großes, an dem sie arbeiten.

Ein meditativer Blick der Ergebenheit in die Größe der Aufgabe: Bildausschnitt aus „Restoration“ von Jeff Wall

Diese Zeilen beschreiben einen Ausschnitt aus einem sehr großen Foto. Das hinterleuchtete Bild misst fast fünf Meter in der Breite und 120 Zentimeter in der Höhe, und ist im Besitz des New Yorker Museum oder Modern Art (MoMA). Komponiert hat es der kanadische Fotokünstler Jeff Wall im Jahr 1993. Noch bis 21. April ist es im Rahmen einer Ausstellung in der Fondation Beyeler in Basel zu sehen.

Zu sehen ist eine Baustelle

Die beiden Frauen auf dem Foto stehen im Vordergrund, aber eigentlich ist eine Baustelle zu sehen. Gerüste wurden gebaut, eine Plattform als Arbeitsbühne in die Mitte aus grobem Holz zusammengezimmert. Das „Bourbaki-Panorama“ in Luzern wurde renoviert, als es entstand. Von dem Riesengemälde in seinem Hintergrund sind heute etwa 1000 Quadratmeter erhalten. Sie zeigen die Entwaffnung eines Teils der französischen Armee zum Ende des deutsch-französischen Krieges 1870/71. Gemalt hat es der Künstler Edouard Castres im Jahr 1881; die Renovierung des Kunstwerkes hat sieben Jahre gedauert.

Die Größe einer Aufgabe: Jeff Wall, „Restoration“ in der Fondation Beyeler

Walls Foto heißt „Restoration“ und erzählt nichts über den Krieg, über die Verzweiflung der unterlegenen Soldaten, die Not der Menschen und die Hilfsbereitschaft, die ihnen begegnete. Das alles ist Thema des Panoramabildes. Das große Foto fängt nur einen einzigen Moment ein – den der Meditation, des demütigen Innehaltens der jungen Frau, ihres Nachdenkens über die Größe der Aufgabe, die ihr und ihrer Kollegin gestellt ist. Wann werden sie jemals damit fertig sein?

„Wann wird er endlich fertig sein?“

Vierzehn Jahre wurden von Baubeginn an benötigt, um den neuen Flughafen in Berlin fertigzustellen. Sechzehn Jahre lagen zwischen ersten Planungen und der Eröffnung der Hamburger Elbphilharmonie. „Wann wird er denn nun endlich fertig?“ fragen die Menschen, wenn sie am alten Stuttgarter Kopfbahnhof ankommen und nun schon seit Jahren absurd lange und beschwerliche Umgehungswege hinter sich bringen müssen, um vom maroden Bahnsteig in der taubenverdreckten, zugigen Resthalle, in die Innenstadt oder auch nur zur Anschluss-S-Bahn zu gelangen. Wann wird er endlich fertig, der neue Bahnhof?

Eine Gelegenheit, sich davon ein Bild zu machen – es gewissermaßen der Restauratorin bei Jeff Wall gleichzutun und in die Weite zu blicken – , hat die unter der Riesenbaustelle leidende Bevölkerung alle Jahre an Ostern. Bei „Tagen der offenen Baustelle“ drängen sich die Massen der Neugierigen unter spinnennetzartigem Gerüstgewirr hindurch, stolpern über Metalltreppen und provisorisch ausgebreitete Schalungsbretter durch die Wunde im Herzen Stuttgarts, still staunend und emsig fotografierend. Mehr als 100.000 Besucher waren es dieses Jahr an den drei Tagen, an denen sie eingeladen waren, das auch nach jetzt dreißig Jahren Planung und zwölf Jahren Bauzeit noch immer unvollendete Werk zu besichtigen.

Die Fülle der Aufgaben gleicht einer Hydra

Es ist die Größe einer Aufgabe, die verstummen lässt. Einen solchen Bahnhof zu errichten – in diesem Fall: ihn hineinzugraben in den Untergrund des Zentrums einer Großstadt – gleicht einem geradezu babylonischen Plan. Die elegant geschwungenen Kelchstützen, die komplexen Lichtaugen, die ganze unfassbare Vielfalt und Vielzahl der Aufgaben, die hier geplant und abgearbeitet werden müssen, mit Abermillionen Details, Kabelanschlüssen, Dichtungen, Bewehrungen – sie alle gemeinsam gleichen einer Hydra: jedes gelöste Problem trägt die Gefahr in sich, dass sich zwei neue Herausforderungen auftun. Schließlich ist das, was zu sehen ist, erst der Rohbau, was wird noch alles folgen müssen: Gleise und Bodenbeläge, Lampen und Schilder, Papierkörbe und Signale, Treppen und Aufzüge, Kioske und Toiletten, Bänke und Automaten. Wann wird all das endlich fertig sein?

Die Größe einer Aufgabe macht demütig

Der Blick der jungen Frau vor ihrer Renovierungsarbeit ist kein Blick von Resignation, kein Protest, keine Gleichgültigkeit. Es ist ein Blick der Ergebenheit. Die Größe einer Aufgabe macht demütig. Hier ist keine Ungeduld zu sehen, auch keine Erschöpfung. Die Restaurierung wird brauchen, viele Stunden, Wochen, Monate, Jahre. Aber am Ende wird sie gelingen.

Die Größe einer Aufgabe: Noch keine Bahn rollt durch den neuen Bahnhof in Stuttgart, und bis die Kathedrale der Züge fertiggestellt sein wird, werden noch Abermillionen Details zu leisten sein.

Noch kein Zug rollt durch die kühle, hohe Halle des neuen Stuttgarter Bahnhofs. So ist ausreichend Platz, dass sich sogar die Massen der Neugierigen verlaufen. Sie blicken in die Weite dieses fast 450 Meter langen Raumes, hinauf in die Höhe, die man dem Untergrund abgerungen hat, sehen hinweg über herumstehende Baustellenfahrzeuge, Dixi-Klos und gestapelte Materialien. Es wird viel länger dauern, als vor vielen Jahren berechnet wurde. Es wird mühsamer sein und teurer sowieso. Die Größe der Aufgabe fordert ihren Tribut.

Der weite Blick in die künftige Kathedrale der Züge

600 Jahre haben Menschen am Kölner Dom gebaut. Es hat sich gelohnt, denn wer heute unter seinen gotischen Bögen steht, versteht Geschichte. Ungezählte Menschen haben an ihm gewirkt, ihn in die Höhe getrieben und bekämpfen bis heute seinen Verfall. Es ist wie in der künftigen Kathedrale der Züge von Stuttgart: Am Ende sind es nicht die Besserwisser und Kritiker, die ein großes Werk schaffen, nicht die Zweifler und ungeduldigen Nörgler. Es sind die Menschen mit einem Blick für das Weite. Die, die einen kühner Plan fassen und genauso die, die ungezählte Details verwirklichen, hier ein Kabel, dort eine Schraube. Irgendwann wird das Ganze größer sein als wir selbst, und etwas erzählen von uns, wenn wir es selbst nicht mehr erzählen können.

 

Die Fotokunstwerke von Jeff Wall sind eine Reise nach Basel wert. Die Ausstellung seiner großformatigen Werke in der Fondation Beyeler ist noch bis 21. April zu sehen.

Fotos und Animationen über den Stand der Baustelle für den neuen Stuttgarter Bahnhof gibt es massenhaft im Netz, z.B. hier.

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Bitte alles aussteigen! – Eine Reise zum Hass

Stuttgart Hauptbahnhof – bitte alles aussteigen! Willkommen in der ersten Station unserer Reise zum Hass. Gebaut wird viel rund um den nun schon ziemlich heruntergekommenen Kopfbahnhof. Dreißig Jahren wurde diskutiert und gestritten, endlose Debatten und ein quälendes Hin und Her hat es gegeben. Die Politik von damals setzte schließlich den Baubeschluss für eine unterirdische Durchgangsstation durch. Sie säte Gewalt und erntete: Hass.

Jahrhunderte alte Baumriesen mussten für die Baugrube weichen, und so gab es an der Baustelle des Bahnhofs schaurige Bilder. Fast schien es so, als würden aus dem zusammengesunkenen Grün der tödlich verletzten Bäume immer mehr und immer neues hässliches Gewächs sprießen: Immer mehr staatliche Gewalt, immer wieder Prügelszenen, noch mehr schwer verletzte Demonstrierende.

Wohin soll´s gehen? Bild vom Hass gesucht

Auf zur nächsten Station! Stöbern wir, kaum hundert Meter vom Ort des hass-auslösenden Baugeschehens entfernt, durch die (auch digital verfügbaren) Bestände der stolzen Stuttgarter Staatsgalerie. Voll ist dieses Haus von Bildern, von Gemälden, die Emotionen zeigen, von Liebe und Mord erzählen. Nach dem Hass müssen wir lange suchen in den stillen Hallen des Museums.

„Hass oder Eifersucht“ von Jean Audran von 1727 nach Charles LeBrun, aus den digitalen Beständen der Staatsgalerie Stuttgart

Schließlich dreht uns doch ein junger Mann den Kopf entgegen, heftig nach rechts gewendet, seine tiefliegenden Augen blicken aus den Höhlen zornig hervor, sein starrer Blick fixiert voller Wachsamkeit und Ablehnung irgendetwas jenseits des Betrachters. „Hass oder Eifersucht“ nennt sich das Bild. Der französische Maler Charles LeBrun hatte sich vor mehr als 300 Jahren daran gemacht, in einem dicken Buch alle menschlichen Emotionen aufzuschreiben, zu definieren und mustergültige Zeichnungen über ihre Ausdrucksformen anzufertigen – eine Gebrauchsanleitung für das Malen von Emotionen.

Für unser heutiges Empfinden ist der hassende Jüngling aus der Staatsgalerie allerdings zu schön geraten. Denn Hass ist hässlich. Er sei eine „leidenschaftliche Abneigung“, schreibt Wikipedia, und diese beschränke sich nicht darauf, den Gehassten nur nicht zu mögen, sondern will ihm auch aktiv schaden. Ganz offensichtlich werden wir ohne Hass geboren. Ein Kind hasst nicht, vielleicht wird es zornig oder wütend. Auch eines Kindes Trotz, seine nervige Bockigkeit und hartnäckige Widerspenstigkeit – all dies erleben wir nicht als Hass. Irgendetwas muss also passieren zwischen dieser Zeit der Unschuld und dem Hass auf Andersdenkende, Andersgläubige, Anders-Lebende, auf „die da oben“.

Nächster Halt: Belohnung! Wer hasst, fühlt sich gut!

Wieder sind es nur wenige Schritte zur nächsten Reisestation. Von der edlen Bilderwelt der Staatsgalerie wechseln wir in das Untergeschoss des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg. Dort beschäftigt sich (noch bis 24. 7. 2022) eine Ausstellung mit dem Hass. Wer hinabsteigt in den fensterlosen Keller des Museums findet fein säuberlich alle gesellschaftlichen Facetten dieser Emotion abgebildet: den Hass, der Kriege auslöst; den Hass, der Frauen tötet; den Hass, der Genozide antreibt, der den Mob entfesselt. Was allenfalls angedeutet wird in dieser Ausstellung ist die psychologische Herleitung – warum hassen wir?

Hass in allen gesellschaftlichen Facetten – im Keller des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg. Foto: Daniel Stauch, bereitgestellt vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg

„Ganze Völker erklären sich selbst für wertvoller, andere für minderwertig“, stellt Christian Stöcker in einem klugen Essay im „Spiegel“ fest: Das Herabschauen auf andere belohnt uns, und es macht uns süchtig auf immer mehr Belohnung, es tröstet uns über eigene Defizite hinweg. „Am Ende,“ meint Christian Stöcker, „so paradox das klingt, hassen Menschen andere Menschen – Juden, Schwarze, Ausländer, wen auch immer – um sich selbst besser zu fühlen. Verachtung als Methode der Selbstwertsteigerung.“

Ein Anschluss zum Verpassen: Der digitale Schnellzug zum Hass

Millionenfach geklickte und mit einem Herzchen geadelte Schadenfreude-Videos, „Daumen hoch“ für verbale Unflätigkeiten oder ekelhafte Hasspostings führen uns täglich vor Augen, wie sehr das stimmt. Die digitale Welt kann ein Schnellzug zum Hass sein. In den dunklen Ecken der Netzwerke türmt sich der Hass zu stinkenden Abfallbergen der Kommunikation, toxisch, im schlimmsten Fall tödlich. Und in den Dachkammern anonymer Einsamkeit fühlen sich manche großartig dabei, herabsetzende Hasstiraden per Tastendruck und Mausklick in die ganze Welt hinauszuposaunen.

Fahrscheinkontrolle!

Wenigstens gibt es Gegenbewegungen. Die Politik hat die Netzwerkbetreiber verpflichtet, Hass-Botschaften schnell zu entfernen und will bei der Polizei die Kapazitäten dafür schaffen, damit Verfasser strafbarer Inhalte auch tatsächlich bestraft werden. Gerade hat die Bundestagsabgeordnete Renate Künast dazu ein wichtiges Grundsatzurteil des Verfassungsgerichts erwirkt – auch als Person des öffentlichen Lebens muss sie nicht jede Form von Beleidigung hinnehmen.

Auch jeder Nutzer des Netzes kann selbst aktiv werden gegen Hass: Einmal länger überlegen, was man da schreibt. Sich nicht auf einlassen auf die Rattenlogik: Je schärfer dahingerotzt, desto mehr Belohnungs-Herzchen oder Daumen-rauf-Bildchen, desto besser fühlt man sich. Hasspostings konsequent melden, damit sie gelöscht und verfolgt werden können; unangemessener Sprache aktiv entgegentreten. Wir sind nicht machtlos gegen den Hass.

Bitte nachlösen: Hass ist überwindbar

Die Reise führt uns zurück zum alten, noch in Betrieb befindlichen Stuttgarter Bahnhof. Wir stolpern nun, mehr als zehn Jahre nach der Eskalation des Hasses, durch ein Gewirr von Baugruben, mäandern herum auf provisorischen Wegen und Übergängen, zwängen uns hindurch zwischen klapprige Bauzäune und vorbei am röhrenden Gewühl der Bagger und Betonpumpen. Denn der neue Bahnhof wächst, viele seiner künftigen Lichtaugen schielen bereits, noch blind ohne ihre Glasabdeckung, aber gut erkennbar, in den Stuttgarter Winterhimmel.

Hass kann überwunden werden – eine Szene von der Baustelle am Stuttgarter Hauptbahnhof, Januar 2022

Nach der Eskalation gab es eine öffentliche Schlichtung, dann eine Volksabstimmung, schließlich eine behutsame Rückkehr zur sachlichen Debatte. Noch immer wird gestritten und geklagt. Mit manchem haben die Kritiker Recht behalten; so wird der Untergrundbahnhof ein Vielfaches dessen kosten, was einmal geplant war. Verschwunden sind aber die hasserfüllten Parolen, abgekratzt die Aufkleber der Ablehnung. Es gibt schließlich auch wichtigeres als ein paar Gleise unter schwäbischer Wohlstandsbebauung.

Einsteigen bitte!

Zum Abschluss unserer Gefühlsreise wartet ein französischer Schnellzug abfahrbereit am Bahnsteig. Hinaus in die Welt geht es, Richtung Westen, ein knappes Stündchen nur. Unsere Urgroßväter hielten noch vor 100 Jahren in waffenstarrem Hass-Überschwang die „Wacht am Rhein“. Heute gleitet der Zug zwischen Kehl und Straßburg ohne Halt hinweg über den breiten Strom, hinein in das schöne Nachbarland, ohne Passkontrolle, ohne Geldumtausch. Was für eine wunderbare Belohnung!

 

 

 

Das zitierte Essay von Christian Stöcker finden Sie in voller Länge hier: https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/psychologie-woher-der-hass-kommt-kolumne-a-1122055.html

Mehr Information zum zum Kupferstich „Hass und Eifersucht“ von Jean Audran nach Charles LeBrun in der digitalen Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart: https://www.staatsgalerie.de/g/sammlung/sammlung-digital/einzelansicht/sgs/werk/einzelansicht/56BC32F933A3407E833F6A11BBD3FBE7.html

Es gibt zahlreiche Initiativen, die sich gegen Hass im Netz engagieren, zusammengestellt hier: https://www.das-nettz.de/initiativen-gegen-hass-im-netz-wer-engagiert-sich-wie

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