Ich werde Ihnen zuhören, Herr Merz

Ein offener Brief an den neuen Bundeskanzler

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

gewählt habe ich Sie nicht, aber nun sind Sie trotzdem mein Bundeskanzler. Ja: „mein“ Kanzler. Denn ich habe mir vorgenommen, Ihnen mit dem Respekt zu begegnen, den das Amt, das Sie ausfüllen, verdient. Und erst recht habe ich Respekt vor der Größe der Aufgabe und Verantwortung, die nun auf Ihnen lastet. Ich danke Ihnen dafür, dass sie auch für mich diese Last tragen werden. Ich bin überzeugt, dass Sie „das Beste“ für mich wollen, auch wenn wir vielleicht streiten müssten, was genau „das Beste“ ist.

Friedrich Merz auf der Mission ins Kanzleramt – Foto: Sandro Halank, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Ich bitte Sie um nichts, was nur meinen Interessen dient. Ich bin kein Lobbyist für mich selbst. Ich erwarte keine Steuersenkungen und keine Rentenerhöhungen und auch keine anderen Wohltaten zu meinem Vorteil. Ich wünsche mir von Ihnen das, was sich alle wünschen, die guten Willens sind: Sicherheit für dieses Land durch Besonnenheit und kluge Diplomatie, aber auch in angemessener Wehrhaftigkeit. Den Wohlstand erhalten, in dem der größte Teil meiner Mitmenschen, wie ich selbst auch, leben. Dabei dürfen wir nicht weiter die begrenzten, natürlichen Ressourcen vernichten. Dass die Kinder gerne in eine intakte Schule gehen, die Straßen nicht voller Schlaglöcher oder gesperrt sind wegen der maroden Brücken. Dass die Bahn pünktlicher wird. Dass wir uns auf eine integre Polizei und eine unabhängige Justiz verlassen können. Dass wir als Gesellschaft das Ziel der sozialen Gerechtigkeit nicht aus den Augen verlieren, dass wir stets im Blick behalten, wo Not ist und wie wir sie lindern können.

Das alles wünsche ich mir wie Millionen andere, und ich zweifle nicht daran, dass Sie, sehr geehrter Herr Merz, sich genau das vorgenommen haben.

Ich möchte Sie zur Demut ermutigen

Aber ich möchte Sie zur Demut ermutigen. Ich möchte Sie darum bitten – und sei es nur für sich selbst und nicht öffentlich -, sich einzugestehen, dass es ein fraglicher Impuls war, als sie wenige Tage vor der Wahl Ihre Rhetorik gegen Geflüchtete mithilfe fraglicher Behauptungen verschärften („tägliche Gruppenvergewaltigungen“). Dass es unklug war, sich in dieser Sache von rechtsradikalen Demokratiefeinden unterstützen zu lassen. Dass Sie sich nun vornehmen, in Ihrem neuen Amt sich solche zuspitzende Impulsivität nicht mehr zu genehmigen.

Ich möchte Ihnen Mut zusprechen, den Verlockungen der scheinbar einfachen Wahrheiten entgegenzutreten. Politik ist kein Lieferdienst, daher muss sie nicht „endlich liefern“, wie derzeit alle von Ihnen fordern, sondern besonnen und entschlossen handeln. Ich brauche auch gar keinen „Politikwechsel“, sondern verlässliches, nachvollziehbares Regieren im Diskurs, aber ohne verletzenden Streit.

Sie sind Christ, wie ich.

Ganz gewiss werden Sie politische Entscheidungen treffen müssen, die ich inhaltlich kritisieren werde. Ich würde mir wünschen, dass Sie dann so viel an Bedächtigkeit zeigen, passende Worte der Abwägung finden, so dass ich Ihre Entscheidung vielleicht wenigsten verstehen, wenn auch nicht billigen kann.

Sie sind Christ, wie ich. Ich möchte Ihr Sprechen daran messen können. Wenn ich Ihnen künftig zuhören werde, dann hoffe ich auf Worte, die jederzeit dem Ideal einer unteilbaren Menschenwürde gerecht werden. Dem grundlegenden Verständnis für jeden Menschen in Not, egal welcher Rasse, Glaube oder Herkunft er sei. Der immerwährenden Achtung vor der Bewahrung unserer natürlichen Lebensgrundlagen.

Nach allem, was ich über Sie und von Ihnen gehört und gelesen habe, bin ich sicher, dass Sie in reflektierten Momenten genau so denken. Und ich verstehe durchaus, dass ich Ihr politisches Handeln nicht immer nur an diesem Maßstab werde messen dürfen. Denn Sie müssen nun die Interessen Deutschlands in einer Welt und Wirklichkeit vertreten, die sich nicht ausschließlich an den Grundwerten der UN-Charta oder unseres Grundgesetzes orientiert. Ich weiß das.

Aber Ihre Worte, sehr geehrter Herr Merz, – Ihre Worte sollten es sein. In diesem Sinne vertraue ich Ihnen. Vielleicht bin ich naiv, aber ich werde aufmerksam sein. Nehmen Sie sich in Acht. Ich werde Ihnen zuhören.

Ich wünsche Ihnen gutes Gelingen!

Ihr Andreas Vogt

aktualisiert am 6. Mai 2025

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier – auch zwei weitere Texte über Friedrich Merz aus der Wahlkampf-Phase: Friedrich, der Zaubergeselle und Trump, Merz und der Fosbury-Flop

 

Das Richtige im Falschen – oder umgekehrt?

Mit Theodor Adorno auf der Suche nach einer Zweidrittelmehrheit

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Man dürfe sich nicht davon abhalten lassen, das Richtige zu tun, hat Friedrich Merz wenige Wochen vor der Wahl gesagt, und zwar auch dann, wenn die Falschen zustimmen. Damals ging es um schärfere Regeln für die Einreise von Asylsuchenden nach Deutschland, für die er die Zustimmung der Rechtsextremisten in Kauf nahm.

Es sei besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren, hat im Jahr 2017 Christian Lindner gesagt, als er begründete, warum die FDP die Rolle der Opposition wählte. Aber war das, was dann kam, nämlich eine Koalition aus Union und SPD wirklich falsch? Nach dem Ampel-Aus sehnt sich knapp die Hälfte der Deutschen genau wieder nach dieser Konstellation, finden sie richtig, während die dauerstreitende Scholz-Koalition mit Beteiligung der FDP die unbeliebteste Regierung in der Geschichte der Bundesrepublik war – also wohl falsch.

Nun aber macht nach der Wahl zumindest die Union eine Politik (nämlich viele neue Schulden), die sie noch vor wenigen Tagen als grundfalsch beschimpft hat. Dafür braucht sie die Zustimmung der SPD und der Grünen, die genau das im Wahlkampf gefordert hatten. Was genau ist nun richtig, und was ist falsch?

Von einem klugen, komplizierten Text …

Der deutsche Philosoph Theodor W. Adorno (1903 – 1969), Grafik von von Leandro Gonzalez de Leon via Wikimedia

Ein kluger, aber auch komplizierter Text dazu lässt sich im Internet abrufen. Es ist ein sprödes, engbuchstabiertes Dokument mit mehr als 150 Kapiteln, und der Abschnitt, um den es in der richtig/falsch-Frage geht, trägt die Ziffer 18. Er umfasst ziemlich genau eine Schreibmaschinenseite (wie man früher gesagt hätte, aber Schreibmaschinen gibt es nicht mehr). Der deutsche Philosoph und Soziologe Theodor Adorno hat ihn als Teil seines Werkes „Minimal Moralia“ verfasst. Die wenigsten kennen diesen Text, aber fast alle seinen letzten Satz: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

Die 150 Überlegungen Adornos zur „kleinsten Ethik“ sind schwere Kost – und damit vielleicht gut geeignet als Symbol für die heutige Zeit. Geschrieben hat er sie im amerikanischen Exil, mit entsetztem, angewiderten Blick auf die moralischen und realen Verwüstungen, die Nazis und der Zweite Weltkriegs in seiner Heimat Europa angerichtet haben. Adorno beschreibt unter Ziffer 18 die Unmöglichkeit, unter diesen Umständen überhaupt zu wohnen – er sucht im übertragenen Sinne „Asyl für Obdachlose“. So ist der Text überschrieben und er trieft vor Pessimismus. Mit einfachen Worten könnte man die ungleich tiefgründigeren Überlegungen Adornos so zusammenfassen: Es ist unmöglich, mit gutem Gewissen zu wohnen. Die meisten Häuser seien ohnehin zerstört, und wer noch über eines verfügt, kann zwar das Grauen der Wirklichkeit mit kunstgewerblichen Schnörkeln zukleistern – aber dann lebt er eben im Falschen, und darin gibt es kein richtiges Leben.

… blieb nur der letzte Satz in Erinnerung

Das vollkommen trostlose Umfeld nach den Verbrechen und Verwüstungen des Weltkrieges ist nicht vergleichbar mit den heutigen Lebensumständen in Deutschland. Dennoch dominiert auch hierzulade jetzt Pessimismus. Viele Deutsche blicken skeptisch in die Zukunft. In einer Wahl haben die Parteien, die ein eher negatives Gesamtbild der deutschen Lage zeichneten, obsiegt gegenüber beispielsweise einer Kampagne, die auf dem Versprechen von „Zuversicht“ basierte. Auch in anderer Hinsicht ist der Text Adornos, der zum berühmten Zitat führt, symptomatisch für das Denken und Handeln dieser Tage: Er ist so kompliziert, sperrig, widrig, wie das kaum entwirrbare Geflecht aus Wirtschaftskrise, Kriegssorgen, Geldnöten und den Unflätigkeiten im Oval Office – wer will sich damit schon beschäftigen? Und so bleibt eben nur der letzte Satz in Erinnerung – jenseits des Zusammenhangs, in einem jederzeit anwendbaren Sinne. Theodor Adorno wollte ganz sicher keinen Kalenderspruch schaffen, als er niederschrieb: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“.

Kann nach wenigen Tagen richtig sein, was vorher falsch war?

Auch diese Zeilen hier sind eine solche ungefragte Aneignung der sechs Worte Adornos. Gibt es „richtige Politik“ durch eine „falsche Regierung“? Gestritten wird ja nun in der politischen Mitte des Landes weniger darum, ob es richtig ist, Milliardenschulden aufzunehmen, um Rüstung einzukaufen und Brücken, die Bahn und die Schulen zu sanieren. Gestritten wird vor allem über den Positionswechsel der Union, die nun auf einmal als richtige Politik das machen möchte, was sie vor wenigen Tagen noch als falsch bezeichnet hatte, und zwar nun mit Hilfe derer, die es immer schon richtig gefunden hätten.

Und umgekehrt: Wie glaubwürdig würde eine grüne Partei handeln, wenn sie nun ihre notwendigen Dienste für eine Politik verweigern würde, die sie im Wahlkampf als richtig versprochen hatte? Die Grünen wurden für dieses Versprechen beschimpft und dezidiert nicht gewählt – sollen nun aber für die notwendige Zweidrittel-Mehrheit sorgen.

Die fachlichen Fragen zu „richtig“ oder „falsch“ in diesem Zusammenhang seien hier einmal nur erwähnt, nicht erörtert. Wie wirken weitere Schulden volkswirtschaftlich? Ist die sprunghaft steigende Schuldenlast verantwortbar für nachfolgende Generationen? Aber auch: Dürfen wir unseren Staat wehrlos ausliefern der Aggression des Nachbarn?  Sind bröckelnde Brücken, Schlaglöcher und marode Gleise nicht auch eine Schuld, die wir unseren Kindern und Enkeln aufladen würden?

Oder war eben das Falsche schon immer richtig?

Für Friedrich Merz war die politische Position von SPD und Grünen solange falsch, solange er noch keine Regierung bilden musste. Nun aber findet er sie offenbar teilweise richtig. Für die Grünen ist Friedrich Merz definitiv der falsche Kanzler, aber seine Politik ist (jedenfalls in der Schuldenfrage) auch für sie grundsätzlich richtig. Deshalb werden sie ihr wohl am Ende zur nötigen Zweidrittelmehrheit verhelfen.

Es scheint gerade so, als gäbe es vielleicht doch das Richtige im Falschen, vor allem, wenn die Falschen es für richtig halten.

 

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Trump, Merz und der Fosbury Flop

Fortschritt und Disruption: Was Politik vom Hochsprung lernen kann

Der amerikanische Hochspringer Dick Fosbury galt als talentierter Athlet, war eher ein Einzelgänger, trainingsfaul und verkopft. Er interessierte sich sehr für Physik und spürte bei jedem Sprung dem kurzen Moment des Gefühls von Schwerelosigkeit nach. Von seinen Trainern ließ er sich nur wenig sagen. Dann aber, am 20. Oktober 1968 in Mexiko führte er der ganzen Welt vor, was er im Hochsprung unter Fortschritt verstand – und gewann damit die Goldmedaille der Olympischen Spiele. Der Fosbury Flop war geboren, eine Disruption, eine radikale Veränderung der Sprungtechnik, nicht mehr mit dem Bauch oder den Beinen über die Latte, sondern flach liegend mit dem Rücken. Anfangs wurde gelacht, aber innerhalb weniger Monate setzte sich die neue Technik weltweit durch.

Im Liegen über die Latte fliegen: Mit einer disruptiven Veränderung hat 1968 Dick Fosbury mit seinem Olympiasieg den Hochsprung verändert. Es war eine radikale Disruption. Funktioniert das auch in der Politik? Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

So also kann Fortschritt funktionieren: Das Alte betrachten, nachdenken, es schrittweise verbessern – oder auch mit einem radikalen Eingriff, einer grundlegend neuen Vorgehensweise, die das Alte über Bord wirft. „Fortschrittskoalition“ hatte sich in ihren Anfangsstunden jene deutsche Regierung der „Ampel“-Parteien genannt. „Mehr Fortschritt wagen“, so war der Koalitionsvertrag überschrieben. Gemeinsam wolle man „die Dinge vorantreiben und damit auch ein ermutigendes Signal in die Gesellschaft hinein setzen: dass Zusammenhalt und Fortschritt auch bei unterschiedlichen Sichtweisen gelingen können“. Wer möchte, kann sich auf YouTube noch heute die Bilder von den ersten Tagen dieser Regierung ansehen: Ein Minister auf dem Fahrrad, die Ernennungsurkunde auf den Gepäckträger gespannt, eine Außenministerin, die mit dem Zug von Paris nach Brüssel fährt und ein Kanzler Scholz, der sich (im gleichen Film) Hoffnung auf kooperatives Zusammenwirken in den nächsten Jahren des gemeinsamen Regierens macht.

Fortschritt als Leitmotiv: Nicht alles anders, vieles besser

Das ist ja nun gründlich danebengegangen. Was ist misslungen? Es könnte sich lohnen, dem Fortschritt als Leitmotiv nachzuforschen, verspricht er doch immerhin eines: Es soll vorwärts gehen, der Zukunft zugewandt, das Bessere suchen, nicht das Vergangene wiederherstellen. Vor drei Jahren wollte die in Deutschland regierende „Ampel“ den Fortschritt stückchenweise erreichen, nicht „alles anders, sondern vieles besser machen“ (wie Altkanzler Schröder einmal nach der Ära Kohl sagte).

Solche Geduld ist offensichtlich aus der Mode geraten. Die Bilder aus den USA, die den frisch wieder im Amt befindlichen Donald Trump zeigen, wie er stapelweise „Executive Orders“ unterscheibt, haben auch hierzulande Eindruck hinterlassen. Endlich soll Schluss sein mit dem mühsamen Palaver, vorbeisein soll das langweilige Warten auf „echte“ Veränderungen. Stattdessen: Disruption. Trump macht es vor: Ein radikaler Eingriff, eine Unterschrift, eine Anweisung, zack – und die Sache ist geändert.

„Am ersten Tag meiner Amtszeit“, sagt nun also Friedrich Merz, „werde ich anweisen, dass an den Grenzen alle Versuche illegaler Einreisen ausnahmslos abgewiesen werden.“ Es soll sich also endlich etwas ändern, wenn der neue Kanzler im Amt ist, und zwar von einem Tag auf den anderen.

Eine Unterschrift und zack, die Sache ist geändert?

Allerdings ist zu erwarten, dass sich erstmal gar nichts ändert. Illegale Einreisen nach Deutschland sind schon jetzt verboten. Wer an der Grenze Asyl beantragt, reist nicht illegal ein, sondern nutzt europäisches und deutsches Recht. Gewiss kann man den Umgang damit verändern, vielleicht sogar mit Polizeigewalt das Überschreiten der Grenze verhindern. Abgesehen davon, was das bei Deutschlands Nachbarn auslöst – was genau soll geschehen, wenn der illegal Einreisende eine Wanderung ein paar hundert Meter nach links oder rechts des offiziellen Grenzübergangs macht? Zäune? Wasserwerfer? Schusswaffen?

Mit den so spektakulär unterschiebenen Orders des amerikanischen Präsidenten verhält es sich ähnlich. Zwischen der Unterschrift vor Fernsehkameras und der Umsetzung liegen lange Wege, rechtliche Hindernisse, Prozesse und föderale Widerstände. Es fühlt sich an wie eine Disruption, aber es ist keine wirkliche Veränderung, sondern eine effekthascherische Showeinlage.

Disruptionen gegen den Fortschritt

Dick Fosbury wollte den Fortschritt. Er erdachte den nach ihm benannten Flop, weil er höher springen wollte als die Konkurrenz mit ihrer althergebrachten Technik. Die Trumps und Musks – und in ihrem Gefolge die deutschen Konservativen, wollen nicht den Fortschritt. Ihre Disruptionen sollen uns dorthin zurückführen, wo wir herkommen: Wiedereinführung der Kernkraft (ohne Klärung der Frage des Atommülls), das neue Wahlrecht rückgängig machen (also wieder einen XXL-Bundestag zulassen), zurück zu Diesel und Benzin (also Abschied von den Klimazielen), das sogenannte „Heizungsgesetz“ aufheben (obwohl sogar die betroffenen Lobbyorganisationen dies kritisch sehen). Die Rechtsradikalen wollen gar die „Windmühlen der Schande“ absägen, die FDP mehr Milei (Kettensäge) und Musk (Hitlergruß) wagen. Sollen das die Veränderungen sein, die uns in die Zukunft führen?

Die konservative Seite der Politik argumentiert nicht mehr erhaltend und entwickelnd, wie es ihre Aufgabe im politischen Diskurs wäre, sondern radikalverändernd rückwärtsgewandt.  Und sie hat sich verliebt in die neue Ästhetik der Schein-Disruption: Nicht lange diskutieren, lieber schnelles Ändern – oder es wenigstens so aussehen lassen. Der Soziologe Armin Nassehi hat in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung dies als „Disruptive Kontinuität“ bezeichnet. Man müsse im politischen Wettbewerb heute mehr Kausalität zwischen Handlung und Wirkung vorspielen, als fachlich haltbar ist.

Der Fortschritt will erarbeitet sein, mühsam, Stück für Stück

Will heißen: Erfolgreich sind im Zeitalter der Sozialen Medien solche Politiker, die dem Volk erzählen: Nach der Wahl mache ich erstens, zweitens, drittens – und dann ist alles wieder so wie vorher: Keine Mordüberfälle mehr, die Arbeitsplätze alle sicher, die Wohnungen billig und die Bahn pünktlich. Und nach Amtsantritt machen sie erstens, zweitens, drittens, unterzeichnen wirkungslose Absichtserklärungen und Anweisungen von fraglichem rechtlichen Bestand – aber bestens sichtbar für die Kameras, millionenfach geteilt hinein in das zufriedene Wahlvolk. Nichts wird sich dadurch ändern: Der nächste Anschlag durch einen psychisch Kranken wird uns ereilen, die Konjunktur erholt sich nicht von heute auf morgen, die Miete bleibt gleich hoch, und der lästige Personenschaden auf den Gleisen sorgt noch immer für Verspätungen.

Und ein paar Jahre später dann das gleiche Spiel. Bis wir es gelernt haben, dass wir wohl die Geduld werden aufbringen müssen, uns den Fortschritt zu erarbeiten, mühsam, Stück für Stück. Dick Fosburys Sprung war eine Disruption – aber vorher hat er jahrelang dafür trainiert.

 

 

Eine gute Zusammenfassung der Geschichte von Dick Fosbury, die ich auch als Informationsgrundlage für meinen Textes genommen habe, findet sich in der Neuen Züricher Zeitung vom 14.4.2020, der online gebührenfrei verfügbar ist.

 

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Friedrich, der Zaubergeselle

Die Geschichte vom Zauberlehrling – und die bösen Besen von heute

Friedrich ist kein Zauberlehrling, er ist ein alter Zaubergeselle. Schon seit vielen Jahren. Nun will er die Meisterprüfung ablegen – endlich. Der alte Geselle hat viel mehr Erfahrung als jeder andere Lehrling im Berliner Zauberbetrieb, und gerade deshalb darf ihm nicht passieren, was man einem Lehrling vielleicht noch verzeihen könnte.

Der Zaubergeselle – bald ein Meister? Foto: CDU/Tobias Koch (www.tobiaskoch.net)

Die Geschichte vom Zauberlehrling ist eine wunderbare Parabel von Meisterschaft und Dilettantismus, vom Unterschied zwischen Schläue und Klugheit. Johann Wolfgang von Goethe hat sie im Jahr 1797 in einer Ballade erzählt: Ein Zaubermeister ist außer Haus gegangen, und sein Lehrling hat keine Lust, das Wasser, das er benötigt – wofür auch immer -, selbst vom Fluss zum Haus herauf zu schleppen. Also befielt er mit dem abgehorchten Zauberspruch des Meisters dem Besen, ihm das Wasser zu holen. Und die Sache funktioniert: Eimer um Eimer wuchtet der Besen heran, bald ist es mehr als genug – und da erst fällt dem Lehrling auf: Er kannte zwar das Wort, das den Besen in Bewegung setzt, nicht aber jenes, das ihn wieder davon abbringt.

Der Zauberlehrling hatte das Ende nicht bedacht

Die Wasser ergießen sich bereits über das ganze Haus, und in seiner Verzweiflung greift der Lehrling zur Axt, will den Besen zerschlagen und spaltet ihn in zwei Teile. Dieser brutale Eingriff aber macht alles nur noch schlimmer. Nun hat sich der Besen verdoppelt und zwei seiner Art schleppen immer noch mehr Wasser herbei. Dann endlich, in allerhöchster Not, erscheint der Meister. Wenige, aber richtige, Worte von ihm genügen, um dem Spuk ein Ende zu bereiten. Der Lehrling bleibt bedröppelt zurück, die Grenzen seines Könnens waren ihm höchstpersönlich vorgeführt worden. Er war schlau gewesen – aber nicht klug. Sein größter Fehler: Er hatte das Ende nicht bedacht.

Friedrich bringt vieles dafür mit, was ihn zum Meister gereichen könnte: Er hat Erfahrung und Anstand, er scheut keine Verantwortung, er ist mutig, redegewandt. Er begegnet Mitmenschen und auch Andersdenkenden meistens mit Respekt – vielleicht weniger in seinen manchmal scharfzüngig gewählten Worten, aber immerhin dann, wenn er ihnen unmittelbar gegenübersteht. Friedrich ist oft ein wenig steif und altmodisch, aber er ist rechtschaffen. Und er war glaubwürdig. Mit überzeugendem Tremolo hatte er selbst es verlangt: Niemals dürfe ihm oder sonst wem der Besen zu Hilfe kommen, niemals würde er es zulassen, dass der Besen darüber entscheiden könne, ob eine Sache obsiegt oder nicht.

Ein Hologramm wollte er aufscheinen lassen

Es sah also ganz danach aus, als habe er sich nun endlich die Würde für den Meistertitel erarbeitet. Dann aber kam jener Moment des unüberlegten und ungeduldigen Übermuts, in dem Friedrich den kurzfristigen Erfolg haben, ein fadenscheiniges Symbol von Handlungsstärke in die Welt setzen wollte. Ein Hologramm wollte er aufscheinen lassen von angeblich notwendiger Veränderung.

Dafür ließ Friedrich zu, dass der Besen ihm das Wasser reichte. Er tat, wie ihm geheißen, er spaltete sich gleich mehrfach auf und holte Stimmen herein. Während Friedrich noch zufrieden das Ergebnis seines durchscheinenden Werkes betrachtete, hörte der Besen nicht mehr auf ihn. Am Rednerpult des hohen Hauses verhöhnte der Besen seinen unüberlegten Kommandeur: Da säße der Geselle jetzt mit schlotternden Knien, spottete er, da wäre es doch besser, wenn er sich gleich der neuen Herrschaft der Besen anschließen würde, falls er dazu noch die Kraft habe.

Das Richtige mag er gewollt haben, aber was hat er verloren?

„Die ich rief, die Geister, werd´ ich nun nicht mehr los“, klagt bei Goethe der unbedachte Zauberlehrling. Auch Friedrich, der Zaubergeselle, klagt: Er habe doch mit dieser scheußlichen Besenschar nichts zu tun, die sich feixend in die Arme fielen, nachdem er ihre Hilfe zugelassen hatte. Man solle ihm doch bitte glauben, fleht er nun: Er habe nur das Richtige gewollt, da müsse doch jedes Mittel Recht sein?!

Das Richtige mag er gewollt haben, aber seinen wichtigsten Kredit hat er dabei verloren – die Glaubwürdigkeit, das Vertrauen in sein Wort. „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, selbst wenn er die Wahrheit spricht“, reimt der Volksmund. Der Zaubergeselle ist eben kein Meister, er hat das Ende nicht bedacht.

Bald ist Meisterprüfung

So tanzen nun die Besen durch das weite Land und durch das hohe Haus. Wer wird sie nun wieder zurück kommandieren können in die Ecke? Die weise Meisterin ist fort. Sie ist schon im Ruhestand. Auf ihren Ruf aus der Ferne hören die Besen schon lange nicht mehr. Und der Zaubergeselle selbst will sich von der Meisterin ohnehin schon lange nichts mehr sagen lassen.

Bald ist Meisterprüfung. Besteht der Zaubergeselle?

 

Den vollständigen Text der Ballade „Der Zauberlehrling“ von J.W.Goethe finden Sie z.B bei Wikipedia. 

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Hurra, die Ampel ist weg! – Ein Szenario

Hurra, die Ampel ist weg! Und wie geht es dann weiter?

Es begann damit, dass sich Mitte Februar 2024 die Generalsekretäre der mitregierenden FDP und der oppositionellen CDU weitgehend gleichlautend äußerten. Die FDP strebe eine gemeinsame Regierung mit der Union an, sagte ihr Generalsekretär, das sei besser für das Land als die derzeitige Rollenteilung, nach der die FDP ihren Regierungspartnern Grüne und SPD immer die Grundlagen der sozialen Marktwirtschaft erklären müsse. Die Union sei zur Übernahme der Verantwortung bereit, antwortete sein Kollege der CDU, sie habe das bessere Personal und die überzeugenderen Konzepte für die schwierigen Zeiten, in denen man derzeit feststecke und noch dazu schlecht regiert würde. Die bayerische CSU hatte sich ohnehin bereits seit längerem für Neuwahlen ausgesprochen.

„Lieber nicht regieren, als schlecht.“

FDP und Union ließen sich in ihren Überlegungen nicht davon beirren, dass sie nach allen Umfragen weit von einer gemeinsamen Mehrheit im Parlament entfernt wären. In Berlins Hinterzimmern breitete sich rasend ein Fieber aus. Die Union witterte die Chance zur schnellen Machtübernahme, zumal ihrem Vorsitzenden Merz bei einer vorgezogenen Bundestagswahl die Rolle des Kanzlerkandidaten kaum zu nehmen wäre. Auch die CSU hatte ein Interesse an baldigen Wahlen. In diesem Fall würde eine schon beschlossene Änderung des Wahlrechts (von der die CSU sich bedroht fühlte) nicht mehr rechtzeitig in Kraft treten. Eine dazu anhängige Klage beim Bundesverfassungsgericht würde nicht schnell genug entschieden werden.

In der FDP schließlich, gefangen in blanker Verzweiflung ob ihrer stabil unter fünf Prozent  liegenden Umfragewerte, wuchs die Überzeugung, mit einem zuspitzenden Wahlkampf könne man den eigenen Untergang eher abwenden als durch einen Verbleib in der ungeliebten „Ampel“. „Lieber nicht regieren, als schlecht regieren“, sagte ihr Vorsitzender.

Im Land herrschte zudem zweifellos allgemeiner Unmut über die „Ampel“. Es war schick, das Dreierbündnis unter Führung des wortkargen Kanzlers Scholz zu beschimpfen. Bauern blockierten Straßen und Plätze mit sperrigen Traktoren, Wirtschaftsverbände schrieben Brandbriefe, Gewerkschaften streikten allerorten. Die Stimmung war schlecht, und FDP und Union hofften, davon politisch zu profitieren.

Die FDP fand alsbald im Frühjahr 2024 einen Anlass – die sinkende Konjunkturprognose und den Streit darüber, wie ihr ohne neue Schulden zu begegnen wäre -, um aus der ungeliebten Ampel-Koalition auszusteigen.

Die FDP-Minister erklärten ihren Rücktritt

Die FDP-Minister erklärten also mit ernsten Mienen und düsterem Verweis auf die schwere Verantwortung für das Land ihren Rücktritt. Der amtierende Bundeskanzler Scholz stellte im Bundestag die Vertrauensfrage, verlor sie erwartungsgemäß, da die FDP-Abgeordneten gegen ihn stimmten. Der Bundespräsident löste entsprechend dem Grundgesetz den Bundestag auf. Im Juni 2024, zeitgleich zur Europawahl, sollte es Neuwahlen geben. Die Bevölkerung sagte im „Politbarometer“ zu 70%, dass sie das gut findet.

Nun war die Ampel erst einmal weg. SPD und Grüne regierten bis zur Wahl ohne Mehrheit geschäftsführend weiter, und das Volk staunte, dass es plötzlich zwischen den Regierenden und ihren Parteien kaum noch Streit zu vermelden gab. Beide Parteien profitierten davon in den Umfragen. Insgesamt aber überschattete der Wahlkampf die Tagespolitik: Der amtierende Kanzler versicherte dem Volk, dass nur unter seiner Führung in der aktuellen Welt voller Krisen mit Verlässlichkeit zu rechnen sei. Die Plakate zeigten den Kanzler mit nur drei Worten: „Maß und Mitte“. Und siehe da: Ein wachsender Teil der Bevölkerung begann ihm wieder zu vertrauen, obwohl sie ihn noch wenige Wochen zuvor mit minimalen Zustimmungswerten in Umfragen abgestraft hatten.

Ein ruppiger Wahlkampf nach amerikanischem Vorbild

Die Union konzipierte einen ruppigen, zuspitzenden Wahlkampf nach amerikanischem Vorbild. Die Parteien der „Ampel“-Regierung seien allesamt unfähig und in ihrer Inkompetenz eine Gefahr für das Land. In den Umfragen konnten CDU und CSU mit dieser Strategie auch noch zwei Wochen vor der vorgezogenen Bundestagswahl ihren Abstand von etwa zehn Prozentpunkten vor der Partei des Kanzlers, der SPD, verteidigen. In den persönlichen Sympathiewerten bleib der Kanzlerkandidat Merz allerdings zurück, vor allem bei Frauen und jungen Menschen war er nicht besonders beliebt.

Die FDP kämpfte um ihr politisches Überleben. Sie erstritt sie sich mit einem klaren Bekenntnis gegen neue Schulden und für sinkende Steuern in den Umfragen einen halbwegs stabilen Umfrageplatz knapp oberhalb der fünf Prozent.

Die rechtsradikale AfD und die neu gegründete Partei von Sahra Wagenknecht überboten sich mit populistischen Einfältigkeiten und teilten sich ihre Wählerpotential von zusammen etwa 25 Prozent auf.

Das Ergebnis: Die Union siegte

Als schließlich der Wahltag kam, flimmerte das folgende Ergebnis über die hochsommerlich erhitzten Bildschirme:

Die CDU/CSU gewann die Wahl mit 26 Prozent. „Gegen uns kann keine Regierung gebildet werden“, jubelte Merz am Wahlabend. Aber am nächsten Morgen bereitete das Ergebnis allerdings allgemeines Kopfzerbrechen. Die Kanzlerpartei SPD hatte aufgeholt, bleib aber bei 22 Prozent stecken. Die Grünen konnten wenig mehr als ihre eigenen Stammwähler mobilisieren und landeten bei 13 Prozent. Die FDP jubelte: Sie erreichte mit 8 Prozent wieder den Bundestag. Außerdem zogen in das Parlament ein: Die AfD mit 16 und die Wagenknecht-Partei mit 6 Prozent. Alle anderen Parteien, darunter auch Die Linke und die Freien Wähler gingen leer aus. Die Linke gewann in Berlin ein einziges, und die FW in Bayern zwei Direktmandate.

Die Sommerpause im politischen Berlin fiel aus. Die Union konnte Merz nur in einer Dreierkoalition zum Kanzler machen. Eine Zusammenarbeit mit der AfD hatte sie ausgeschlossen, also musste sie zwei der drei anderen demokratischen Parteien zu Partnern erwählen. Für eine „links-grüne“ Mehrheit unter Führung der SPD fehlten die Mandate, zumal die SPD eine Zusammenarbeit mit Sahra Wagenknecht ablehnte.

„Soziale Politik im freien Staat“, hieß das Motto

Nach wochenlangen Sondierungen und internen Auseinandersetzungen innerhalb der Union und in der SPD entschieden sich CDU/CSU für eine Koalition mit SPD und FDP. „Soziale Politik im freien Staat“, stand über dem Koalitionsvertrag. Merz wurde im Oktober zum Bundeskanzler gewählt. Das 100-Tage-Programm sah vor: Keine neuen Schulden, keine höheren Steuern, umfassende Waffenhilfe für die Ukraine, dauerhafte Stärkung der Bundeswehr, ein zusätzliches Sondervermögen für den Wohnungsbau, Aufhebung des sog. „Heizungsgesetzes“.

Die politische Fachpresse in Berlin schlug die Hände über dem Kopf zusammen: Wie sollte das funktionieren? Und schon im November, bei der finalen Verhandlung für den Haushalt 2025, zeigten sich die gravierenden Risse innerhalb der neuen Koalition. Die FDP beharrte auf einem Einhalten der Schuldenbremse und schlug zur Finanzierung von Bundeswehr und Ukraine-Hilfe massive Kürzungen bei den Renten vor, was die SPD entschieden ablehnte. Wie geplant stieg zudem der CO2-Preis weiter an, verteuerte Benzin und Gas. Soziale Kompensationen dafür waren abgeschafft worden, genauso wie die Förderung von ökologisch orientierten Investitionen. Der Einbau von Wärmedämmung, Solaranlagen und Wärmepumpen stagnierte.

Heftiger Frost im Dezember, Bomben auf die Ukraine

Im Dezember gab es – gegen den Trend der letzten Jahre – heftigen Frost. Über Weihnachten zeigte das Thermometer zwei Wochen lang unter minus 10 Grad tagsüber. Die Gasspeicher leerten sich rapide, und ihre Auffüllung ließen die Gas- und anderen Energiepreise in die Höhe schießen. Die Inflation stieg wieder an. An dieser Entwicklung war die neue Regierung zwar schuldlos, trotzdem protestierten Autofahrer und Hausbesitzer heftig. LKW-Unternehmer schlossen sich an, auf wichtigen Autobahnen rollte im Januar tageweise nichts mehr.

Russland intensivierte zeitgleich seinen Bombenkrieg gegen die Ukraine. Heftiger Bombenhagel ging auf Kiew und die ukrainischen Großstädte im Westen des Landes nieder. Die katastrophalen Folgen lösten einen neuen Flüchtlingsstrom nach Deutschland aus. Vor allem Frauen und Kinder flohen vor den Zerstörungen in ihrer Heimat, und die deutschen Kommunen erklärten erneut, sie könnten die Unterbringung nicht mehr gewährleisten. Trotz dieser Ausnahmesituation beharrte die FDP auf der Schuldenbremse.

Die neue Regierung war noch nicht einmal ein halbes Jahr im Amt, als sie in ein noch nie dagewesenes Umfragetief rutschte. „Merz muss weg!“, skandierten die hupenden Lastwagenfahrer im Chor mit wütenden Rentnern. DGB und VdK mobilisierten in Großdemonstrationen. In den Umfragen profitierten von der rebellischen Stimmung die Radikal-Parteien AfD und BSW, sowie die Grünen in der Opposition. 70% der Bevölkerung stimmten der Aussage zu: „Mit dieser Regierung bin ich unzufrieden.“

Dann ein Interview im „Bericht aus Berlin“

Der Generalsekretär der SPD gab dem „Bericht aus Berlin“ im Februar 2025 ein Interview: Er wünsche sich eine Zusammenarbeit mit den Grünen, da müsse man nicht immer allen anderen die soziale Komponente der Marktwirtschaft erklären. Die Parteiführung der Grünen antwortete prompt: Man stehe zur Verfügung. Am besten auf dem Weg über baldige Neuwahlen.

 

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Der große alte Kater auf dem Baum

Eine politische Fabel

(1)

Als der große alte Kater auf schwankendem Geäst in der Baumkrone hockte, mühsamen Halt suchte am einzigen halbwegs stabilen Ast, ärgerte er sich sehr über sich selbst. Es dunkelte bereits sachte, und der Wind zerwühlte sein Fell unangenehm.

Bild von Amy auf Pixabay

 

Wie war er nur in diese Lage geraten? Er hatte doch den jungen Katzen schon ungezählte Male gepredigt, dass sie sich hüten sollten vor den Verlockungen der hohen Bäume. Das Hinaufklettern lohne sich nicht, die flinken Vögel seien ohnehin schneller weggeflogen, als so eine Katze dort oben sein könnte. Und so verlässlich die gebogenen Krallen beim Heraufsteigen helfen würden, so untauglich würden sie sich erweisen, wenn man wieder hinunterwill. Dann geben sie kaum Halt, mühsam müsse man sich rückwärts hinabarbeiten, ohne den sicheren Blick dorthin, wo es entlang geht. Es sei kein guter Platz für Katzen und Kater auf den Bäumen, hatte er doziert, und die Jungen hatten respektvoll genickt und geschnurrt und ihm geschworen, an seine Worte zu denken.

Nun aber saß er selbst auf diesem Baum, und seine große Erfahrung hatte ihm nichts genutzt, um die peinliche Lage zu vermeiden, in die er geraten war. Es war schrecklich.

(2)

Begonnen hatte alles bei der letzten Wahl zum Mächtigsten aller Tiere. Es gab sehr viele Tiere in diesem Land, und alle gemeinsam hatten sie einen Gegner: die Menschen. Die Menschen zerstörten systematisch alles, was die Tiere zum Leben brauchten. Die Menschen waren es, die das Gras und die Blumen vergifteten und damit den Mücken und Bienen und Wespen die Grundlage ihrer Existenz nahmen. Die Menschen warfen Plastikmüll in das Wasser, in dem die Fische schwammen. Sie fällten die Bäume, auf denen die Eichhörnchen und Fledermäuse wohnten und verpesteten die Luft, durch die die Vögel flogen. Manche Tiere hielten die Menschen sogar in schauderhaften Gefängnissen, schlachteten sie, und aßen sie auf.

Die Tiere waren sich also zwar grundsätzlich einig, dass sie alle ihre Kräfte auf den Kampf gegen den Menschen richten sollten – aber wie dieser Kampf zu führen sei, darüber stritten sie erbittert. Viel zu viele interessierten sich überhaupt nicht für die Geschicke der Gemeinschaft, sondern waren nur damit beschäftigt, wie sie etwas zu fressen finden. Die unpolitischen Rinder und Schweine zum Beispiel hatten noch immer nicht begriffen, welches Ende ihnen bevorstand. Andere, wie die flinken Rehe oder die stolzen Hirsche waren einfach nur dumm. Die eitlen Pudel und die schillernden Pfaue betrachteten von morgens bis abends nur sich selbst im Spiegel. Es gab verachtungswürdige Anpasser in der Tierwelt, wie die Mäuse und die Ratten, die glaubten, sie könnten sich den ganzen giftigen Unrat der Menschen auch noch zunutze machen.

Die Lage der Tiere war ernst, und der große alte Kater wusste das schon seit langem. Aber seit vielen Jahren hatte die Chefin der Katzen und Kater die Position als Mächtigste aller Tiere inne. Sie war mit ihrer ganzen Geduld und Ausdauer, mit Klugheit und Raffinesse tätig gewesen, hatte vermittelt zwischen den Füchsen und Gänsen, hatte die Katzen gemahnt, nicht mehr als nötig den Mäusen oder Vögeln nachzustellen, hatte sogar den größten Teil der Hunde, soweit sie nicht blaubraun waren, bei halbwegs erträglicher Laune gehalten.

Ihn, den großen alten Kater, hatte diese machtbewusste Katze allerdings weggebissen, verscheucht mit Fauchen und scharfen Krallen, und er hatte deshalb lange warten und ausharren und sich verstecken müssen, bis endlich die Chance bestand, selbst zur Wahl des Mächtigsten aller Tiere anzutreten.

Aber es kam anders. Als die kluge alte Katze ihr Amt abgab, drängte sich ein freundlicher Grinsekater als Chef der Katzen vor. Der Grinsekater grinste allerdings auch dann, wenn es nicht passte, und verstand zu spät, dass ihm das Ansehen und Wahlsieg kosten würde. Bei der großen Wahl aller Tiere hatten so die roten Ameisen, die grünen Vögel und die gelben Badeenten gemeinsam die Katzen von der Macht verdrängt. Sie hatten eine rote Ameise zum Mächtigsten aller Tiere gewählt und sofort zu regieren begonnen.

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Der große alte Kater konnte es nicht fassen, dass es soweit gekommen war. Er war fest überzeugt davon, dass er nicht nur größer, sondern auch schneller und auch viel klüger war als alle diese roten, grünen und gelben Kleintiere zusammen. Deshalb verjagte er den freundlichen Grinsekater und wurde bald selbst Chef der Katzen und Kater. Im neuen Amt verspottete er die fleißigen roten Ameisen, und warf deren Chef vor, nicht wirklich ein Mächtigster aller Tiere zu sein, sondern nur und ohne Orientierung auf dem Boden der Tatsachen herumzukrabbeln. Er fauchte den flatternden grünen Vögeln nach und schlug mit seinen scharfen Krallen auf die gelben Badeenten ein, die ohnehin damit rangen, im Teich der Meinungen nicht ganz zu ertrinken. Sie alle sollten keine ruhige Minute haben, solange nicht er der Mächtigste aller Tiere sein würde.

Dabei wusste der große alte Kater, dass in der Tierwelt die blaubraunen Hunde besonders gefährlich und rücksichtslos waren. Die waren nicht dumm, sondern bösartig. Sobald sie andere Tiere auch nur sahen, kläfften sie ganz fürchterlich, verbreiteten Angst und Schrecken. Die blaubraunen Hunde waren intrigant und verlogen, erzählten zum Beispiel den Gänsen, dass allein die Enten daran schuld wären, wenn sie von den Füchsen angegriffen werden. Die blaubraunen Hunde waren ein echte Plage, sie wurden immer mehr, und sie bedrohten auch die Katzen. Der große alte Kater hatte daher alle Pfoten voll damit zu tun, seinen Katzen und Katern gut zuzureden, dass sie sich nicht fürchten sollten vor diesen Hunden, sondern sich ihrer eigenen Krallen, ihrer Schnelligkeit und ihrer Klugheit bewusst sein sollten.

Wenn der große alte Kater in ruhigen Momenten auf seinen Samtpfoten durch das Gras streifte, so dachte er sich, dass alle Tiere gemeinsam den Terror der blaubraunen Hunde irgendwie loswerden müssten, um sich ganz und gar gegen die Zerstörungswut der Menschen wehren zu können. Andererseits ärgerte er sich so sehr darüber, dass nicht er, sondern die lächerlichen Ameisen, die flatterigen Vögel und die albernen Badeenten den Staat der Tiere regierten, dass er sich weigerte, mit diesen bunten Kreaturen irgendetwas gemeinsam zu unternehmen. Und über diesen Ärger vergaß er auch immer wieder die blaubraunen Hunde.

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Eines schönen Tages war der große alte Kater mal wieder auf einem seiner Rundgänge unterwegs. Er war noch immer ein guter Streuner, er konnte sich lautlos heranschleichen, wenn es sein musste, aber auch wild fauchen, wenn er sich bedroht fühlte. Die Sonne stand schon tief über dem Horizont und tauchte die Welt der Tiere in ein mildes Licht – als plötzlich eine ganze Horde der blaubraunen Hunde auf den großen alten Kater zugestürmt kam. Es war furchterregend; die Biester fletschten ihre Zähne, die Zungen hingen gierig heraus, sie bellten wie wild und machten einen Höllenkrach.

Was hätte er tun sollen? Der große alte Kater war allein unterwegs, er war ratlos, und die Hundehorde kam immer näher. In höchster Not fauchte er sie an, buckelte so hoch er konnte, zeigte den heranbrausenden Biestern sein giftigstes Funkeln und seine schärfsten Krallen, aber die ließen sich davon nicht beeindrucken.

Da erinnerte sich der große alte Kater an die verlockende Höhe des Baumes der einfachen Wahrheiten. Er verehrte und bewunderte diesen Baum schon seit Längerem: So ein schöner starker Stamm, so eine prächtige Höhe! Von seiner Krone, gut geschützt vom rauschenden Blätterwald, sicher geborgen im starken Geäst – das versprach Rettung vor der gierigen blaubraunen Meute. Im allerletzten Moment flüchtete er sich dorthin, sprang auf dem Stamm hinauf, krallte sich fest in der borkigen Rinde der Zustimmung, die seinen Krallen wunderbaren Halt gab, vergaß alle Warnungen, die er selbst so oft gepredigt hatte, und stieg hoch und immer höher, während unten die blaubraunen Hunde bellten und kläfften, ihre Zähne in die Rinde schlugen, ihren Geifer ins Gras tropfen ließen – aber nicht an ihn herankamen.

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Das war knapp gewesen. Doch nun saß er auf dem Baum, ganz oben, erstmal in Sicherheit. Das Geäst war nicht so stabil, wie er erwartet hatte, der Sichtschutz der Blätter weniger dicht als gewünscht. Und vor allem: Wie sollte er von dort wieder herunterkommen?

Da hörte er ein leises Krabbeln und Kribbeln, ein Zirpen und Zischeln, ein Trippeln und Trappeln. Es war zunächst mehr ein Rauschen als ein definierbares Geräusch. Der alte Kater stellte seine Ohren auf und bald lauschte er aus dem ganzen Durcheinander sogar einzelne Töne heraus. Nun war auch schüchternes Piepen zu vernehmen, mutiges Quaken, fröhliches Brummen. Ungläubig blickte der alte Kater aus seinem Versteck nach unten: Hunderttausende Ameisen wanderten dort, auch Zikaden und Grillen, schüchterne Mäuse, ein paar vorlaute Ratten, lärmende Laubfrösche, auch die eine oder andere Katze schlich mit, sogar ein paar ungelenke Badeenten waren dabei – sie alle zogen unter ihm vorbei. Ein nicht enden wollender Strom von Tieren aller Art zog dahin, und sie alle zirpten und brummten und quakten und miauten nur den einen Satz: „Weg mit den blaubraunen Hunden!!“

Das ganze Land der Tiere war hier unterwegs, endlos zogen die Kolonnen unter ihm entlang, pfeifend und singend flatterten die Vögel mit, brummend und keuchend, bunt und vielfältig, aber einig und ohne Streit ging es voran im großen Marsch der Tiere. Da saß er nun, der alte Kater, oben auf dem Baum, und wusste nicht, wie er von dort wieder herunterkommen sollte. Aber am schlimmsten war: Offenbar vermisste ihn niemand.

 

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