Eine Erzählung – anlässlich der Uraufführung von „Dora“ an der Oper Stuttgart
Prolog
Die Vorstadt liegt wenige Kilometer außerhalb der Metropole. Man erreicht sie mehr schlecht als recht mit den Fahrzeugen des öffentlichen Nahverkehrs, denn an dieser Form der Verkehrsanbindung wird noch gearbeitet. Zunächst waren die Autos dran. Eine notdürftig asphaltierte Stichstraße schiebt sich wie ein Damm durch die sumpfige Lagune der Baugruben. Sie bildet die einzige sichtbare Lebensader für das Neubauviertel. Wackelige Drahtzäune links und rechts bewahren die entlangschlingernden Laufräder samt ihrer kindlichen, stets mützen- und helmgeschützten Besitzer vor einem Absturz. Kräne wachen über die Pfützen in den tiefergelegten Betonwüsten, die einmal die Böden bilden werden für Tiefgaragen. Praktische Mehrfamilienhäuser werden sich einst darüber wölben.
Dann fächert sich diese für eine motorisierte Welt gedachte Lebensader auf in das Ghetto der kleinfamiliären Hoffnungen. Taubenstraße, Zaunkönigweg, Amselboulevard – so heißen hier die Sträßchen, die ein Kleinfamilienleben erschließen, das von sich behauptet, in sauber geordneten Reihenhäusern entfaltet zu werden. Die Rasenroboter rotieren in den Maschendraht-Quadraten hin und her wie der eingesperrte Tiger im Zoo. Der freie Blick durch die immergleichen Terrassenfenster auf die immergleichen, eckenausfüllenden Sofagarnituren wird versperrt durch die immer gleichen Grillvorrichtungen. Es herrscht geplante, selbstgewählte Monotonie in dieser Exklave für Jungeltern und ihre Kinder. Die Spielplätze sind wohlgeordnet, die akkurat eingepflanzten Bäumchen noch mehr Schule als Baum. Und nur ein Ausweg weist hinaus: Auf dem Asphaltdamm hinüber in den neueren Teil der Siedlung, wo der große Lebensmittel-Supermarkt lockt und das Fachgeschäft für alles, was die eingesperrten Haustiere benötigen. „Fressnapf“ heißt es, was auch für den Edeka passen würde.
„Wie ich diese Landschaft hasse …“
Eine junge Frau, laut Libretto „Mitte zwanzig“, steht im Mittelpunkt einer Opern-Neuproduktion von Bernhard Lang (Musik) und Frank Witzel (Text) in Stuttgart. Sie heißt „Dora“, und Dora ist es, die rebelliert gegen die Eintönigkeit ihres Lebens, gegen das konformistische, materialistische Lebenskonzept ihrer Eltern, gegen die dröge Anpassungsfreude ihrer Geschwister. Dora lebt nicht im hier beschriebenen Neubauviertel, aber das tut nichts zur Sache. „Wie ich diese Landschaft hasse“, singt sie voller Zorn dem Publikum entgegen, „und wie sich diese Landschaft von mir hassen lässt!“
Es ist also pure Fiktion, lustvoll inspiriert von der Stuttgarter Inszenierung, aber sie nicht abbildend, wenn nun dieser Faden weitergesponnen wird. Wenn eine kleine Dora heute leben würde in der Vorstadt, dann wäre sie noch etwa zwanzig Jahre mit dem Rest der Welt vor allem durch die Damm-förmige Lebensader verbunden. Diese wird dann eine normale Straße sein, weil aus den Baugruben Häuser gewachsen sein werden. Dora wird dann Schatten suchen unter den Bäumen, die dafür endlich groß genug sein könnten, und die Spielplätze werden verwaist sein, weil Dora nicht mehr spielen möchte. Sie will jetzt etwas Neues haben vom Leben, etwas Abenteuerliches.
Gesucht: Ein Zauber
Aber wie soll das dann gehen in dieser Vorstadthölle? Kaum zu übertreffen an Langweiligkeit und Konformität ist auch dann noch diese Welt, die ihr die Eltern geschaffen haben, sich verschuldet haben, um das Kind in eine Idylle einzusperren, die es niemals gab. Die es nicht gab, als man sich unter dem üppig geschmückten Weihnachtsbaum versammelte, die Geschenke aufriss und nichts darin fand, was das Herz berührte. Die es nicht gab, als die Eltern stritten und sich quietschend versöhnten; die es auch nicht gab, als sie über den Damm ihrer Eintönigkeit entflohen, all inclusive in die Türkei, immer auf der Suche nach dem „Sondern“, dem anderen. Gefunden haben sie es nicht, sondern immer war es nur ein teurer Tausch der einen Konformität gegen die andere gewesen.
Also wird Dora ausbrechen aus dieser Welt ihrer Eltern, die sie ohnehin nur mit drögen Vorhaltungen quälen. Sie wird die Welt erkunden wollen, nachsehen wollen, was es gibt jenseits der Fressnäpfe für Mensch und Tier. Einen Zauber wird sie suchen, ganz für sich allein, der ihrem Leben Sinn und Orientierung geben kann, ganz im Faust´schen Sinne hinausweist über die Monotonie der Vorstadthölle.
Gefunden: Ein Mann vom Amt
Aber was sie zunächst finden wird, ist: Ein Mann vom Amt. Ein Bürokrat wird ihr Vorträge halten darüber, sie sei viel zu jung zum Verzweifeln, und im Übrigen bestehe sein Auftrag darin, „hier etwas Ordnung zu schaffen“. Das genau wird Dora nicht suchen, denn diese Ordnung ist für Dora nur „Stumpfsinn, Trübsinn, Langeweile, Alltag“. Die Hilfe dieses alten weißen Mannes wird sie also ausschlagen, blind dafür, wer da in Wirklichkeit vor ihr steht. Mit pubertärem Zorn wird sie den Teufel verscheuchen, missmutig noch einmal zurückkehren in die verhasste Vorstadt, zurück in die Welt der selbstverschuldeten bequemen Perspektivlosigkeit hinter den primelbewaffneten Vorgärten.
Aber der Teufel wird über ausreichende Mittel verfügen, Doras Schicksal zu bestimmen. Er wird den in sie verliebten jungen Mann in bösartige Verstrickungen locken, die mit einem Suizidversuch enden werden. Immerhin, der schöne Jüngling wird überleben, wenn auch für das Leben gezeichnet und verstummt.
Dora wird entsetzt sein über die Wirkung ihrer Emotionen. Und wieder wird der Teufel locken: Wie leicht würde Dora sich ihrer Verantwortung für den Geliebten billig entledigen können! Aber Dora ist klug, und sie wird verstanden haben: Es gibt kein „Sondern“ außerhalb des eigenen Lebens. Und so wird sich Dora ihrem Schicksal zuwenden: Gemeinsam mit dem Geliebten, und sei der noch so beschädigt, wird sie sich der Aufgabe stellen, des Lebens Sinn in der Vorstadt zu finden.
Mit dem letzten Paukenschlag verlischt das Licht
Als in der Oper „Dora“ dieser Moment erreicht ist, trommelt und kracht es, scheppert und vibriert das ganze große Opernhaus. Drei Schlagwerke, verteilt in den Logen, zeigen das Ende der Oper an, ein musikalischer Höhepunkt dieses an sinnlichen Unvergesslichkeits-Momenten reichen Abends modernen Musiktheaters. Noch während die Pauken krachen und die Trommeln wirbeln, wenn noch alles zittert und bangt, geht das Licht an, im ganzen Saal. Der Teufel ist vertrieben. Mit Dora und ihrem Geliebten finden wir uns im Licht der Realität wieder, und dann, mit dem letzten Paukenschlag, verlischt es doch. So schön, so intensiv und sensibel wurde die unabwendbare Sterblichkeit noch selten auf einer Opernbühne in Szene gesetzt, und der begeisterte Applaus holt alle zurück in diese Welt, der wir nicht entfliehen können.
Epilog
So bleibt noch, als Ende dieses Textes, also nicht der Oper selbst, über die Versöhnung der wütenden Dora aus der Vorstadt mit der Welt ihrer Kindheit zu spekulieren:
Viele Jahre später wird Dora vielleicht das Reihenhaus ihrer Eltern geerbt haben. Das Herbstlaub der großen Bäume wird hineintreiben in die dann zugewachsenen Gärten, die keinen Rasenroboter mehr brauchen, da dichtes Gebüsch die kleinen Flächen überwuchert. Keine Trampoline und keine gesattelten Holzpferde werden mehr triefen im Nass des Regens, und die Spielplätze werden ersetzt sein durch seniorengerechte Parkbänke. Dorthin wird Dora ihren Partner im Rollstuhl schieben, wird dort sitzen und darauf warten, dass der mächtige Tod sie sanft herausholen möge aus der unentrinnbaren Vorstadt.
„Dora“ ist ein uneingeschränkt empfehlenswertes Erlebnis. Mehr Infos dazu bei der Oper Stuttgart. Aufführung an mehreren Terminen im März und Anfang April, zuletzt in dieser Spielzeit am 4. April.
Dieser Text erhebt nicht den Anspruch einer Aufführungskritik. Mein Fokus liegt ausschließlich auf dem (kultur-)politischen Aktualitätsbezug von Werk und Inszenierung. Daher gibt es in diesem Text auch nur Bemerkungen zur Konzeption der Inszenierung, nicht zu den Leistungen von Sänger/innen und Orchester.
Gesehen habe ich die Generalprobe am 29. Februar 2023.
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