Trump, Merz und der Fosbury Flop

Fortschritt und Disruption: Was Politik vom Hochsprung lernen kann

Der amerikanische Hochspringer Dick Fosbury galt als talentierter Athlet, war eher ein Einzelgänger, trainingsfaul und verkopft. Er interessierte sich sehr für Physik und spürte bei jedem Sprung dem kurzen Moment des Gefühls von Schwerelosigkeit nach. Von seinen Trainern ließ er sich nur wenig sagen. Dann aber, am 20. Oktober 1968 in Mexiko führte er der ganzen Welt vor, was er im Hochsprung unter Fortschritt verstand – und gewann damit die Goldmedaille der Olympischen Spiele. Der Fosbury Flop war geboren, eine Disruption, eine radikale Veränderung der Sprungtechnik, nicht mehr mit dem Bauch oder den Beinen über die Latte, sondern flach liegend mit dem Rücken. Anfangs wurde gelacht, aber innerhalb weniger Monate setzte sich die neue Technik weltweit durch.

Im Liegen über die Latte fliegen: Mit einer disruptiven Veränderung hat 1968 Dick Fosbury mit seinem Olympiasieg den Hochsprung verändert. Es war eine radikale Disruption. Funktioniert das auch in der Politik? Bild von OpenClipart-Vectors auf Pixabay

So also kann Fortschritt funktionieren: Das Alte betrachten, nachdenken, es schrittweise verbessern – oder auch mit einem radikalen Eingriff, einer grundlegend neuen Vorgehensweise, die das Alte über Bord wirft. „Fortschrittskoalition“ hatte sich in ihren Anfangsstunden jene deutsche Regierung der „Ampel“-Parteien genannt. „Mehr Fortschritt wagen“, so war der Koalitionsvertrag überschrieben. Gemeinsam wolle man „die Dinge vorantreiben und damit auch ein ermutigendes Signal in die Gesellschaft hinein setzen: dass Zusammenhalt und Fortschritt auch bei unterschiedlichen Sichtweisen gelingen können“. Wer möchte, kann sich auf YouTube noch heute die Bilder von den ersten Tagen dieser Regierung ansehen: Ein Minister auf dem Fahrrad, die Ernennungsurkunde auf den Gepäckträger gespannt, eine Außenministerin, die mit dem Zug von Paris nach Brüssel fährt und ein Kanzler Scholz, der sich (im gleichen Film) Hoffnung auf kooperatives Zusammenwirken in den nächsten Jahren des gemeinsamen Regierens macht.

Fortschritt als Leitmotiv: Nicht alles anders, vieles besser

Das ist ja nun gründlich danebengegangen. Was ist misslungen? Es könnte sich lohnen, dem Fortschritt als Leitmotiv nachzuforschen, verspricht er doch immerhin eines: Es soll vorwärts gehen, der Zukunft zugewandt, das Bessere suchen, nicht das Vergangene wiederherstellen. Vor drei Jahren wollte die in Deutschland regierende „Ampel“ den Fortschritt stückchenweise erreichen, nicht „alles anders, sondern vieles besser machen“ (wie Altkanzler Schröder einmal nach der Ära Kohl sagte).

Solche Geduld ist offensichtlich aus der Mode geraten. Die Bilder aus den USA, die den frisch wieder im Amt befindlichen Donald Trump zeigen, wie er stapelweise „Executive Orders“ unterscheibt, haben auch hierzulande Eindruck hinterlassen. Endlich soll Schluss sein mit dem mühsamen Palaver, vorbeisein soll das langweilige Warten auf „echte“ Veränderungen. Stattdessen: Disruption. Trump macht es vor: Ein radikaler Eingriff, eine Unterschrift, eine Anweisung, zack – und die Sache ist geändert.

„Am ersten Tag meiner Amtszeit“, sagt nun also Friedrich Merz, „werde ich anweisen, dass an den Grenzen alle Versuche illegaler Einreisen ausnahmslos abgewiesen werden.“ Es soll sich also endlich etwas ändern, wenn der neue Kanzler im Amt ist, und zwar von einem Tag auf den anderen.

Eine Unterschrift und zack, die Sache ist geändert?

Allerdings ist zu erwarten, dass sich erstmal gar nichts ändert. Illegale Einreisen nach Deutschland sind schon jetzt verboten. Wer an der Grenze Asyl beantragt, reist nicht illegal ein, sondern nutzt europäisches und deutsches Recht. Gewiss kann man den Umgang damit verändern, vielleicht sogar mit Polizeigewalt das Überschreiten der Grenze verhindern. Abgesehen davon, was das bei Deutschlands Nachbarn auslöst – was genau soll geschehen, wenn der illegal Einreisende eine Wanderung ein paar hundert Meter nach links oder rechts des offiziellen Grenzübergangs macht? Zäune? Wasserwerfer? Schusswaffen?

Mit den so spektakulär unterschiebenen Orders des amerikanischen Präsidenten verhält es sich ähnlich. Zwischen der Unterschrift vor Fernsehkameras und der Umsetzung liegen lange Wege, rechtliche Hindernisse, Prozesse und föderale Widerstände. Es fühlt sich an wie eine Disruption, aber es ist keine wirkliche Veränderung, sondern eine effekthascherische Showeinlage.

Disruptionen gegen den Fortschritt

Dick Fosbury wollte den Fortschritt. Er erdachte den nach ihm benannten Flop, weil er höher springen wollte als die Konkurrenz mit ihrer althergebrachten Technik. Die Trumps und Musks – und in ihrem Gefolge die deutschen Konservativen, wollen nicht den Fortschritt. Ihre Disruptionen sollen uns dorthin zurückführen, wo wir herkommen: Wiedereinführung der Kernkraft (ohne Klärung der Frage des Atommülls), das neue Wahlrecht rückgängig machen (also wieder einen XXL-Bundestag zulassen), zurück zu Diesel und Benzin (also Abschied von den Klimazielen), das sogenannte „Heizungsgesetz“ aufheben (obwohl sogar die betroffenen Lobbyorganisationen dies kritisch sehen). Die Rechtsradikalen wollen gar die „Windmühlen der Schande“ absägen, die FDP mehr Milei (Kettensäge) und Musk (Hitlergruß) wagen. Sollen das die Veränderungen sein, die uns in die Zukunft führen?

Die konservative Seite der Politik argumentiert nicht mehr erhaltend und entwickelnd, wie es ihre Aufgabe im politischen Diskurs wäre, sondern radikalverändernd rückwärtsgewandt.  Und sie hat sich verliebt in die neue Ästhetik der Schein-Disruption: Nicht lange diskutieren, lieber schnelles Ändern – oder es wenigstens so aussehen lassen. Der Soziologe Armin Nassehi hat in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung dies als „Disruptive Kontinuität“ bezeichnet. Man müsse im politischen Wettbewerb heute mehr Kausalität zwischen Handlung und Wirkung vorspielen, als fachlich haltbar ist.

Der Fortschritt will erarbeitet sein, mühsam, Stück für Stück

Will heißen: Erfolgreich sind im Zeitalter der Sozialen Medien solche Politiker, die dem Volk erzählen: Nach der Wahl mache ich erstens, zweitens, drittens – und dann ist alles wieder so wie vorher: Keine Mordüberfälle mehr, die Arbeitsplätze alle sicher, die Wohnungen billig und die Bahn pünktlich. Und nach Amtsantritt machen sie erstens, zweitens, drittens, unterzeichnen wirkungslose Absichtserklärungen und Anweisungen von fraglichem rechtlichen Bestand – aber bestens sichtbar für die Kameras, millionenfach geteilt hinein in das zufriedene Wahlvolk. Nichts wird sich dadurch ändern: Der nächste Anschlag durch einen psychisch Kranken wird uns ereilen, die Konjunktur erholt sich nicht von heute auf morgen, die Miete bleibt gleich hoch, und der lästige Personenschaden auf den Gleisen sorgt noch immer für Verspätungen.

Und ein paar Jahre später dann das gleiche Spiel. Bis wir es gelernt haben, dass wir wohl die Geduld werden aufbringen müssen, uns den Fortschritt zu erarbeiten, mühsam, Stück für Stück. Dick Fosburys Sprung war eine Disruption – aber vorher hat er jahrelang dafür trainiert.

 

 

Eine gute Zusammenfassung der Geschichte von Dick Fosbury, die ich auch als Informationsgrundlage für meinen Textes genommen habe, findet sich in der Neuen Züricher Zeitung vom 14.4.2020, der online gebührenfrei verfügbar ist.

 

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Was wir brauchen, ist wehrhafter Anstand

Fünf unbequeme Vorschläge nach Trump-Triumph und Ampel-Aus

Ok, Amerika! Du hast einen verurteilten Straftäter, Vergewaltiger und Lügner erneut zu Deinem Präsidenten gewählt – nicht, weil Du es nicht wusstest, sondern weil er so ist, wie er ist. Du hast Dich gegen den Anstand entschieden, ganz bewusst.

Ok, Deutschland! Mehr als jede/r zehnte Deiner Wählenden gibt einer rechtsradikalen Partei die Stimme – nicht, weil sie es nicht wüssten, sondern weil sie es wollen. Sie entscheiden sich gegen den Anstand, ganz bewusst.

Ok, Lindner! Du willst für Deutschland keine neuen Schulden machen. Nicht, weil Du nicht verstehen würdest, dass dies für unsere Wehrhaftigkeit unausweichlich ist – sondern weil Du weißt, dass es so ist, es aber nicht verantworten willst. Aus Angst vor den Illusionen Deiner Wähler/innen hast Du Dich gegen den Anstand entschieden, ganz bewusst.

Es ist Zeit für einen Aufbruch

Es ist Zeit für einen Aufbruch. Politik und Gesellschaft brauchen eine neue Idee, einen breiten Konsens der Gutwilligen: Den wehrhaften Anstand. Anstand ist die Grundlage von allem, was uns wichtig ist:

Der Frieden, in dem wir seit siebzig Jahren leben, verdanken wir den Anständigen und ihrem Militär, mit dem sie die deutschen Nazi-Verbrecher vertrieben.

Die Freiheit, die halb Deutschland seither und ganz Deutschland seit 35 Jahren genieß, hat der Westen geschenkt bekommen. Der Osten hat sie ohne Gewalt erkämpft – ein wahrer Aufstand der Anständigen gegen die Stasi-Schergen.

Unseren Wohlstand haben sich die meisten von uns anständig erarbeitet, aber es gäbe ihn nicht ohne die Schuld, mit der unsere Vorfahren und wir Millionen anderer Menschen ausgebeutet und unsere natürlichen Lebensgrundlagen massiv geschädigt haben. Dies zu erkennen, zu benennen und zu ändern – das ist anständig.

 

Hier fünf unbequeme Vorschläge, wie wir zu wehrhaftem Anstand kommen:

Mehr Resilienz für die Anständigen

Wir Anständige sind im Recht, lasst Euch nicht verunsichern! Es ist unanständig, ein Nachbarland zu überfallen oder zu bedrohen. Es ist unanständig, den politischen Diskurs mit Gewalt, Lügen und Simplifizierungen zu durchtränken. Eine anständige Gesellschaft muss sich das nicht gefallen lassen. Sie braucht mehr Widerstandskraft nach innen und außen. Der Staat muss robuster auftreten, klar die Wahrheit benennen, mehr investieren in Sicherheit und Wehrhaftigkeit, aber auch in breite (politische) Bildung. Wir alle sollten aktiv eintreten für eine anstandsbasierte Kultur der Kommunikation.

Anstand erträgt keine Armut

Es ist nicht anständig, den eigenen Reichtum als unteilbar zu betrachten. Viel zu viele Menschen auf der ganzen Welt, aber auch in Deutschland, leiden reale Not, während andere gar nicht wissen, wohin mit ihrem Geld. Dieser Zustand ist unanständig und unerträglich. Ein legitimes Mittel dagegen ist staatlich gelenkte Umverteilung, beispielsweise durch Steuern. Früher waren Steuern eine unanständige Ausbeutung durch die Obrigkeit. Bis heute versuchen Ideologen, dieses Zerrbild auch auf das legitime Interesse des modernen Staates anzuwenden. Aber das ist falsch: In den Demokratien von heute ist Umverteilung ein notwendiges Instrument auf der Suche nach Gerechtigkeit. Wer sich ihm entzieht, wer es diskreditiert, handelt unanständig.

Anständige sind keine politischen Gegner

Wer den Anstand wahrt, ist kein Gegner. Die Anständigen im demokratischen Spektrum dürfen ihre Kräfte nicht im Streit mit den falschen Gegnern verschleißen.  Konservative sind nicht automatisch Populisten, so wie Grüne nicht immer Besserwisser sind. Anständige, gesprächsbereite Konservative sind keine Gefährder der Demokratie. Radikale und Populisten dagegen wollen Probleme zum eigenen Nutzen lieber vergrößern, anstatt mitzuhelfen, sie zu lösen. Das ist unanständig, und muss genau so bezeichnet und bekämpft werden.

Das Grundgesetz setzt politischen Anstand voraus

Es ist höchste Zeit, den Anstand wehrhaft zu machen. Gewalt, Lügen, radikale Vereinfachungen wider besseren Wissens und demokratieschädliche Tricksereien zielen auf die Grundlagen unseres demokratischen Zusammenlebens. Sie beabsichtigen, die Gesellschaft dumm zu machen und die demokratische Prozesse des Staates zu zersetzen. Jeder Blick in soziale Medien zeigt, wie tief dieses Gift bereits eingesickert ist. Wer da mitmacht, verstößt gegen die Idee des Anstandes, wie ihn das Grundgesetz für den politischen Raum voraussetzt. Auch hier ist wehrhafter Anstand gefordert – notfalls mit einem Verbotsverfahren.

Wer zu Unanständigkeit schweigt, macht sich mitschuldig

Jede und jeder kann zu wehrhaftem Anstand in einer Gesellschaft der demokratischen Resilienz beitragen, kann täglich gegen die Zersetzungskräfte der Billighändler der politischen Niedertracht eintreten – in der Arbeit, in der Familie, im Verein, in der Nachbarschaft. Wer schweigt, wenn der Anstand verletzt wird, macht sich mitschuldig.

 

Über Anstand hat der Autor Axel Hacke ein ganzes Buch geschrieben: „Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen“ – das ich zur Lektüre sehr empfehle.

Die Idee für meinen Texteinstieg „Ok, Amerika!“ verdanke ich einem gleichnamigen Podcast von ZEITonline, mit dessen Hilfe ich viel besser verstanden habe, wie der Wahlkampf in den USA verlief und warum er das bekannte Ende nahm.

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Der junge Mann auf dem Blechdach

Warum es keine Gleichgültigkeit gegenüber dem Töten geben darf

„Du sollst nicht töten“ – Das fünfte christliche Gebot vermittelt eine einfache Botschaft. Ist noch Platz dafür in einer verrohenden Gesellschaft? Foto: Bruno, lizenzfrei via Pixaby

Der junge Mann liegt auf dem Blechdach und ist tot. Um ihn herum ist die ganze Welt in Aufruhr, denn der junge Mann hat kurz zuvor einen Schuss abgefeuert, der das Ohr des ehemaligen Präsidenten der USA traf. Vermutlich hatte Thomas Matthew Crooks die Absicht, Donald Trump mit einem Kopfschuss zu töten. Nur sehr glückliche Umstände haben das verhindert, eine spontane Kopfdrehung seines Opfers, vielleicht eine Unkonzentriertheit, das Unvermögen oder eine Ablenkung des Schützen. Ein Besucher von Trumps Wahlkampfveranstaltung hatte nicht solches Glück; er wurde tödlich getroffen, da er in der Schussbahn saß.

Wem gilt das Bedauern? Ganz gewiss diesem Besucher, der Trump zujubeln wollte und das nicht überlebt hat. Auch Trump, denn auch er, trotz allem Hass und aller Spaltung, für die er verantwortlich ist, muss nicht hinnehmen, ermordet zu werden. Aber gilt das Bedauern auch dem Schützen?

Die Verrohung der Gesellschaft beginnt mit dieser Frage

Die Verrohung der Gesellschaft beginnt mit dieser Frage. Sie zeigt sich nicht nur in dem tödlichen Bestreben des Attentäters, dem Leben von Donald Trump gewaltsam ein Ende zu setzen, warum auch immer. Sie zeigt sich auch in dem Fehlen von Innehalten, im Ausbleiben von öffentlich wahrnehmbarem Bedauern über den Tod des jungen Mannes auf dem Blechdach. „Der Attentäter wurde durch Scharfschützen getötet“, meldeten die Agenturen lapidar. Sein Tod wird wie selbstverständlich hingenommen.

Osama Bin Laden hatte tausende Menschen auf dem Gewissen. Sie verbrannten, wurden erschlagen und verschüttet in den Ruinen der zusammenstürzenden Türme von New York am 11. September 2001. Hat er den Tod „verdient“? Als amerikanische Spezialeinheiten ihn zehn Jahre später aufspürten, machten sie kurzen Prozess mit ihm – besser: gar keinen Prozess. Sie töteten ihn. Seine Leiche warfen sie ins Meer, damit kein Grab übrigbleiben möge von dem Massenmörder.

Aus dem Nahost-Konflikt kennen wir die Pushmeldungen über gezielte Tötungen, und wir schauen kaum noch auf. Israel wehrt sich gegen seine Todfeinde, tötet regelmäßig diesen oder jenen Kämpfer, Kommandeur, General. Sie sind die Verantwortlichen dafür, dass Juden um ihr Leben fürchten müssen, auch jetzt wieder, sogar in ihrem eigenen Staat, zuletzt beim brutalen Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023. Diese Menschen haben selbst getötet und hatten vermutlich kein Bedauern mit ihren Opfern. Dürfen wir sie deshalb auch einfach töten? Festnahme, Prozess, Rechtsstaatsverfahren? Offensichtlich keine Optionen im Anblick des allseitigen Hasses.

Die Attentäter auf Kennedy und Reagan wurden noch verhaftet

Die gesellschaftlichen Veränderungen zeigen sich auch in der rigiden Hinnahme solcher final-tödlicher Gewalt als erste, nicht mehr als letzte Option. Die Attentäter auf  John F. Kennedy und Ronald Reagan wurde noch festgenommen, die Mörder von John Lennon und Martin Luther King ebenfalls und blieben Jahrzehnte im Gefängnis. Und auch jener psychisch kranke Mann, der am 12. Oktober 1990 auf Wolfgang Schäuble geschossen hatte und ihm damit ein Weiterleben im Rollstuhl aufzwang, wurde überwältigt und in einer psychiatrischen Klinik behandelt.

Wahrscheinlich kann es keine Welt geben ohne das Töten von Menschen durch Menschen. Was aber möglich scheint, ist eine Welt, in der dieses Töten von Zaudern, Skrupeln und Bedauern begleitet wird. Eine Welt, in der das Töten – auch eines offenkundig Schuldigen – nicht als selbstverständlich hingenommen wird. Es könnte eine Welt sein voller Bedauern über das Versagen, über die traurige Unmöglichkeit, das Leben dieses Menschen nicht geschont zu haben.

„Du sollst nicht töten“ – Die Botschaft ist einfach

Wer will einem Soldaten verübeln, dass er sein angreifendes Gegenüber tötet, wenn er sich doch gewiss sein muss, dass dieser ihm andernfalls das Leben nehmen wird? Und ähnliches dürfte auch für den Mann mit Gewehr auf dem Blechdach gelten, der auf Trump anlegt. Was anderes soll der Scharfschütze des Secret Service mit ihm machen – außer den „finalen Rettungsschuss“ zu setzen? Vielleicht so zielen, dass der Schütze am Leben bleibt, aber unfähig wird, weitere Schüsse abzugeben? Welches Risiko bedeutet das für den Präsidenten, wenn es misslingt?

„Du sollst nicht töten“, das fünfte christliche Gebot, hat eine einfache klare Botschaft: Das Töten ist verboten, es ist eine Ultima Ratio, kein Spaß, nichts, an das wir uns gewöhnen dürfen. Es ist niemals „gerecht“, zu töten.

Verrohung als Denk- und Geschäftsmodell

Nichts am Töten ist leichtfertig zu erledigen, das weiß jeder Vernünftige. Das industrielle Töten der Tiere, die vom Lebewesen zur Nahrung werden sollen, wird an Orte ausgelagert, die niemand sieht und Menschen überlassen, die kaum jemand kennt. So kauft sich eine Gesellschaft frei von der Verrohung, die mit dem Töten einhergeht. Noch schlimmer: Die Verrohung ist zum Denk- und Geschäftsmodell geworden. Gesellschaftliche Spaltung, kommerziell ausgebeuteter Hass, dümmlich bis krankhaft ausgeübte Rechthaberei, virale Verschwörungsblasen, Egoshooter-Spiele und (vor allem in den USA) Waffenverfügbarkeit haben das Verbot des Tötens längst relativiert.

Es gilt, der gedankenlosen Gleichgültigkeit gegenüber dem Töten Einhalt zu gebieten: „Spiele“, die auf dem lustvollen Töten basieren, sind kein Spaß. Filme, die das Töten zur Unterhaltung degradieren, muss man nicht ansehen. Postings, die unverhohlene Freude über den Tod Andersdenkender ausdrücken, gehören gelöscht. Und Nachrichten, die das Töten als selbstverständlichen Teil gesellschaftlicher Wirklichkeit darstellen, sind mangelhaft.

Denn jeder fremde Tod bringt immer auch den eigenen näher. Vergesst das nicht.

 

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