Kath. Kirche Von der Verklärung des Herrn, Neufahrwasserweg 8, 12685 Berlin-Marzahn
Mein Besuch am 11. Juni 2021
„Von der Verklärung des Herrn“ in Berlin-Marzahn
Der Berliner Stadtteil Marzahn steht bis heute wegen der unfassbaren Ansammlung von Plattenbauwohnungen vor allem bei Westberlinern und Westdeutschen in äußerst zweifelhaftem Ruf. Mehr als 100.000 Menschen leben da heute – die allermeisten davon in renovierten Hochhäusern – für eine katholische Kirche echte Diaspora. Die Kirche „Von der Verklärung des Herrn“ thront unmittelbar über der vierspurigen Landsberger Allee. Ihr Grundstein in Berlin-Marzahn wurde 1984 gelegt, das Geld für den Bau kam größtenteils aus dem Westen. Eröffnet wurde sie 1987.
Die ausdrucksstarke Christus-Figur von Hans Perathoner
Mich empfängt ein nüchterner, moderner Kirchenraum ohne architektonischem Schnickschnack, daneben ein alleinstehender moderner, ebenso schlichter Kirchturm. Mutig war die Gemeinde in der Ausstattung. Eine vier Meter hohe Figur von Christus am Kreuz (aber ohne Kreuz) dominiert den Raum, und sagt ohne ein Wort alles über das Leid am Kreuz, idealisiert nichts und redet nichts schön am Tod. Die Figur stammt aus dem Jahr 1930 und wurde vom Tiroler Künstler Hans Perathoner geschaffen, der sie aus einem einzigen Eichenstamm herausschlug. Seither wandert sie wie ein Untoter durch verschiedene Depots und Kirchen Berlins, da sie „nicht den üblichen Kirchenvorstellungen“ entsprach (wie ein diplomatisch formulierender Autor auf Wikipedia schreibt) und ist jetzt als Leihgabe in dieser modernen Kirche gelandet. Kirchenasyl für einen leidenden Christus in Marzahn.
Gethsemanekirche, Prenzlauer Berg, Stargarder Str. 77, 10437 Berlin
Mein Besuch am 17. Juni 2021
Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg
Das Pflaster glüht. 36 Grad zeigt das Thermometer, gefühlt sind es über vierzig. Im hochsommerlich aufgeheizten Prenzlauer Berg ducken sich die Straßencafés in den staubigen Schatten unter kümmerliche Sonnenschirme. Blanke Haut dominiert das Straßenbild, überhitzte Kinder, Eis-kaufende Eltern, sich matt dahinquälende Senioren versuchen ein nebeneinander im Kiez. Und inmitten dieser aufgeheizten Lebendigkeit steht stolz und thronend eine neo-romanische Kirche aus rotem Backstein. „Homophobie ist Sünde“ prangt als Transparent über dem Eingang der 1893 errichteten Gethsemanekirche.
Selten bekommt man eine so klar politisch orientierte Kirche zu sehen. Hier ist das Engagement für Menschenrechte nicht Nebensache, sondern steht mindestens gleichberechtigt neben der Verkündung der christlichen Botschaft. Am Zaum hängen Biografien politische Verfolgter, in der Kirche liegen Unterschriftenblätter für Solidaritätsbekundungen aus – gegen politische Verfolgung in China, der Türkei oder Belarus, für das Volksbegehren zur Enteignung der Deutschen Wohnen, für eine Schließung der menschenunwürdigen Lager an den EU-Außengrenzen. Jeden Tag um sechs finden sich in der Kirche Gläubige zu einer „Politischen Andacht“ zusammen. Diese Kirche ist ein unbequemer Ort, ein lauter Schrei für mehr Engagement gegen das Unrecht auf dieser Welt. Und das war sie auch in der Zeit des Nationalsozialismus, als die Pfarrersfrau hier Juden versteckte, und in den letzten Monaten der DDR, als sich im Schutz dieser Kirche die friedliche Umwälzung formierte. In einer kleinen Ausstellung sind die Bilder von 1989 zu sehen, dichtgedrängt saßen die Menschen im schönen, weiten, damals prall gefüllten Kirchenraum, hören dem Pfarrer zu, der Staat und Demonstranten auffordert: „Keine Gewalt!“. Von vollgefüllten Bänken kann jetzt keine Rede mehr sein bei der politischen Andacht. Wird Kirche von heute noch einmal so relevant werden für die Gesellschaft wie in diesen Zeiten? Die Gethsemanekirche ist der richtige Ort, genau darüber nachzudenken.
Hell und weit wie eine Arena: Der Innenraum der Gethsemanekirche
Und sie ist auch ein schöner Ort. Das weite Kirchenschaff entfaltet im Inneren eine fast runde, arena-artige Raumwirkung, eine einladende Halle für Stille, für Andacht, für Musik. Außen kann man um die Kirche herum gehen; was einmal ein Friedhof war, ist jetzt ein kleiner grüner Ort der Regeneration, mit Kunst unter großen Bäumen, mit schattigen Bänken.
Eine alte, mit ihrer langen Geschichte ehrfürchtig machende, stille Kirche. Ihre Gründungsgeschichte reicht in das 13. Jahrhundert zurück, und zuletzt in den Jahren des Sozialismus kämpfte die Kirchengemeinde gegen den Verfall ihres Gotteshauses an. Jetzt erstrahlt sie in renoviertem Glanz: ein weites, strenges Kirchenschiff unter einer hölzernen Decke, davor ein Altarraum hinter gotischem Spitzbogen.
Mich hat vor allem das ungewöhnliche Äußere dieser Kirche beeindruckt: ein wuchtiger, sich an das Kirchenschiff heranduckender Turmbau, der die ganze Breite des Kirchenschiffs einnimmt, und durch den man die Kirche betritt. Im Vorraum findet sich eine Gedenktafel an das erste Friedensgebet in Eisenberg in dieser Kirche am 25. Oktober 1989.
Vor der Stadtkirche: der „Mohrenbrunnen“
Vor der Kirche steht ein ungewöhnlicher Brunnen, der einen „Mohren“ zeigt, der sich aus einem Trinkgefäß labt. Die Figur stammt immerhin von 1727 und soll an eine Sage erinnern: Danach wurde in Eisenberg zur Zeit der Kreuzzüge ein versklavter Diener des Diebstahls aus dem Schmuckbestand einer Gräfin bezichtigt, zum Tode verurteilt, aber kurz vor der Hinrichtung begnadigt, da die Gräfin das verlegte Schmuckstück wieder gefunden hatte. Zur Entschädigung sei der Diener in Freiheit entlassen und in das Eisenberger Stadtwappen aufgenommen worden. Wollen wir das glauben?
Drei Monate in der Hauptstadt, und kein Ende der Chancen in Sicht. Der Flaneur ist nicht fertig mit dieser Stadt, aber seine Berliner Zeit ist erst einmal vorbei. Was lernt ein Stuttgarter nach drei Monaten in Berlin?
Rechne mit allem
Ein halbnackter Indianer mit Federschmuck auf dem Gehweg neben Dir? Nur kein Aufsehen deshalb. Ein Häufchen Demonstrierender quert mit dröhnendem Sound Deinen Weg und Du verstehst nicht einmal, worum es geht? Einfach abwarten und vorbeiziehen lassen. Berlin ist ein brodelnder Kessel, steckt voller Überraschungen, die aus ihm aufsteigen. Jederzeit können Menschen, Fahrzeuge, Tiere, Gerüche, Ideen, Chancen, Absurdes und Geniales, auftauchen, mit denen ein naiver Besucher zuallerletzt rechnet. Lass Dich überraschen!
Scheitere lustvoll an der Unendlichkeit der Möglichkeiten
Berlin überrascht …
Berlin zu erkunden, gleicht dem Versuch, die Unendlichkeit zu vermessen. Was diese Stadt hoch- und subkulturell vorhält, anbietet an Orten des Lernens und Gedenkens, des Spürens und Lesens und Hörens, des Grau und Grün und Bunt, des Laut und Leise – das wird man niemals alles erfassen können. Denn es entsteht täglich Neues, mehr und schneller, als der Besucher erleben kann.
Spüre Deine Wunden
Berlin mahnt …
Berlin lehrt jeder und jedem Deutschen, dass wir mehr sind als eine Nation der Auto-Erfinder und manchmal erfolgreichen Fußballer. Man muss nur hinsehen, nicht achtlos vorbei oder darüber hinweg latschen: Berlin erinnert auf fast jedem Schritt an die Brüche deutscher Geschichte. Es sind die Wunden der Nation und ihrer Entstehung, die wir in Berlin spüren, wenn wir es zulassen. Es ist Berlin, das oft stellvertretend für uns alle am Kreuz unserer Geschichte leidet.
Sei Dir Deiner Privilegien bewusst
Armut begleitet den Alltag auf vielen Straßen in dieser Stadt, sicherlich nicht nur, aber stärker wahrnehmbar in Berlin als in anderen deutschen Großstädten. Menschen, die sich mit dem Sammeln von Flaschen ihre Rente aufbessern, oder Migranten, die auf der Straße während der roten Ampelphasen das Fenster putzen oder Jonglierkunststücke vorführen, tun das auch hier nicht, weil es ihnen Spaß macht, sondern weil sie Geld brauchen für ein Leben in der großen, manchmal teuren, immer gnadenlosen Stadt.
Überprüfe Deine Vorurteile
Berlin funktioniert …
Es ist leicht, über Berlin zu lästern. Aber gemessen an den Klischeebildern, die der Rest der Republik auf die Hauptstadt klebt, funktioniert Berlin prächtig. Ja, so manches ist unzulänglich. Manchmal quellen die Mülleimer über, und nicht immer und überall fühlt man sich wohl in dieser Stadt. Die endlose Bauphase des Flughafens war geeignet für Hohn und Spott. Manchmal trifft man auf Menschen, deren „Berliner Schnauze“ sich mit sprödem Charme zu einer äußerst gewöhnungsbedürftigen Form von Kundenorientierung mischt. Aber auch das Gegenteil ist zu erleben: Humor und Engagement helfen über viele Hürden.
Bleibe gelassen
Nach dreihundert Metern rechts abbiegen, rät das Navi? Noch kein Grund, auf die rechte Spur zu wechseln. Vermutlich steht dort auch auf den verbleibenden Metern noch jemand in zweiter Reihe, diskutiert jemand sein Familienleben an der offenen Autotür, parkt ein Lastenfahrrad. Abends um acht und nichts mehr zu essen daheim? Kein Grund zur Panik, viele Läden haben noch offen, die Spätis sowieso. Notfalls liefert ein Fahrradkurier den Einkauf innerhalb garantierter zehn Minuten nach Hause. Es ist nie zu spät, es gibt immer noch eine andere Option.
Lerne Sprachen
Die Wahrscheinlichkeit, im Berliner Straßencafé das Gespräch am Nebentisch verfolgen zu können, steigt mit der Sprachkompetenz. Dass es in Deutsch stattfindet, ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Rechne damit, dass auch der Ober, der Kioskbetreiber, der Fahrradkurier Dich gar nicht versteht, wenn Du es nicht auf Englisch versuchst. Oder, je nach Kiez: Auf arabisch, türkisch, russisch, polnisch …
Steig um aufs Fahrrad
Das Fahrzeug der Wahl in dieser Stadt ist das Fahrrad, und die Berliner wissen es. Unfassbar viele Fahrräder sind unterwegs – und ihnen wird von der Stadtpolitik Vorfahrt eingeräumt. Das Ergebnis einer konsequent Radfahrer-orientierten Verkehrspolitik ist eindrucksvoll: weniger Autoverkehr auf den Straßen der Innenstadt, als man erwarten würde. Und ein Konsens der Stadtgesellschaft: Fahre nicht mir dem Auto, wenn Du es vermeiden kannst. Manchen Radfahrern genügt das noch immer nicht; als Autofahrer lebt man in der ständigen Sorge, regelwidrig abbiegende, gegen die Fahrtrichtung dahinsausende, oder nächtens gänzlich unbeleuchtete Radfahrer zu übersehen. Dabei sei gerne eingeräumt: Rücksichtslose Autofahrer bedrohen regelkonform fahrende Radler mehr als umgekehrt.
Schau hin, wer alles für Dich arbeitet
Natürlich ist das auch in Stuttgart, München, Rio oder New York so: Ein großes komplexes Gemeinwesen hält zusammen, weil viele dafür arbeiten. Es ist vielleicht der externe Blick, der dem Flaneur die Augen dafür in dieser Stadt geschärft hat. Wie viele Menschen frühmorgens aufstehen oder spätnachts heimkehren, sich müde in einen Bus oder eine U-Bahn setzen, damit der Dreck wegkommt, der im Müllraum des Hochhauses stinkend vor sich hin gärt. Damit der Verkehr geregelt wird, wenn die nächste der zahllosen Demonstrationen oder Staatskarossen sich ihren Weg bahnen kann. Damit der Drogenkranke versorgt wird, der auf dem U-Bahnsteig leblos herumliegt. Damit das ungeduldig und hungrig bestellte Lieferessen pünktlich ankommt. Damit die alte Dame von nebenan gepflegt wird. Heerscharen von Knechten und Mägden der Wohlstandgesellschaft halten diese am Laufen, rund um die Uhr, jeden Tag, bei Hitze und Kälte und Regen und Schnee.
Achte Dein Handy
Das Berliner Leben im Hier und Jetzt ist ohne ein leistungsfähiges Smartphone eine schaurige Herausforderung. Also achte das Handy, denn es ermöglicht Dir alles: Orientierung in den Straßenschluchten, Fahrkartenkauf im Nahverkehr ohne Kleingeldstress, das Auffinden der nächsten öffentlichen Toilette, das Freischalten von Fahrrädern und Fahrzeugen jeder anderen Art. Und das Nachschlagen aller Namen, Orte und Ereignisse im online verfügbaren Weltwissen. Es unterhält Dich mit Musik Deiner Wahl oder gelehrigen Podcasts, falls Dich die Reize und Herausforderungen des urbanen Flanierens noch nicht auslasten. Es stellt die Verbindung zur Welt her, jederzeit und überall. Kinderwagen-schiebend Sprachnachrichten aufnehmen ist Jungfamilien-Alltag. In die U-Bahn einsteigen und mit Knopf im Ohr telefonieren – allgemein üblich. Es wurden auch schon Radfahrer gesichtet, die freihändig dahinsausend und kopfhörer-bewaffnet das Handy vor sich haltend an Videokonferenzen teilgenommen haben.
Kümmere Dich um das Grün
Berlin im Hochsommer ist ein glühender Moloch. Himmelstürmende Betonwände, endlose Steinpflaster, graue Asphaltwüsten speichern tagsüber die Hitze der glühenden Sonne und heizen nach Sonnenuntergang die Stadt in den besonders urbanen Ecken zu einem kollektiven Saunaerlebnis auf. Die Berliner reagieren mit einer Sinfonie luftiger Kleidung, mit attraktiven Eisdielen und viel Grün. In Berlin wird gepflanzt und gegärtnert ohne Unterlass, Straßenbäume werden von Gieß-Paten mit Wasser versorgt, eifrige Anwohner legen kleine Ziergärtchen rund um die Bäume herum an und verteidigen diese hartnäckig gegen den alltäglichen Straub und Dreck der Großstadt. Urban-Gardening-Areale boomen. Und die Berliner achten und stürmen ihre Seen, ihre Wasserflächen, ihre Parks. Jedes Pflänzchen, jeder Blumenkasten, jeder Baum, jeder Park hilft gegen die Hitze der Stadt.
Lass einen Koffer zurück
„Ich hab‘ noch einen Koffer in Berlin, deswegen muss ich nächstens wieder hin“, sang in den sechziger Jahren Marlene Dietrich (und einige nach ihr). Der Text war für ein nüchternes Gemüt schon immer rätselhaft mystisch: Wo sollte denn bitte dieser Koffer sein? Zurückgelassen im Hotel? Bei Verwandten auf dem Dachboden? Durfte man sich einfach so einen Koffer vorstellen, unklaren Inhalts, verstaubt, ungeöffnet, verlockend? Und wie konnte man sich sicher sein, den Koffer auch wieder vorzufinden, wenn man nach Berlin zurückkehren würde?
„Die Seligkeiten vergangener Zeiten, sind alle noch in meinem Koffer drin“, beantwortet der melancholische Schlager diese Fragen. Ja, genauso darf man sich das wohl vorstellen.
„Ich hab´noch einen Koffer in Berlin in der Fassung von Marlene Dietrich auf Youtube:
Fanny liebte die Musik. Ihre Mutter, selbst aus einer Pianistenfamilie stammend, hatte ihr das Klavierspiel nahegebracht, sie hatte gute Lehrer gehabt, sie hatte bereits erste Kompositionen gefertigt und mit Erfolg vorgetragen. Jetzt war Fanny 15 Jahre alt, und voller banger Gefühle betrachtete sie den noch geschlossenen Umschlag. Es war ein Brief ihres Vaters. Der Vater war wie immer in Geschäften unterwegs, eine Autoritätsperson, weit weg vom Leben seiner Kinder. Ein schwerreicher Geschäftsmann, heute würde man vielleicht sagen: der CEO eines Familienunternehmens, Patriarch einer Bank, die auch ein Beteiligungsunternehmen mit Geschäften bis ins ferne Ausland war. Der geschäftstüchtige Vater hatte zusammen mit seiner Familie, auch der sechsjährigen Fanny, 1811 Hamburg verlassen müssen, weil die französischen Besatzer der Hansestadt Handel mit England verboten – was aber für seine Geschäfts von existentieller Bedeutung war. In Berlin hatte die jüdische Familie eine neue sichere Heimat gefunden, der Vater bestimmte sogar, dass sie alle zum evangelischen Glauben übergetreten waren. Hier konnte er ein angesehenes Leben inmitten der höheren Gesellschaft führen. Der Reichtum des Vaters hatte Fanny und ihren drei Geschwistern ein gehobenes Leben in Berlin möglich gemacht, und Fanny wusste, welche Privilegien sie genießen durfte.
„Stets nur Zierde“?
Fanny Hensel, Büste vor der Mendelssohn-Remise in Berlin, Jägerstraße
Was also konnte dieser Brief des Vaters bedeuten? Musste sie heiraten? Hatte der Vater über ihr Schicksal bestimmt? Fanny saß am Fenster des dunkelgetäfelten Wohnzimmers, ein Flügel inmitten des großen Raums, in edlem Leder gebundene Bücher in den Regalen und auf dem Tisch, dunkelmatt glänzende Gemälde an der Wand. Vielleicht war es so, dass gerade Fannys jüngerer Bruder auf dem Klavier klimperte, während Fanny den Umschlag öffnete. „Die Musik wird für ihn vielleicht Beruf”, schrieb der Vater da, “während sie für Dich stets nur Zierde, niemals Grundbass Deines Seins und Tuns werden kann und soll.“ Nur Zierde? Fanny spürte Empörung, Trauer, Wut in sich aufsteigen. Darum also ging es, so war über ihr Schicksal entschieden worden. Ja, der Vater hatte es durchaus gehört, wie sie schon als 13-jährige ihm in diesem schönen Wohnraum im Zentrum Berlins Teile des Bach´schen “Wohltemperierten Klavier” vorgespielt hatte. Ja, der Vater wusste um ihr Talent und ihre Begeisterung für das Komponieren. Aber es hatte nichts genutzt, in ihrem Fall war beides “nur Zierde”. Der für sie bestimmte Weg war Heirat, Ehe, Kinder bekommen, ein großes Haus führen. Ihr Talent sollte dem Ruhm des ebenfalls talentierten Bruders Felix nicht im Wege stehen.
Die Geschichte der talentierten Fanny, die nicht berühmt werden durfte, damit ihr Bruder Felix Mendelssohn-Bartholdy es sein konnte, wurde schon tausendfach erzählt. Fanny fügte sich in ihr Schicksal. Wir wissen es nicht, aber nichts deutet darauf hin, dass Vater Mendelssohn diese seine harte Entscheidung je bedauert hätte. Fanny Mendelssohn-Bartholdy heiratete den klugen Kunstmaler Wilhelm Hensel, der ihre musikalische Leidenschaft würdigte und ihr ermöglichte, Hauskonzerte (übrigens an der Stelle, an der heute das Bundesrats-Gebäude in der Leipziger Straße steht) zu veranstalten, die in ganz Berlin einen legendären Ruf hatten und Fanny Hensel zu einer wichtigen Figur der Musikszene ihrer Zeit in der großen Stadt machte. Komponiert hat sie weiterhin, weniges davon erschien sogar unter dem Namen ihres Bruders, vieles blieb im Schatten, überstrahlt vom öffentlichen Glanz des Bruders. Kurz vor ihrem Tod ignorierte sie das Verbot des inzwischen verstorbenen Vaters und veröffentlichte einige ihrer Kompositionen. Fanny Hensel starb wenige Monate vor ihrem Bruder Felix, erst 42-jährig, im Jahr 1847.
Bitte einsteigen in die Zeitmaschine
Berlin ist eine Zeitmaschine, also bitte einsteigen! Und schnell mal gut fünfzig Jahre vorspulen: Stellen wir uns für das Jahr 1875 ein Gespräch im preußischen Königsberg vor. Käthe Schmidt hieß das Mädchen, acht Jahre war sie alt, und der Vater hatte sie zu sich gerufen. Käthes Vater schrieb keine Briefe. Ihr Vater arbeitete als Maurermeister, nachdem er wegen zu liberaler Ansichten mit seinem Jurastudium auf politische Schwierigkeiten in Preußen gestoßen war. Wir stellen uns es daher einmal so vor: Der Vater war müde und gezeichnet von einem harten Arbeitstag, und das Gespräch könnte am Küchentisch der Familie stattgefunden haben. Käthes Geschwister tobten herum, der Bruder versuchte am gleichen Tisch seine Aufgaben aus der Schule zu lösen, während die Mutter noch das Abendessen zubereitete. „Schöne Zeichnungen machst du da“, sagte der Vater, dem sie am Tag zuvor eines ihrer Bilder gezeigt hatte. „Mach weiter! Das könnte etwas Großes werden, wenn Du Dich anstrengst.“
Käthe Kollwitz, Selbstportrait
Ein solches Gespräch ist Fantasie. Aber nach allem, was wir wissen, hat Vater Schmidt genauso wie Vater Mendelssohn-Bartholdy das Talent seiner Tochter früh erkannt. Er förderte Käthe, gab ihr Rückhalt, machte sie nicht klein, sondern groß, stellte Kontakte her. Er ließ Käthe, als sie eine junge Frau geworden war, nach Berlin auf die „Damenakademie des Vereins Berliner Künstlerinnen“ ziehen. Käthe arbeitete hart an ihrer Kunst, suchte ihren spezifischen Weg nach künstlerischem Ausdruck und setzte sich früh mit den harten sozialen Realitäten ihrer Zeit auseinander. Käthe Schmidt lernte ihren späteren Mann, den Arzt Karl Kollwitz, kennen und heiratete ihn 1891. Gemeinsam zogen sie nach Berlin an den Prenzlauer Berg. Das Paar hatte zwei Söhne; der ältere davon fiel im 1. Weltkrieg, was Käthe Kollwitz´ künstlerisches Werk über Jahre prägte, ihr peinigende Schuldgefühle auflud, und sie zu einer überzeugten Pazifistin werden ließ. Käthe Kollwitz musste für niemanden zurückstecken, nicht für ihre Geschwister, nicht für die gesellschaftliche Erwartung, nicht für ihren Mann. Käthe Kollwitz konnte während der Nazi-Herrschaft zwar nur eingeschränkt arbeiten, wurde aber toleriert. Sie starb 78-jährig kurz vor Kriegsende.
Zwei Väter, zwei Lebenswege?
Zwei Väter, zwei Lebenswege? Das ist eine gewagte, nicht angemessene Verkürzung. Aber es ist eine Tatsache, dass für die Würdigung des Werkes von Fanny Hensel noch immer engagierte Künstlerinnen (ja, es sind in der Regel die Frauen) kämpfen müssen. Denn die Musik von Fanny Hensel ist von größtem Zauber, ihre Klavierlieder perlen mit betörender Sinnlichkeit dahin, ihre wenigen Orchesterwerke strahlen und jubeln mit den denen ihres Bruders um die Wette. Aber hören wollen viele immer nur den berühmten Felix.
Wie anders bei Käthe Kollwitz: Ihre Grafiken sind von getragener Schwere, alles andere als gefällig, thematisieren komplexe gesellschaftliche Nöte – Armut, Widerstand, Krieg. „Nie wieder Krieg“ ist die Plakat-Ikone aus der Feder von Käthe Kollwitz, die wir alle im Kopf präsent haben. Um Käthe Kollwitz´ Berühmtheit aber muss niemand kämpfen. Für sie gibt es in Berlin (und anderswo) ein eigenes Museum, Schulen und Bibliotheken sind nach ihr benannt, Plätze und Straßen sowieso. Als überlebensgroßes Denkmal sitzt Käthe Kollwitz am Prenzlauer Berg auf dem nach ihr benannten Platz. Streng, mit Kohlestift in der Hand, schaut sie dort in die Ferne, während die Prenzlberg-Kinder auf ihr herumklettern. Ganz im Zentrum des geeinten Deutschland ist sie angekommen. Der Konservative Helmut Kohl persönlich entschied, dass eine von der bekennenden Sozialistin Käthe Kollwitz inspirierte Skulptur in der Neuen Wache unter den Linden uns alle an die Opfer von Krieg oder Gewaltherrschaft mahnen soll. Es ist eine Pieta, die dort in diesem ernsten Raum, im Innersten unserer Republik, unseren Blick auf die Trauer einer Mutter um ihren gestorbenen Sohn lenkt.
Es ist auch der Blick auf die Trauer von Käthe Kollwitz um ihren eigenen Sohn, vielleicht sogar ihre Reue, ihn nicht zurückgehalten zu haben, als er euphorisch in den Krieg zog.
Rund 400 christliche Kirchengebäude gibt es in Berlin, fast drei Viertel davon evangelisch, der Rest meist katholisch, einige orthodoxe Gotteshäuser sind auch dabei. Und natürlich gibt es Synagogen, Moscheen, Tempel. Ist Berlin eine Stadt der Kirchen? Jedenfalls nicht eine Stadt voller Christen. Von den 3,5 Millionen Einwohnern Berlins bekennen sich nur etwa 15 Prozent als evangelisch und etwa acht Prozent sind katholisch, genauso viele wie es Muslime in Berlin gibt. Zwei Drittel aller Berliner gelten als konfessionslos.
Es ist also kein Wunder, dass man viele Gotteshäuser in Berlin geschlossen antrifft, manche wirken abweisend oder wie aufgegeben. Jede Auswahl bleibt Willkür. Dies ist ein willkürlicher, aber politischer Rundgang durch einige Kirchen in (und eine bei) Berlin:
Die Auferstandene: Nikolaikirche
Der rekonstruierte Altar im Museum Nikolaikirche
Die älteste Kirche Berlins hat Fundamente aus dem 13. Jahrhundert, und ist keine Kirche mehr. Wir schreiben das Jahr 1980: Die DDR-Führung hatte alle Energie in die Linderung der Wohnungsnot und in die Schaffung modernen Wohnraums gesteckt. Aber sie erkannte auch: Heimat entsteht nicht, wenn man Plattenbauen aneinanderreiht. Also entschied sie sich für eine etwas eigenwillige Rekonstruktion des Nikolaiviertes, der alten Mitte Berlins – ganz nah an der Plattenwüste Alexanderplatz. Entstanden ist eine Mischung aus Neuem und rekonstruiertem Altem, über deren geschmackliche Treffsicherheit man streiten kann. Ein bisschen gemütlich ist es schon rund um die Nikolaikirche, auch sehr touristisch. Aber man kann sich schon auch wohlfühlen in dieser kleinteiligen Oase aus Cafés, Souvenirläden und Bierkneipen. In ihrer Mitte steht die Nikolaikirche mit ihren zwei himmelstürmenden, spitzen Turmdächern, die sie markant macht und von vielen Orten der Stadt aus sofort erkennbar. Die Kirche wurde zum Stadtjubiläum 1987 fast völlig neu erbaut – nach den Bomben des 2. Weltkriegs und Jahrzehnten weitgehend ungehemmter Verwahrlosung waren nur Ruinen übriggeblieben. Als Kirche war sie schon 1939 aufgegeben worden, heute ist sie ein kluges Museum über ihre eigene wechselhafte Geschichte. Der Alter wurde als eindrucksvolle Installation zusammengesetzt aus Bruchstücken, die man gerettet hatte oder in den Trümmern fand. Eine Tafel fordert die Besucher auf, fehlende Bruchstücke, die möglicherweise in den Jahrzehnten der unbeachteten Verlotterung aufgefunden oder entwendet wurden, zurückzugeben, damit man sie in dieses 3-D-Kirchenpuzzle einfügen kann. (Link zum Museum Nikolaikirche: https://www.stadtmuseum.de/nikolaikirche)
Die Verschwundene: Versöhnungskirche Bernauer Straße
Das herabgestürzte Turmkreuz der Versöhnungskirche
Die Bilder aus der Zeit nach dem Mauerbau machen still: Ein prächtiges, ausladendes, neugotisches Gotteshaus ist da zu sehen, unbenutzt, mitten im Grenzstreifen der Inner-Berliner Grenze an der Bernauer Straße. Gestiftet hatte die Kirche 1892 einst eine Kaiserin, nach dem Krieg wurde sie schnell in Stand gesetzt und war bis 1961 Heimat einer Kirchengemeinde, die sich sowohl über Ost- wie Westberliner Gebiet erstreckte. Beim Mauerbau wurde der Westzugang zugemauert, später alle anderen Gebäude auf der Ostseite abgeräumt und plattgewalzt für die Sicherheit des jungen Staates. Aber die Kirche stand wie ein mahnender Solitär alleine im Schussfeld der Grenzsoldaten. 1982 entschloss sich die DDR-Führung – letztlich mit Zustimmung der Kirchenleitung – das Gotteshaus zu sprengen, um freie Sicht zu schaffen für die Kontrolle der Grenze. Gottesdienste gab es dort ohnehin schon lange nicht mehr. Den Sprengungsbeschluss unterzeichnete damals der Vater von Gregor Gysi. Heute erinnert eine kleine moderne Kapelle an die große Kirche, die dem Weltgeschehen im Weg stand. Verbogen mahnt das bei der Sprengung herabgestürzte und später wieder aufgefundene Turmkreuz an eine Zeit, die vorbei ist und nicht wiederkommen wird, wenn wir uns bemühen. (Wikipedia zur Geschichte der Versöhnungskirche: https://de.wikipedia.org/wiki/Vers%C3%B6hnungskirche_(Berlin-Mitte))
Die Schöne: Heilandskirche Sacrow
… aus einer anderen Welt: Heilandskirche Sacrow
„Auch ich war in Arkadien“ – Irgendwoher kennt man diesen Spruch. Aber woher und was soll er eigentlich bedeuten? Na der Heilandskirche von Sacrow drängte sich die Assoziation an den traumhaft schönen Landstrich auf dem Peloponnes auf, und so musste der Flaneur erst einmal googeln: Die Phrase steht dafür, sich im Moment größten ästhetischen (oder wohl auch sonstigen) Glücks daran zu erinnern, dass trotz dieses perfekten Momentes doch alles im Tod endet. Der Mensch stirbt, selbst wenn er am schönsten Ort der Welt – in Arkadien – gewesen ist. Die Berliner kennen dieses Arkadien auf Potsdamer Gebiet vor allem vom gegenüberliegenden Ufer, der Berliner Seite der Havel, aus. Das Kirchlein wurde 1844 vor allem aus ästhetischen Gründen gebaut. König Friedrich Wilhelm IV. ging es darum, eine Traumlandschaft noch schöner, geradezu perfekt zu machen. Den Schlössern von Babelsberg und Glienicke, den Parks und Bäumen, den glitzernden Wasserflächen, den dahingestreuten, grün überquellenden Inselchen fügte er noch etwas mehr von unwirklicher Schönheit hinzu: Eine Kirche im italienischen Renaissance-Stil. Wer sich auf den weiten Weg zur Kirche aufmacht (und sich nicht mit dem Blick auf sie über das Wasser zufriedengibt), wird belohnt mit einem Ort, in dem blauglänzendes Wasser, grünbunt-prächtige Natur und der die Kirche umgebende Arkadengang aus schlanken Säulen eine sinnliche Symbiose eingehen – willkommen in Arkadien! Einen solchen ästhetischen Blick hatten die Grenzverantwortlichen der DDR nicht, als sie die Kirche zwischen 1961 und 1989 als Teil ihrer Mauer integrierten und das Kircheninnere für sehr weltliche Zwecke missbrauchten. Alte Fotos zeigen, wie das kleine Kirchenschiff gleich einer Wucherung in das dem Havelwasser zugewandte Niemandsland jenseits der Mauer Richtung Westen herausragte. Immerhin überstand die Kirche diese Jahre und strahlt heute im alten Glanz als Teil des landschaftlichen Weltkulturerbes an der Havel rund um Potsdam und Berlin. (Geschichte der Heilandskirche u.a. bei den Preußischen Schlössern und Gärten: https://www.spsg.de/schloesser-gaerten/objekt/park-sacrow/)
Die Engagierte: Gethsemanekirche am Prenzlauer Berg
Gethsemanekirche im Prenzlauer Berg
„Homophobie ist Sünde“ prangt als Transparent über dem Eingang der 1893 errichteten Gethsemanekirche. Davor steht eine segnende Christusfigur, die aus der gesprengten Versöhnungskirche hierher verbracht wurde. Selten bekommt man eine so klar politisch orientierte Kirche zu sehen! Hier ist das Engagement für Menschenrechte nicht Nebensache, sondern steht mindestens gleichberechtigt neben der Verkündung der christlichen Botschaft. Am Zaum hängen Biografien politische Verfolgter, in der Kirche liegen Unterschriftenblätter für Solidaritätsbekundungen aus – gegen politische Verfolgung in China, der Türkei oder Belarus, für das Volksbegehren zur Enteignung der Deutschen Wohnen, für eine Schließung der menschenunwürdigen Lager an den EU-Außengrenzen. Jeden Tag um sechs finden sich in der Kirche Gläubige zu einer „Politischen Andacht“ zusammen. Diese Kirche ist ein unbequemer Ort, ein lauter Schrei für mehr Engagement gegen das Unrecht auf dieser Welt. Und das war sie auch in der Zeit des Nationalsozialismus, als die Pfarrersfrau hier Juden versteckte, und in den letzten Monaten der DDR, als sich im Schutz dieser Kirche die friedliche Umwälzung formierte. In einer kleinen Ausstellung sind die Bilder von 1989 zu sehen, dichtgedrängt saßen die Menschen im schönen, weiten, damals prall gefüllten Kirchenraum, hören dem Pfarrer zu, der Staat und Demonstranten auffordert: „Keine Gewalt!“. Von vollgefüllten Bänken kann jetzt keine Rede mehr sein bei der politischen Andacht. Wird Kirche von heute noch einmal so relevant werden für die Gesellschaft wie in diesen Zeiten? Die Gethsemanekirche ist der richtige Ort, genau darüber nachzudenken. (Website der Kirchengemeinde: https://ekpn.de/vier-kirchen/gethsemane/)
Die Mahnende: Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
Draußen tobt das Leben. Junge Menschen sitzen, lachen, lärmen, versammeln sich um Pizzakartons und Getränkedosen. Autos umkurven lautstark die Verkehrsinsel, die sich „Breitscheitplatz“‘ nennt. Busse schnurren heran, Polizeisirenen jaulen. Mit dicken Taschen bepackt schleppen sich Konsumfreudige in die Außengastronomie. Wenige von all diesen Menschen haben Blick für das Ensemble aus Alt und Neu, an dem sie vorbeiziehen. Der Kirchenbau aus den Jahren 1891 bis 1895, errichtet im Auftrag von Kaiser Wilhelm II. im Gedächtnis an seinen Vater – was für eine absurde Gründungsgeschichte aus heutiger Sicht für eine Kirche! – hatte einmal den höchsten Kirchturm Berlins, und ist jetzt nur noch eine Ruine. Daneben steht die 1961 fertiggestellte, achteckige neue Kirche. Wer dort hineingeht in diesen blau überfluteten Raum, beamt sich schlagartig eine andere Welt. Still ist es hier, nachdenklich und andächtig. Ein paar Kerzen züngeln goldgelb im schimmernden Blau, das durch 20.000 Glasbausteine glüht und dieser Kirche ihr ganz besonderes Licht gibt. Die alte Gedächtniskirche war ein Opfer der Bomben geworden und mahnt nun als Ruine an die Zerstörbarkeit unserer Existenz. Die neue mit ihrer blauen Stille mahnt vor allem daran, dass es in allem Trubel immer auch einen Ort geben darf, in dem die Zeit stillsteht. An wen oder was gedenken wir hier? Eher daran, als an einen Kaiser. (siehe auch #1000Kirchen)
Die Mutige: Verklärungskirche in Marzahn
Darf ein Christus so offenkundig leiden? – Kath. Kirche Verklärung d. H. in Marzahn
In diesen Zeilen klang immer wieder Kritik am Umgang der sozialistischen DDR mit ihren Kirchen an. Aber wie so oft ist das Bild nicht so eindeutig. Es waren Kommunisten, die die Wiedererrichtung der Nikolaikirche – wenn auch aus Museum – beschlossen. Und wollen wir es verurteilen, dass dieser chronisch devisenknappe, atheistische Arbeiter- und Bauernstaat seit 1972 es den Kirchengemeinden ermöglichte, für Renovierungen und Neubauten Geld aus dem Westen anzunehmen? Der Grundstein für die katholische Kirche „Verklärung des Herrn“ in Berlin-Marzahn wurde 1984 gelegt, das Geld für den Bau kam größtenteils aus dem Westen. Eröffnet wurde sie 1987. Der Berliner Stadtteil Marzahn steht bis heute wegen der unfassbaren Ansammlung von Plattenbauwohnungen vor allem bei Westberlinern und Westdeutschen in äußerst zweifelhaftem Ruf. Mehr als 100.000 Menschen leben da heute – die allermeisten davon in renovierten Hochhäusern – für eine katholische Kirche echte Diaspora. Die Kirche „Von der Verklärung des Herrn“ thront unmittelbar über der vierspurigen Landsberger Allee. Ein nüchterner, moderner Kirchenraum ohne architektonischen Schnickschnack steht da, daneben ein alleinstehender moderner, ebenso schlichter Kirchturm. Mutig war die Gemeinde von der „Verklärung des Herren“ in der Ausstattung. Eine vier Meter hohe Figur von Christus am Kreuz (aber ohne Kreuz) dominiert den Raum, und sagt ohne ein Wort alles über das Leid am Kreuz, idealisiert nichts und redet nichts schön am Tod. Die Figur stammt aus dem Jahr 1930 und wurde vom Tiroler Künstler Hans Perathoner geschaffen, der sie aus einem einzigen Eichenstamm herausschlug. Seither wandert sie wie ein Untoter durch verschiedene Depots und Kirchen Berlins, da sie „nicht den üblichen Kirchenvorstellungen“ entsprach (wie ein diplomatisch formulierender Autor auf Wikipedia schreibt) und ist jetzt als Leihgabe in dieser modernen Kirche gelandet. Kirchenasyl für einen leidenden Christus in Marzahn. (Wikipedia zur Kirche Verklärung des Herrn: https://de.wikipedia.org/wiki/Kirche_von_der_Verkl%C3%A4rung_des_Herrn)
Neue Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Berlin, Breitscheidplatz, 10789 Berlin
Mein Besuch am 14. Juni 2021
Wen im Inneren eines Edelsteins: Die neue Gedächtniskirche in Berlin
Topas, Lapislazuli oder blauer Saphir? Ich musste googeln, um die verschiedenen Blautöne von Edelsteinen zu sehen, und konnte mich dann doch nicht entscheiden. Das Innere der neuen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche im Herzen von West-Berlin, direkt am Anfang des Kurfürstendamm ist in meiner Sammlung eine Ausnahme. Denn sie ist weltberühmt, vielleicht noch mehr wegen der Ruine ihres Vorgängerbaus, die uns an Krieg und Zerstörung mahnen soll. Geweiht wurde die neue Kirche im Dezember 1961, ein halbes Jahr nach dem Mauerbau.
Das Ensemble aus alter Ruine und neuer Kirche ist eine echte Sehenswürdigkeit, ein touristischer Hotspot – und doch ein Beispiel für genau das, warum mir Kirchen im öffentlichen Raum so wertvoll erscheinen: sie ist tagsüber geöffnet, für jeden, egal welcher Herkunft, welchen Standes und welcher Religion. In ihr ist es schlagartig still. Jeder Besucher findet sich wieder im Inneren eines blaue Edelsteins, übergossen mit blauem Licht, das durch die rund 20.000 quadratischen Glasbausteinen von außen in diesen verzaubernden Raum einströmt. Wer immer hier Ruhe sucht, kann sie in diesem Blau finden, während draußen vor der Tür das bunte und laute Leben tobt.
Wieviel diskutieren wir über die Rolle der Kirchen in unserer Zeit! Eine wichtige wäre, öfters genau solche Orte anzubieten. Deshalb ist diese Kirche einer meiner Lieblingsorte in Berlin. Auch, weil hier die Aufgabe offensiv angenommen wird, die sich für eine Kirche stellt, die inmitten der Kommerzmeile des Berliner Westens liegt, die offen gehalten wird für die Menschen, die sich modern bereithält für die Herausforderungen des Heute und Jetzt: mit kurzen täglichen Andachten, mit Konzerten, mit offensiver Informationspolitik auch auf modernen Kanälen. Persönlich würde ich mir noch wünschen, dass man den Kaiser aus dem historischen Namen streicht, wie das bereits bei der Internetpräsenz erfolgt ist. Gedächtniskirche – das genügt vollkommen, finde ich.
Die sehr informative Website der Kirchengemeinde findet man hier: https://www.gedaechtniskirche-berlin.de/
siehe auch mein Beitrag als #BerlinerFlaneur: Kirchen-Politik
Dies ist die Aufzeichnung eines unwahrscheinlichen Streitgesprächs. Es findet statt – so stellt sich das der Flaneur vor – am Brandenburger Tor in Berlin, und es treffen sich die beiden Prachtstraßen dieser Stadt: Der Kurfürstendamm, hier kurz der „Damm“ genannt, und die Karl-Marx-Allee, also die „Allee“. Natürlich kommt die Allee von Osten und der Damm von Westen.
Allee: Freundschaft, Kurfürstendamm! Finde ich gut, dass wir uns auf meinem früheren Staatsgebiet treffen.
Damm: Hallo, alte Sozialistin, ich bin Dir gerne entgegengekommen. Eigentlich hatte ich die Straße des 17. Juni als Treffpunkt vorgeschlagen …
Allee: … eine Provokation!
Damm: … aber es hätte dafür gute historische Bezüge gegeben. Und geografisch wäre der Tiergarten die Mitte zwischen uns gewesen, habe ich extra auf Google Maps nachgeguckt. Aber von mir aus lassen wir das, alles alter Tobak, Du aus der Zeit gekommene Kollegin.
Der Strausberger Platz eröffnet das Ensemble der Karl-Marx-Allee
Allee: Da höre ich sie schon wieder, die westliche Arroganz. Spare Dir unbegründeten Hochmut. Als erstes sollten wir festhalten, dass ich unbestreitbar die Schönere von uns beiden bin. „Karl-Marx-Allee“ – schon der Name! Und diese wunderbare Monumentalarchitektur, eine geschlossene, prächtige, verkachelte Häuserfront auf beiden Seiten fast zwei Kilometer lang, Säulen und Kapitele, dazwischen Grünflächen und Bäume. Da kannst Du nur neidisch sein, bei Deinem Wirrwarr von Konsumtempeln.
Damm: Ich gebe überhaupt nichts zu. Etwas zugeben, das war noch nie meine Stärke. Und ich habe die Geschichte auf meiner Seite. Du musstest erst mühsam errichtet werden, viele alte Häuser …
Allee: … also das waren genauso wie bei Dir alles Ruinen …
Damm: …ja, ok, aber sie mussten dafür weichen, damit man für Deine Breite Platz schaffen konnte: Für die Paraden, für die Panzer und Raketen, für die Tribünen Deiner kommunistischen Autokraten. Und soll ich Dich daran erinnern, wie Du eigentlich ursprünglich geheißen hast? Soll ich …?
Allee: Lass doch den alten Kram …
Damm: Jedenfalls war Dein Karl Marx als Namensgeber erst zweite Wahl. Ursprünglich war das ein gewisser…
Allee: Still jetzt!
Damm: … ein gewisser Stalin, den ihr mit Deinen Arbeiterpalästen ehren wolltet. Ein Massenmörder! Ich dagegen war schon immer da, früher als Weg zur Jagd unseres Kurfürsten, später hat sich Otto von Bismarck für mich eingesetzt. Auf mir fuhr die erste dampfgetriebene Straßenbahn, und ich war die wichtigste Amüsiermeile Berlins in einer Zeit, die heute alle an Babylon erinnert.
Allee: Ha! Erst der Kurfürst und dann Bismarck! Und da spottest Du über Ulbricht und Honecker als Autokraten! Das waren wenigstens Repräsentanten der Werktätigen, der einfachen Leute, der Arbeiter und Bauern, die dort die Paraden unserer Armee abgenommen haben, …
Damm: Repräsentanten? Von Demokratie kann da aber keine Rede sein!
Allee: Beim Kurfürst und bei Bismarck noch weniger.
Damm: Von mir aus, lassen wir die Herrscher von damals aus dem Spiel. Aber nachdem Ihr Eure Mauer gebaut hattet, war die Welt doch wohl klar geordnet: Auf meiner Seite gab es nur noch lupenreine Demokraten, die über mein Pflaster flanierten.
Allee: So, so – „lupenreine“ Demokraten seid Ihr gewesen? An Deinem Pflaster klebt das Blut von Rudi Dutschke, vergiss das nicht. Und mit Polizeiknüppeln habt Ihr auf die Demonstranten gegen den Vietnam-Krieg eingeprügelt.
Damm: Das war schon eine schwierige Zeit. Muss ich zugeben. Aber geschunden wurde ich dabei, die schönen Schaukästen haben sie damals eingeschlagen, meine Schaufenster demoliert. Mir tut es heute noch, wenn ich daran denke.
Allee: Mein Beileid. Solche Streitereien auf meinem Rücken hatten wir nicht, dafür haben Walter und Erich gesorgt. Aber weißt Du eigentlich, wie schwer die Panzer und die Raketen-Laster eigentlich sind, die ich aushalten musste?
Damm: Nee, mit Militärparaden habe ich bis heute nichts zu schaffen. Da bin ich zu eng für. Das hast Du jetzt von Deiner Breite und Pracht.
Allee: Ich bin eben schöner als Du.
Damm: Warum kommen dann alle Menschen zu mir, und nicht zu Dir? Täglich muss ich mich mit Millionen Menschen herumschlagen, die auf mir rumtrampeln, tütenschleppend sich von einem Markenladen zum nächsten durchschlagen. Dabei gibt es diese Läden in jeder größeren Stadt immer gleich. Ich sag Dir, das ist eine Plage, dauernd das Getrappel, und manchmal stehen sie ewig lang auf mir herum, nur um in den Apple-Shop reinzukommen.
Allee: Deine Probleme hätte ich gerne! Ich erinnere mich gut, als das auch bei mir noch so war. Jeder, der in unserem sozialistischen Land etwas Besonderes gesucht hat, kam in die Karl-Marx-Allee – die erste Einkaufsadresse im ganzen Land! Edle Tuche, die wenigen aus dem Westen importierten Jeans, gute Leckereien, manchmal sogar Orangen und Bananen – alles das gab´s in der Karl-Marx-Allee. Und dazu das schöne Restaurant Moskau, das schicke Hotel Berolina, die großen Kinos und die Mokka-Eisbar – ach war das schön! Bei mir war richtig was, los, sag ich Dir. Weißt Du was, Du Wessi-Jammer-Damm: Ich habe mich inzwischen von den Militärparaden erholt. Gib mir was ab von Deinen Markenshops, ein paar Leute mehr auf meinem panzergeprüften Pflaster machen mir nichts aus.
Damm: Da musst Du erstmal Deinen Denkmalschutz loswerden. Da darf ja kein Gucci oder Prada sein Logo fett vorne hin montieren!
Allee: Kann ich das ändern? Stimmt schon, hier wird eben auf Geschichte und Schönheit geachtet, bei Euch geht es immer nur um Kommerz. Sogar meine alten sozialistischen Leuchtreklamen stehen unter Denkmalschutz. Deshalb muss einer meiner Geschäftsleute sein Weinlokal unter der Leuchtschrift „Briefmarken“ betreiben.
Denkmalschutz West: Eine Verkehrskanzel am Kurfürstendamm
Damm: Ich fasse es nicht, wer kommt denn auf so eine Schnapsidee? Sowas fiele mir nicht ein. Wir haben nur eine Verkehrskanzel aus den 50ern, die unter Denkmalschutz steht.
Allee: Ihr wollt mich eben als nostalgisches DDR-Museum erhalten. Sogar die schöne Karl-Marx-Buchhandlung steht leer. In dieser Lage, bei diesem Namen! Schon traurig, aber dafür bin ich eben auch die Schönere von uns beiden.
Damm: Fang nicht schon wieder damit an! In Deinen Prachthäusern macht schon deshalb kein toller Laden auf, weil es in Deinen Seitenstraßen keine so reichen Leute gibt wie bei mir, die da einkaufen könnten.
Allee: So ein Blödsinn! Ja, wir sanieren eben aus unseren sozialistischen Plattenbauten, die hinter meinen schönen Kachelfassaden stehen, nicht die Leute heraus. An Deiner Seite, mein lieber geldgieriger Kurfürstenkollege, kann man sich das Leben eben gar nicht mehr leisten, so ist das. Bei mir schon.
Damm: Und warum sieht man dann auch bei Dir so viel Armut auf der Straße, Menschen ohne Wohnung, Alkoholkranke, flaschensammelnde Rentner?
Allee: Das ist gemein! Die gibt es alle bei Dir auch, und zwar ganz üppig. Man muss nur genauer hinschauen, weil Dein ganzer Glitterglanz und Deine Leuchtreklamen so blenden. „Und man sieht die im Licht, die im Dunkeln sieht man nicht“, hat schon Bertolt Brecht geschrieben. Recht hat er.
Damm: Anderes Thema, schöne Allee! Kannst Du mir nicht etwas von Deinen Grünflächen abgeben, zum Beispiel die Weberwiese?
Allee: Das könnte Dir so passen. Ihr Wessis glaubt immer, Ihr könnt alles kaufen. Du bekommst gar nichts von mir: keine Kachel, keine Säulenarchitektur, keinen meiner Fontänenbrunnen, kein Grün. Ich will alles behalten, was mich so schön macht.
Damm: Dann wirst Du in Schönheit sterben.
Allee: … und Du an Deinem Geld ersticken.
Wer sich die Geschichte der beiden Prachtstraßen Berlins näher zu Gemüte führen will, kann dies z.B. auf Wikipedia tun:
Das Berliner Mädchen Karla war vielleicht mit einem Fahrrad gekommen. Sieben Jahre war es alt, geboren 1945, mittendrin in den Wirren des Kriegsendes, in der Armut und Not, im Chaos der Wochen und Monate, nachdem die Waffen endlich schwiegen. Im Sommer 1952 war das Gröbste vorbei, die Verhältnisse hatten sich einigermaßen geordnet. Karla war gestrampelt durch den Grunewald, vielleicht zusammen mit ihren Eltern. „Nischt wie raus zum Wannsee!“ hatte ein Jahr zuvor Cornelia Froboess als Kinderstar berlinerisch geträllert, ein Schlagerhit der Nachkriegsjahre, dessen Refrain sich sofort als Ohrwurm in unseren Kopf einnistet. Bestimmt hatte es die Siebenjährige auch schon gehört, vielleicht lag es ihr auf den Lippen – „Pack die Badehose ein, nimm Dein kleines Schwesterlein, und dann …“. Es war ein heißer Augusttag.
Manchmal waren die Schüsse zu hören
Wenn der Wind entsprechend stand, konnten die Nachkriegs-Badegäste am Wannsee die Schüsse hören. Sie hatten sich daran gewöhnt. Wer 1952 hier badete, hatte den Krieg erlebt, kannte das Zusammenzucken, wenn ein Schuss fiel, hatte sich tausendmal geduckt bei Detonationen, und hatte zahllose Todesängste ausgestanden. Aber hier am Wannsee musste man die Schüsse nicht mehr fürchten. Die Berliner wussten, dass amerikanische Soldaten in den aufgeschütteten Böschungen unweit des Strandbades ihre Schießfertigkeit übten. „Keerens Range“ nannte die Besatzungs- und Schutzmacht dieses Areal. Das Knallen der Schüsse am Wannsee war nicht beliebt, aber so gewohnt wie das ohrenbetäubende Jaulen der Jagdbomber, gewohnt wie der staubige Knall, wenn in Berlin die Ruinen gesprengt wurden und in sich zusammenfielen in einer Staubwolke.
Doch an diesem 5. August war es plötzlich anders; Klara greift sich an den Hals, Blut rinnt durch ihre Finger, das Kind schreit und schluckt und sinkt auf die mitgebrachten Decken.
So kann man sich das Geschehen vorstellen, das sich vor fast siebzig Jahren abgespielt hat – so oder so ähnlich. Ein Querschläger aus amerikanischer Waffe hatte sich aus dem Übungsareal verirrt, hinüber zum Wannseebad, und dort das unglückliche Kind am Hals getroffen. Das Leben des Mädchens konnte gerettet werden. Es war nicht das erste Ereignis dieser Art seit Kriegsende, und auch nicht das letzte. Die Verletzung des Kindes wurde propagandistisch ausgeschlachtet; sogar eine Ost-Version des „Pack die Badehose ein“-Schlagers wurde produziert, in der vom Einpacken der Badehose dezidiert abgeraten wurde, „weil der Ami schießt am Wannsee“.
Ein weiter Ort voller Friedfertigkeit
Wer heute in das Strandbad am Wannsee kommt, braucht keine Schüsse zu fürchten. So sitzt der Flaneur denn also dort im Strandkorb, überwältigt von der Friedfertigkeit dieses weiten Ortes, geblendet von der glitzernden Wasserfläche vor ihn, und gedenkt kurz der kleinen Karla. Dann wird er zum Teil des bunten Treibens an diesem Vormittag: Fröhliche Rentner bemühen sich um sommerliche Bräune, kommunikative Damen gehen ihrem Sozialleben nach, junge Familien genießen ruhige Momente, weil sie hier ihre Kinder sorglos durch den Sand toben lassen können.
Wannsee: Strandkörbe in der Großstadt
Das Strandbad Wannsee ist ein Sehnsuchtsort für Nicht-Berliner, die fasziniert und verlockt sind von den Bildern dieser größten Badeanstalt an einem Binnensee in Europa: weit mehr als ein Kilometer öffentlicher Sandstrand, um die 50 Meter breit, massenhaft Sand, herangekarrt in Güterwaggons von der Ostsee, darauf 250 Strandkörbe – welche Stadt kann damit aufwarten, wenn sie nicht am Meer liegt? Davor glitzert die Wasserfläche des Sees, der weniger ein See als eine Verbreiterung der Havel ist. Aber gerade deshalb trägt jedes vorbeiziehende Boot auch das Versprechen in sich, dass dieses Wasser fast so wie das Meer unendlich ist, dass es weitergeht, dass man hinausschwimmen könnte in die weite Welt, wenn man nur möchte. Man käme vorbei an der verträumten Pfaueninsel, wo das Geschrei der exotischen Vögel wie akustische Querschläger zu hören ist. Und an den fantastischen Gärten und Schlössern des Landschaftsparks rund um Potsdam, deren Bild uns einfängt wie eine Theaterkulisse, in der wir zu Gästen einer anderen Welt werden. Ein geübter Schwimmer müsste man dafür schon sein, zugegeben – aber möglich wäre es.
Kein Spaßbad, ein nostalgisches Freizeitparadies
Der Flaneur ist kein geübter Schwimmer und bleibt im Strandkorb sitzen. Vielleicht ein Kaffee, ein kühles Getränk? Kein Problem, zwar stehen die Gebäude des Strandbades unter Denkmalschutz, aber sie halten alles vor, was der Badegast verlangt. Vieles wirkt freundlich aus der Zeit gefallen und erfreulich unkommerziell. Das hier ist kein modernes „Spaßbad“ – Wannsee ist ein in die Jahre gekommenes, nostalgisches Freizeitparadies, in dem die Zeit ganz wohltuend anstrengungsfrei verrinnt.
Welcher Prachtbau steht da am anderen Ufer?
Aber wie immer, wenn es droht, allzu schön zu werden, bewährt sich der genaue Blick. Also nochmal die sommerlich sonnengeblendeten Augen im Strandkorb scharfgestellt: Was ist denn das da für ein schöner Prachtbau, fast ein Schloss, am Ufer direkt gegenüber? Ausgebreitet in einem Park steht er dort still und stumm und mahnend. Es ist die Villa am Wannsee, in der am 20. Januar 1942 sich unvorstellbare Kälte ausbreitete, als Funktionäre des NS-Regimes die weiteren Schritte zur systematischen Ermordung der Juden in Europa geschäftsmäßig diskutierten und festlegten.
„Du hast den Farbfilm vergessen!“ schimpfte 1974 die 19jährige Sängerin der Gruppe „Automobil“, Nina Hagen, ihren Reisebegleiter Micha. „Automobil“ landete damit in der Schlagerparade der DDR.
„Alles grau“, urteilte das Westkind
Brauchte man in der DDR einen Farbfilm? „Nun glaubt uns kein Mensch, wie schön ’s hier war“, ging der Text des Liedes weiter, „alles Blau und Weiß und Grün – und später nicht mehr wahr!“ Es gab eine Zeit, in der westdeutsches Vorurteil dem Osten unseres Landes attestierte, dort sei „alles grau“. Und tatsächlich kann sich der Flaneur gut an seine erste Reise in die gerade ganz neu und frei zugänglich gewordene Noch-DDR erinnern. Die damals sechsjährige Tochter schaute nach dem Überwinden der nicht mehr gesicherten innerdeutschen Grenze lange und fasziniert aus dem Fenster, die ersten Dörfer kamen ins vorbeiziehende Bild, und was sagte das unvoreingenommene Westkind? „Alles grau!“
Alles grau: Die Topografie des Terrors und das Bundesfinanzministerium hinter dem Mauer-Reststück
Wer heute durch Berlin wandert oder fährt, kann West und Ost nicht mehr an der Farbigkeit unterscheiden. Aber farbig bunt ist deshalb noch längst nicht alles. Von einem Ort, der „Topografie des Terrors“ heißt, erwarten wir vielleicht auch aus gutem Grund nicht gerade Farbigkeit. Hier wird kein Farbfilm benötigt. Der Ort fordert den Besucher als graue Steinwüste, ein eingezäuntes Areal, ein modernes graues Gebäude in seiner Mitte, ein abgesenkter Graben, ein langes Stück DDR-Mauer an seiner Seite – alles grau. Es bedarf einiger Mühe, sich bewusst zu machen, was das hier eigentlich für ein leeres Straßenkarree ist. Häuser standen her bis zum Kriegsende, Paläste, prächtige Bauten, ein nobles Hotel, aber es gab auch Hinterhöfe, Garagen, Gärten, Lauben. Wenig davon ist übrig, alles ist platt und grau. Die „Topografie des Terrors“ wurde 1987 nach langer Diskussion zu einer begehbare Gedenkstätte, die erinnern soll an das Grauen, das in nationalsozialistischer Zeit dort geschah. Denn hier standen die Zentralen des Terrorregimes, das Hauptquartier von SS und SA, von Gestapo und Polizei, alle auf diesem Fleck, vereint zwischen vier Straßen.
Bomben der Alliierten zerstörten das Zentrum des Grauens, Ruinen blieben übrig von der brutal-rechtlosen Machtausübung. In den 60er Jahren wurde entschieden, das unwirtliche Gelände unmittelbar an der Mauer abzuräumen – und nichts von den Palästen zu erhalten, in denen die Mörder residierten, folterten, quälten – Betriebsfeste feierten, zu Geburtstagen anstießen, Siege bejubelten und Niederlagen schönredeten. Was man heute noch dort findet ist ein modernes Dokumentationszentrum über die Nazidiktatur und eine informative Freiluftausstellung über Deutschlands Irrweg von der Weimarer Republik hin zur totalen Niederlage im selbst angezettelten „totalen Krieg“. Alles wichtig und sehenswert, vieles davon schon hundertmal gesehen.
Moderne Archäologie
Was diesen Ort besonders macht ist so etwas wie moderne Archäologie. Unter dem Schutt der abgeräumten Nazi-Paläste wurden bei der Neugestaltung als Gedenkort die immer noch vorhandenen Pflastersteine der Einfahrten gefunden, über welche die Opfer der Gestapo in die Folterkammern gekarrt wurden. Die eingestürzten Eingangstore der Gestapo-Zentrale, kantige Ruinen, mahnen, einst unbeachtet liegengelassen, jetzt an die Todesangst der Menschen, die das Osttor einst passierten. Unterirdische Gefängniszellen der Gestapo wurden ausgegraben und pietätvoll wieder zugeschüttet, aber markiert. Die graue Topografie deutet die angelegten bombensichern Kellergänge an, zeigt die unterirdisch angelegten Räume einer Cafeteria der Folterknechte.
Die Westdeutschen der Nachkriegsjahre vergaßen sicher keinen Farbfilm, wenn sie in den Urlaub fuhren. Aber die Orte ihrer eigenen grauen Vergangenheit wollten sie gerne aus den Augen und damit aus dem Sinn haben. Alle möglichen Verwendungszwecke für die leere Brache direkt an der Mauer wurden diskutiert. In den 70er Jahren richtete Westberlin schließlich auf dem Gelände ein „Autodrom“ ein, einen Freizeitpark, auf dem man das Autofahren üben konnte – ohne Führerschein hinweg über die Folterkammern des Führers.
Heute denken wir anders. Der Gang über das weite Gelände wird zur Zeitreise vom Grauen ins Grüne. Der Besucher kann das ganze Gelände abschreiten, einige der alten Trassen des Autodroms nutzend, und findet sich bald in einem idyllischen Robinienwäldchen wieder, in dem die Blumen blühen und die Bienen summen. Zurück führt der Weg zur Betonrohr-bewehrten grauen Mauer, das von Mauerspechten durchlöcherte, angenagte, jetzt unter Denkmalschutz stehende Monument der deutschen Teilung. Die Geschichte erlaubt uns, heute ohne Schmerz über sie hinweg zu sehen, hinauf zum Gebäude des heutigen Bundesfinanzministeriums, das so grau und abweisend dasteht, als wollte es allen Klischees von der grauen DDR und dem öden Grau jedes Bürokratenapparates gerecht werden.
Olaf Scholz ist am Aussehen seines Dienstsitzes unschuldig. Das „Detlef-Rohwedder-Haus“ wurde als Monumentalbau von den Nazis errichtet, beherbergte das Reichswehrministerium, später in der DDR das „Haus der Ministerien“ und gab so vielen grauen Bürokraten der DDR einen Arbeitsplatz. Nach dem Fall der Mauer war der graue Kasten dann Sitz der Treuhandanstalt (nach dessen ermordeten Präsidenten er später benannt wurde) und seit 1999 ist dort der Sitz des Bundesfinanzministers. Vermutlich würde der Minister schon am Denkmalschutz scheitern, wenn er den Versuch unternähme, sein Haus bunt anmalen zu lassen.
Das Bunte muss von woanders her kommen
Alles Bunt: Die roten Bäume von Yayoi Kusama beim Gropius-Bau
Das Graue gehört zu diesem Gebäude, wie das Grauen zur Topografie des Terrors gehört. Also muss das Bunte von anderswo kommen. Und siehe da, Blick zurück, keine hundert Meter, außerhalb der Einzäunung, da wartet es schon, das überraschende Bunt. Stehen da tatsächlich knallrote Baumstämme mit leuchtend weißen Punkten? Wie bitte – rote Baumstämme mit weißen Punkten? Kann das sein und wenn ja – wie und warum? Der Anblick ist unglaublich und macht so hoffnungstrunken wie das Licht am Ende eines zu langen Tunnels, so glücklich wie das Durchbrechen eines neuen, strahlenden Motivs in der Musik, wie die erste Blüte im Schnee.
Rote Bäume mit weißen Punkten? Gewachsen können sie so nicht sein, also nochmal hingeguckt: Die bunten Bäume sind eingewickelt und sie sind ein Kunstwerk, Teil einer Ausstellung der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama im benachbarten (von außen übrigens auch ziemlich grauen) Gropius-Museumsbau. Gelockt von den roten Bäumen, schnell online einen Timeslot gebucht, den Corona-Test gezückt, und raus aus der grauen „Topografie“ rein in den Ausstellungpalast. Durstig nach Buntheit, nach Farbenpracht und Vielfalt. Im Foyer räkeln sich die roten Punkte im dichten Gewirr dicker Tentakel über-mannshoch bis ins Obergeschoss der Halle, bilden einen Dschungel der Farbenpracht, laden ein zu weiteren farbigen Abenteuern der Kunst. Man muss nicht alles verstehen, was sich die Künstlerin aus dem fernen Osten dabei gedacht hat, aber dem bunten Zauber der manchmal durch Spiegel ins Unendliche gesteigerten Farbigkeit ihrer Werke wird sich niemand entziehen, der sensiblen Sinnes ist.
Noch mehr Farbe in der Ausstellung der japanischen Künstlerin
Übersatt erfüllt von Farben tritt der Besucher wieder heraus in das reale Berlin, das jeden Tag so bunt gepunktet sein kann, wie der Stamm dieser Bäume, zwischen denen er jetzt steht. Bunt wie das frische Grün an den Zweigen der rotgepunkteten Bäume, oder so gelb wie die vorbeirauschenden DHL-Autos, oder so leuchtend blau wie der sommerliche Himmel. Oder so grau wie das Finanzministerium.
„Du hast den Farbfilm vergessen“ mit Nina Hagen auf youtube (hier in einer Live-Aufnahme von 2018):
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