Zerrissenes Geburtstagskind (#49)

Evangelische Stiftskirche, Stiftstraße 12, 70173 Stuttgart

Mein Besuch am 13. September 2023

Ein Sammelsurium der Baustile und Ausstattungselemente erwartet den Besuch der Stiftskirche in Stuttgart, der Hauptkirche im Zentrum der Stadt.

Es ist schwer, über diese Kirche zu schreiben, und vielleicht deshalb habe ich es lange nicht getan. Die Evangelische Stiftskirche im Zentrum Stuttgarts ist in der tief-protestantischen Stadt so etwas wie die Hauptkirche, aber man muss sie suchen; kein prächtiger Platz gruppiert sich um sie, kein dominanter Turm prägt das Stadtbild. Immerhin ist sie im Regelfall täglich von 10 bis 16 Uhr geöffnet und lädt zu einem Besuch ein, eine meditative Insel im materialistischen Umfeld schicker Markenshops.

Es ist auch schwer, über diese Kirche zu schreiben, weil sie so geschunden ist. Seit 1000 Jahren wird am Platz dieser Kirche gebetet, schreibt die lesenswerte und einladend gestaltete Webseite der Kirchengemeinde. Anfang Oktober feiert die Kirche ihr 700-jähriges Jubiläum, und bezieht sich dabei auf die Errichtung des frühgotischen Chorbaus, der im Wesentlichen bis heute an dieser Stelle steht.

Seither ist die Kirche mehrfach erweitert, zerstört, umgebaut, ausgebombt, niedergebrannt, eingestürzt – und anders als in anderen Städten hat man nicht den alten Bau immer und und immer wieder neu errichtet, oder sich zu einer vollständigen Neuerrichtung entschlossen.  Jedes Mal haben sich die Herrscher und Bürger den dann gerade aktuellen Gegebenheiten und Bedürfnissen angepasst, das Vorgefundene  ergänzt und erweitert. Jede Generation, die an dieser Kirche herumbastelte, hatte für sich gesehen, dafür sicherlich gute Gründe.

Als Besucher heute ging es mir aber so, dass dabei ein Sammelsurium herausgekommen ist, ein zerrissenes Gebäude, dessen Türme nicht zueinanderpassen und dessen Raumwirkung unter den vielen Kompromissen leidet. Beispielswiese ist schon seit Jahrhunderten der Chorraum seitlich gegenüber dem Hauptschiff verschoben, vermutlich deshalb, weil die engstehende Umgebungsbebauung nichts anderes zuließ. Zugangstore wurden verändert und verschoben, die im Krieg zerstörten Fenster in verschiedensten Stilen ersetzt. Die Harmonie der Raumwirkung leidet unter diesen Spannungen, und auch die vor 20 Jahren eingebauten Akustiksegel stellen ein weiteres, fremdartiges Element in diesem komplexen Bau dar, auch wenn sie für die Kirchenmusik ganz sicher unverzichtbar sind.

Für mich ist diese Kirche ein Sinnbild für gesellschaftliche Pragmatik: Die württembergische Seele hat hier klug, engagiert und immer auf den bewussten Einsatz der Mittel achtend eine Kirche über Jahrhunderte erhalten und immer wieder neu gestaltet. Das ist ehrenwert und auf gewisse Weise auch sympathisch, vielleicht sogar vorbildlich. Ein großer Wurf, ein kühner Plan, eine gestalterische Vision freilich, die ist dabei nicht herausgekommen.

 

Mehr über die Baugeschichte der Stiftskirche bei Wikipedia.

Die Website der Kirchengemeinde ist neu und sehr informativ und ansprechend gestaltet. Dort findet sich auch das Jubiläumsprogramm zum 700. „Geburtstag“ der Kirche vom 6. bis 8. Oktober 2023.

Weitere Kirchen aus meiner Sammlung #1000Kirchen finden  Sie hier. 

 

Hier wurde eine Universität gegründet (#0025)

Stiftskirche St. Georg, Holzmarkt 1, 72070 Tübingen

Mein Besuch am 14. Januar 2021

Das Lichtspiel der modernen Fenster von Emil Kiess im Langschiff der Tübinger Stiftskirche

Wenn die Sonne seitlich herein scheint, dann werfen die modernen Fenster buntes Licht auf das alte Gemäuer. Was für ein schönes, intimes Licht! Diese Fenster stammen aus dem Jahr 1964 und wurden vom württembergischen Maler Emil Kiess gestaltet. Sie zählen damit zu den modernsten Elementen dieser Kirche, die sonst seit dem Ende des 15. Jahrhunderts in der heutigen Gestalt und Höhe das Tübinger Stadtbild bestimmt.

Die dreischiffige Kirche ist weit und groß und lädt mit sanftem Licht zum Verweilen ein, auch zum Stöbern nach Überraschungen, etwa den Schnitzereien im Chorgestühl. Dieses Gestühl stammt aus den Gründungsjahren der Kirche, hat alle Unbill der Zeiten überlebt, stehen jetzt allerdings reichlich randständig links und rechts vom Altarbereich. Da Gestühl hätte ein en besseren Platz verdient, zumal in diesen Holzbänken die weltberühmte Tübinger Universität gegründet wurde. Beeindruckt hat mich auch die Schnitzkunst an der Kanzel aus dem Beginn des 16. Jahrhunderts, wo sich vermutlich der Holzbildhauer selbst als höchst sympathisches „Tübinger Kanzelmännchen“ verewigt hat.

Der Künstler höchstselbst? Das Tübinger Kanzelmännchen stammt vom Anfang des 16. Jahrhunderts.

Bei meinem Besuch war der Chorraum verschlossen. Er enthält zahlreiche württembergische Fürstengräber und wird geschmückt von den berühmtesten Glasfenstern dieser schönen Kirche, die angeblich bereits Goethe begeisterten. Geschaffen wurden sie von Peter Hemmel von Andlau noch vor 1500. Und das Licht leuchtet bis heute hindurch auf die Stille der Gräber. Der Besucher kann es sich bewusst machen, dann fasst er nach einem kleinen Zipfel der Ewigkeit.

 

 

 

 

Sehr gute Zusammenfassung der Informationen über die Stiftskirche in Tübingen auf deren Website: https://www.stiftskirche-tuebingen.de/stiftskirche-st-georg/virtueller-rundgang

In Tübingen war ich aus aktuellem Anlass auch im Museum Hölderlinturm. Meinen Text als #Politikflaeur dazu finden Sie hier.