Das Böse, das Banale und die Lüge

Warum es nötig ist, um die Wahrheit zu ringen

„Fakten und Meinung sind zu unterscheiden,“ sagt Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg in einem Interview, denn „Meinungsfreiheit, ohne dass die Tatsachen stimmen, ist eine Farce.“

Also mitten hinein in die Arena der Meinungsfreiheit. Montagabend, öffentlich-rechtliches Fernsehen in Deutschland: Die ARD hat einhundert mehr oder weniger zufällig ausgewählte Menschen eingeladen, über aktuelle Fragen zu diskutieren. Diesmal geht es um das Pro und Contra zu einer Wiedereinführung der Wehrpflicht.

„Die Medien sind nicht dazu da, zu informieren.“

Ein junger Mann kommt zu Wort: „Die gleichen Leute kontrollieren Europa, Russland, USA, und die wollen, dass Krieg ist, um uns Angst zu machen. Der Krieg ist nur Show, um uns Angst zu machen.“ Tagesschau-Moderator Ingo Zamperoni leitet die Sendung und fragt nach, woher diese Ansicht komme. „Wer seinen eigenen freien Willen nutzt,“ sagt Rufus Weiß, 19 Jahre, Student aus Euskirchen, „kann sich selbst informieren und nicht nur glauben, was die Medien sagen. Die Medien sind nicht dazu da, zu informieren.“

Ein Screenshot: In der ARD-Sendung „Die 100“ (am 6.10.2025 oder in der Mediathek) äußert sich ein junger Mann zur Rolle der Medien. Hat er eine Meinung oder benennt er Tatsachen?

Was davon ist Meinung, was ist Tatsachenbehauptung? Lohnt es sich, auf Basis dieser Aussage überhaupt eine Diskussion zu führen? Na sicher, würde Kretschmann sagen, denn jeder engagierte Bürger müsse um die Wahrheit der Tatsachen kämpfen. Man darf offenkundigen Unsinn nicht einfach stehen lassen, nur weil es bequemer ist. Im täglichen Diskurs gehe es aber auch darum, sich die Bereitschaft zu erhalten, „die eigene Meinung durch Wahrnehmung der Tatsachen zu verändern.“

„Denken ist gefährlich“

Kretschmann orientiert sich an Hannah Arendt und hat vor kurzem ein Buch über die deutsch-amerikanische Schriftstellerin und Philosophin veröffentlicht. „Der Sinn von Politik ist Freiheit“ heißt es. Auch in einem Dokumentarfilm, der derzeit in den Kinos zu sehen ist, können Interessierte diese kluge Frau kennenlernen. Aber Vorsicht: „Denken ist gefährlich“ heißt der Film, und meint es genauso.

Hannah Arendt erlebte Totalitarismus – und hat sich theoretisch damit auseinandergesetzt. Im Dokumentarfilm „Denken ist gefährlich“ kann man diese kluge Frau und das, was sie umgetrieben hat, näher kennenlernen. Foto: Progress Filmverleih

Hannah Arendt hat sich intensiv mit totalitaristischen Staatsstrukturen auseinandergesetzt. Vor allem aber hat sie die Prägung des Begriffs von der „Banalität des Bösen“ berühmt gemacht. Sie fasste damit ihre Eindrücke nach Beobachtung des Eichmann-Prozesses im Jahr 1961 in Jerusalem zusammen. Das Böse, so ihre These, verkörperten in Nazi-Deutschland weniger die mörderischen Funktionäre. Das Böse lag viel mehr in der Banalität der nicht hinterfragten Pflichterfüllung und dem Mitläufertum durch Millionen Helfer, Handlanger, Weg-Seher und Nicht-Wahrhaben-Woller.

Dafür ist Arendt damals heftig kritisiert worden. Mit heutigem, größerem Abstand erscheint manches an dieser Kritik berechtigt, Die Dimension des einzigartigen Verbrechens, dem systematischen Judenmord, verbietet jede Verbindung zum Wort „banal“. Das gilt auch heute, wenn die Gesellschaft gegen Rassismus und Antisemitismus kämpft. Das tötende Böse ist niemals banal.

Das banale Böse steckt in uns allen

Trotzdem ist Hannah Arendt eine moderne, wichtige Analyse gelungen: Das Böse ist eben nicht nur irgendein großes mörderisches Monster, ein Tyrann, ein individueller Schlächter oder Missetäter – das Böse ist, jedenfalls im gesellschaftlichen Zusammenhang – immer auch das Böse in der Masse derjenigen, die es zulassen. Und das Böse steht im Bund mit der Lüge. Hätten die Täter von damals die Tatsachen verteidigt, statt der Propaganda hinterherzulaufen, dann hätte sich die Katastrophe des Genozids niemals ereignen können.

Das banale Böse steckt also in uns allen. Es verlockt uns, nicht selbst zu denken, obwohl wir es gefahrlos dürften, sondern dummen Sprüchen hinterherzujagen. Es lässt uns bequeme Ressentiments pflegen, statt sie zu hinterfragen. Es hält uns aus feigem Eigennutz von Zivilcourage ab. Es sitzt in uns, wenn wir uns von Neuem, von Fremdem bedroht fühlen, statt notwendige Veränderungen zu erkennen und zu gestalten. Es macht uns zum Handlanger, wenn wir die Institutionen (Justiz, Medien, Achtung vor der Rechtsordnung) nicht schützen, die dem Bösen wirksam in den Arm fallen könnten. Das Böse in uns hat immer dann die Kontrolle übernommen, wenn wir uns nicht mehr engagieren, um wenigstens Konsens über die Tatsachen herzustellen.

Das banale Böse in uns tut weh, wenn wir es entdecken. Es ist in den Zwischenrufen zu hören im Plenarsaal des Deutschen Bundestages, rechtes Drittel, vom Rednerpult gesehen. Oder in der Häme zu lesen, die – viel zu oft unter dem billigen Schutzmantel der Anonymität – im Netz verbreitet wird. Oder es ist zu finden in abstrusen Behauptungen vor laufender Fernsehkamera.

Kopfschütteln, wegwischen, weiterzappen, Schulter zucken? Hannah Arendt wäre das nicht genug.

 

 

Im Text finden Sie Links zur Sendung „Die 100“ in der ARD, zum Kretschmann-Interview und zu weiteren Informationen über den Film „Denken ist gefährlich“.

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Der „eigene Weg“ und die Sinatra-Doktrin

„I did it my way“ – ein Lied macht Geschichte(n)

Es gibt nicht viele Lieder, die ganz unmittelbar große Emotionen freisetzen. Wenn die Lautsprecherboxen bei der Schulabschlussfeier „We are the Champions“ heraustriumphieren, fühlen sich gleich alle Durchschnittsschüler als grandiose Sieger. Ähnliches tritt ein, wenn nur die Worte „I did it my way“ ausgesprochen werden. Sekundenschnell rufen die Gehirnsynapsen ein paar Noten ab und verklumpen sich zu einem gefühligen Brei aus Empathie und sanfter Reflexion.

Lars Eidinger als verlassener weißer Mann in der Produktion „I did it my way“. Zweimal singt er dort den Sinatra-Klassiker „My Way“ – und zusammen mit Larissa Sirah Heiden zahlreiche andere Songs von Frank Sinatra und Nina Simone. Foto: Jan Versweyveld, bereitgestellt von Ruhrtriennale

Ein eigener Weg – was soll das sein? Sich querfeldein vorarbeiten durchs Gelände des Lebens? Einen „eigenen Weg“ zu reklamieren, ist entweder ein Eingeständnis von Banalität oder es hat den Anspruch auf Genialität. Banal daran ist, dass doch jeder Mensch in seiner Lebensweise irgendwie einzigartig ist, dass kein Wohnzimmer dem anderen gleicht, kein Tagesablauf von Hinz identisch ist mit dem von Kunz, und mag er noch so alltäglich zwischen Arbeit, Liebe und Freizeit dahindümpeln. Genial wäre der eigene Weg erst dann, wenn zu einzigartigem Glück geführt hätte, zu etwas Einmaligem, eine unwiederholbare Gipfelbesteigung, ein Ausdruck strahlender Individualität.

Eine besonders eitle Form schmerzfreier Eigenbetrachtung

Nichts davon erzählt das Lied „My Way“ (englischer Text von Paul Anka, Melodie vom französischen Komponisten Jacques Revaux), gesungen und weltberühmt gemacht von Frank Sinatra. Es ist stattdessen eine selbstgefällige Rechtfertigungsarie darüber, warum ein Mensch (man hört es durch: Ein Mann!) so ist, wie er sich gerne sieht. Es ist eine besonders eitle Form, schmerzfreie Eigenbetrachtung als kritische Rückschau zu verbrämen: „Ich habe geliebt, habe gelacht und habe geweint“, ist sich der Text in deutscher Übersetzung sicher, „ich hatte auch genug an Niederlagen wegzustecken. Und jetzt, wo die Tränen verflogen sind, kann ich sogar darüber lachen.“ Niemand lacht bei diesem Lied, das zur Hymne des Stolzes auf das Banale geworden ist. „Was ist ein Mann, was hat er denn schon?“, betrachtet sich der Sänger weiterhin im musikalischen Spiegel, „wenn nicht sich selbst, so hat er nichts.“ Aber immerhin: „Die Bilanz zeigt: Ich habe einstecken müssen – aber ich hab‘ es auf meine Weise getan“ – „I did it my way“.

„My Way“ nahm der US-amerikanische Jazzsänger und Schauspieler Frank Sinatra im Jahr 1968 auf, als er immer wieder mit (bis heute umstrittenen) Vorwürfen der Mafia-Verstrickung konfrontiert war. Den Quellen nach erwog er, sich ganz aus dem Showbusiness zurückzuziehen, und „My Way“ hätte sein Abschiedslied sein können. Dann aber wurde der Ohrwurm sein größter Hit, unzählige Male kopiert und gecovert. „ I did ist my way“ sang der alkoholkranke Harald Juhnke als Rückschau auf sein privates und künstlerisches Leben, mit einem neuen deutschen Text. „My Way“ wurde in vielen Ländern zum beliebten Trauerlied bei Beerdigungen, mit dem man sich aller Fragen über das erloschene Leben entledigen kann. Und der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder wünschte sich im Jahr 2005 beim Zapfenstreich zum Abschied „My Way“. Vom Musikkorps der Bundeswehr wurde es schauderhaft schlecht gespielt – und ließ doch dem ausscheidenden Kanzler die Tränen in die Augen steigen. Damals ahnte Deutschland noch nicht, was er künftig unter seinem Weg verstehen würde.

Broadway-Atmosphäre im Opernhaus

Nun gibt es auch eine Bühnenproduktion mit dem Titel „I did it my way“. Sie hatte im August 2025 bei der Ruhrtriennale in Bochum Premiere, und wird jetzt in Stuttgart gezeigt. Der Promi-Faktor eines singenden und tanzenden Lars Eidinger sorgte hier wie dort für ausverkaufte Häuser. Erzählt wird die Geschichte eines amerikanischen Ehepaares: Farbige Frau verlässt weißen Mann, um sich ein neues, ein anderes Leben zu suchen, auch, um sich auseinanderzusetzen mit den Erniedrigungs- und Gewalterfahrungen der ehemaligen Sklaven in den USA. Die Musik ist eine lockere Abfolge aus dem Gesangsvorrat von Frank Sinatra und der schwarzen Soulkünstlerin und Bürgerrechtsaktivistin Nina Simone. Lars Eidinger und vor allem Larissa Sirah Herden interpretieren sie auf der Bühne authentisch, neu und überzeugend. Er herrscht Broadway-Atmosphäre im Opernhaus. Eidinger singt und tanzt besser, als man es erwarten würde von einem Schauspieler, und über den Rest hilft sein bewundernswerter Mut hinweg, sich einer solchen Herausforderung zu stellen. Aber es ist dann doch mehr die klangliche Pracht amerikanischer Musik zwischen Jazz, Swing, Soul und Pop, und das Ausbrechen der farbigen Ehefrau zu „ihrem Weg“, das den Abend zum musikalisch wuchtigen, ansatzweise auch politischen Ereignis macht.

„My Way“ und die Weltpolitik

Darüber lässt sich die Banalität des Liedtextes von „My Way“ leicht vergessen. Und schließlich genügt manchmal ein Satz, um eine weltpolitische Wende zu beschreiben.  „You know the Frank Sinatra song, ‚I Did It My Way‘“?,  fragte Gennadi Gerassimow, der damalige Pressesprecher des sowjetischen Außenministers Eduard Schewardnadse im Jahr 1989 Journalisten in Helsinki, „Poland and Hungary are now doing it their way..“

Seither wird die damals neue Linie der sowjetischen Führung unter Michail Gorbatschow als „Sinatra-Doktrin“ beschrieben. Den Staaten des Warschauer Paktes wurde erlaubt, ihren eigenen Weg zu gehen.  Hätte Michail Gorbatschow zu diesem Zeitpunkt noch die Macht gehabt, die Osteuropäer an ihrem eigenen Weg zu hindern? Vermutlich nicht, und so ist der ganze Vorgang wohl weniger ein Akt bewusster Befreiung gewesen, als der Versuch, das Unvermeidliche zu verklären. Und wie hätte wohl Gorbatschow darauf zurückgeblickt? I did It my way.

 

„I did it my way“ an der Oper Stuttgart stand in der gerade begonnen Spielzeit zunächst nur an drei Abenden Ende September 2025 auf dem Programm, die alle bereits vorab ausverkauft waren. Die Musical-ähnliche Produktion soll dort auch künftig im Repertoire gezeigt werden. Einen guten Eindruck gibt der Beitrag des WDR von der gleichen Produktion während der Ruhrtriennale.

Gesehen habe ich die Generalprobe in Stuttgart am 25. 9. 2025.

Mehr Informationen zum Lied „I did it my way“ finden Sie hier.

Mehr Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier, als #Politikflaneur hier. Dort gibt es auch einen Beitrag über den Film „Helsinki-Effekt“, der auf die gleichen Ereignisse Bezug nimmt, für die der Begriff „Sinatra-Doktrin“ verwendet wird.

Das Schicksal des weitgereisten Tauchrohrs

„Made in China“ – ein Bestell-Erlebnis, und was es erzählt

„Made in China“ steht auf der Schachtel. Das Leben des kleinen Stückes Plastik hat also irgendwo in weiter Ferne begonnen, irgendwann in den letzten Monaten oder Jahren, zwischen Tausenden wohlgeformter Artgenossen. Es ist ein Migrant und hat wie Millionen andere den mühsamen Weg gefunden bis nach Deutschland. Und nun?

Das gesuchte Teil ist ein ziemlich schlichter Gefährte des Alltags. Der Einsatz besteht aus einem weißen Plastikrohr im Durchmesser von sieben und der Höhe von sechs Zentimetern.

Dies ist eine Geschichte von einer Irrfahrt zwischen Sinn und Sinnlosigkeit. Von Hoffnungen und ungewisser Zukunft. Sie beginnt damit, dass eine Dusche geputzt wurde. Die Dusche hat einen Abfluss, und die unangenehme Tätigkeit, diesen Abfluss zu reinigen, hatte die Frau des Hauses übernommen. Tapfer befreite sie den herausnehmbaren, und noch namenlosen Einsatz von eklig nassen Haarbüscheln und undefinierbarem Schlamm. Auch nach gründlicher Reinigung stellte sie fest, dass dieser Einsatz selbst schon arg in die Jahre gekommen war. Aufgeraut von unermüdlichen Filteranstrengungen gegen Hautschuppen, Schweiß und Haare war er reichlich angegriffen und unansehnlich geworden. Gesucht: Ersatz für den Einsatz.

Gesucht: Ersatz für den Einsatz

Das gesuchte Teil ist ein ziemlich schlichter Gefährte des Alltags. Der Einsatz besteht aus einem weißen Plastikrohr im Durchmesser von sieben und der Höhe von sechs Zentimetern. Ein Bügelchen in seinem Inneren sorgt dafür, dass man ihn leicht herausnehmen kann, und ein schwarzer Gummiring dichtet ihn nach oben ab. Die Sanitärabteilung des Baumarktes kennt das kleine Plastikrohr aber leider nicht. Zwischen zig anderen rätselhaften Plastikeinsätzen ist der fragliche in seinen Maßen nicht aufzufinden. Immerhin, das gesucht Objekt erlangt hier seinen Namen. „Tauchrohr“, nennt sich ein solcher Gegenstand, analysiert der Fachmann hinter dem Tresen das unansehnlich gewordene Altobjekt in der Hand des Kaufwilligen. Aber leider nicht im Sortiment, sorry.

„Jetzt schnell abholen!“

Mit dem bisher im Wortschatz des Suchenden unbekannten Begriff „Tauchrohr“ erbringt eine Recherche im allwissenden Netz schnell hoffnungsfrohe Ergebnisse: Ja, sogar die bevorzugte Online-Plattform bietet das kleine Tauchrohr ohne Versandkosten für die schnelle Lieferung am übernächsten Tag an. Preis: 8.99 Euro. Nun ja, geschätzter Herstellungswert in China vielleicht fünf Cent – aber was soll man machen? Geklickt, bestellt, bezahlt, bestätigt.

Planmäßig taucht in der Verfolgungsapp des großen Versenders auch noch am gleichen Abend die Nachricht auf, dass sich das Tauchrohr auf den Weg gemacht hätte. Beruhigt packt der Käufer seine Koffer, denn am dritten Tag nach der angekündigten Lieferung des Tauchrohrs steht eine längere Reise an. Aber das Tauchrohr verirrt sich auf seinem Weg, in der App stockt der Sendefortschritt. Einen Tag lang tut sich nichts, dann noch einer, und noch einer; die Plattform entschuldigt sich bereits automatisiert und nutzlos für Verzögerung. Und just an dem Tag, da der Käufer frohgemut im Auto sitzt, weit fort und unterwegs in die Ferne, meldet die App: „Sendung liegt in der Packstation. Jetzt schnell abholen!“

Daran ist nicht zu denken. Die Fähre ruft, das Meer rauscht, die Wolken ziehen, die Sonne scheint, und das Tauchrohr schmachtet wartend in seinem Metallkäfig. Nicht schlimm, denkt sich der Käufer: Nicht abgeholt, geht also zurück, wird erstattet, dann neuer Kauf. Die heimische Dusche hat ohnehin auch Urlaub.

Bestellt, abgeholt und eingebaut

Zwei Tage vor Erreichen der Heimat meldet die App: „Zu lange nicht abgeholt! Sendung geht zurück.“ Der Urlauber kehrt heim, sichtet die spärliche Post, sortiert die Wäsche, lüftet die Koffer – und bestellt schließlich das Tauchrohr erneut, damit es endlich voranschreiten möge mit der Hygiene in der Dusche. Das neue Tauchrohr kommt wie versprochen noch am nächsten Tag an. Abgeholt, ausgepackt, eingebaut.

Am darauffolgenden Morgen meldet die App erneut eine Sendung in der Abholstation. Stirnrunzelnd wird das Fach geöffnet, und was liegt dort? Das nicht abgeholte Tauchrohr, säuberlich als „nicht abgeholt, zurück“ etikettiert – aber irrtümlich nicht an den Versender zurückgesendet, sondern erneut dem Besteller zugestellt.

Zwei Tauchrohre braucht die Dusche nicht. Also rasch einmal den doppelten Kauf online storniert. Pling, die Elektronik quittiert den Rücksendewunsch und meldet Sekunden später den Erhalt des Erstattungs-QR-Codes. Ein paar Schritte nur sind es zum nächsten Paketshop, Code  gescannt, piep, schon wird die Erstattung des überflüssigen Tauchrohr-Kaufs auf dem Konto bestätigt.

„Was passiert nun damit?“, fragt der Kunde. „Das schicken wir zurück“, versichert der nette Mensch im Paketshop und greift zu einer Versandtasche. Die Verkaufsplattform versichert, dass sie von solchen Retouren so wenig wie möglich vernichtet. Eine zweite Chance für das kleine Tauchrohr.

Ergeht es nur dem Tauchrohr so?

Und doch, was ist das für ein bitteres Schicksal! Von weit her im muffigen Container über die Weltmeere der Globalisierung geschaukelt, dann hinein in das riesige, langweilige Lagerregal. Endlich wird das Plastikteil benötigt, könnte einen Nutzen stiften! Also rein in den Umschlag und los quer durchs schöne Deutschland. Bestellt, aber nicht abgeholt, durchleidet das Tauchrohr zehn Tage in einem dunklen, sonnen-überhitzten Schließfach. Nutzlos rollt es im Lieferauto einmal zurück ins Verteilzentrum, und wieder zurück in die Packstation. Dann endlich erbarmt sich jemand, das Plastikrohr trifft am Bestimmungsort ein – aber nun ist es überflüssig. Also wieder zurück ins Lagerregal, wenn die Allmacht der Plattform es zulässt. Immerhin, es ist eine neue Hoffnung auf Sinn, besser als der kalte Wurf in die Abfalltonne.

Ergeht es nur dem kleinen Plastik-Tauchrohr so, das nun einmal Pech hatte? Nicht ausgeschlossen, grübelt der Käufer, dass sich hierzulande auch Menschen ganz ähnlich fühlen: Herumgeschubst, hin- und her sortiert und immer in der Sorge, aussortiert zu werden. Sicher ist nur, die Menschen fühlen – und das kleine Tauchrohr nicht.

 

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Über den Umgang der Versandplattformen mit Retouren informiert das Netz, z.B. hier. Ob man es glauben kann?

 

Die Frau am Strand im roten Kleid

Eine Spätsommergeschichte

(1)

Es war schon fast September, und die salzige Luft wärmte mit der Erinnerung an den gerade zu Ende gehenden Sommer. Eine sanfte Brise strich über den breiten Nordsee-Strand, die Sonne verwöhnte, sie brannte nicht mehr. Flirrende Wolkenschleier zogen über das Blau des Himmels und gaben dem Sonnenlicht die besondere Milde des Spätsommers. Er war glücklich, heftete seinen Blick aus dem Strandkorb heraus an den Horizont des Meeres, diese große Verheißung von Unendlichkeit.

„Die Frau war eine Ausnahmeerscheinung für diesen Ort, schlank und hochgewachsen, dort, wo doch alle anderen ihre körperlichen Schwächen kaum verbergen konnten.“ (Bild KI-generiert mit https://www.canva.com/)

Dann sah er sie zum ersten Mal. Es strich gerade eine sanfte Bö den Strand entlang, viel zu schwach, um Sand aufzuwirbeln, aber stark genug, dass sich der Wind in ihrem roten Kleid verfing. Die Frau war eine Ausnahmeerscheinung für diesen Ort, schlank und hochgewachsen, dort, wo doch alle anderen ihre körperlichen Schwächen kaum verbergen können. Wildes gelocktes Haar flatterte ihr um den Kopf, goldbraun vom Sonnenlicht gebadet, barfuß und ohne Handtasche stand sie da aufrecht an der Brandungskante. Das schwingende rote Sommerkleid reichte ihr weit über das Knie, und allein das unterschied sie radikal von allem, was sonst hier strandüblich war. Ausgeblichene T-Shirts, neonleuchtende Shorts, schlabberige Badehosen, zu knappe Bikinis prägten das Bild der ästhetischen Alltäglichkeiten. Und dazwischen diese elegante Erscheinung, wie im Traum – eine Männerfantasie. Eine Frau von Welt, so las er ihren Anblick aus der Ferne, im knallroten Kleid, die nicht an diesen deutschen Nordseestrand gehörte, sondern nach Cannes, oder vielleicht an den Lido von Venedig.

Dann verstand er, dass die Frau im roten Kleid in Beziehung zu zwei Buben stand, die im Wasser herumtobten. Über die endlos heranrollenden Brandungswellen sprangen sie, gaben sich unermüdlich dem ewigen Spiel der Elemente hin, stocherten im Sand herum, sammelten Muscheln auf und warfen sie wieder hinein in die Gischt. Dann wälzten sie sich selbst auf den Sand und ließen sich jauchzend überspülen, sprangen wieder auf und alles begann von vorne. Die Frau im roten Kleid beaufsichtigte dieses Treiben der Kinder. Sie war aufmerksam, gelegentlich griff sie mit Gesten ein, winkte die Kinder heran, wenn sie sich allzu weit herauswagten in die flach dahinspülenden Wellen, oder veranlasste sie zum Verlassen des Wassers, wenn es ihr genug erschien mit dem kindlichen Sommerspiel.

Aber sie selbst, die Elegante im roten Kleid, sie selbst ging nicht ins Wasser, allenfalls ihre Zehen ließ sie überspülen, und auch das eher selten. Er überlegte, mit welcher Farbe sie ihre Nägel wohl lackiert hatte, feuerrot, passend zum Kleid?

(2)

Er konnte die Augen nicht wenden von dieser Szene, am ersten Tag nicht und auch an den Tagen darauf nicht, an denen sich alles genauso wiederholte: Die gleiche blaue Strandmuschel wurde jeweils an der gleichen Stelle errichtet, sie diente ihr als Depot für Handtücher, Tasche, Handy (das sie aber niemals mit ans Wasser nahm). Die Knaben wälzten sich auch an diesen folgenden Tagen unermüdlich im Nass, und immer stand sie im sicheren Abstand daneben, nicht gefährdet von Gischt oder dem feuchten Sand, den die tobenden Kinder aufwirbeln könnten. Immer richtete die Elegante im roten Kleid den Blick auf die Kinder, ein Blick, von dem er vom Strandkorb aus meinte zu verstehen, dass er Fürsorge gleichermaßen ausdrückte wie auch Distanz.

War sie die Mutter dieser Knaben? Dafür fehlte ihm in der ganzen Szenerie der unbedingte Hauch von jederzeitiger Zärtlichkeit, den eine Mutter doch ausmacht. Die Frau im roten Kleid berührte die Knaben niemals ohne Grund, einfach nur aus Liebe; sie riskierte niemals, dass ihr rotes Kleid durchnässt werden könnte bei mütterlicher Annäherung. Sie fotografierte sie nicht und sie bot ihnen nichts zu trinken an und lüftete keine Plastikboxen mit vorgeschnittenen Obststücken. Auch das Verhalten der Kinder sprach gegen die Annahme, dass die Elegante ihre Mutter war. Die Knaben beschäftigten sich stets mit sich selbst, quengelten nicht an sie hin, soweit er das auf die Entfernung erkennen konnte, bezogen sie nicht ein in ihr Spiel, verlangten nichts, als wüssten sie, dass sie auch nichts von ihr zu erwarten hätten – außer Aufsicht und Eingriff im Notfall, der nicht eintrat.

Eine Nanny vielleicht? Ein Au-pair? Eine Tante? Oder doch eine Mutter? Es soll ja distanzierte Mütter geben, dachte er sich, vielleicht hasst sie das Meer und den Sand, erträgt das heranbrandende Wasser nur auf Distanz? Vielleicht zwingt sie sich aus Liebe zu den nasstobenden Knaben mit größter Disziplin dazu, dennoch hier zu stehen, so elegant im Sand im roten Kleid, statt trittsicher dort zu flanieren, wo sie sich zugehörig fühlte: auf den Boulevards der Städte, in den Foyers der Theater, zwischen den Tischen edler Restaurants?

Er hatte für den Strandkorb Bücher dabei, aber er konnte nicht lesen. Das Meer berauschte ihn, und mehr noch lenkte ihn der Blick zu ihr ab. Er erwog, sich der Frau im roten Kleid wie zufällig zu nähern, ihre Gesichtszüge mit einem Seitenblick zu erfassen, ihr Alter abzuschätzen. Ihr Geheimnis zu lüften! Wie gerne hätte er sie gefragt, ob diese sich geduldig immerfort im Nassen wälzenden Knaben die ihren sind? Und ob sie mehrere solche roten Kleider besäße, ob vielleicht ihr ganzer Kleiderschrank nur eine Ansammlung roter Kleider wäre, da sie nun doch schon am dritten Tag in immergleicher rotstrahlender Eleganz hier erschienen war?

Sein Anstand verbot ihm solche plumpe Annäherung, und so blieb er im Strandkorb. Immer wieder blickte er zu ihr hinüber, verfolgte ihre eleganten Bewegungen, auch dann, als sie schließlich das Gestänge der Standmuschel zusammenklappte, die verstreuten Schaufeln und Eimer der Kinder sorgsam hineinsortierte in ein Wägelchen, ohne selbst auch nur ein Stäubchen Sand aufzuwirbeln. Sie beorderte die nassen Knaben zu sich und wies sie an, sich anzuziehen. Es nahte der Abend, und die Sonne würde bald ins Meer eintauchen. Etwas stärker aufkommender Wind fuhr der Eleganten in das rote Kleid, setzte es in wirbelnde Bewegung, so dass sie, wie einst Marilyn Monroe, es bändigte mit der rechten Hand, während sie mit der linken das Wägelchen durch den Sand zerrte.

Lachte sie dabei? Er konnte es nicht sehen, nur den Knaben blickte er hinterher, die ihr willig folgten.

(3)

Am vierten Tag, da kam sie nicht mehr. Er war enttäuscht und rätselte, wie er mit der Leere umgehen sollte, die sie hinterlassen hatte. Es fehlte dem breiten Horizont des Meeres ihre elegante Erscheinung als Vertikale. Es fehlte dem Grau des Sandes und dem blassen Blau des Himmels das Rot ihres Kleides. Er wanderte an der Brandungskante entlang, stets den Blick auf den Strand gerichtet – war da irgendwo, vielleicht an neuer Stelle, die blaue Strandmuschel? Stand da vielleicht doch irgendwo die Frau im roten Kleid? Aber sie blieb verschwunden, ihr Aufenthalt am Meer mochte vorüber sein, ihr Auftrag zur Beaufsichtigung dieser Knaben beendet. Nun war alles wie immer.

Dann waren auch seine Tage am Strand vorbei. Er reiste zurück in den herbstlichen Alltag der großen Stadt. Am ersten Morgen zuhause griff er nach der Zeitung. „Mein besonderes Urlaubserlebnis“ war die Seite überschrieben. Die Redaktion der Zeitung hatte Leserinnen und Leser aufgefordert, ungewöhnliche Erlebnisse aus den zu Ende gegangenen Urlaubstagen zu schildern. Ein Foto fiel ihm auf: Eine schöne junge Frau kam da zu Worte, mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht, umrahmt von wild lebendiger, brauner Lockenpracht. Die Mutter zweier Kinder berichtete von ihren viel zu kurzen Urlaubstagen am Nordseestrand. So glücklich seien die Kinder gewesen beim fröhlichen Spiel im Wasser. Sie hätte ihnen stundenlang dabei zusehen können. Aber es habe da einen Typ im Strandkorb gegeben, mit ausgeleiertem grünen T-Shirt, der sie und ihre Kinder unablässig gemustert habe. Auf den hätte sie gerne verzichtet.

 

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Claus, Alfred und der verhüllte Käfer

Über den „Wrapped VW Beetle“ von Christo und Jeanne-Claude in der Neuen Nationalgalerie Berlin

Nennen wir den Unglücksraben Claus. Das neue Auto war sein ganzer Stolz. Der Krieg war gerade erst seit achtzehn Jahren vorbei. Claus schlich um seinen nagelneuen VW-Käfer herum, bestaunte ihn von allen Seiten. Was für ein Prachtstück! Ein Sehnsuchtsziel von Millionen Nachkriegsdeutschen, und dieser hier gehörte ihm. Der fünfmillionste Käfer war eben ausgeliefert worden, fast jeder wollte einen VW-Käfer haben. Noch dazu war er ein internationaler Verkaufsschlager, made in Germany, dieser verfemten Nation der Mörder und Kriegstreiber. Volkswagen musste massenhaft Menschen aus Südeuropa anwerben, die als „Gastarbeiter“ mithelfen sollten, der Nachfrage nach dem rollenden Käfer gerecht zu werden.

„Wrapped VW Beetle“ von Christo und Jeanne-Claude in der neuen Nationalgalerie Berlin.

Claus hatte also ein solches Auto ergattert. Mintgrün, mit breiter Heckscheibe, Baujahr 1961. Und nun sollte er es gleich wieder verleihen? Es kostete ihn viel Überwindung, dem Wunsch seines Freundes, nennen wir ihn Alfred, nachzukommen. Aber man tut doch einem Freund gerne einen Gefallen! Alfred musste schließlich auch hart kämpfen in diesen Nachkriegsjahren als Galerist für moderne Kunst. Jetzt hatte er gerade ein besonders verrücktes Projekt am Haken: Er wollte einem jungen Künstlerpaar aus Frankreich zum Durchbruch in Deutschland verhelfen. Kein Mensch kannte diese Leute mit den merkwürdigen Namen. Ihre Idee: Sie verhüllten Dinge und nannten sie in verpacktem Zustand Kunstwerke.

Das soll Kunst sein?

Außerhalb der engen Kunstszene stieß das auf wenig Verständnis. Das soll Kunst sein? Kopfschüttelnd nahm das Wirtschaftswunder-Volk davon Kenntnis. Aber der Galerist Alfred war überzeugt, dass diese jungen Leute einen neuen, einen wegweisenden künstlerischen Blick auf die Realität schaffen würden mit ihrer Verpackerei, mit ihren verschnürten Folien und Tüchern.

Ein besonderer Hingucker für die Galerie in Düsseldorf wäre es doch, dachte sich Alfred, wenn diese jungen Franzosen ganz speziell für seine Galerie ein einzigartiges Verpackungskunstwerk schaffen könnten. Und nichts war 1963 deutscher und zeittypischer als ein VW-Käfer! Also bat Alfred seinen Freund Claus um einen Gefallen: Er solle ihm doch bitte seinen nagelneuen mintgrünen Käfer leihen, nur für ein paar Tage, damit die jungen Leuten ihn verhüllen können. Claus Harden ließ sich überzeugen. „Danach will ich ihn zurück, und zwar sofort und ohne einen Kratzer!“ wird er dem Galeristen eingeschärft haben.

Dieses Foto entstand am 19. Februar 1963. In einem Hinterhof in Düsseldorf verhüllt der Künstler Christo einen VW Käfer, der seinem Galeristen zu diesem Zweck geliehen wurde. Copyright: bpk / Charles Wilp, © 1963 Christo und
Jeanne-Claude Stiftung; Foto zur Berichterstattung bereitgestellt durch Neue Nationalgalerie Berlin

„Wrapped Volkswagen Beetle“ war ein Hingucker für die Galerie von  Alfred Schmela in Düsseldorf. Das Kunstwerk existierte nur wenige Tage. Wie versprochen wurde danach das Auto enthüllt und Claus Harden bekam es zurück – und er rollte und rollte und rollte (wie die VW-Werbung versprochen hatte) damit noch jahrelang durch die Gegend.

Die Sicht auf Dinge veränderten die Künstler grundlegend

Und doch war dies eine wirtschaftlich folgenschwere Fehlentscheidung, und Claus Harden hat sie nach eigenen Worten sehr bereut. Wer hätte denken können, dass diese beiden Künstler mit ihrer Verhüllerei irgendwann einmal zu den populärsten Kunstschaffenden der Welt gehören würden? Jeanne-Claude und Christo revolutionierten den Kunstbegriff und veränderten grundlegend die Sichtweise vieler Menschen auf Dinge. Sie verhüllten einen ganzen Küstenabschnitt in Australien, montierten einen Vorhang in die Rocky Mountains, verpackten die Pont Neuf in Paris und das Berliner Reichstagsgebäude – vor genau dreißig Jahren. Noch nach dem Tod der beiden Künstler wurde die Verhüllung des Arc de Triumphe in Paris im Jahr 2021 realisiert. Millionen Menschen pilgerten zu diesen Großkunstwerken, allein der Verkauf von Planungsskizzen dafür erzielt heute auf dem Kunstmarkt Höchstwerte.

Ein von Christo und Jeanne Claude verpackter Volkswagen ist heute Millionen Wert. Ist, und nicht wäre, denn der verhüllte VW-Käfer existiert und kann besichtiget werden. Er ist derzeit Teil einer Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Im Jahr 2014 entstand bei einem Besuch von Christo und Jeanne-Claude in Düsseldorf die Idee, das Kunstwerk von damals zu rekonstruieren. Ein anderer mintgrüner Original-Käfer aus dem Jahr 1961 war schnell gefunden – und die inzwischen weltberühmt gewordenen Verhüllungskünstler schritten erneut zur Tat.

Wer auspackt, kann daneben liegen

So steht man nun also vor dem zweiten verpackten Käfer in der Ausstellung „Zerreißprobe“, die Kunst im Spanungsfeld der deutschen Geschichte seit 1945 thematisiert. Mehr als 21 Millionen Käfer wurden weltweit produziert. Das Auto steht für deutsche Ingenieurskunst, für den deutschen Wohlstandstraum von Mobilität, der bis heute nachwirkt. Es steht für breite Autobahnen und verstopfte Innenstädte, für CO2-Überschuss, Stau-Erlebnisse und Geschwindigkeitsrausch. Der verpackte Käfer steht für ein deutsche Wirtschaftswunder aus einer Zeit, in der wir uns ein solches noch zutrauten.

Da er verhüllt ist, kann jede und jeder Kunstfreund sich aussuchen, was er darin sehen möchte. Also steht er auch für unsere allgegenwärtige Möglichkeit des Irrtums. Wer auspackt, kann daneben liegen. So, wie es Claus ergangen ist.

 

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier. Über den verhüllten Arc de Triomphe in Paris gibt es einen eigenen Text. 

Mehr Informationen über die Ausstellung „Zerreißprobe“ in der Neuen Nationalgalerie in Berlin finden Sie hier. 

 

 

 

Das schnelle Ende der Finnlandisierung

Über den „Helsinki-Effekt“ und was sich seither verändert hat

Prächtig weiß schimmert der Marmor an der Fassade im Sonnenlicht und steht damit in Verbindung zum prunkvollen Baustil, der die finnische Hauptstadt Helsinki auch sonst neoklassizistisch prägt. Die Rede ist hier von der Finlandia-Halle. Sie wurde Anfang der 70er Jahre eröffnet, als Konzert- und Kongresshaus, und jede und jeder politisch Interessierte kennt sie. Weltgeschichte wurde dort geschrieben, eine Art Friedensschluss als Ende des „Kalten Krieges“ zwischen Ost und West, dreißig Jahre nach der Weltkriegskatastrophe.

Die Finlandia-Halle in Helsinki: Vor 50 Jahren wurde hier Weltgeschichte geschrieben – aber die damals Beteiligten glaubten, es bliebe alles beim Alten. Foto: gemeinfrei von Thermos  https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=738580

Europa war geteilt. Bis auf kleinere Konflikte hatte es seit Kriegsende keine direkten militärischen Konfrontationen der Weltmächte in Europa gegeben. Das Konzept „Abschreckung“ kam an seine Grenzen, denn es verlangte einen hohen Preis. USA und Sowjetunion ächzten unter den enormen Kosten der gegenseitigen Hochrüstung. Dieses gemeinsame Interesse führte zur Lösung: „Entspannung“ hieß nun das Motto. Denn schließlich wollte niemand neue Kriege führen in Europa.

Viele dachten: Alles geht so weiter wie zuvor

So verständigten sich nach einem mehrjährigen, sehr zähen Verhandlungsprozess 33 europäische Staaten dies- und jenseits des „Eisernen Vorhangs“ zusammen mit den USA und Kanada auf eine Schlussakte der „Konferenz zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE). Dort festgehalten: Keine gewaltsame Verschiebung von Grenzen, Streit friedlich beilegen, Wahrung der Menschenrechte. Das völkerrechtlich unverbindliche Papier wurde in genau dieser Halle unterschrieben. Das war am 1. August 1975. Damals meinten allerdings nahezu alle Beteiligten, vor allem auf der West-Seite, dass Aufwand und langfristiger Nutzen dieses diplomatischen Kraftaktes in keinem vernünftigen Verhältnis zueinander stünden. Es würde ohnehin alles so weitergehen wie zuvor.

Aber das war ein Irrtum.

Fünfzig Jahre ist das nun her. Die Geschichte der Konferenz hat der finnische Filmemacher Arthur Franck im Dokumentarfilm „Der Helsinki-Effekt“ auf äußerst unterhaltsame Weise nachgezeichnet – und dabei einige Lehren für das Heute entdeckt. Der Film ist vor allem ein Appell an die Kraft von Diplomatie, die freilich Geduld, Höflichkeit, Respekt und Verständnis für das Gegenüber erfordert – allesamt Tugenden, die im internet-getriebenen, erhitzten Dauerdiskurs der Gegenwart unter die Räder geraten sind. Vielleicht ist der seither eingetretene Ansehensverlust von Außenpolitik auch darin begründet, dass genau diese Primärtugenden nichts mehr gelten? Alle schauen nur noch auf sich, und ein US-Präsident, der genau diese Unkultur zum Prinzip erhoben hat, verordnet seinem Land folgerichtig den Austritt aus der UNESCO. Was interessiert einen Amerikaner das Welterbe andernorts?

Auch vor fünfzig Jahren wurde gespottet – aber höflich

Wie anders muten da die Bilder aus den 70er Jahren an. Auch da wurde gespottet über die jahrelangen Diskussionen um ein Papier, das im wesentlich beschrieb, was ohnehin alle für unstrittig hielten. Immerhin geschah es weitgehend höflich. In der historischen Rückschau war die KSZE-Schlussakte von Helsinki allerdings nicht irgendein belangloses Papier. Es war der Ausgangspunkt des Umsturzes im Osten, der Befreiungsbewegungen in den osteuropäischen Ländern, von Solidarnosc und auch der friedlichen deutschen Einigung. Die Möglichkeit dazu wurde auf Druck der westdeutschen Regierung unter Helmut Schmidt ausdrücklich in den Text aufgenommen. Die Option zur friedlichen und gemeinsamen Lösung der „deutschen Frage“ war die vom Westen erwünschte Ausnahme des sonst von der Sowjetunion besonders nachdrücklich eingeforderten Prinzips der Unverrückbarkeit von Grenzen.

Beste Stimmung zwischen den Atommächten: Im KSZE-Prozess achtete man noch darauf, sich mit Respekt und Höflichkeit zu begegnen (Gerald Ford und Leonid Breschnew in Helsinki) Foto: bereitgestellt von rise and shine cinema

Die KSZE-Schlussakte ist daher auch eine Dokument des Bruchs zwischen der von Wladimir Putin sonst so hoch gehaltenen Traditionslinie zwischen der untergegangenen Sowjetunion und dem heutigen Russland.

Finnland suchte sein Glück siebzig Jahre lang in der Neutralität, …

Glaubt man dem Film, dann wäre die ganze Konferenz nie zustande gekommen ohne die vermittelnde Rolle des damaligen finnischen Präsidenten Urho Kekkonen. Finnland ist in seiner Geschichte mehrfach nach Russland einverleibt worden, wusste sich aber seit dem 20. Jahrhundert auch zu wehren. Und blieb standhaft auf die eigenen Grenzen bedacht, als Hitler die finnischen Nationalisten für seinen Kampf gegen Stalin einspannen wollte.

Nach dem 2. Weltkrieg fanden die 5,5 Millionen Finnen ihre politische Rolle in der Neutralität zwischen den Blöcken. Kulturell gehörte das Land dem Westen an, war demokratisch und weltoffen. Aber es versuchte, durch maximale Zurückhaltung den großen Nachbarn im Osten keinen auch noch so kleinen Anlass zu geben, die 1344 Kilometer lange Grenze zum kleinen Finnland erneut zu überschreiten. Dieses Prinzip der Zurückhaltung wurde damals „Finnlandisierung“ genannt – fast ein Schimpfwort für lasche Politik. Kein Staat Europas wollte so neutral sein wie Finnland, so zurückhaltend gegenüber der sowjetischen Unterdrückungspolitik vor der eigenen Haustür. Kein Land war so restriktiv im Umgang mit Geflüchteten von dort, die man einfach zurückschickte, um die eigene Neutralität nicht zu gefährden. Auch deshalb engagierte sich Urho Kekkonen für den KSZE-Prozess und schloss ihn mit der Vertragsunterzeichnung in Helsinki erfolgreich ab. Ein diplomatischer Triumph für das kleine Finnland.

… aber brauchte nur zwei Jahre, um sich neu zu orientieren

Was danach geschah, ist allerdings das Scheitern der Finnlandisierung. Die Neutralität der Finnen hatte sich erledigt, als Russland die Ukraine überfiel – unter Bruch aller Prinzipien, die in der Helsinki-Akte festgelegt waren. Mehr als siebzig Jahre hatte Finnland seine Neutralität gepflegt. Nach der russischen Aggression brauchte die finnische Gesellschaft nur zwei Jahre, um sich radikal umzuorientieren. Seit 2023 ist Finnland Mitglied der NATO.

Was also kann Europa von den Finnen lernen? Mit Diplomatie kann man viel erreichen – aber nicht die eigene Existenzsicherung in einer Welt, in der die Allermächtigsten auf Verträge pfeifen. Es gibt keine Neutralität gegenüber purer Gewalt.

 

Die KSZE-Schlussakte von Helsinki kann im Originaltext im Internet abgerufen werden. Wer nachlesen möchte, findet sie hier.

Der Film „Der Helsinki-Effekt“ wird vor allem in kleineren Programmkinos gezeigt. Am 5. August zeigt ihn der Sender arte. Trailer, Informationen zum Film und zu den Kinos finden Sie hier. 

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Helsinki war der Schlusspunkt einer Reise durch Polen und die baltischen Staaten. Texte von dieser Reise sind auch

 

Erwachsene, die sich wie Kinder verhalten

Kein Text über die Stromsteuer – sondern darüber, ob irgendwas „versprochen“ wurde

Dies ist kein Text über die Stromsteuer. Dies ist ein Text über die Frage, ob mündige Staatsbürger sich verhalten sollten wie Kleinkinder. „Versprochen ist versprochen – und wird nicht …“ – Es ist diese unterkomplexe, kindererziehende Alltagsweisheit, die zurzeit die Grundlage bildet für eine allseitige Empörung über die angeblich versprochene, nun aber nur teilweise in Aussicht gestellte Abschaffung der Stromsteuer. Der Spruch war schon immer weit entfernt von der Realität eines Erziehungsalltags – und er ist auch ungeeignet für die Komplexität eines Staatswesens.

„Du hast es aber versprochen!“ – Politik kann nichts „versprechen“, sondern Politik kündigt an, verwaltet und gestaltet. Bei einer Wahl urteilen wir darüber, ob das gelungen ist. Deshalb sollten sich mündige Wahlbürger/innen nicht verhalten wie beleidigte Kinder an der Eistruhe. Foto: Geralt via Pixabay

Ein fiktiver Blick zur Supermarktkasse: „Du hast es aber versprochen!“, protestiert lautstark die geschätzt Fünfjährige. „Ja, aber jetzt gibt’s halt hier kein Eis in der richtigen Größe, entgegnet die Mutter entnervt, „da kann ich auch nichts machen.“ Mit der rechten Hand packt sie den Einkauf für das Abendessen ein, mit der linken drückt sie das Handy zum Zahlen an den Automaten. „Du hast es aber versprochen!!“ wiederholt das Kind jetzt lautstärker.

Wenn überhaupt, können nur sich nur Unionswähler ärgern

Auf diesem Niveau befindet sich auch die Diskussion um die Stromsteuer. Was genau ist geschehen? Politiker der Unionsparteien haben im Wahlkampf dafür geworden, ihnen die Stimme zu geben – mit der Ankündigung, die Stromsteuer für alle abzuschaffen. Haben die Menschen sie deshalb gewählt? Vielleicht gibt es ein paar wenige. Die meisten aber hatten anderes im Sinn: Den Scholz loswerden, die Migranten rausschmeißen, endlich bessere Stimmung für der Wirtschaft. Egal warum – aber es waren ohnehin nur 28,6 Prozent der Wählerinnen und Wähler, die am 23. Februar für die Union und diese Aussicht in Sachen Stromsteuer gestimmt haben. Eine deutliche Minderheit also, und wenn man die Zahl der Stimmen für die Union auf die Gesamtbevölkerung bezieht, sind es noch weniger. Alle anderen, die gar nicht oder nicht Union gewählt haben, können sich schon deshalb nicht auf dieses „Versprechen“ berufen. Und die Unionswähler, die jetzt jammern, sollten sich ernsthaft fragen, ob sie tatsächlich wegen der Stromsteuer ihr Kreuz bei Merz oder Söder gemacht haben.

Ja, schön, hört man hier die laute Riege der larmoyanten Politikkundigen rufen, aber was ist mit dem Koalitionsvertrag? Da steht es doch auch drin, dass die Stromsteuer für alle abgeschafft werden soll. Ist das denn kein Versprechen?

Also zurück zur Supermarktkasse. Eine junge Familie kauft ein. „Aber ihr habt es versprochen!“, rufen die zwei Söhne im Schulalter, und zappeln an der Eistruhe herum. „Wir müssen aber sparen“, versucht der Vater seine Nachkommen zu besänftigen, „Gestern Abend haben wir gesagt, beim Einkaufen morgen gibt’s ein Eis. Aber dann kam heute die Mieterhöhung. Ist ohnehin schon so teuer.“ Aber die Kinder sind unerbittlich: „Aber wir wollen trotzdem jetzt ein Eis!“

Politik kann überhaupt nichts „versprechen“

Ein Koalitionsvertrag ist kein Versprechen an die Öffentlichkeit. Politik kann überhaupt nichts „versprechen“. Politik kann ankündigen, verwalten und gestalten. Ein Koalitionsvertrag ist eine politische Absichtserklärung der (in diesem Fall: drei) Partner, die gemeinsam regieren wollen. Er ist die Grundlage für die Kanzlerwahl. Der Wahlbürger kann die Verabredungen des Koalitionsvertrages freudig oder verärgert zur Kenntnis nehmen, einen Anspruch auf die Umsetzung aller Inhalte hat er nicht. Und die Vertragsparteien können sich – wie bei jedem Vertrag – jederzeit einvernehmlich darauf einigen, irgendetwas aus ihrem Vertrag anders zu regeln als es dort einmal festgelegt war.

Was der empörte Wahlbürger tun kann, ist: Die Partner des Vertrages bei der nächsten Wahl abstrafen. Aber was tut die veröffentlichte Meinung? Sie empört sich stellvertretend für das angeblich um einen Anspruch gebrachte Volk über den „Stromsteuer-Betrug“ (Welt-TV), über den „Stromsteuer-Wortbruch“ (Focus) über den „Bruch des Koalitionsvertrags“ (ZDF). Sie alle köcheln auf der Jagd nach Klicks, Einschaltquoten und Auflage auf dem Feuer der billigen Vereinfachung die trübe Suppe der Politikverdrossenheit.

Es gibt vielleicht gute Gründe für die Abschaffung der Stromsteuer. Aber nicht das ‚“gebrochene Versprechen“

Muss der mündige Wahlbürger auf dem geistigen Stand von Kleinkindern gehalten werden, unfähig oder unwillig, sich größeren Zusammenhängen zu stellen? Niemand muss die Entscheidung für oder gegen die Abschaffung der Stromsteuer gut finden. Es gibt vielleicht gute Gründe und nachvollziehbare Interessen, warum man sie einfordern, anstreben und durchsetzen kann.

Aber sich darauf zu berufen, dass ein „Versprechen“ gebrochen worden sei – das ist kindisch.

 

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Tag 9: Hitzestress und Blaulicht

Tag 9 (1. Juli 2025)

Von Neustadt-Schierschnitz bis – irgendwo zwischen Rotheul und Mogger

Es war möglicherweise von Anfang an keine gute Idee, an diesem Tag überhaupt zu wandern. Angesagt war „extreme Hitze“, aber die Sehnsucht nach einem Wiedersehen mit dem Kolonnenweg paarte sich mit der Hoffnung, im Wald werde es schon nicht so heiß werden wie in der glühenden Großstadt.

Aber Wandern im Hitzestress ist dann doch eine größere Herausforderung als erwartet. Der Weg entlang der Grenze führt rund um Sonneberg, der alten thüringischen Spielzeugstadt, die wie eine Halbinsel ins bayerische Oberfranken hineinragt. Sonneberg war zu DDR-Zeiten vom Rest der Welt abgeschnitten – nach Süden lag der Todesstreifen, und nach Norden wurde jede und jeder streng kontrolliert, der in diese grenznahe Stadt einreisen wollte.

Der Grenzweg führt auch, aber nicht nur durch Wald. Auf freiem Feld wogen links und rechts die Ähren im heißen Hauch; erleichternd ist jede Luftbewegung, auch wenn sie schnell wieder erstirbt. Traumhaft schön durchziehen die unterschiedlichen Grade der Reifung das weite Gerstenfeld und lassen es im gnadenlosen Glanz der Sonne zwischen blassgrün und goldgelb schimmern. Darüber ein makelloser Himmel. Weit vorne flüchten Rehe aus dem Korn in das schützende Gebüsch. Was trinkt Rotwild an solchen Tagen?

Wie Schatten ziehen sich die Grade der Reifung durch das Gerstenfeld. Vom Himmel brennt die Sonne.

Bei der Mittagspause auf einer schattigen Bank zeigt das Handy 33 Grad Temperatur an. Die Getränkevorräte unterliegen einer strengen inneren Rationierung, sie müssen noch ein paar Stunden und einige Kilometer ausreichen. Dann eine Wegeverirrung, die mich zwingt, einen Kilometer am Rande einer kaum befahrenen Landstraße zu gehen. Glut von oben, Hitze auf dem Asphalt, keine Chance auf Schatten. Herbeigesehnt und schließlich erreicht ist endlich die Stelle, da der Kolonnenweg mit seinen vertrauten Lochplatten die Straße kreuzt und in den erhitzten, aber schattigen Wald hineinführt.

Schatten! Aber was ist das da vorne? Das erste Innehalten war vom Licht veranlasst. Woher kommt hier dieser leichte Grauschleier zwischen den Bäumen – ein Lichteffekt? Dann nehme ich Brandgeruch wahr, dann wenige Meter weiter: züngelnde Flammen links des Kolonnenweges. Das Handy hat 5G-Netz und die Herstellung der Verbindung zur Feuerwehr klappt zügig. Aber wo ist das hier? Der Begriff „alter DDR-Kolonnenweg“ sagt dem jungen Mann am Telefon nichts. Es gelingt mir schließlich, meinen Standort elektronisch zu fixieren und freizugeben. Der junge Mann in der Notrufzentrale ist zufrieden: „Wir kümmern uns.“

Ein Weitergehen an der Brandstelle vorbei kommt nicht in Frage, also wieder zurück bis zur Straße. Es dauert etwa 20 Minuten, bis sich mit Blaulicht ein Polizeiauto von der bayerischen Seite nähert. Kolonnenweg? Was soll das sein?, fragt der junge Polizist. Die beiden Beamten bleiben an der Straße stehen und lotsen die Feuerwehr an die richtige Stelle. Nach und nach nähern sich mit Tatü-tata Feuerwehren aus beiden Richtungen. Das Handy zeigt: 35 Grad. Die Feuerwehrleute können mit ihren schweren Fahrzeugen nicht in den Wald einfahren. Sie schleppen in voller Montur Schläuche und Gerätschaften hinein, mindestens 500 Meter sind es bis zur Brandstelle.

Nach der Brandmeldung dauert es einige Zeit, bis die Feuerwehr kommt. Aber dann wuchten Männer, für die es keine Ausrede gibt, bei glühender Hitze schweres Gerät in den Wald.

Ich breche die Wanderung ab. Ein freundlicher Mann nimmt mich im Auto zur nächsten Bushaltestelle mit. Alle Getränkeflaschen sind leer. Im Schatten des Rathauses von Neustadt-Schierschnitz warte ich auf den Bus. Eine besorgte Angestellte hat mich von innen beobachtet und kommt heraus. Sie bietet mir ein Glas Wasser an. Ich muss ganz schön fertig aussehen.

Distanz: 16,4 Kilometer, 22.900 Schritte

Begegnungen mit Wanderern: fünf (zwei Wanderer,  ein Pferd mit Reiterin, ein Spaziergänger-Pärchen mit Hund)

Jäger-Hochsitze am Weg: 14

Alle Texte aus meinem Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

 

 

Glaubten wir nicht, dass wir weiter wären?

„Zaide“ und „Otello“ – Zwei heiße Stuttgarter Opernabende und was sie erzählen

Ein sommerheißer Abend in Südwestdeutschland: Festspielpublikum rottet sich zusammen im Schlosshof von Ludwigsburg. Gegeben wird mit Unterstützung der Stuttgarter Staatsoper „Zaide“, das Fragment einer Mozart-Oper aus dem Jahr 1780. Das historische Barocktheater ist nicht gebaut für Tage der Klimaerhitzung, und so lassen die erglühten Verhältnisse die Sommerkleider an den Körpern festkleben und Schweißflecken bemustern die Herrenhemden. Da passt es gut, dass auch die Handlung im heißen Orient spielt. Komplex ist sie nicht, also auch vom hitzegeschädigten Gemüt schnell begriffen: Allmächtiger Sultan liebt die schönste Frau im Harem, aber die liebt einen anderen. Sie flieht also mit ihrem Angebeteten, wird eingefangen, und danach dem ungezügelten Zorn des gekränkten Sultans ausgeliefert. Wird er sie töten oder begnadigen?

Das staunt der Sultan: Junge Frauen stauchen den Alleinherrscher ob seines Frauenbildes zusammen. Szene aus Mozarts „Zaide“ bei den Ludwigsburger Festspielen. Foto: Martin Sigmund, bereitgestellt von Oper Stuttgart

Der 24-jährge Mozart konnte sich selbst zu keiner Antwort auf diese Frage durchringen und brach die Arbeit an der frühen Oper ab. Zwei Jahre später wusste er für einen ähnlichen Stoff die Lösung: Die „Entführung aus dem Serail“ endet glücklich für alle Beteiligten und war vielleicht auch deshalb ein großer Erfolg. „Türkenoper“ wird das Sujet genannt, in dem Mozart und andere zu ihrer Zeit unterwegs waren, ein westlich-kolonialer Blick auf die heranrückende Gefahr der Osmanen.

Othello ist verunsichert – und eifersüchtig. Das nutzen seine Gegner aus.

Ein Tag später, wieder ein glühender Sommerabend, nicht ganz so heiß. Das große, wegen seiner Renovierungsbedürftigkeit längst nicht mehr moderne Opernhaus von Stuttgart hat eine wenigstens halbwegs wirksame Klimatisierung. Als das Gebäude im Jahr 1912 eröffnet wurde, war die Oper, die hier nun zur Aufführung kommt, gerade fünfzehn Jahre alt.

Shakespeares Schauspiel „Othello“ ist noch viel älter. Vor sagenhaften 400 Jahren ist es entstanden und erzählt die Geschichte von der krankhaften Eifersucht seines Helden. Verdi hat daraus 1887 eine Oper gemacht. Othello kann also gedanklich durchaus als ein Nachfahre des sklavenhaltenden Sultans von Mozart betrachtet werden. Hier wie dort spielt ein vermeintlicher Orientale die zentrale Rolle. Märchenhafte Allmacht wird diesen Herrschern zugeschrieben – vor allem über Frauen. Über das sonstige Leben von Mozarts Sultan wissen wir wenig, aber Othello ist ein gefeierter Feldherr, Kapitän, Kriegsheld der Venezianer, der (inzwischen widerlegten) Legende nach ein „Mohr“. In seiner Geschichte macht dieser Umstand alle Verdienste des Fremden für die prächtige venezianische Heimat nahezu zunichte. Othello ist darüber, ob er nun dazugehört oder nicht, so verunsichert, dass er sich in Intrigen verstricken lässt. Neider und Konkurrenten zielen auf seine Schwachstelle, die Eifersucht, die ihn zur leichten Beute im bösen Spiel macht. Am Ende bringen die einheimischen Gegenspieler den kriegstraumatisierten, selbst-verunsicherten Helden dazu, seine vermeintlich untreue Gattin umzubringen; grundlos, wie sich bald zeigt. Dann, nach dieser Erkenntnis, richtet er sich selbst.

Der (in der Legende) dunkelhäutige Kriegsheld Othello bleibt ein Fremder in einer Mehrheitsgesellschaft, die ihm misstraut und seine Verunsicherung ausnutzt: Szene aus Verdis „Otello“ an der Staatsoper Stuttgart. Foto: Martin Sigmund, bereitgestellt von Oper Stuttgart

Es ist ein Zufall, diese beiden Stücke – „Zaide“ und „Otello“ – hintereinander zu erleben, eine Opern-Zeitreise hinein in die Selbstgerechtigkeit der „alten“ gegenüber der „kolonialisierten“ Welt. Ganz gewiss erzählen diese beiden Opern wenig davon, wie der Orient war oder ist. Mozart wie Verdi (oder Shakespeare) richten stattdessen unfreiwillig einen entlarvenden, männlich-westlichen Blick auf das Fremde. Ihre Perspektive auf einen Farbigen, auf angeblich menschenverachtende Allmächtigkeit im Orient, auf ihr Frauenbild, ordnen wir heute schnell und entschlossen als überkommen, islamophob und rassistisch ein.

Irgendwas muss noch dran sein an diesen Stoffen

Fertig? Offenbar nicht, denn sonst kämen solche Werke nicht mehr zur Aufführung. Irgendwas muss noch dran sein an dieser Stoffen, wenn sie heute für ausverkaufte Häuser sorgen. Mozarts Sultan muss sich im erhitzten Schlosstheater den respektlosen Vorwürfen einer Art Girlsgroup erwehren, die den alten weißen Mann in Rap-Texten abkanzeln: Sein Umgang mit Frauen sei schlicht indiskutabel. Zum von Mozart offengelassenen Ende hin bieten die höchst selbstbewussten jungen Damen gleich mehrere Lösungen an – eine davon könnte auch in der Rebellion der Sexsklavin Zaide bestehen, die den Sultan schlicht aus dem Spiel nimmt. Vielleicht sogar mit Gewalt?

Ganz so platt kann man es sich mit dem von Selbstzweifeln gezeichneten Othello nicht machen. In Stuttgart wird seine Geschichte erzählt als die Unmöglichkeit des Fremden, in der Fremde dazuzugehören, mag er auch noch so bemüht sein darum, sich zu „integrieren“, der neuen Heimat zu dienen und zu nutzen. Gleichzeitig ist es doch auch die gleiche Geschichte wie beim Sultan: Immer diese Männer, die Gewalt ausüben über Frauen. Der offenkundig kriegstraumatisierte Othello verübt einen Femizid auf offener Bühne. Die männerkritischen Girls vom Abend zuvor hätten also allen Grund, auch hier nahtlos ihre Anklage herauszuschreien.

Es hat sich weniger geändert, als wir glauben

Und dass das so ist, macht den eigentlichen Clou dieser beiden hitzigen Abende aus: Glaubten wir nicht, dass wir weiter wären? Wenigstens bei uns, wenn schon nicht bei den Arabern? Stattdessen läuft, wer abweicht von der Norm, alltäglich Gefahr, ausgegrenzt zu werden. Männliche Gewalt bedroht und tötet noch immer Frauen, hier wie anderswo. Wer in den Krieg gezogen ist, kommt psychisch zerstört zurück. Es hat sich weniger geändert als wir glauben seit Shakespeare, Mozart und Verdi.

 

Dieser Text erhebt nicht den Anspruch einer Aufführungskritik. Mein Fokus liegt ausschließlich auf dem (kultur-)politischen Aktualitätsbezug von Werk und Inszenierung. Daher gibt es in diesem Text auch nur Bemerkungen zur Konzeption der Inszenierung, nicht zu den Leistungen von Sänger/innen und Orchester. Gesehen habe ich „Zaide“ am 26. Juni, „Otello“ am 27. Juni 2025.

Hinweis zur Schreibweise: Das Shakespeare-Drama heißt „Othello“, ich habe diese Schreibweise auch für meinen  Text verwendet, wenn es um die Hauptfigur geht. Die in italienisch geschriebene Oper verzichtet auf das „h“ und schreibt sich daher „Otello“. 

„Zaide“ ist noch bis 12. Juli bei den Ludwigsburger Festspielen zu erleben; „Otello“ bis 18. Juli in Stuttgart, und dann wieder ab Oktober 2025. 

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Der lange Schatten der kleinen Mauer

Vom Berliner Reichstag zur Danziger Werft und zurück

In diesem Text geht es um zwei Mauern, und was sie verbindet. Beide stehen in Berlin, und eine davon auch in Danzig. Diese Mauer ist unscheinbar, verglichen mit jener Mauer, die Deutschlands Hauptstadt einst durchschnitt, und die wundergleich vor 35 Jahre in sich zusammenstürzte. An den Fall der großen Mauer durch Berlin erinnern heute zahlreiche Gedenkstellen, etwa eine Mauer-Ausstellung im neuen Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Bundestages. Original rekonstruiert wurde sie dort im früheren Verlauf mit echten alten DDR-Mauer-Bauteilen, und steht so wettergeschützt im Souterrain der Abgeordnetenbüros. Erinnert wird auch an die mindestens 327 Toten, die beim Versuch, diese Mauer zu überwinden, verstorben sind.

Die weltberühmte Berliner Mauer – hier als Museumsstück im Souterrain des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses des Deutschen Bundestages – direkt am Spreeufer.

Die andere Mauer ist gleich gegenüber, auf der anderen Seite der Spree. Unscheinbar wurde sie als Gedenkstätte in eine Ecke neben die gewaltige Pracht des Reichstagsgebäudes gequetscht. Immerhin erzählt eine kleine Tafel ihre Geschichte. Wie viele Menschen mögen wohl schon an diesem kleinen Stück Backstein-Mauer achtlos vorübergegangen sein? Es muss sich gegen den stolzen Parlamentsbau behaupten. Die Fahnen Deutschlands und Europas flattern auf seinen wuchtigen Ecktürmen, glänzend schimmert die gläserne Kuppel im Sonnenlicht. Plenumsbetrieb ist im Bundestag, reihenweise schwarze Ministerlimousinen lassen die Touristen nach ihren Handys greifen. Es herrscht erhöhte Alarmbereitschaft, Polizei patrouilliert vorbei. Die Aura von Bedeutung und Macht durchtränkt den Äther rund um dieses „hohe Haus“. Wer wird da auf ein kleines Stück Backsteinmauer achten?

Die andere Mauer in Berlin: In einer Ecke des Reichstagsgebäudes steht ein Stück Mauer von der Danziger Werft.

Auch die kleine Backstein-Mauer ist ein Erinnerungsort. Sie steht für das Staunen darüber,  dass nichts bleibt und sich alles immer wieder ändern kann, auch grundlegend, und auch wenn man es für unglaublich hält. Verschwommene Erinnerungsbilder tauchen vor dem geistigen Auge auf; verwackeltes Schwarz-weiß-Fernsehen: Es kann Risse geben im festgefügten Block der kommunistischen Welt. Erinnerungen an das Geschehen im Nachbarland Polen im Jahr 1980.

Zwei Tage später in Danzig

Zwei Tage später in Danzig: Da ist es wieder, das gleiche Gemäuer. Backsteine, aufeinandergeschichtet, hier nun über und über behängt mit Tafeln, davor ein großes Denkmal: Es geht um die Toten des Arbeiteraufstandes von 1970, um Schüsse, Streiks, Niederlagen und Siege. Einer der Siege hat mit jenem kleinen Mauerstück zu tun, das jetzt als Geschenk des polnischen Parlaments Sejm an den deutschen Bundestag neben dem Reichstagsgebäudes steht. Es ist ein Stück Mauer von der Danziger Werft, über die der Elektriker und Gewerkschafter Lech Wałęsa im August 1980 kletterte, um die Führung der in der Werft streikenden Arbeiter zu übernehmen. Das waren damals die Bilder, die den Riss zeigten.

Im „Europäischen Zentrum für Solidarität“ auf dem früheren Werftgelände wird die Geschichte der Werftarbeiter in Danzig und die Gründung der Gewerkschaft „Solidarnosc“ aufgearbeitet. Das Zentrum ist ein moderner Begegnungsort für das neue Polen.

Heute muss niemand mehr die Mauer in Danzig überwinden. Die Tore stehen offen, Schiffe werden hier schon lange nicht mehr gebaut. Wer heute unter den großen Buchstaben „Stocznia Gdańska“ hindurchgeht, den erwartet ein im Jahr 2014 eröffnetes, eindrucksvolles Gebäude, das als „Europäisches Zentrum für Solidarität“ betrieben wird. Ein lichtdurchflutetes Foyer mit Café, Pflanzen, Sitzbänken, Rolltreppen empfängt die Besucher – hier wurde dem modernen, demokratischen Polen ein schicker Begegnungs-, Diskussions- und Erinnerungsort gewidmet. Die multimedial gestaltete Ausstellung führt mitten hinein in die Streiks der Werftarbeiter, in die Gewalt, die sie erlebten, macht ihren Widerstandswillen spürbar. Letztlich haben sie gewonnen: Unter ihrem Druck wurde im Sommer 1980 „Solidarność“ gegründet, die erste freie Gewerkschaft im „Ostblock“. Solidarność übernahm bald eine zentrale Rolle in der polnischen Politik. Freiheiten wurden erkämpft zu einer Zeit, als an vergleichbare Bestrebungen in Ostdeutschland nicht zu denken war. Die Gewerkschaft überlebte sogar das polnische Kriegsrecht.

Der Held: Lech Wałęsa führt den Arbeitskampf in der Werft und veränderte ganz Polen zu einer Zeit, als im restlichen Ostblock an Liberalisierungen nicht zu denken war. 1990 wurde er zum Präsident Polens gewählt. Aber für den Alltag der Politik erwies er sich als untauglich.

Alles das ist mit einem Namen verbunden: Lech Wałęsa, der Mann, der einst über die Werft-Mauer kletterte. Im „Europäischen Zentrum für Solidarität“ atmet alles den Geist dieses Mannes, der – inzwischen 82 Jahre alt – dort sogar ein Büro hat. Ein polnischer Volksheld war er in den 80er Jahren, bestaunt vom Ausland, gefeiert und bejubelt in Polen. Die kommunistischen Machthaber internierten ihn, aber sie konnten ihn nicht unter Kontrolle bringen. Er erhielt 1983 den Friedensnobelpreis, führte eine gewaltfreie Revolte an, und wurde mit Begeisterung auf den Schultern der Massen getragen. Nach der politischen Wende wählten die Polen Wałęsa im Jahr 1990 mit 70 % der Stimmen zu ihrem Präsidenten. Aber für den politischen Alltag schien sich der Revolutionär nicht zu eignen. In der Wiederwahl 1995 scheiterte er knapp, fünf Jahre später trat er noch einmal an und bekam nur ein Prozent der Stimmen.

Brutaler kann ein Held kaum stürzen

Brutaler kann ein Held kaum stürzen. Im heutigen Polen spielt Lech Wałęsa keine Rolle mehr, trotz dieses prächtigen Zentrums, das auch ihm zu Ehren auf dem Gelände der Danziger Werft errichtet wurde. Vorwürfe der Kooperation mit dem kommunistischen Geheimdienst belasten sein Andenken genauso wie fragwürdige Äußerungen, die als homophob gedeutet werden müssen. In einem Interview von 2023 für den Sender „Arte“ zeigt sich der damals 80-Jährige entschlossen proeuropäisch, kritisiert die Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz und unterstützt die Abwehrkämpfe der Ukraine gegen den russischen Aggressor. Trotzdem wirken viele seiner Äußerungen erratisch, wie aus der Zeit gefallen. Wałęsa erkennt das selbst und blickt vor allem zurück. „Wir waren es“, sagt er, und der Stolz blitzt aus seinen Augen, „die dem russischen Bären die Zähne ausgeschlagen haben.“ Manches spricht dafür, dass ohne Lech Wałęsa und die von ihm gegründete Solidarność die Weltordnung der Moskauer Politbüro-Greise vielleicht niemals ins Wanken geraten wäre.

Und wieder zurück in Berlin

Zurück in Berlin. Wer steht da nun also in wessen Schatten? Fast scheint es, als könnte der Schatten der kleinen Backsteinmauer so lang sein, dass das ganze Reichstagsgebäude darin verschwinden kann.

 

Mehr über das Europäische Zentrum für Solidarität in Danzig finden Sie hier (in englisch). Das Interview mit Lech Wałęsa aus dem Jahr 2023 ist auf arte abrufbar. 

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