Farbfilm (7. Juni 2021)

„Du hast den Farbfilm vergessen!“ schimpfte 1974 die 19jährige Sängerin der Gruppe „Automobil“, Nina Hagen, ihren Reisebegleiter Micha. „Automobil“ landete damit in der Schlagerparade der DDR.

„Alles grau“, urteilte das Westkind

Brauchte man in der DDR einen Farbfilm? „Nun glaubt uns kein Mensch, wie schön ’s hier war“, ging der Text des Liedes weiter, „alles Blau und Weiß und Grün – und später nicht mehr wahr!“ Es gab eine Zeit, in der westdeutsches Vorurteil dem Osten unseres Landes attestierte, dort sei „alles grau“. Und tatsächlich kann sich der Flaneur gut an seine erste Reise in die gerade ganz neu und frei zugänglich gewordene Noch-DDR erinnern. Die damals sechsjährige Tochter schaute nach dem Überwinden der nicht mehr gesicherten innerdeutschen Grenze lange und fasziniert aus dem Fenster, die ersten Dörfer kamen ins vorbeiziehende Bild, und was sagte das unvoreingenommene Westkind? „Alles grau!“

Alles grau: Die Topografie des Terrors und das Bundesfinanzministerium hinter dem Mauer-Reststück

Wer heute durch Berlin wandert oder fährt, kann West und Ost nicht mehr an der Farbigkeit unterscheiden. Aber farbig bunt ist deshalb noch längst nicht alles. Von einem Ort, der „Topografie des Terrors“ heißt, erwarten wir vielleicht auch aus gutem Grund nicht gerade Farbigkeit. Hier wird kein Farbfilm benötigt. Der Ort fordert den Besucher als graue Steinwüste, ein eingezäuntes Areal, ein modernes graues Gebäude in seiner Mitte, ein abgesenkter Graben, ein langes Stück DDR-Mauer an seiner Seite – alles grau. Es bedarf einiger Mühe, sich bewusst zu machen, was das hier eigentlich für ein leeres Straßenkarree ist. Häuser standen her bis zum Kriegsende, Paläste, prächtige Bauten, ein nobles Hotel, aber es gab auch Hinterhöfe, Garagen, Gärten, Lauben. Wenig davon ist übrig, alles ist platt und grau. Die „Topografie des Terrors“ wurde 1987 nach langer Diskussion zu einer begehbare Gedenkstätte, die erinnern soll an das Grauen, das in nationalsozialistischer Zeit dort geschah. Denn hier standen die Zentralen des Terrorregimes, das Hauptquartier von SS und SA, von Gestapo und Polizei, alle auf diesem Fleck, vereint zwischen vier Straßen.

Bomben der Alliierten zerstörten das Zentrum des Grauens, Ruinen blieben übrig von der brutal-rechtlosen Machtausübung. In den 60er Jahren wurde entschieden, das unwirtliche Gelände unmittelbar an der Mauer abzuräumen – und nichts von den Palästen zu erhalten, in denen die Mörder residierten, folterten, quälten – Betriebsfeste feierten, zu Geburtstagen anstießen, Siege bejubelten und Niederlagen schönredeten. Was man heute noch dort findet ist ein modernes Dokumentationszentrum über die Nazidiktatur und eine informative Freiluftausstellung über Deutschlands Irrweg von der Weimarer Republik hin zur totalen Niederlage im selbst angezettelten „totalen Krieg“. Alles wichtig und sehenswert, vieles davon schon hundertmal gesehen.

Moderne Archäologie

Was diesen Ort besonders macht ist so etwas wie moderne Archäologie. Unter dem Schutt der abgeräumten Nazi-Paläste wurden bei der Neugestaltung als Gedenkort die immer noch vorhandenen Pflastersteine der Einfahrten gefunden, über welche die Opfer der Gestapo in die Folterkammern gekarrt wurden. Die eingestürzten Eingangstore der Gestapo-Zentrale, kantige Ruinen, mahnen, einst unbeachtet liegengelassen, jetzt an die Todesangst der Menschen, die das Osttor einst passierten. Unterirdische Gefängniszellen der Gestapo wurden ausgegraben und pietätvoll wieder zugeschüttet, aber markiert. Die graue Topografie deutet die angelegten bombensichern Kellergänge an, zeigt die unterirdisch angelegten Räume einer Cafeteria der Folterknechte.

Die Westdeutschen der Nachkriegsjahre vergaßen sicher keinen Farbfilm, wenn sie in den Urlaub fuhren. Aber die Orte ihrer eigenen grauen Vergangenheit wollten sie gerne aus den Augen und damit aus dem Sinn haben. Alle möglichen Verwendungszwecke für die leere Brache direkt an der Mauer wurden diskutiert. In den 70er Jahren richtete Westberlin schließlich auf dem Gelände ein „Autodrom“ ein, einen Freizeitpark, auf dem man das Autofahren üben konnte – ohne Führerschein hinweg über die Folterkammern des Führers.

Heute denken wir anders. Der Gang über das weite Gelände wird zur Zeitreise vom Grauen ins Grüne. Der Besucher kann das ganze Gelände abschreiten, einige der alten Trassen des Autodroms nutzend, und findet sich bald in einem idyllischen Robinienwäldchen wieder, in dem die Blumen blühen und die Bienen summen. Zurück führt der Weg zur Betonrohr-bewehrten grauen Mauer, das von Mauerspechten durchlöcherte, angenagte, jetzt unter Denkmalschutz stehende Monument der deutschen Teilung. Die Geschichte erlaubt uns, heute ohne Schmerz über sie hinweg zu sehen, hinauf zum Gebäude des heutigen Bundesfinanzministeriums, das so grau und abweisend dasteht, als wollte es allen Klischees von der grauen DDR und dem öden Grau jedes Bürokratenapparates gerecht werden.

Olaf Scholz ist am Aussehen seines Dienstsitzes unschuldig. Das „Detlef-Rohwedder-Haus“ wurde als Monumentalbau von den Nazis errichtet, beherbergte das Reichswehrministerium, später in der DDR das „Haus der Ministerien“ und gab so vielen grauen Bürokraten der DDR einen Arbeitsplatz. Nach dem Fall der Mauer war der graue Kasten dann Sitz der Treuhandanstalt (nach dessen ermordeten Präsidenten er später benannt wurde) und seit 1999 ist dort der Sitz des Bundesfinanzministers. Vermutlich würde der Minister schon am Denkmalschutz scheitern, wenn er den Versuch unternähme, sein Haus bunt anmalen zu lassen.

Das Bunte muss von woanders her kommen

Alles Bunt: Die roten Bäume von Yayoi Kusama beim Gropius-Bau

Das Graue gehört zu diesem Gebäude, wie das Grauen zur Topografie des Terrors gehört. Also muss das Bunte von anderswo kommen. Und siehe da, Blick zurück, keine hundert Meter, außerhalb der Einzäunung, da wartet es schon, das überraschende Bunt. Stehen da tatsächlich knallrote Baumstämme mit leuchtend weißen Punkten? Wie bitte – rote Baumstämme mit weißen Punkten? Kann das sein und wenn ja – wie und warum? Der Anblick ist unglaublich und macht so hoffnungstrunken wie das Licht am Ende eines zu langen Tunnels, so glücklich wie das Durchbrechen eines neuen, strahlenden Motivs in der Musik, wie die erste Blüte im Schnee.

Rote Bäume mit weißen Punkten? Gewachsen können sie so nicht sein, also nochmal hingeguckt: Die bunten Bäume sind eingewickelt und sie sind ein Kunstwerk, Teil einer Ausstellung der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama im benachbarten (von außen übrigens auch ziemlich grauen) Gropius-Museumsbau. Gelockt von den roten Bäumen, schnell online einen Timeslot gebucht, den Corona-Test gezückt, und raus aus der grauen „Topografie“ rein in den Ausstellungpalast. Durstig nach Buntheit, nach Farbenpracht und Vielfalt. Im Foyer räkeln sich die roten Punkte im dichten Gewirr dicker Tentakel über-mannshoch bis ins Obergeschoss der Halle, bilden einen Dschungel der Farbenpracht, laden ein zu weiteren farbigen Abenteuern der Kunst. Man muss nicht alles verstehen, was sich die Künstlerin aus dem fernen Osten dabei gedacht hat, aber dem bunten Zauber der manchmal durch Spiegel ins Unendliche gesteigerten Farbigkeit ihrer Werke wird sich niemand entziehen, der sensiblen Sinnes ist.

Noch mehr Farbe in der Ausstellung der japanischen Künstlerin

Übersatt erfüllt von Farben tritt der Besucher wieder heraus in das reale Berlin, das jeden Tag so bunt gepunktet sein kann, wie der Stamm dieser Bäume, zwischen denen er jetzt steht. Bunt wie das frische Grün an den Zweigen der rotgepunkteten Bäume, oder so gelb wie die vorbeirauschenden DHL-Autos, oder so leuchtend blau wie der sommerliche Himmel. Oder so grau wie das Finanzministerium.

 

 

„Du hast den Farbfilm vergessen“ mit Nina Hagen auf youtube (hier in einer Live-Aufnahme von 2018):

Die Website der Topografie des Terrors: https://www.topographie.de/topographie-des-terrors/

Die Website der Ausstellung von Yayoi Kusama (noch bis 15.8.2021): https://www.berlinerfestspiele.de/de/berliner-festspiele/programm/bfs-gesamtprogramm/programmdetail_299677.html

Brecht lebt (3. Juni 2021)

Das Brecht-Denkmal beim Berliner Ensemble

Man kann es hören, jeden Schritt. Knirsch, knirsch, knirsch – die Schritte des Dramatikers und Theaterdirektors auf dem Kies. Oder auch trapp, trapp, auf dem Straßenpflaster. Bertolt Brecht muss weitergehen, obwohl er so oft lieber stehen bleiben würde. Zerstreut ist der Dichter, unpraktisch und mürrisch, die Frauen seines Lebens müssen ihn treiben, damit er rechtzeitig zum Schlussapplaus in sein Stammhaus, in das „Berliner Ensemble“ kommt. Aber Brecht ist widerspenstig, will sich sogar erst noch vorsorglich eine Grabstelle aussuchen, interessiert sich mal für dieses und jenes am Weg und hat zu allem eine Meinung. Er hat Angst, im Theater anzukommen, er würde vielleicht lieber hinausgehen aus der großen Stadt, hinaus dorthin, wo das Wasser plätschert und das Schilf im Wind rauscht.

Aber Bertold Brecht darf nicht. Er muss durch Berlin gehen und trifft dabei vier Frauen, die wichtig waren in seinem Leben. Jede von ihnen war ihm ergeben, obwohl er „als Mann“ vermutlich alles andere als „attraktiv“ war, klein, gern störrisch und oft ungepflegt, aber eben auch ein faszinierendes Genie, geistreich, überraschend, witzig, humorvoll.  Deshalb haben Frauen es hingenommen, dass er unklar blieb in Beziehungsfragen, haben ertragen, dass er mehrere gleichzeitig liebte, haben akzeptiert, dass er ihre Ideen, ihre Beharrlichkeit, ihre Texte zu seinem Erfolg machte, und den Ruhm und das Geld dafür alleine einstrich.

Das Wohnhaus von Bertolt Brecht und Helene Weigel in der Berliner Chausseestraße

Knirsch, knirsch, wir gehen mit Bertolt Brecht durch den Dorotheenstädter Friedhof. Dort ist er in einem gemeinsamen Grab mit Helene Weigel beerdigt, aber auch die drei anderen Frauen liegen hier: Isot Killian, Elisabeth Hauptmann und Ruth Berlau. Knirsch, knirsch, noch auf dem Friedhof geht Brecht an seinem Berliner Wohnhaus in der Chausseestraße vorbei. Und schon hören wir im Kopfhörer „Helli“ Helene Weigel schimpfen: „Geh in das Theater, troll Dich!“.

Eine Zeitreise to go

Der Brecht-Spaziergang durch Berlin ist kein Audioguide, sondern ein echtes Theatererlebnis, eine Zeitreise to go, ein individuell durchführbarer Schauspiel-Spaziergang. Umsonst und draußen! Den gesprochenen Text – wie auch die – knirsch, trapp – Schritte kann man sich auf das eigene Handy herunterladen, und dann idealerweise im Gleichschritt mit Brecht seinen Weg gehen. Er hat ihn selbst einmal auf einem Notizzettel aufgezeichnet. Der Theaterweg ist ein wunderbares Erlebnis, ein Spaziergang durch die Straßen der Mitte Berlins, aber auch durch die Seele dieses Literaten, durch seine Publikumsscheu und Wortgewalt bis hin zu seiner Angst vor dem Tod. Deshalb heißt er auch „Brecht stirbt“, obwohl dieser Gang durch Berlin auf dem Friedhof beginnt und im Theater endet.

Trapp, trapp, Brecht läuft durch seine Stadt, die er – 1956 gestorben – nicht als Stadt mit Mauer kennengelernt hat. Er ist irritiert, aber auch angetan über das heutige Berlin, über den erreichten Wohlstand in Berlin. Aber auch entsetzt über die Bausünden („Architekt verklagen!“), irritiert über die vielen Schranken und Sperren, das große Krankenhaus, an dem er vorbeikommt.

Lassen wir – trapp, trapp – Brecht ein Stückchen allein gehen! Weichen wir ab von seinem Weg und suchen wir die Begegnung mit ihm an anderen Stellen dieser Stadt. Brecht war Kommunist und glaubte an die idealtypische Ausgestaltung des realen Sozialismus. Er war überzeugt, dass es gelingen könnte, eine klassenfreie Gesellschaft mit Wohlstand für alle zu formen. Er begegnet uns also auch am 17. Juni 1953 auf der Karl-Marx-Allee, die damals Stalinallee hieß. Dort, an einer heute markierten Stelle, hatte das Volk der sowjetischen Zone gegen die Lebensmittelpreise protestiert, und Brecht war entsetzt über das Handeln der Mächtigen: Wenn das Volk das Vertrauen der Regierung verscherzt habe, „wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“

Mit Brecht durch Neukölln und über den Kurfürstendamm

Trapp, trapp – gehen wir mit Brecht durch Neukölln und Kreuzberg. Hier und anderswo begegnen wir seinen Helden der Dreigroschenoper, den einfachen Leuten, die sich mit kleiner Kriminalität über Wasser halten, und den Gangsterbossen, ihren willfährigen Helfern und hilflosen Opfern. Aber auch in den feinen Vierteln der Stadt, am Brandenburger Tor, wo sich die Touristen tummeln, auf dem Kurfürstendamm, wo die Reichen shoppen, läuft Brecht mittendurch zwischen den Bettlern, organisiert von osteuropäischen Bettlerbanden, die so tun müssen, als wären sie arm und beladen. Dabei wären sie es vielleicht nicht, wenn ihre Bettler-Bosse sie nicht wie Mr. Peachum aus der Bettleroper als Arme verkleiden und unter Kontrolle halten würden. „Wovon lebt der Mensch?“, fragt Macheath, und alle Bettler antworten: „Der Mensch lebt nur von Missetat allein!“

Trapp, trapp, weiter geht’s. Vielleicht pfeifen wir jetzt die Ballade vom Haifisch und den Zähnen?  Wer mit Brecht durch Berlin läuft, sieht auch die vielen Mütter, mit und ohne Kopftuch, aus Hartz oder Aleppo, die alltäglich mit Courage ihre Familien durchbringen müssen. Sie betreiben keinen fliegenden Warenhandel mehr, aber sie müssen genau hinsehen, was sie kaufen können, um ihre Kinder satt zu bekommen, sie anzuziehen und zu bilden, damit sie nicht verloren gehen wie die Söhne der „Mutter Courage“.

Trapp, trapp! Jedes Wochenende werden hier tausende Kinder hin und hergefahren zwischen ihren getrennten Eltern. Wir haben Brechts Lektion des „Kaukasischen Kreidekreises“ gelernt. Wir wollen nicht mehr an an den Armen unserer Kinder zerren, um zu ihren Lasten Recht zu behalten.  Und doch kommt es wohl noch oft genug vor.

Da, der Karlsplatz! Hier treffen wir Bertolt Brecht wieder auf seinem Weg zum Theater, nur noch wenige Schritte sind es bis dorthin. Hier, auf der Rückseite des Denkmals für Virchow, lehnt eine Tafel. Darauf steht ein Gedicht. Es berichtet über das kleine Wunder dieser Pappeln, die den Winter 1946 überstanden haben, obwohl er kalt war und die Menschen Holz zum Heizen brauchten. „Doch die Pappel dort am Karlsplatz zeigt uns heute noch ihr grünes Blatt: Seid bedankt, Anwohner vom Karlsplatz, dass man sie noch immer hat.“ Die Zeilen sind von ihm.

Da sitzt der Dichter

Das Berliner Ensemble – Theater von Bertolt Brecht und Helene Weigel

Trapp, trapp – zum Theater! Im Kopfhörer rauscht Applaus. Der Dichter sitzt da schon, eisern und freundlich blickt er uns gerade in die Augen und die Kinder klettern ihm auf die Schulter. Da sitzt ein freundlicher Mensch voller Empathie für die „kleinen Leute“, angekommen in seiner Wahlheimat Berlin, nach einem langen Weg durch zwei Weltkriege, Flucht, Exil, enttäuschten Hoffnungen. Jetzt sitzt er hier auf Dauer. Rechts von ihm „sein“ Theater. Junge Menschen warten auf Einlass, aufgeregt, erwartungsfroh suchen sie noch immer und immer wieder neu die Inspiration des gesprochenen Wortes.

Trapp, trapp – weiter, weiter! Das kluge Wort stirbt nicht, es lebt immer weiter.

 

Den wunderbaren Spaziergang durch Berlin mit Bert Brecht kann man hier erleben (wobei es natürlich am Schönsten ist, vor Ort mitgehen zu können): https://www.berliner-ensemble.de/audiospaziergang-brecht-stirbt

Mehr über Bert Brecht bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Bertolt_Brecht

 

 

 

Von Regeln und Rasenflächen (19. Mai 2021)

Nennen wir ihn Joe. Joe ist 25 Jahre alt, studiert in Berlin und arbeitet nebenbei als Wolt-Fahrer. Für ihn gilt nur eine Regel: Vorankommen und ankommen. Wolt ist ein finnisches Startup, das im Berliner Straßenbild omnipräsent ist. Auf jedem Radweg, durch jede Straße jagt eine oder ein Wolt-Radler/in dahin, den würfelförmigen blauen Thermo-Kubus auf dem Rücken. Es gilt, den Boom-Markt der Essenslieferungen zu erobern. Überarbeitete Businessleute, übermüdete Familien mit Kleinkindern, kochuntaugliche Singles – das sind die Zielgruppen, allesamt hungrig und ungeduldig.  Joe will möglichst viel Geld in möglichst kurzer Zeit verdienen, mit Fahrradfahren, was auch ohne Kasten auf dem Rücken seine Leidenschaft ist. Joe muss schnell sein, damit er sich einen guten Stundenlohn erarbeitet, wozu auch gehört, dass das Essen nicht kalt wird. Sein Trinkgeld steigt mit der Zufriedenheit der Kunden, und die mögen kein kaltes Essen. Also hält Joe auch wenig von Verkehrsregeln. Vorankommen, das Essen wird kalt!

Berlin wirbt für Abstand

In Berlin gelten unzählige Regeln. Joes Jagdrevier der Neuzeit ist der Straßenverkehr, nehmen wir also diesen als Beispiel. Verkehrsschilder, Ampeln, Straßenmarkierungen versuchen, das Regelwerk unseres mobilen Zusammenlebens zur Geltung zu bringen. Aber oft siegt die Anarchie: Markierungen sind für viele Autofahrer nur eine Empfehlung, vor der Kreuzung herrscht ein spurenübergreifendes Geschiebe wie in Palermo. Jeder will vorankommen! Das Mantra der gehetzten Dynamik steht über jeder Regel. Regelwidriges Anhalten in zweiter Parkreihe zum Liefern ist Alltag. Wie sollte es auch anders sein? Im Halteverbot am Straßenrand stehen Autos kreuz und quer, und irgendwie muss die Fracht ja zum Ziel kommen. Der nächste Kunde wartet auf seine Pakete! Rotlicht für Fußgänger? Eher eine Empfehlung. Tempo 30? Gilt nicht für Taxifahrer und andere, die es eilig haben. Vorankommen! In diesem Getriebe ist Wolt-Fahrer Joe nur ein kleines Rädchen. Rote Ampel beachten, wenn gerade keiner kommt? Handyverbot im Straßenverkehr? Das kostet Joe alles Zeit und damit Geld. Also rüber auf die andere Straßenseite, dem hungrigen Kunden ein paar Meter, ein paar Sekunden näher. Und dabei noch schnell ein Blick aufs Handy, den nächsten Auftrag annehmen – alles normal. Vorankommen!

„Is´ mir egal“ heißt die Hymne der Regelübertretung

Die Erfahrung der alltäglichen Regelübertretung prägt das Leben in Berlin. Wer sich immer an alle Regeln halten würde, käme schlicht nicht durch, wäre der sprichwörtlich „Dumme“. Die Verantwortlichen dieser Stadt sind demütig geworden gegenüber dieser Logik. Sie versuchen sich daher in einer unterhaltsamen Balance aus Repression und Kreativität. Im Stadtbild ist Polizei gut präsent, aber gleichzeitig wirbt Berlin kreativ für die freiwillige Einhaltung ihrer Regeln, bettelt geradezu um die Vernunft ihrer Bürger: „1,5 Meter = 1 Pony“ oder „1,5 Meter = 3 Corgies“ blödelt in der Pandemie das Plakat an den Haltestellen von Bus und Bahn, daneben steht dichtgedrängt der Fahrgastpulk mit tief unter der Nase sitzenden Masken. „Krassere Öffnungszeiten als Dein Späti!“ kündet der flotte Spruch auf dem überfüllten öffentlichen Müllbehälter, darunter ein Berg von Abfall.

Kreativität entsteht dort, wo es erlaubt ist, Regeln nicht allzu ernst zu nehmen. „Is mir egal“, singt der schon früh verstorbene Kazim Akboga auf Youtube im Auftrag der Berliner Verkehrsbetriebe. Egal ist ihm angeblich, wenn Leute mit einem Pferd in der U-Bahn stehen oder in der Straßenbahn Zwiebeln schneiden, Hauptsache, man hat ein gültiges Ticket. Die überaus witzige und geistreiche Berliner Hymne auf die bunte Dynamik der Regelübertretung wurde schon über zehn Millionen Mal geklickt.

Eine falsche Uniform macht Eindruck …

Den falschen Hauptmann von Köpenick ehrt ein Denkmal …

Eine der originellsten Regelübertretungen in Berlin verdanken wir dem Schuhmacher und kreativen Kleinkriminellen Wilhelm Voigt. Seine Dreistigkeit machte ihn und den heutigen Berliner Stadtteil Köpenick weltbekannt. Der Begriff „Köpenickiade“ hat es in den Duden und zu einem Wikipedia-Eintrag geschafft, und hat als Stoff für ein Theaterstück von Carl Zuckmayer literarischen Weltruhm erlangt. Und die Geschichte gab es wirklich: Voigt, der „Hauptmann von Köpenick“ schneiderte sich im Jahre 1906 selbst eine Phantasieuniform, stellte mit ihrer autoritätsverleihenden Ausstrahlung zwei von ihm zufällig aufgesuchte Soldatenbrigaden unter sein Kommando (die das auch anstandslos mit sich machen ließen), fuhr mit ihnen mit der Straßenbahn nach Köpenick (ob er Fahrkarten kaufte, ist nicht überliefert), spendierte „seinen“ Soldaten ein Bier und ließ sich dann mit ihrer Unterstützung von der ebenfalls überrumpelten Ratsspitze die gesamte Köpenicker Stadtkasse aushändigen.

… und echte Uniformen stürzen ins Unglück

… an Schloss Köpenick erinnert wenigstens eine Gedenktafel an ein historisches Unrecht.

Wir hegen Sympathien für diesen rebellischen, falschen Hauptmann, dessen Geschichte uns heiter lehrt, wohin zu viel uniform-ergebene Regeltreue führt – und auch, wie weit es ein kreativer Regelübertreter bringen kann. Das tragische Gegenstück dazu ereignete sich keine 500 Meter entfernt vom heutigen Köpenicker Rathaus, aber 170 Jahre früher. Im Schloss Köpenick wurde 1730 mit katastrophalem Ausgang vor dem preußischen Kriegsgericht verhandelt. Angeklagt war Hans Hermann von Katte, der Jugendfreund des späteren preußischen Königs Friedrich II. („der Große“). Von Katte war wie sein prominenter Freund ein – erste Regelübertretung! – künstlerischer Frei- statt soldatischer Kleingeist. Und er war mit dem damals noch achtzehnjährigen, vom Vater tyrannisierten und auch deshalb kreuzunglücklichen Thronfolger– zweite Regelübertretung! – vermutlich als Liebespaar verbunden. Auch der Thronfolger selbst hatte einen Regelverstoß geplant: Er wollte seinem Vater und dessen Brutalität nach Frankreich entfliehen. Sein kluger Freund hatte davon gewusst, hatte gewarnt, wurde denunziert und vor dem Kriegsgericht der Mithilfe zur Fahnenflucht beschuldigt. Die Köpenicker Richter versuchten, in ihrem Urteil das Leben des sonst untadeligen Premierleutnants der preußischen Armee zu retten. Aber der „Soldatenkönig“ Friedrich I. kannte kein Pardon. Von Katte wurde hingerichtet, und angeblich zwang der Vater seinen verzweifelten Sohn sogar dazu, Zeuge dieses Mordgeschehens zu sein.

Rasen betreten erlaubt!

„In Deutschland kann es keine Revolution geben, da man dafür den Rasen betreten müsste“, soll der Diktator Josef Stalin mit Blick auf das im nationalsozialistischen Wahn vernebelte Volk der Deutschen einmal gesagt haben. In Berlin kann man vielerorts besichtigen, wie berechtigt diese Einschätzung über unser historisches Versagen gewesen ist (wobei Stalin wahrlich kein guter Zeuge für einen solchen Vorwurf ist). Ein Besuch in der Villa am Wannsee macht stumm ob der Bedenkenlosigkeit, mit der Nazi-Bürokraten 1942 frei von Zweifeln oder Skrupeln die Regeln zur Ermordung von Millionen Juden aufstellten, um sich anschließend zu einem Arbeitsfrühstück zusammen zu gesellen.

Noch immer beginnen nur selten Revolutionen, wenn die Berliner heute den Rasen betreten. Immerhin, sie tun es! Schaut hin, da radelt Joe! Er nimmt die Abkürzung über eine Rasenfläche, um schneller voranzukommen im wilden Zickzack-Kurs zwischen den Sonnenanbetern, der Slacklinern, den Grill-Familien. Was kümmert ihn schon, dass Radfahren im Park eigentlich verboten ist? Das Essen wird kalt, der nächste Auftrag wartet.

 

Sehr informativ finde ich diesen Film von Pocketmoney über das Arbeiten als Essenlieferant in Berlin: https://www.youtube.com/watch?v=UoaTpQ3WZIY

Viel Spaß mit „Is mir egal“ mit Kazim Akboga: https://www.youtube.com/results?search_query=Video+mir+doch+egal

Die Geschichte des Hauptmanns von Köpenick findet sich auch bei Wikipedia:

https://de.wikipedia.org/wiki/Hauptmann_von_K%C3%B6penick

wie auch das tragische Schicksal von Hans Hermann von Katte

https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Hermann_von_Katte

Das Haus der Wannsee-Konferenz hat eine eigene Website: https://www.ghwk.de/de

 

 

 

Ein weites Feld (11. Mai 2021)

Die Geschichte der unglücklichen Effi beginnt wie jede Geschichte im Leben mit ihren Eltern. Eine streng-protestantisch gradlinige Mutter, durchaus liebevoll, aber auch voller klarer Prinzipien. Immer weiß sie ganz genau, worum es geht, hat Effi fromm und wohlbehütet aufgezogen, und sie ist sich auch ganz gewiss, dass eine gute Heirat das Ziel für Effi sein muss; eine Heirat, die standesgemäß nach oben weist, jedenfalls nicht nach unten. Effis liberal-konservativer Vater, stolzer, kleiner Landadel, hat Effi aus freundlich-väterlicher Distanz auch immer sehr geliebt, aber Erziehung und Lebensplanung der Tochter doch weitgehend seiner Frau überlassen. Und so heiratet Effi, noch ein Kind, den ersten Mann, der ein Auge auf das schöne Mädchen geworfen hatte, viel zu alt, viel zu steif, kein Mann für eine Siebzehnjährige. Effi wird Mutter, lebt unglücklich, verliebt sich zum ersten Mal im Leben wirklich … nun, das geht nicht gut aus.

Nachdem das Schicksal zugeschlagen hat und nichts mehr zu retten ist für Effi, fragt Mutter Luise ihren Mann das, was sich alle Eltern fragen, wenn die Entwicklung ihrer Kinder nicht so verläuft, wie gewünscht. „Ob wir sie nicht anders in Zucht hätten nehmen müssen?“ – sprich: besser erziehen? Der altersmilde Vater Briest antwortet mit einem Satz, der zum Standard für das Ausweichen und Herumlavieren in der deutschen Sprache geworden ist: „Ach, Luise, lass – das ist ein zu weites Feld …“.

Längst hat es jeder kundige Leser erkannt und sich an seinen Deutschunterricht erinnert: Es geht um Effi Briest, die bekannteste Romanfigur von Theodor Fontane. Fontane lebte in Berlin, als er im Jahr 1894 Effi zum literarischen Leben erweckte. Bis heute ist das Buch eine Mahnung, welches Unglück über Frauen kommen kann, wenn sie ihr Schicksal nicht selbst in die Hand nehmen, und zwar definitiv auch dann, wenn sie es „gut meinen“. Denn alle in diesem Roman meinen es „gut“ mit Effi. Aber ihre Freiheit haben sie nicht im Sinn.

Landebahn auf dem Tempelhofer Feld

Es gibt immer viele Wahrheiten

Zur Zeit der Veröffentlichung dieses großen deutschen Gesellschaftsromans war die freie und weite Fläche des späteren Flughafens Berlin-Tempelhof noch Militärgelände, geeignet für preußische Schießübungen und erste fliegerische Experimente. Fontane hatte sicher nicht dieses weite Feld im Sinn, als er dem alten Vater Briest die berühmten Worte in den Mund legte. Er meinte es sinnbildlich: Es ist eben oft unklar, was richtig und was falsch ist. Es gibt viele Wahrheiten, und alle haben ihre Berechtigung. Wer also will festlegen, was gewesen wäre, wenn …?

Was wäre gewesen, wenn …?

Was wäre denn gewesen, wenn die Nationalsozialisten nicht für ihren Berliner Zentralflughafen diesen gigantischen Betonbau, mit 1,2 Kilometern noch immer eines der längsten Gebäude Europas, errichtet hätten; ein Bau, der jeden, der an ihm entlangschreitet, klein und unbedeutend macht im Angesicht seiner schieren Größe? Wenn der letzte NS-Kommandant des Tempelhofer Flughafens 1945 nicht lieber sein Leben selbst beendet hätte, statt die von den totalen Kriegern bereits angeordnete Sprengung der Riesengebäudes zu vollziehen? Wenn die sowjetischen Truppen, die das von Bombenkratern übersäte Areal dann eroberten, Flughafen Tempelhof nicht absprachegemäß an die nachrückenden Amerikaner übergeben hätten? Wenn die West-Alliierten nach der Blockade Berlins 1948/49 nicht mit Hilfe dieses Flughafens die Luftbrücke zur Versorgung der eingeschlossenen Stadt sichergestellt hätten, was jedenfalls die damaligen Westberliner als nichts anderes erlebt haben als die Gewährleistung ihrer eingeschlossenen Freiheit?

Dann kam die deutsche Wiedervereinigung, und Berlin hatte plötzlich drei Flughäfen. Tempelhof wurde 2008 als Flughafen geschlossen, schöner Bau hin oder her. Was wäre passiert, wenn die Berliner Bürger danach in einer Volksabstimmung anders entschieden hätten, als sie es taten – nämlich nicht, dass dieses Riesenareal frei bleibt, weitgehend so, wie es ist? Weltweit exotisch war und ist die Idee ja nun wirklich, einen geschlossenen Flughafen, fast so groß wie 50 Fußballfelder, für alle zu öffnen zum Rumlaufen und Radeln, zum Skaten und Surfen, aber nicht für Flugzeuge. Was wäre, wenn das anders gewesen wäre?

Weite ist ein Glück

Tempelhofer Feld

Ein weites Feld! Müßig, darüber nachzudenken. Denn es kam so, wie es jetzt ist, und deshalb kann der Flaneur einen halben Tag hindurchschreiten durch diese einladende, verlockende, weite Ödnis, einmal die kilometerlange und fünfzig Meter breite Hauptlandebahn entlang. Weite ist ein Glück, das der Glückliche spüren kann am breiten Nordseestrand bei Ebbe. Oder beim Blick aus dem Flugzeugfenster über den Wolken, wo die Freiheit – so der berühmte Liedtext eines anderen Berliners – wohl grenzenlos ist. Oder auf diesem Feld, wo jeder, der oder die es möchte, die in der Weite geronnene Freiheit mitten in der Stadt spüren kann.

Es ist die Freiheit der Feldlerchen, deren Gezwitscher in der Mitte dieses weiten Feldes das ewige Lied des Windes übertönt. Es ist die Freiheit der Füchse, der Schmetterlinge und Käfer und allen anderen Getiers, das sich den weiten Raum mitten in der Stadt erobert hat. Es ist die Freiheit der Rennradler und Inliner, die jetzt auf dem Asphalt für Flugzeuge ungestört eine Runde nach der anderen drehen können. Die Freiheit des Gitarrenspielers, der auf einer Bank ein Konzert für sich selbst gibt. Die Freiheit der Jongleure, die nur für sich erproben, ob ein Kegel fällt. Die Freiheit der Skater, die spüren, dass ihre Räder sie nach überall hintragen können. Die Freiheit der Sonnenanbeter, der Quatschrunden, der Griller, der Drachenfreunde, der Urban-Gardeners, der Hippies. Es ist die Freiheit für jeden, niemandem in die Quere zu kommen, immer ausweichen zu können, weil die Weite es erlaubt. Es ist die Freiheit der Weite, die still macht und doch auch mutig genug, laut zu schreien.

Bäume an der Landebahn?

Wer diese Freiheit im steten Windhauch auf dem Tempelhofer Feld spürt, wird es vielleicht doch Vater Briest gleichtun und sich in „beständige Zweideutigkeiten“ flüchten, in immer relativierende Unbestimmtheit. Es ist eben ein weites Feld. Ja sicher, auch die Freiheit auf dem Tempelhofer Feld hat ihre Regeln, aber wer sollte sie hier kontrollieren oder durchsetzen? Ganz gewiss hätte man da auch ein paar tausend Wohnungen am Rand bauen können, wenn doch die Wohnungsnot so groß ist in Berlin? Und könnte man nicht wenigstens in der Mitte dieses Riesenfeldes einen Getränkekiosk, eine Toilette schaffen? Bräuchte man nicht mehr Bänke? Wären ein paar Bäume in dieser schattenlosen Wüste nicht eine Wohltat? Aber auf welchem Flughafen stehen schon Bäume an der Landebahn? Könnte man alles machen, aber immer spricht auch etwas dagegen. Dieses Feld haben die Berliner sich selbst übereignet, und damit ihrer Freiheit ein eindrücklicheres Denkmal gesetzt als manches andere in dieser an Denkmälern wahrlich nicht armen Stadt.

Ach, es ist ein weites Feld …

 

Wikipedia über das Tempelhofer Feld und seine Geschichte: https://de.wikipedia.org/wiki/Tempelhofer_Feld

Wikipedia über den Roman Effi Briest: https://de.wikipedia.org/wiki/Effi_Briest

Die Idee, den Romantext „Ein weites Feld“ mit dem Tempelhofer Feld zu verbinden, verdanke ich der Ankündigung einer inzwischen nicht mehr verfügbaren Ausstellung im ehem. Flughafen Tempelhof über seine Geschichte. Vielen Dank dafür!

7.000 Schritte, wahllos durch die Zeit (8. Mai 2021)

Täglich mahnt das Handy: Das persönliche „Schritte-Ziel“ gelte es zu erreichen (wer hat diesen Begriff erfunden und in unsere Hirne gepflanzt?). Also raus in diesen unwirtlichen, kalten Maianfang, der schwankt zwischen desaströsen Regengüssen und gleißendem Sonnenglanz, grimmigen Windböen und trügerischer Ruhe, raus in die Straßen Berlins. Egal, wohin, Hauptsache Schritte sammeln, ein wahlloser Weg durch die Mitte dieser Stadt. Es wird ein willkürlicher Gang durch die Zeit. Dass jede Scholle ihre Geschichte hat, und sei sie noch so ländlich abseitig, dass sie Kriege erlebt hat, Gegenstand oder Ort erbitterter Streitereien war, Menschen genährt und begraben hat – wann machen wir uns das bewusst? Man könnte es jetzt tun, wenn man schon Schritte sammeln soll. Los geht´s, das Treppenhaus hinunter, raus auf die Straße.

Schritt 20,

Schritt 400,

Stallschreiberstraße, 13. September 1964: DDR-Flüchtling Michael Meyer wird nach Schüssen der DDR-Grenzer schwer verletzt von amerikanischen Soldaten aus dem Todesstreifen gerettet. Am gleichen Tag ist zufällig Martin Luther King in Berlin, er besucht noch am Nachmittag den Ort des Geschehens und mahnt abends im Osten die Christenheit, sich nicht durch Mauern trennen zu lassen.

Schritt 1263,

Wallstraße 64, Spätsommer 1941: Eine Gedenktafel erinnert daran, dass hier von einer Stoffdruckfirma Geitel & Co rund eine Million Jugendsterne gedruckt worden sind. Alltäglicher Vollzug des Grauens.

Schritt 1275,

Wallstr. 90, 18. September 2010: Eine private Gedenktafel informiert über den Maler Walter Womacka, einer der großen Vertreter des sozialistischen Realismus, der hier wohnte und an diesem Tag in Berlin starb. Eines seiner Hauptwerke heißt „Wenn Kommunisten träumen“ und hing im Hauptfoyer des Palastes der Republik. Der Palast ist durch das erneuerte Stadtschloss ersetzt, das Bild ist eingelagert. Wovon träumen Kommunisten jetzt?

Schritt 2317,

Mohrenstr. 37, 9. November 1989: Der Raum des Geschehens existiert nicht mehr im heutigen Bundesjustizministerium. Ein kaum als solches erkennbares Denkmal weist aber darauf hin, dass hier Geschichte geschrieben wurde. Günter Schabowski gab stammelnd im damaligen Internationalen Pressezentrum der DDR-Führung an dieser Stelle mehr versehentlich als bewusst das Signal zur Öffnung der Mauer. „Das gilt … sofort, unverzüglich“, waren die vielleicht folgenschwersten Worte der jüngeren deutschen Geschichte. Eine rhetorische Ikone der Neuzeit, jederzeit aus der Konserve abrufbar, und damit unvergänglich. Wir kennen nicht die Stimme von Friedrich dem Großen oder von Napoleon, aber die von Günter Schabowski, dahingesprochen im Zweifel, ohne Bewusstsein über die Tragweite, von einem Mann, der gezeichnet ist von der Ermattung und Überarbeitung in diesen dramatischen Zeiten.

Schritt 3011,

Gendarmenmarkt, 29. Oktober 1685: Eine ganze Kirche erinnert daran, dass in Berlin und Brandenburg durch ein königliches Edikt mit diesem Datum Zigtausende religiös verfolgte Protestanten aus Frankreich Aufnahme in Preußen gefunden haben. Die „Hugenotten“, echte Migranten ihrer Zeit, mit fremder Sprache und ungewohnten Sitten, lebten anfangs in provisorischen Zelten, in Armenquartieren und arbeiteten hart an ihrer Existenz, heilfroh, hier eine neue sichere Heimat gefunden zu haben. Ihre Ankunft löste damals die gleichen Diskussionen aus wie heute. Eingeladen vom König galten sie der einfachen Bevölkerung als privilegiert, sie verknappten das Angebot an Nahrungsmitteln und konkurrierten um Arbeitsplätze. Der König hatte vielleicht auch gesagt: „Wir schaffen das!“, noch so eine rhetorische Ikone. Die Hugenotten sind geblieben und prägen mit ihrer Geschichte bis heute das Stadtbild Berlins.

Schritt 3056,

Gendarmenmarkt, 18. März 1848: Die Märzrevolution war die erste und bis zum Sturz der DDR-Regierung auch die einzige Revolution auf deutschem Boden. Die Berliner Toten der Revolution wurden hier aufgebahrt. Ein sinnloses Opfer, denn die Uneinigkeit der Revolutionäre machte es dem König leicht, mit seinen Truppen schon im November 1848 dem Treiben ein Ende zu setzen.

Schritt 3107,

Charlottenstraße 33, 1796 bis 1800: Hier wohnte vier Jahr lang der Schauspieler und Theaterdirektor August Wilhelm Iffland. Nach ihm benannt ist der Iffland-Ring, eine lebenslang per Testament verliehene Auszeichnung für herausragende Schauspieler. Man erbt einen tatsächlichen Ring (der allerdings eigentlich dem österreichischen Staat gehört), der nach dem Tod des jeweiligen Trägers von diesem an einen von ihm ausgewählten Schauspieler-Kollegen vermacht wird. Es muss ein Mann sein, hat Iffland festgelegt. Derzeit trägt den Iffland-Ring der Hamburger Schauspieler Jens Harzer.

Orginal-Mauer, für Mauerspechte to go

Schritt 4205,

Friedrich-/ Ecke Behrenstr., mal wieder 9. November 1989: Ein reichlich angenagtes Original-Stück der Berliner Mauer steht dekorativ auf dem Gehweg vor einem Luxushotel. Wer möchte, kann sich bei der Rezeption gegen Bezahlung Ausrüstung (Schutzbrille, Hammer, Meißel) ausleihen und sich als verspäteter Mauerspecht betätigen. Das herausgehackte Stück Beton darf man mitnehmen und hinaustragen in die Welt. Verkaufte Freiheit, gewissermaßen.

Schritt 5279,

Wilhelmstraße 65:  Der interessierte Schritte-Sammler kann mithilfe sehr informativer Tafeln in dieser Straße verfolgen, wie sich die Häuser verändert haben. In Haus 65 beginnt es irgendwann 1736: Erst Residenz eines preußischen Kronprinzen, dann Sitz des preußischen, dann des nationalsozialistischen Justizministeriums. Im Krieg zerstört, abgerissen, vorübergehend ein Kinderspielplatz, jetzt Erweiterungsbau des Bundeslandwirtschaftsministeriums, das seinen Hauptsitz im Nebenhaus hat. Dort hatte auch einmal der damalige Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer seine Dienstwohnung – als Vorsitzender des Preußischen Staatsrates, bis 1933 der Idee nach vergleichbar mit dem heutigen Bundesrat.

Schritt 6390,

Hoffnung im Stelenfeld

Cora-Berliner-Str. 1: Am 12. Mai 2005 wurde das Denkmal für die ermordeten Juden Europas eröffnet. Von der Rückseite betritt der Flaneur das Stelenfeld. Es herrscht Stille im grandios-schmucklosen Monument, nicht einmal die Sturmböen finden in das Labyrinth. Die grauen Blöcke setzen zartgrün schimmerndes Moos an. Der eine oder andere Riss hat sich gebildet, einige Stelen müssen von Stahlbändern zusammengehalten werden. Die Verletzlichkeit des Betons verstärkt die Eindringlichkeit dieser eindringlichen Tristesse. Am westlichen Ende des grandios-schmucklosen Monuments keimt Hoffnung. Es fehlen ein paar Stelen; an ihrer Stelle wachsen karge Bäumchen.

Schritt 6643,

Brandenburger Tor, 4. Mai 2021: Ein Häufchen Wirrköpfe demonstriert vor dem weltberühmten Tor, das längst kein Tor mehr ist, sondern ein Wahrzeichen für Berlin und seine Geschichte. Auch wer länger zuhört, versteht nicht, worum es gehen soll. Mehr Polizisten als Demonstranten schützen die Versammlung und müssen sich dafür auch noch beschimpfen lassen. Es geht nur um die Handyfotos: Ein paar Sympathisanten, schnell gepinselte Plakate mit zu einfachen Botschaften, dahinter das berühmte Tor. Tausendfach viral geteilt wird es einmal mehr missbraucht.

Schritt 6923,

direkt neben dem Reichstagsgebäude, 17. März 1982: Helmut Schmidt hat an diesem Tag als erster deutscher Bundeskanzler das Unrecht der Nationalsozialisten an den Sinti und Roma anerkannt. Das daran erinnernde Denkmal im Tiergarten nimmt Schmidts Bekenntnis auf. Es braucht mehr Worte als das stumme Stelenfeld, damit Menschen verstehen, um welches Leid es hier geht.

Schritt 7012,

Reichstagsgebäude, 28. Februar 1933. Erst 1894 vollendet, wurde es schon an diesem Tag in Brand gesteckt, damit alle, die es sehen wollten, erkennen konnten, dass die Zerstörung deutscher Humanität und Demokratie bevorsteht. Dann wortwörtlich „auferstanden aus Ruinen“ – auch wenn diese Liedzeile wenige Meter weiter östlich hinter der Mauer als Nationalhymne diente. Ein Gewirr von Absperrgittern soll es jetzt schützen vor der Erstürmung durch Brandstifter aller Art.

Schritte-Ziel für diesen Tag erreicht. Was vorbeikam an diesem Weg, blieb eine willkürliche Auswahl. Vieles übersehen, nicht erkannt, verworfen. Morgen wieder Schritte sammeln, mit wachem Blick, wahllos durch die Zeit.

 

über die Initiative „Stolpersteine“ informiert diese Seite: https://www.stolpersteine-berlin.de/

das weltberühmte Zitat von Günter Schabowski auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=b3qVjwzgC2A

über den Iffland-Ring: https://de.wikipedia.org/wiki/Iffland-Ring

 

Wo wohnt das Glück? (3. Mai 2021)

Schloss Charlottenburg

Wo anfangen, wenn man über das Wohnen in Berlin nachdenken möchte? Willkürlicher Einstieg:  Schloss Charlottenburg. Die prächtige Residenz, Berlins größte Schlossanlage, hat Hunderte von Räumen, aber die meisten davon standen meistens leer. Der Riesenkomplex wurde über 200 Jahre an- und ausgebaut, um Seitenflügel, Theaterbauten, Orangerie und einen Park erweitert, es wurde dort gefeiert, repräsentiert, gelacht und geweint – aber gewohnt wurde eher selten. Jedenfalls nicht in dem Sinne, in dem wir heute wohnen: Fester Lebensmittelpunkt, Heim und Herd, Tür zu, und das Private beginnt. Schloss Charlottenburg diente vorrangig als Sommerresidenz der preußischen Könige von kurz nach 1700 und knapp bis 1900, immer wieder mal aufgesucht, oft in scharfer Konkurrenz unterlegen gegenüber den Potsdamer Schlössern. Also standen sie leer, die Festsäle, Dienstbotenkammern, Küchen, Gänge, Repräsentationsräume, Schlafzimmer, Theater. Seit 100 Jahren wird das Schloss als Museum genutzt.

Nur wenige Schritte vom Schloss zum Zelt

Was für ein sinnloser Luxus! Es sind nur wenige Schritte vom Schloss bis zur Brücke über die Spree, die Menschen ein Zuhause bietet, nur eine Ein-Raum-Wohnung im Zelt, aber immerhin. Ein trockener Platz, mühsam ergattert im Konkurrenzkampf unter den Mittel- und Wohnungslosen. Manchmal kommt der Bus der Obdachlosenhilfe vorbei mit einer warmen Suppe, und die wohlsituierten Tagesbesucher bei der Nachbarschaft, bei Schloss und Park Charlottenburg, stellen hin und wieder dem Zeltbewohner gnädig ihre Pfandflaschen vor den Reißverschluss.

Wo wohnt das Glück?

Es waren keine vierzig Jahre vergangen, seit aus dem schönen, aber so wenig nützlichen Schloss am Spreeufer der letzte adelige Teilzeit-Bewohner ausgezogen war, da errichteten in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts weitsichtige Bauherren und Architekten die Hufeisensiedlung in Britz. Sie hat kein eigenes Theater, aber auch so etwas wie einen Park. Genauso wie das berühmte Schloss trägt sie jetzt den neuzeitlichen Adelstitel „UNESCO-Weltkulturerbe“. Hier sollte von Anfang an ausschließlich gewohnt werden, und zwar in bester Lebensqualität zu, genossenschaftlich kontrolliert, erschwinglichen Preisen, ganz ohne staatlich verordneten Mietendeckel. In Form eines großen Hufeisens ordnen sich die Wohnungen in drei Stockwerken fast rund um einen Teich, eine Grünanlage, davor kleine Gärten – was für ein Traum von Park! Ummauerte Nischen-Balkone laden zum Blick auf dieses Ensemble ein, eine kleine Gaststätte und die wichtigsten Geschäfte gibt es auch. Zusammen mit den Nebenbauten, die Teil des denkmalgeschützten Ensembles sind, entstanden hier rund 2000 Wohnungen auf einer Fläche, die mehrfach in den Charlottenburger Schlosspark passen würde. Wer hier wohnen darf, hatte Glück, und hat es gleichzeitig gefunden, das Glück des Wohnens. Kein Wunder, wenn die Siedlung auch noch nach einem Glückssymbol benannt ist. Die Hufeisensiedlung, die Siemensstadt und andere, ähnliche Wohnquartiere in Berlin aus dieser Zeit zeugen vom Willen, der Metropole endlich den Wohnraum zu schaffen, nach dem sich viele sehnten in ihren verrotteten, krankmachenden Armenbauten. Wohnraum als Sozialprojekt, nicht als kommerzielle Veranstaltung.

Wieder vierzig Jahre später gab es in einem Teil dieser Stadt staatlich verordnet keinen Wohnkommerz mehr. Die DDR-Führung verfolgte mit ihren Plattenbauten die gleichen Ideale wie die Visionäre der Sozialsiedlungen aus den Zwanzigern. Aber hier wurde nicht Bauhaus-ambitioniert gebaut, sondern schnell und billig hochgezogen, städtebaulich phantasielos, vom Westen verspottet. Das war effizient, um nach einem Krieg und seinen Verwüstungen endlich menschenwürdigen Wohnraum zu schaffen für die vielen, die danach suchten. Sieben solche Hochhäuser stehen zum Beispiel auf der Fischerinsel, keine zehn Minuten Fußweg entfernt vom Ostberliner Stadtzentrum am Alexanderplatz, 1500 günstige Wohnungen. Heute wie damals eine Premium-Wohnlage, und heute wie damals kann man im inzwischen sanierten Plattenbau dort das private Glück des Wohnens finden. Andreas Ulrich hat in seinem Buch „Die Kinder der Fischerinsel“ die Biografien seiner Generation als Bewohner der Hochhäuser zusammengetragen. Die meisten seiner Geschichten berichten von glücklichen Kindheiten: Endlich Aufzug statt Treppensteigen, endlich Zentralheizung statt Kohlen schleppen, endlich Bad in der Wohnung statt Plumpsklo auf dem Flur. Im ganzen Buch geht es nicht ein einziges Mal um die Frage, wie teuer wohl die Miete war.

Gewinnt der Kommerz gegen das Soziale?

Wenn der Flaneur heute den Weg entlang der ehemaligen Mauer geht, kann er oft an der Bebauung erkennen, wo West und Ost war: Im früheren Westen rückten die Mehrfamilienhäuser der 60er Jahre bis fast an die doppelte Kopfsteinpflasterreihe heran, die jetzt Symbol für den Verlauf der Grenze ist. Auf der Ost-Seite konnte der Platz des Todesstreifens nach seiner Beseitigung lukrativ genutzt werden. Jetzt stehen hier Neubauten, schick und teuer mit breiten Balkons und bodentiefen Fenstern. Wer hier wohnt, muss sich eher nicht kümmern um die Kampagne „Deutsche Wohnen enteignen!“, deren Motto überall gepinselt ist auf die Betonwände dieser Stadt und per Schablone gesprayt auf den Gehwegen. Engagierte Mieter sammeln Unterschriften für ein Volksbegehren, sogar am Feiertag im Charlottenburger Schlosspark.  Der DAX-Konzern „Deutsche Wohnen“ besitzt in Berlin mehr als 115.000 Wohnungen, auch die in der Hufeisensiedlung und der Siemensstadt. Das skeptische Mietervolk fürchtet nicht zu Unrecht, dass die Marktmacht des Konzerns nach und nach dem Kommerziellen die Oberhand über das Soziale verschaffen könnte. Dass Investoreninteressen aus einfachen, billigen Wohnungen luxussanierte Edelquartiere werden lassen, in denen sich Gutbetuchte ihr geschütztes Leben hinter sicheren Eisentoren gönnen. Dass infolgedessen alle Mieten steigen werden und am Ende immer mehr Menschen unter der Brücke im Zelt schlafen.

Ob es ein „Ende“ geben kann? Unersättlich scheint er zu sein, der Wohnungshunger in den Metropolen, wo immer neue Generationen, neu zugezogene Migranten, noch mehr Studierende, noch mehr Alleinlebende, noch mehr Businessleute und Regierungsbürokraten, nach dem immer gleichen kleinen Glück suchen in den privaten vier Wänden.

Im Schloss wohnt immer noch keiner

So wird also überall gewohnt in Berlin: Im edel gentrifizierten Loft, im sanierten Plattenbau, in der heiß umkämpften Denkmalschutz-Wohnung im Hufeisen, in der Hasenstall-artig übereinandergestapelten Neubauwohnung, im unsanierten Altbau, in dem der Putz von der Wand bröckelt, unter der Brücke im Zelt und ohne Zelt auf dem wärmenden Lüftungsschacht. Nur in den großen Schlössern dieser Stadt, da wohnt immer noch keiner; sogar der Bundespräsident wohnt nicht mehr im Schloss Bellevue (was zumindest einer seiner Vorgänger machte, wenn er in Berlin weilte), sondern verfügt über eine Dienstvilla in Dahlem. Wenigstens sieht die ein bisschen wie ein kleines Schloss aus.

 

Mehr Informationen über Schloss Charlottenburg bei der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten: https://www.spsg.de/schloesser-gaerten/objekt/schloss-charlottenburg-altes-schloss/

über die Hufeisensiedlung bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Hufeisensiedlung

über das Buch „Die Kinder von der Fischerinsel“ https://www.bebraverlag.de/verzeichnis/titel/971-die-kinder-von-der-fischerinsel.html

über das Volksbegehren „Deutsche Wohnen enteignen“: https://www.dwenteignen.de/

und über die Dienstvilla des Bundespräsidenten beim Bundespräsidialamt: https://www.bundespraesident.de/DE/Die-Amtssitze/Schloss-Bellevue/Dienstvilla-Berlin-Dahlem/dienstvilla-node.html;jsessionid=85169B7976A5D56283B391DA7C54A16C.2_cid353

 

 

Umsonst und draußen (30. April 2021)

Was macht einen Touristen-Hotspot aus? Ein internationaler Name muss es sein, ein Sehnsuchtsziel für viele auf der Welt. Ein Ort, der nicht um Gäste werben muss, sondern sich ihrer ordnend zu erwehren hat. Berlin erfüllt alle diese Kriterien: Eine glanzvolle Vergangenheit als Residenzstadt, der sie strahlende Bauten (alte wie neue, echte wie falsche) verdankt, eine über Jahrhunderte berührende wechselhafte Geschichte, die jedem Besucher einen Moment, eine Straßenecke beschert, welche zur Identifikation einlädt. Hundertfach beschrieben und besungen wurde diese Stadt, von Prachtstraßen durchzogen ist sie und voller Orte geschichtlicher Brüche. Wirkungsstätte großer Namen, deren Geburtsorte, Lebenspunkte und Gräber der Tourist andachtsvoll aufsuchen kann.

Im Allways-On-Modus wird der Zaubertrank aufgeschäumt

Tiergarten: Denkmal für die hier ermordete Rosa Luxemburg

So kennen wir Nicht-Berliner genau dieses Touristen-Berlin: Im Allways-On-Modus jagen übermütige Schulklassen und asiatische Busgruppen durch seine Straßen, durchzuckt von blaulicht-bewehrten Politiker-Kolonnen. Dazwischen jede Menge Gäste, die Halt finden wollen im permanenten Strudel des touristischen Wahnsinns, die eine freie Lücke suchen zwischen all den Menschen, um das Brandenburger Tor (und möglichst auch sich selbst dabei) zu fotografieren. Die geduldig Schlange stehen, damit sie einen freien Platz ergattern im Café Kranzler am „Ku´damm“. Bildungshungrige, die Zeitslots buchen, damit ihnen auf der Museumsinsel ein schneller Blick auf die Aphrodite gegönnt wird, bevor die nächste Busladung strömt, das nächste Handy sich ins Bild drängt. Alles ein überhitzter, taumelnder Kreisel aus Tempo, Eitelkeit, Kommerz. Berlin serviert seinen Besuchern ganzjährig und rund um die Uhr einen aufgeschäumten Zaubertrank, angerührt von überarbeiteten, manisch berauschten Köchen, gebraut aus Überfluss, Hysterie und Glücksversprechen. Der Trank macht blind, er lässt uns gar nicht mehr bemerken, dass wir über die gepflasterte Doppelreihe treten, die den Verlauf der Berliner Mauer markiert. Er macht uns taub dafür, dass plötzlich, wenige Meter abseits von allem Trubel, im Tiergarten Stille herrscht zwischen den von rauschendem Geäst beschatteten Bronzeskulpturen. Der Zaubertrank nimmt uns jedes Gefühl für die Wunden dieser Stadt, die noch immer bluten, weil dort Menschen gestorben sind, im verbrecherischen „Kampf um Berlin“ in den letzten Wochen des großen Krieges, oder danach an der Mauer oder zuvor dort, wo Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet in den Landwehrkanal geworfen wurden. Das überhitzte Zaubergebräu sorgt dafür, dass wir nicht mehr stolpern über die Stolpersteine, die an ermordete Juden erinnern. Es verhindert, dass wir stutzen, wenn wir an Soldatendenkmälern vorbeihetzen, die mit tonnenschwerem Guss an vergessene deutsche Siege erinnern. Der Trank berauscht uns so sehr, dass wir die Siegessäule nur noch als Mittelpunkt eines großen Kreisverkehrs sehen, und nicht als fragwürdiges Kriegssymbol.

Keine Eisverkäufer, keine Busrouten-Vermarkter

Stadtschloss Berlin

Aber jetzt ist alles anders. Der Zaubertrank ist alle, seine Köche pandemiebedingt arbeitslos. Plötzlich ist der Besucher (fast) allein zu Haus in Berlin. Also geht der Flaneur ganz für sich und in Muße einmal den langen Weg quer durch diese Stadt. Start am städtebaulich so missglückten Alexanderplatz, keine Schlange am Fernsehturm, keine verkaterten Abiturienten auf den Treppenstufen. Vorbei am wieder aufgebauten Stadtschloss. Die dreißig Zentimeter hohen, goldleuchtend auf blauem Grund wieder aufgetragenen Buchstaben am Fuß der Kuppel kann man jetzt in Ruhe lesen, wenn man denn möchte – hier versperrt kein Selfie-Pärchen die Sicht. „Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind“, steht da geschrieben, und schon lädt am Schinkelplatz eine gemütliche Steinbank dazu ein, darüber nachzudenken, ob es klug war, mit dem Schloss auch gleich noch den christlichen Überlegenheitsgestus des vorletzten Jahrhunderts mit zu rekonstruieren. Gegenüber die geschlossene Museumsinsel mit dem atemberaubend schlank-eleganten Eingangsbau von Chipperfield. Keine Eisverkäufer, keine Busrouten-Vermarkter stören den Blick. Dann unter den Linden entlang – niemandem ausweichen, freie Sicht auf das sich langsam nähernde Brandenburger Tor. Keine Ablenkung durch hupende Busse, die einen Parkplatz bei Madame Tussauds suchen (wobei es ohnehin ein Rätsel bleibt, warum Menschen an einen solchen Ort reisen, um sich dann die gleichen Puppen von Prominenten wie in London oder New York anzusehen).

Brandenburger Tor: Ungestörter Blick auf die Quadriga

Am Brandenburger Tor ein Kaffee to go. Ein paar Kioske haben auf, der Barista hat sogar Zeit, mit seinem raren Gast zu plaudern. Die Rikscha-Fahrer dösen vor dem Adlon, taxieren mit müdem Blick die wenigen Gäste, die vorbeischlendern. Die Taschendiebe sind ziel- und damit arbeitslos. Durch das Tor der Weltgeschichte radeln ungestört von Fremdenführern, Souvenirverkäufern oder fliegenden Händlern überteuerter Gasballons die Berliner auf dem Weg in ihr Büro. Im Tiergarten pfeifen die Vögel untereinander um die Wette, hier torkeln keine Raver und keine Fußballfreunde mehr und nur noch selten Querdenker durch das uringetränkte Gebüsch. Vorbei am geöffneten Zoo – Zugang nur mit Maske und Corona-Test. Wenige Besucher, ein paar Familien, spazieren zwischen den Gehegen herum. Es herrscht friedliche Gelassenheit bei den Elefanten und die Löwen dösen ungestört in ihrem Gehege.

Maske auf und nachgedacht!

Schließlich den Weg wieder zurück im fast menschenleeren Oberdeck der Buslinie 100. Kein hitziges Gejohle und keine übermütige Rauferei von hippeligem Jungvolk um die erste Reihe, kein ratloses Sprachengewirr im Bus, keine drangvolle Enge auf den Treppen zum Oberdeck. Also Maske auf, zum Busfenster rausschauen, und nachdenken: Was fehlt dieser Stadt ohne Fanmeile, ohne Großevents, ohne Touristen? Ganz sicher Geld. Die absurdesten Auswüchse des kommerziellen Massentourismus sind im geschlossenen Zustand besonders scharf konturiert zu erkennen: Der Autokran ist eingeklappt, der sonst Menschen zu einem „Dinner in the Sky“ in die Abgas-belastete Luft über Berlin befördert, frei sitzend auf einer Bank, die Füße baumeln 50 Meter über dem Boden. Die „DDR-Museen“ sind geschlossen und die Trabbi-Rundfahrten abgesagt, allesamt Geschäftsmodelle, die es erlauben, sich gegen Geld über die Lebensverhältnisse und den Stand der Automobilisierung a la DDR lustig zu machen. Respektlose aller Länder, vereinigt Euch! Die in absurder Anzahl überall herumstehenden und herumliegenden Roller, Mopeds, Autos, Fahrräder zum Ad-hoc-Verleih braucht jetzt keiner. Den geschlossenen Bars in Kreuzberg und anderswo, abgenutzt vom allnächtlichen Betrieb bis Sonnenaufgang, tausendmal vollgekotzt und wieder mühsam geputzt, fehlt das alkoholorientierte Feiervolk. Einige davon dienen jetzt als Corona-Testzentren. Und ganz sicher fehlt auch alles das, was Berlins prächtige Paläste und alternativen Winkel im Inneren zu bieten haben: Kleine und große Kunst, Musik, Theater, Opern, die Museen.

Ankunft Alexanderplatz, der Bus fährt quietschend an den Bordstein, die Tür öffnet sich. Alltag in Berlin. Von weit her schallt gut vernehmbar der Ruf des pandemischen Marktschreiers: „Hereinspaziert, meine Damen und Herren, das gibt es nur hier und nur jetzt: Ungestörter Blick! Kein Stress! Keine Hektik! Alles umsonst und draußen! Berlin – heute für Sie ganz allein! Heeereinspaziert …“

 

Wer sich näher über die Auseinandersetzung zur Kuppel-Gestaltung des ieder aufgebauten Stadtschlosses informieren möchte – hier ein guter Artikel dazu:

https://www.katholisch.de/artikel/25630-kreuz-und-bibelspruch-das-berliner-stadtschloss-erhitzt-die-gemueter

Material World (18. April 2021)

Was für ein geschundenes Gemeinwesen ist dieses Berlin! Aber so sind Metropolen: überlastet, abgenutzt, überfüllt. Vermüllt.

Berlin hat wie London, Paris oder New York prächtige Ecken, in denen Reichtum aus jeder Pflasterfuge quillt. Und andere, in denen das Gras am Straßenrand nicht mehr wachsen kann, weil niemand es schützt und gießt, aber alle drauftreten, auch die überzeugten Klimaschützer. Berlin hat Ecken, in denen der Müll am Straßenrand liegt, obwohl die Straßenreinigung regelmäßig unterwegs ist. Häuser, die verfallen, zugenagelt sind, und alle haben sich daran gewöhnt. Roststrotzende Brücken und gequälte Gleise, über die eine Stadtbahn seit über hundert Jahren rumpelt. Und es sieht zumindest so aus, als fehlten Geld und Kraft, sie zu erneuern.

Sollen sie ruhig spotten, die ordnungsliebenden Schwaben oder die besserwisserischen Bayern! Nur einen Tag lang sollten sie Verantwortung tragen für diesen Moloch, und sie würden scheitern. Hier würde ihren selbstgewissen Verantwortlichen der Alltag Demut lehren vor der Komplexität des Zusammenlebens von Menschen in einer Unterschiedlichkeit, die sie nicht kennen in Tübingen oder Garmisch-Partenkirchen. Wieviel Geld müsste Berlin für sein Gemeinwesen ausgeben, um so sauber auszusehen wie München? Wir würden es nicht mit unseren Steuern bezahlen wollen.

Bunt, geschäftig, jung wie alt

„Berlin! Berlin!“, schrieb der Berliner Schriftsteller Julius Hart (1885 – 1930) in seinem Gedicht „Auf der Fahrt nach Berlin“: „Die Menge drängt und wallt, und wälzt sich tosend durch die staub´gen Gassen.“ Und weiter: „Vorüber brandet sie stumpf, tot und kalt, Und jedes Ich ertrinkt in dunklen Massen.“ So wirken die Menschen heute nicht, die dem Flaneur begegnen. Eher unfassbar bunt, geschäftig, jung wie alt: So viele Sprachen, so viele Generationen, so viel nicht reguläres Leben: Straßenkünstler im farb-verklecksten Outfit, Migranten jeder Herkunft, echte und falsche Bettler, englischsprechende Geschäftsleute, Obdachlose in allen Zuständen ihrer Not, hippe Studierende, Drogenkranke, Skater, Punks, und natürlich viele etablierte, junge wie alte Menschen. Sie alle stimmten der wichtigsten Regel zu, die für alle gilt, für die Berlin Heimat ist: Du musst den Nächsten vielleicht nicht lieben, aber Du musst ihn ertragen. Diese Stadt erzählt mehr von Toleranz als tausend politische Erklärungen. Dieses geschundene, überforderte, an vielen Stellen aus allen Nähten platzende Gemeinwesen braucht gesellschaftliche Vielfalt nicht zu diskutieren, sondern muss sie leben, ob es will oder nicht.

Berlin trieft vor Geschäft(stüch)igkeit

East Side Gallery – ein Blick durch die Mauer

Warum funktioniert das? Was eint diese Stadt? Der Konsens des Materiellen. Denn in dieser Stadt ist jeder Atemzug materiell. Berlin hatte einen Bürgermeister, der beschrieb seine Stadt mit den Worten: „arm, aber sexy“. Arm sind hier ganz sicher diejenigen, die um ihre Existenz kämpfen. Die sich mit zwei Nebenjobs über Wasser halten müssen, als Putzhilfe oder Tankwart oder Späti-Verkäufer. Auch das ist in Berlin nicht anders wie in anderen Metropolen. Das goldene Kalb mag hier nicht ganz so schön glänzen, aber es jagt noch hitziger als anderswo durch alle Gassen. Diese Stadt trieft vor kleinteiliger Geschäft(stücht)igkeit. Jeder noch so kleine Laden braucht eine exotische Besonderheit, um eine noch kleinere Marktnische anzuzapfen: Hier ein neues noch exotischeres Restaurant, da eine noch hippere Bar, dort eine neuer Pop-Up-Shop mit Pflanzen zum Mieten. Buchbare e-Roller liegen kreuz und quer massenhaft herum, und führen vor, wie gering ihr materieller Wert ist, und wie hoch die Gewinnspanne sein muss, wenn man sie mietet. Car-Sharing-Autos verknappen den Parkraum, Leihfahrräder verstopfen die Abstellplätze. Hier ist alles nicht nur wegen der Pandemie „to go“, die Fahrer der Essenslieferdienste jagen sich gegenseitig auf den Radwegen die Vorfahrt ab. Die Supermärkte überbieten sich mit noch längeren Öffnungszeiten und graben damit den Kiosken das Geschäft ab. Diese „Spätis“ öffnen immer, auch am Sonntag.

So verdunstet in Berlin jede Spiritualität im materialistischen Fegefeuer. Wenn kein Gottesdienst ist, sind alle Kirchen geschlossen, sogar die katholischen. Vor den Kircheneingängen kampieren die Obdachlosen.

Ein Live-Besuch beim Turmbau zu Babel

Aber Investorengeld scheint es ausreichend zu geben. Die Gentrifizierung des Wohnungsangebotes ist zum Greifen. Der Mauerstreifen (und nicht nur er) ist gesäumt mit balkonbewaffneten Neubau-Käfigen, sogar die weltberühmte East Side Gallery musste ihnen ein gutes Stück weichen. Da half auch kein Denkmalschutz! Jedes zweite Haus, jede zweite Straßenecke ist eine Baustelle. Die Zahl der Baustellen, Baugerüste, Renovierungen, Provisorien, Umleitungen ist nicht zu zählen – genau so wenig wie die Häuser, Straßen, Bahnhöfe, Bahnlinien, die noch verrottet oder zumindest überholungsbedürftig auf bessere Zeiten warten.

Berlin – das ist ein Live-Besuch beim Turmbau zu Babel: Gewerkelt und gehämmert und gebohrt und gegipst wird allerorten und ohne Unterlass. Der Gott, dem man hier mit aller Geschäftigkeit näherkommen will, ist der schnöde Mammon. Nur das mit den Sprachen, das haben sie jetzt besser im Griff in Berlin.

 

 

Wer mehr wissen möchte zu den hier verwendeten Bibel-Metaphern, hier meine Empfehlungen:

Goldenes Kalb bei wikipedia  

Turmbau zu Babel bei evangelisch.de