Das Böse, das Banale und die Lüge

Warum es nötig ist, um die Wahrheit zu ringen

„Fakten und Meinung sind zu unterscheiden,“ sagt Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg in einem Interview, denn „Meinungsfreiheit, ohne dass die Tatsachen stimmen, ist eine Farce.“

Also mitten hinein in die Arena der Meinungsfreiheit. Montagabend, öffentlich-rechtliches Fernsehen in Deutschland: Die ARD hat einhundert mehr oder weniger zufällig ausgewählte Menschen eingeladen, über aktuelle Fragen zu diskutieren. Diesmal geht es um das Pro und Contra zu einer Wiedereinführung der Wehrpflicht.

„Die Medien sind nicht dazu da, zu informieren.“

Ein junger Mann kommt zu Wort: „Die gleichen Leute kontrollieren Europa, Russland, USA, und die wollen, dass Krieg ist, um uns Angst zu machen. Der Krieg ist nur Show, um uns Angst zu machen.“ Tagesschau-Moderator Ingo Zamperoni leitet die Sendung und fragt nach, woher diese Ansicht komme. „Wer seinen eigenen freien Willen nutzt,“ sagt Rufus Weiß, 19 Jahre, Student aus Euskirchen, „kann sich selbst informieren und nicht nur glauben, was die Medien sagen. Die Medien sind nicht dazu da, zu informieren.“

Ein Screenshot: In der ARD-Sendung „Die 100“ (am 6.10.2025 oder in der Mediathek) äußert sich ein junger Mann zur Rolle der Medien. Hat er eine Meinung oder benennt er Tatsachen?

Was davon ist Meinung, was ist Tatsachenbehauptung? Lohnt es sich, auf Basis dieser Aussage überhaupt eine Diskussion zu führen? Na sicher, würde Kretschmann sagen, denn jeder engagierte Bürger müsse um die Wahrheit der Tatsachen kämpfen. Man darf offenkundigen Unsinn nicht einfach stehen lassen, nur weil es bequemer ist. Im täglichen Diskurs gehe es aber auch darum, sich die Bereitschaft zu erhalten, „die eigene Meinung durch Wahrnehmung der Tatsachen zu verändern.“

„Denken ist gefährlich“

Kretschmann orientiert sich an Hannah Arendt und hat vor kurzem ein Buch über die deutsch-amerikanische Schriftstellerin und Philosophin veröffentlicht. „Der Sinn von Politik ist Freiheit“ heißt es. Auch in einem Dokumentarfilm, der derzeit in den Kinos zu sehen ist, können Interessierte diese kluge Frau kennenlernen. Aber Vorsicht: „Denken ist gefährlich“ heißt der Film, und meint es genauso.

Hannah Arendt erlebte Totalitarismus – und hat sich theoretisch damit auseinandergesetzt. Im Dokumentarfilm „Denken ist gefährlich“ kann man diese kluge Frau und das, was sie umgetrieben hat, näher kennenlernen. Foto: Progress Filmverleih

Hannah Arendt hat sich intensiv mit totalitaristischen Staatsstrukturen auseinandergesetzt. Vor allem aber hat sie die Prägung des Begriffs von der „Banalität des Bösen“ berühmt gemacht. Sie fasste damit ihre Eindrücke nach Beobachtung des Eichmann-Prozesses im Jahr 1961 in Jerusalem zusammen. Das Böse, so ihre These, verkörperten in Nazi-Deutschland weniger die mörderischen Funktionäre. Das Böse lag viel mehr in der Banalität der nicht hinterfragten Pflichterfüllung und dem Mitläufertum durch Millionen Helfer, Handlanger, Weg-Seher und Nicht-Wahrhaben-Woller.

Dafür ist Arendt damals heftig kritisiert worden. Mit heutigem, größerem Abstand erscheint manches an dieser Kritik berechtigt, Die Dimension des einzigartigen Verbrechens, dem systematischen Judenmord, verbietet jede Verbindung zum Wort „banal“. Das gilt auch heute, wenn die Gesellschaft gegen Rassismus und Antisemitismus kämpft. Das tötende Böse ist niemals banal.

Das banale Böse steckt in uns allen

Trotzdem ist Hannah Arendt eine moderne, wichtige Analyse gelungen: Das Böse ist eben nicht nur irgendein großes mörderisches Monster, ein Tyrann, ein individueller Schlächter oder Missetäter – das Böse ist, jedenfalls im gesellschaftlichen Zusammenhang – immer auch das Böse in der Masse derjenigen, die es zulassen. Und das Böse steht im Bund mit der Lüge. Hätten die Täter von damals die Tatsachen verteidigt, statt der Propaganda hinterherzulaufen, dann hätte sich die Katastrophe des Genozids niemals ereignen können.

Das banale Böse steckt also in uns allen. Es verlockt uns, nicht selbst zu denken, obwohl wir es gefahrlos dürften, sondern dummen Sprüchen hinterherzujagen. Es lässt uns bequeme Ressentiments pflegen, statt sie zu hinterfragen. Es hält uns aus feigem Eigennutz von Zivilcourage ab. Es sitzt in uns, wenn wir uns von Neuem, von Fremdem bedroht fühlen, statt notwendige Veränderungen zu erkennen und zu gestalten. Es macht uns zum Handlanger, wenn wir die Institutionen (Justiz, Medien, Achtung vor der Rechtsordnung) nicht schützen, die dem Bösen wirksam in den Arm fallen könnten. Das Böse in uns hat immer dann die Kontrolle übernommen, wenn wir uns nicht mehr engagieren, um wenigstens Konsens über die Tatsachen herzustellen.

Das banale Böse in uns tut weh, wenn wir es entdecken. Es ist in den Zwischenrufen zu hören im Plenarsaal des Deutschen Bundestages, rechtes Drittel, vom Rednerpult gesehen. Oder in der Häme zu lesen, die – viel zu oft unter dem billigen Schutzmantel der Anonymität – im Netz verbreitet wird. Oder es ist zu finden in abstrusen Behauptungen vor laufender Fernsehkamera.

Kopfschütteln, wegwischen, weiterzappen, Schulter zucken? Hannah Arendt wäre das nicht genug.

 

 

Im Text finden Sie Links zur Sendung „Die 100“ in der ARD, zum Kretschmann-Interview und zu weiteren Informationen über den Film „Denken ist gefährlich“.

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Das Schicksal des weitgereisten Tauchrohrs

„Made in China“ – ein Bestell-Erlebnis, und was es erzählt

„Made in China“ steht auf der Schachtel. Das Leben des kleinen Stückes Plastik hat also irgendwo in weiter Ferne begonnen, irgendwann in den letzten Monaten oder Jahren, zwischen Tausenden wohlgeformter Artgenossen. Es ist ein Migrant und hat wie Millionen andere den mühsamen Weg gefunden bis nach Deutschland. Und nun?

Das gesuchte Teil ist ein ziemlich schlichter Gefährte des Alltags. Der Einsatz besteht aus einem weißen Plastikrohr im Durchmesser von sieben und der Höhe von sechs Zentimetern.

Dies ist eine Geschichte von einer Irrfahrt zwischen Sinn und Sinnlosigkeit. Von Hoffnungen und ungewisser Zukunft. Sie beginnt damit, dass eine Dusche geputzt wurde. Die Dusche hat einen Abfluss, und die unangenehme Tätigkeit, diesen Abfluss zu reinigen, hatte die Frau des Hauses übernommen. Tapfer befreite sie den herausnehmbaren, und noch namenlosen Einsatz von eklig nassen Haarbüscheln und undefinierbarem Schlamm. Auch nach gründlicher Reinigung stellte sie fest, dass dieser Einsatz selbst schon arg in die Jahre gekommen war. Aufgeraut von unermüdlichen Filteranstrengungen gegen Hautschuppen, Schweiß und Haare war er reichlich angegriffen und unansehnlich geworden. Gesucht: Ersatz für den Einsatz.

Gesucht: Ersatz für den Einsatz

Das gesuchte Teil ist ein ziemlich schlichter Gefährte des Alltags. Der Einsatz besteht aus einem weißen Plastikrohr im Durchmesser von sieben und der Höhe von sechs Zentimetern. Ein Bügelchen in seinem Inneren sorgt dafür, dass man ihn leicht herausnehmen kann, und ein schwarzer Gummiring dichtet ihn nach oben ab. Die Sanitärabteilung des Baumarktes kennt das kleine Plastikrohr aber leider nicht. Zwischen zig anderen rätselhaften Plastikeinsätzen ist der fragliche in seinen Maßen nicht aufzufinden. Immerhin, das gesucht Objekt erlangt hier seinen Namen. „Tauchrohr“, nennt sich ein solcher Gegenstand, analysiert der Fachmann hinter dem Tresen das unansehnlich gewordene Altobjekt in der Hand des Kaufwilligen. Aber leider nicht im Sortiment, sorry.

„Jetzt schnell abholen!“

Mit dem bisher im Wortschatz des Suchenden unbekannten Begriff „Tauchrohr“ erbringt eine Recherche im allwissenden Netz schnell hoffnungsfrohe Ergebnisse: Ja, sogar die bevorzugte Online-Plattform bietet das kleine Tauchrohr ohne Versandkosten für die schnelle Lieferung am übernächsten Tag an. Preis: 8.99 Euro. Nun ja, geschätzter Herstellungswert in China vielleicht fünf Cent – aber was soll man machen? Geklickt, bestellt, bezahlt, bestätigt.

Planmäßig taucht in der Verfolgungsapp des großen Versenders auch noch am gleichen Abend die Nachricht auf, dass sich das Tauchrohr auf den Weg gemacht hätte. Beruhigt packt der Käufer seine Koffer, denn am dritten Tag nach der angekündigten Lieferung des Tauchrohrs steht eine längere Reise an. Aber das Tauchrohr verirrt sich auf seinem Weg, in der App stockt der Sendefortschritt. Einen Tag lang tut sich nichts, dann noch einer, und noch einer; die Plattform entschuldigt sich bereits automatisiert und nutzlos für Verzögerung. Und just an dem Tag, da der Käufer frohgemut im Auto sitzt, weit fort und unterwegs in die Ferne, meldet die App: „Sendung liegt in der Packstation. Jetzt schnell abholen!“

Daran ist nicht zu denken. Die Fähre ruft, das Meer rauscht, die Wolken ziehen, die Sonne scheint, und das Tauchrohr schmachtet wartend in seinem Metallkäfig. Nicht schlimm, denkt sich der Käufer: Nicht abgeholt, geht also zurück, wird erstattet, dann neuer Kauf. Die heimische Dusche hat ohnehin auch Urlaub.

Bestellt, abgeholt und eingebaut

Zwei Tage vor Erreichen der Heimat meldet die App: „Zu lange nicht abgeholt! Sendung geht zurück.“ Der Urlauber kehrt heim, sichtet die spärliche Post, sortiert die Wäsche, lüftet die Koffer – und bestellt schließlich das Tauchrohr erneut, damit es endlich voranschreiten möge mit der Hygiene in der Dusche. Das neue Tauchrohr kommt wie versprochen noch am nächsten Tag an. Abgeholt, ausgepackt, eingebaut.

Am darauffolgenden Morgen meldet die App erneut eine Sendung in der Abholstation. Stirnrunzelnd wird das Fach geöffnet, und was liegt dort? Das nicht abgeholte Tauchrohr, säuberlich als „nicht abgeholt, zurück“ etikettiert – aber irrtümlich nicht an den Versender zurückgesendet, sondern erneut dem Besteller zugestellt.

Zwei Tauchrohre braucht die Dusche nicht. Also rasch einmal den doppelten Kauf online storniert. Pling, die Elektronik quittiert den Rücksendewunsch und meldet Sekunden später den Erhalt des Erstattungs-QR-Codes. Ein paar Schritte nur sind es zum nächsten Paketshop, Code  gescannt, piep, schon wird die Erstattung des überflüssigen Tauchrohr-Kaufs auf dem Konto bestätigt.

„Was passiert nun damit?“, fragt der Kunde. „Das schicken wir zurück“, versichert der nette Mensch im Paketshop und greift zu einer Versandtasche. Die Verkaufsplattform versichert, dass sie von solchen Retouren so wenig wie möglich vernichtet. Eine zweite Chance für das kleine Tauchrohr.

Ergeht es nur dem Tauchrohr so?

Und doch, was ist das für ein bitteres Schicksal! Von weit her im muffigen Container über die Weltmeere der Globalisierung geschaukelt, dann hinein in das riesige, langweilige Lagerregal. Endlich wird das Plastikteil benötigt, könnte einen Nutzen stiften! Also rein in den Umschlag und los quer durchs schöne Deutschland. Bestellt, aber nicht abgeholt, durchleidet das Tauchrohr zehn Tage in einem dunklen, sonnen-überhitzten Schließfach. Nutzlos rollt es im Lieferauto einmal zurück ins Verteilzentrum, und wieder zurück in die Packstation. Dann endlich erbarmt sich jemand, das Plastikrohr trifft am Bestimmungsort ein – aber nun ist es überflüssig. Also wieder zurück ins Lagerregal, wenn die Allmacht der Plattform es zulässt. Immerhin, es ist eine neue Hoffnung auf Sinn, besser als der kalte Wurf in die Abfalltonne.

Ergeht es nur dem kleinen Plastik-Tauchrohr so, das nun einmal Pech hatte? Nicht ausgeschlossen, grübelt der Käufer, dass sich hierzulande auch Menschen ganz ähnlich fühlen: Herumgeschubst, hin- und her sortiert und immer in der Sorge, aussortiert zu werden. Sicher ist nur, die Menschen fühlen – und das kleine Tauchrohr nicht.

 

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Über den Umgang der Versandplattformen mit Retouren informiert das Netz, z.B. hier. Ob man es glauben kann?

 

Die Frau am Strand im roten Kleid

Eine Spätsommergeschichte

(1)

Es war schon fast September, und die salzige Luft wärmte mit der Erinnerung an den gerade zu Ende gehenden Sommer. Eine sanfte Brise strich über den breiten Nordsee-Strand, die Sonne verwöhnte, sie brannte nicht mehr. Flirrende Wolkenschleier zogen über das Blau des Himmels und gaben dem Sonnenlicht die besondere Milde des Spätsommers. Er war glücklich, heftete seinen Blick aus dem Strandkorb heraus an den Horizont des Meeres, diese große Verheißung von Unendlichkeit.

„Die Frau war eine Ausnahmeerscheinung für diesen Ort, schlank und hochgewachsen, dort, wo doch alle anderen ihre körperlichen Schwächen kaum verbergen konnten.“ (Bild KI-generiert mit https://www.canva.com/)

Dann sah er sie zum ersten Mal. Es strich gerade eine sanfte Bö den Strand entlang, viel zu schwach, um Sand aufzuwirbeln, aber stark genug, dass sich der Wind in ihrem roten Kleid verfing. Die Frau war eine Ausnahmeerscheinung für diesen Ort, schlank und hochgewachsen, dort, wo doch alle anderen ihre körperlichen Schwächen kaum verbergen können. Wildes gelocktes Haar flatterte ihr um den Kopf, goldbraun vom Sonnenlicht gebadet, barfuß und ohne Handtasche stand sie da aufrecht an der Brandungskante. Das schwingende rote Sommerkleid reichte ihr weit über das Knie, und allein das unterschied sie radikal von allem, was sonst hier strandüblich war. Ausgeblichene T-Shirts, neonleuchtende Shorts, schlabberige Badehosen, zu knappe Bikinis prägten das Bild der ästhetischen Alltäglichkeiten. Und dazwischen diese elegante Erscheinung, wie im Traum – eine Männerfantasie. Eine Frau von Welt, so las er ihren Anblick aus der Ferne, im knallroten Kleid, die nicht an diesen deutschen Nordseestrand gehörte, sondern nach Cannes, oder vielleicht an den Lido von Venedig.

Dann verstand er, dass die Frau im roten Kleid in Beziehung zu zwei Buben stand, die im Wasser herumtobten. Über die endlos heranrollenden Brandungswellen sprangen sie, gaben sich unermüdlich dem ewigen Spiel der Elemente hin, stocherten im Sand herum, sammelten Muscheln auf und warfen sie wieder hinein in die Gischt. Dann wälzten sie sich selbst auf den Sand und ließen sich jauchzend überspülen, sprangen wieder auf und alles begann von vorne. Die Frau im roten Kleid beaufsichtigte dieses Treiben der Kinder. Sie war aufmerksam, gelegentlich griff sie mit Gesten ein, winkte die Kinder heran, wenn sie sich allzu weit herauswagten in die flach dahinspülenden Wellen, oder veranlasste sie zum Verlassen des Wassers, wenn es ihr genug erschien mit dem kindlichen Sommerspiel.

Aber sie selbst, die Elegante im roten Kleid, sie selbst ging nicht ins Wasser, allenfalls ihre Zehen ließ sie überspülen, und auch das eher selten. Er überlegte, mit welcher Farbe sie ihre Nägel wohl lackiert hatte, feuerrot, passend zum Kleid?

(2)

Er konnte die Augen nicht wenden von dieser Szene, am ersten Tag nicht und auch an den Tagen darauf nicht, an denen sich alles genauso wiederholte: Die gleiche blaue Strandmuschel wurde jeweils an der gleichen Stelle errichtet, sie diente ihr als Depot für Handtücher, Tasche, Handy (das sie aber niemals mit ans Wasser nahm). Die Knaben wälzten sich auch an diesen folgenden Tagen unermüdlich im Nass, und immer stand sie im sicheren Abstand daneben, nicht gefährdet von Gischt oder dem feuchten Sand, den die tobenden Kinder aufwirbeln könnten. Immer richtete die Elegante im roten Kleid den Blick auf die Kinder, ein Blick, von dem er vom Strandkorb aus meinte zu verstehen, dass er Fürsorge gleichermaßen ausdrückte wie auch Distanz.

War sie die Mutter dieser Knaben? Dafür fehlte ihm in der ganzen Szenerie der unbedingte Hauch von jederzeitiger Zärtlichkeit, den eine Mutter doch ausmacht. Die Frau im roten Kleid berührte die Knaben niemals ohne Grund, einfach nur aus Liebe; sie riskierte niemals, dass ihr rotes Kleid durchnässt werden könnte bei mütterlicher Annäherung. Sie fotografierte sie nicht und sie bot ihnen nichts zu trinken an und lüftete keine Plastikboxen mit vorgeschnittenen Obststücken. Auch das Verhalten der Kinder sprach gegen die Annahme, dass die Elegante ihre Mutter war. Die Knaben beschäftigten sich stets mit sich selbst, quengelten nicht an sie hin, soweit er das auf die Entfernung erkennen konnte, bezogen sie nicht ein in ihr Spiel, verlangten nichts, als wüssten sie, dass sie auch nichts von ihr zu erwarten hätten – außer Aufsicht und Eingriff im Notfall, der nicht eintrat.

Eine Nanny vielleicht? Ein Au-pair? Eine Tante? Oder doch eine Mutter? Es soll ja distanzierte Mütter geben, dachte er sich, vielleicht hasst sie das Meer und den Sand, erträgt das heranbrandende Wasser nur auf Distanz? Vielleicht zwingt sie sich aus Liebe zu den nasstobenden Knaben mit größter Disziplin dazu, dennoch hier zu stehen, so elegant im Sand im roten Kleid, statt trittsicher dort zu flanieren, wo sie sich zugehörig fühlte: auf den Boulevards der Städte, in den Foyers der Theater, zwischen den Tischen edler Restaurants?

Er hatte für den Strandkorb Bücher dabei, aber er konnte nicht lesen. Das Meer berauschte ihn, und mehr noch lenkte ihn der Blick zu ihr ab. Er erwog, sich der Frau im roten Kleid wie zufällig zu nähern, ihre Gesichtszüge mit einem Seitenblick zu erfassen, ihr Alter abzuschätzen. Ihr Geheimnis zu lüften! Wie gerne hätte er sie gefragt, ob diese sich geduldig immerfort im Nassen wälzenden Knaben die ihren sind? Und ob sie mehrere solche roten Kleider besäße, ob vielleicht ihr ganzer Kleiderschrank nur eine Ansammlung roter Kleider wäre, da sie nun doch schon am dritten Tag in immergleicher rotstrahlender Eleganz hier erschienen war?

Sein Anstand verbot ihm solche plumpe Annäherung, und so blieb er im Strandkorb. Immer wieder blickte er zu ihr hinüber, verfolgte ihre eleganten Bewegungen, auch dann, als sie schließlich das Gestänge der Standmuschel zusammenklappte, die verstreuten Schaufeln und Eimer der Kinder sorgsam hineinsortierte in ein Wägelchen, ohne selbst auch nur ein Stäubchen Sand aufzuwirbeln. Sie beorderte die nassen Knaben zu sich und wies sie an, sich anzuziehen. Es nahte der Abend, und die Sonne würde bald ins Meer eintauchen. Etwas stärker aufkommender Wind fuhr der Eleganten in das rote Kleid, setzte es in wirbelnde Bewegung, so dass sie, wie einst Marilyn Monroe, es bändigte mit der rechten Hand, während sie mit der linken das Wägelchen durch den Sand zerrte.

Lachte sie dabei? Er konnte es nicht sehen, nur den Knaben blickte er hinterher, die ihr willig folgten.

(3)

Am vierten Tag, da kam sie nicht mehr. Er war enttäuscht und rätselte, wie er mit der Leere umgehen sollte, die sie hinterlassen hatte. Es fehlte dem breiten Horizont des Meeres ihre elegante Erscheinung als Vertikale. Es fehlte dem Grau des Sandes und dem blassen Blau des Himmels das Rot ihres Kleides. Er wanderte an der Brandungskante entlang, stets den Blick auf den Strand gerichtet – war da irgendwo, vielleicht an neuer Stelle, die blaue Strandmuschel? Stand da vielleicht doch irgendwo die Frau im roten Kleid? Aber sie blieb verschwunden, ihr Aufenthalt am Meer mochte vorüber sein, ihr Auftrag zur Beaufsichtigung dieser Knaben beendet. Nun war alles wie immer.

Dann waren auch seine Tage am Strand vorbei. Er reiste zurück in den herbstlichen Alltag der großen Stadt. Am ersten Morgen zuhause griff er nach der Zeitung. „Mein besonderes Urlaubserlebnis“ war die Seite überschrieben. Die Redaktion der Zeitung hatte Leserinnen und Leser aufgefordert, ungewöhnliche Erlebnisse aus den zu Ende gegangenen Urlaubstagen zu schildern. Ein Foto fiel ihm auf: Eine schöne junge Frau kam da zu Worte, mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht, umrahmt von wild lebendiger, brauner Lockenpracht. Die Mutter zweier Kinder berichtete von ihren viel zu kurzen Urlaubstagen am Nordseestrand. So glücklich seien die Kinder gewesen beim fröhlichen Spiel im Wasser. Sie hätte ihnen stundenlang dabei zusehen können. Aber es habe da einen Typ im Strandkorb gegeben, mit ausgeleiertem grünen T-Shirt, der sie und ihre Kinder unablässig gemustert habe. Auf den hätte sie gerne verzichtet.

 

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Das schnelle Ende der Finnlandisierung

Über den „Helsinki-Effekt“ und was sich seither verändert hat

Prächtig weiß schimmert der Marmor an der Fassade im Sonnenlicht und steht damit in Verbindung zum prunkvollen Baustil, der die finnische Hauptstadt Helsinki auch sonst neoklassizistisch prägt. Die Rede ist hier von der Finlandia-Halle. Sie wurde Anfang der 70er Jahre eröffnet, als Konzert- und Kongresshaus, und jede und jeder politisch Interessierte kennt sie. Weltgeschichte wurde dort geschrieben, eine Art Friedensschluss als Ende des „Kalten Krieges“ zwischen Ost und West, dreißig Jahre nach der Weltkriegskatastrophe.

Die Finlandia-Halle in Helsinki: Vor 50 Jahren wurde hier Weltgeschichte geschrieben – aber die damals Beteiligten glaubten, es bliebe alles beim Alten. Foto: gemeinfrei von Thermos  https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=738580

Europa war geteilt. Bis auf kleinere Konflikte hatte es seit Kriegsende keine direkten militärischen Konfrontationen der Weltmächte in Europa gegeben. Das Konzept „Abschreckung“ kam an seine Grenzen, denn es verlangte einen hohen Preis. USA und Sowjetunion ächzten unter den enormen Kosten der gegenseitigen Hochrüstung. Dieses gemeinsame Interesse führte zur Lösung: „Entspannung“ hieß nun das Motto. Denn schließlich wollte niemand neue Kriege führen in Europa.

Viele dachten: Alles geht so weiter wie zuvor

So verständigten sich nach einem mehrjährigen, sehr zähen Verhandlungsprozess 33 europäische Staaten dies- und jenseits des „Eisernen Vorhangs“ zusammen mit den USA und Kanada auf eine Schlussakte der „Konferenz zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE). Dort festgehalten: Keine gewaltsame Verschiebung von Grenzen, Streit friedlich beilegen, Wahrung der Menschenrechte. Das völkerrechtlich unverbindliche Papier wurde in genau dieser Halle unterschrieben. Das war am 1. August 1975. Damals meinten allerdings nahezu alle Beteiligten, vor allem auf der West-Seite, dass Aufwand und langfristiger Nutzen dieses diplomatischen Kraftaktes in keinem vernünftigen Verhältnis zueinander stünden. Es würde ohnehin alles so weitergehen wie zuvor.

Aber das war ein Irrtum.

Fünfzig Jahre ist das nun her. Die Geschichte der Konferenz hat der finnische Filmemacher Arthur Franck im Dokumentarfilm „Der Helsinki-Effekt“ auf äußerst unterhaltsame Weise nachgezeichnet – und dabei einige Lehren für das Heute entdeckt. Der Film ist vor allem ein Appell an die Kraft von Diplomatie, die freilich Geduld, Höflichkeit, Respekt und Verständnis für das Gegenüber erfordert – allesamt Tugenden, die im internet-getriebenen, erhitzten Dauerdiskurs der Gegenwart unter die Räder geraten sind. Vielleicht ist der seither eingetretene Ansehensverlust von Außenpolitik auch darin begründet, dass genau diese Primärtugenden nichts mehr gelten? Alle schauen nur noch auf sich, und ein US-Präsident, der genau diese Unkultur zum Prinzip erhoben hat, verordnet seinem Land folgerichtig den Austritt aus der UNESCO. Was interessiert einen Amerikaner das Welterbe andernorts?

Auch vor fünfzig Jahren wurde gespottet – aber höflich

Wie anders muten da die Bilder aus den 70er Jahren an. Auch da wurde gespottet über die jahrelangen Diskussionen um ein Papier, das im wesentlich beschrieb, was ohnehin alle für unstrittig hielten. Immerhin geschah es weitgehend höflich. In der historischen Rückschau war die KSZE-Schlussakte von Helsinki allerdings nicht irgendein belangloses Papier. Es war der Ausgangspunkt des Umsturzes im Osten, der Befreiungsbewegungen in den osteuropäischen Ländern, von Solidarnosc und auch der friedlichen deutschen Einigung. Die Möglichkeit dazu wurde auf Druck der westdeutschen Regierung unter Helmut Schmidt ausdrücklich in den Text aufgenommen. Die Option zur friedlichen und gemeinsamen Lösung der „deutschen Frage“ war die vom Westen erwünschte Ausnahme des sonst von der Sowjetunion besonders nachdrücklich eingeforderten Prinzips der Unverrückbarkeit von Grenzen.

Beste Stimmung zwischen den Atommächten: Im KSZE-Prozess achtete man noch darauf, sich mit Respekt und Höflichkeit zu begegnen (Gerald Ford und Leonid Breschnew in Helsinki) Foto: bereitgestellt von rise and shine cinema

Die KSZE-Schlussakte ist daher auch eine Dokument des Bruchs zwischen der von Wladimir Putin sonst so hoch gehaltenen Traditionslinie zwischen der untergegangenen Sowjetunion und dem heutigen Russland.

Finnland suchte sein Glück siebzig Jahre lang in der Neutralität, …

Glaubt man dem Film, dann wäre die ganze Konferenz nie zustande gekommen ohne die vermittelnde Rolle des damaligen finnischen Präsidenten Urho Kekkonen. Finnland ist in seiner Geschichte mehrfach nach Russland einverleibt worden, wusste sich aber seit dem 20. Jahrhundert auch zu wehren. Und blieb standhaft auf die eigenen Grenzen bedacht, als Hitler die finnischen Nationalisten für seinen Kampf gegen Stalin einspannen wollte.

Nach dem 2. Weltkrieg fanden die 5,5 Millionen Finnen ihre politische Rolle in der Neutralität zwischen den Blöcken. Kulturell gehörte das Land dem Westen an, war demokratisch und weltoffen. Aber es versuchte, durch maximale Zurückhaltung den großen Nachbarn im Osten keinen auch noch so kleinen Anlass zu geben, die 1344 Kilometer lange Grenze zum kleinen Finnland erneut zu überschreiten. Dieses Prinzip der Zurückhaltung wurde damals „Finnlandisierung“ genannt – fast ein Schimpfwort für lasche Politik. Kein Staat Europas wollte so neutral sein wie Finnland, so zurückhaltend gegenüber der sowjetischen Unterdrückungspolitik vor der eigenen Haustür. Kein Land war so restriktiv im Umgang mit Geflüchteten von dort, die man einfach zurückschickte, um die eigene Neutralität nicht zu gefährden. Auch deshalb engagierte sich Urho Kekkonen für den KSZE-Prozess und schloss ihn mit der Vertragsunterzeichnung in Helsinki erfolgreich ab. Ein diplomatischer Triumph für das kleine Finnland.

… aber brauchte nur zwei Jahre, um sich neu zu orientieren

Was danach geschah, ist allerdings das Scheitern der Finnlandisierung. Die Neutralität der Finnen hatte sich erledigt, als Russland die Ukraine überfiel – unter Bruch aller Prinzipien, die in der Helsinki-Akte festgelegt waren. Mehr als siebzig Jahre hatte Finnland seine Neutralität gepflegt. Nach der russischen Aggression brauchte die finnische Gesellschaft nur zwei Jahre, um sich radikal umzuorientieren. Seit 2023 ist Finnland Mitglied der NATO.

Was also kann Europa von den Finnen lernen? Mit Diplomatie kann man viel erreichen – aber nicht die eigene Existenzsicherung in einer Welt, in der die Allermächtigsten auf Verträge pfeifen. Es gibt keine Neutralität gegenüber purer Gewalt.

 

Die KSZE-Schlussakte von Helsinki kann im Originaltext im Internet abgerufen werden. Wer nachlesen möchte, findet sie hier.

Der Film „Der Helsinki-Effekt“ wird vor allem in kleineren Programmkinos gezeigt. Am 5. August zeigt ihn der Sender arte. Trailer, Informationen zum Film und zu den Kinos finden Sie hier. 

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Helsinki war der Schlusspunkt einer Reise durch Polen und die baltischen Staaten. Texte von dieser Reise sind auch

 

Erwachsene, die sich wie Kinder verhalten

Kein Text über die Stromsteuer – sondern darüber, ob irgendwas „versprochen“ wurde

Dies ist kein Text über die Stromsteuer. Dies ist ein Text über die Frage, ob mündige Staatsbürger sich verhalten sollten wie Kleinkinder. „Versprochen ist versprochen – und wird nicht …“ – Es ist diese unterkomplexe, kindererziehende Alltagsweisheit, die zurzeit die Grundlage bildet für eine allseitige Empörung über die angeblich versprochene, nun aber nur teilweise in Aussicht gestellte Abschaffung der Stromsteuer. Der Spruch war schon immer weit entfernt von der Realität eines Erziehungsalltags – und er ist auch ungeeignet für die Komplexität eines Staatswesens.

„Du hast es aber versprochen!“ – Politik kann nichts „versprechen“, sondern Politik kündigt an, verwaltet und gestaltet. Bei einer Wahl urteilen wir darüber, ob das gelungen ist. Deshalb sollten sich mündige Wahlbürger/innen nicht verhalten wie beleidigte Kinder an der Eistruhe. Foto: Geralt via Pixabay

Ein fiktiver Blick zur Supermarktkasse: „Du hast es aber versprochen!“, protestiert lautstark die geschätzt Fünfjährige. „Ja, aber jetzt gibt’s halt hier kein Eis in der richtigen Größe, entgegnet die Mutter entnervt, „da kann ich auch nichts machen.“ Mit der rechten Hand packt sie den Einkauf für das Abendessen ein, mit der linken drückt sie das Handy zum Zahlen an den Automaten. „Du hast es aber versprochen!!“ wiederholt das Kind jetzt lautstärker.

Wenn überhaupt, können nur sich nur Unionswähler ärgern

Auf diesem Niveau befindet sich auch die Diskussion um die Stromsteuer. Was genau ist geschehen? Politiker der Unionsparteien haben im Wahlkampf dafür geworden, ihnen die Stimme zu geben – mit der Ankündigung, die Stromsteuer für alle abzuschaffen. Haben die Menschen sie deshalb gewählt? Vielleicht gibt es ein paar wenige. Die meisten aber hatten anderes im Sinn: Den Scholz loswerden, die Migranten rausschmeißen, endlich bessere Stimmung für der Wirtschaft. Egal warum – aber es waren ohnehin nur 28,6 Prozent der Wählerinnen und Wähler, die am 23. Februar für die Union und diese Aussicht in Sachen Stromsteuer gestimmt haben. Eine deutliche Minderheit also, und wenn man die Zahl der Stimmen für die Union auf die Gesamtbevölkerung bezieht, sind es noch weniger. Alle anderen, die gar nicht oder nicht Union gewählt haben, können sich schon deshalb nicht auf dieses „Versprechen“ berufen. Und die Unionswähler, die jetzt jammern, sollten sich ernsthaft fragen, ob sie tatsächlich wegen der Stromsteuer ihr Kreuz bei Merz oder Söder gemacht haben.

Ja, schön, hört man hier die laute Riege der larmoyanten Politikkundigen rufen, aber was ist mit dem Koalitionsvertrag? Da steht es doch auch drin, dass die Stromsteuer für alle abgeschafft werden soll. Ist das denn kein Versprechen?

Also zurück zur Supermarktkasse. Eine junge Familie kauft ein. „Aber ihr habt es versprochen!“, rufen die zwei Söhne im Schulalter, und zappeln an der Eistruhe herum. „Wir müssen aber sparen“, versucht der Vater seine Nachkommen zu besänftigen, „Gestern Abend haben wir gesagt, beim Einkaufen morgen gibt’s ein Eis. Aber dann kam heute die Mieterhöhung. Ist ohnehin schon so teuer.“ Aber die Kinder sind unerbittlich: „Aber wir wollen trotzdem jetzt ein Eis!“

Politik kann überhaupt nichts „versprechen“

Ein Koalitionsvertrag ist kein Versprechen an die Öffentlichkeit. Politik kann überhaupt nichts „versprechen“. Politik kann ankündigen, verwalten und gestalten. Ein Koalitionsvertrag ist eine politische Absichtserklärung der (in diesem Fall: drei) Partner, die gemeinsam regieren wollen. Er ist die Grundlage für die Kanzlerwahl. Der Wahlbürger kann die Verabredungen des Koalitionsvertrages freudig oder verärgert zur Kenntnis nehmen, einen Anspruch auf die Umsetzung aller Inhalte hat er nicht. Und die Vertragsparteien können sich – wie bei jedem Vertrag – jederzeit einvernehmlich darauf einigen, irgendetwas aus ihrem Vertrag anders zu regeln als es dort einmal festgelegt war.

Was der empörte Wahlbürger tun kann, ist: Die Partner des Vertrages bei der nächsten Wahl abstrafen. Aber was tut die veröffentlichte Meinung? Sie empört sich stellvertretend für das angeblich um einen Anspruch gebrachte Volk über den „Stromsteuer-Betrug“ (Welt-TV), über den „Stromsteuer-Wortbruch“ (Focus) über den „Bruch des Koalitionsvertrags“ (ZDF). Sie alle köcheln auf der Jagd nach Klicks, Einschaltquoten und Auflage auf dem Feuer der billigen Vereinfachung die trübe Suppe der Politikverdrossenheit.

Es gibt vielleicht gute Gründe für die Abschaffung der Stromsteuer. Aber nicht das ‚“gebrochene Versprechen“

Muss der mündige Wahlbürger auf dem geistigen Stand von Kleinkindern gehalten werden, unfähig oder unwillig, sich größeren Zusammenhängen zu stellen? Niemand muss die Entscheidung für oder gegen die Abschaffung der Stromsteuer gut finden. Es gibt vielleicht gute Gründe und nachvollziehbare Interessen, warum man sie einfordern, anstreben und durchsetzen kann.

Aber sich darauf zu berufen, dass ein „Versprechen“ gebrochen worden sei – das ist kindisch.

 

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Der lange Schatten der kleinen Mauer

Vom Berliner Reichstag zur Danziger Werft und zurück

In diesem Text geht es um zwei Mauern, und was sie verbindet. Beide stehen in Berlin, und eine davon auch in Danzig. Diese Mauer ist unscheinbar, verglichen mit jener Mauer, die Deutschlands Hauptstadt einst durchschnitt, und die wundergleich vor 35 Jahre in sich zusammenstürzte. An den Fall der großen Mauer durch Berlin erinnern heute zahlreiche Gedenkstellen, etwa eine Mauer-Ausstellung im neuen Marie-Elisabeth-Lüders-Haus des Bundestages. Original rekonstruiert wurde sie dort im früheren Verlauf mit echten alten DDR-Mauer-Bauteilen, und steht so wettergeschützt im Souterrain der Abgeordnetenbüros. Erinnert wird auch an die mindestens 327 Toten, die beim Versuch, diese Mauer zu überwinden, verstorben sind.

Die weltberühmte Berliner Mauer – hier als Museumsstück im Souterrain des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses des Deutschen Bundestages – direkt am Spreeufer.

Die andere Mauer ist gleich gegenüber, auf der anderen Seite der Spree. Unscheinbar wurde sie als Gedenkstätte in eine Ecke neben die gewaltige Pracht des Reichstagsgebäudes gequetscht. Immerhin erzählt eine kleine Tafel ihre Geschichte. Wie viele Menschen mögen wohl schon an diesem kleinen Stück Backstein-Mauer achtlos vorübergegangen sein? Es muss sich gegen den stolzen Parlamentsbau behaupten. Die Fahnen Deutschlands und Europas flattern auf seinen wuchtigen Ecktürmen, glänzend schimmert die gläserne Kuppel im Sonnenlicht. Plenumsbetrieb ist im Bundestag, reihenweise schwarze Ministerlimousinen lassen die Touristen nach ihren Handys greifen. Es herrscht erhöhte Alarmbereitschaft, Polizei patrouilliert vorbei. Die Aura von Bedeutung und Macht durchtränkt den Äther rund um dieses „hohe Haus“. Wer wird da auf ein kleines Stück Backsteinmauer achten?

Die andere Mauer in Berlin: In einer Ecke des Reichstagsgebäudes steht ein Stück Mauer von der Danziger Werft.

Auch die kleine Backstein-Mauer ist ein Erinnerungsort. Sie steht für das Staunen darüber,  dass nichts bleibt und sich alles immer wieder ändern kann, auch grundlegend, und auch wenn man es für unglaublich hält. Verschwommene Erinnerungsbilder tauchen vor dem geistigen Auge auf; verwackeltes Schwarz-weiß-Fernsehen: Es kann Risse geben im festgefügten Block der kommunistischen Welt. Erinnerungen an das Geschehen im Nachbarland Polen im Jahr 1980.

Zwei Tage später in Danzig

Zwei Tage später in Danzig: Da ist es wieder, das gleiche Gemäuer. Backsteine, aufeinandergeschichtet, hier nun über und über behängt mit Tafeln, davor ein großes Denkmal: Es geht um die Toten des Arbeiteraufstandes von 1970, um Schüsse, Streiks, Niederlagen und Siege. Einer der Siege hat mit jenem kleinen Mauerstück zu tun, das jetzt als Geschenk des polnischen Parlaments Sejm an den deutschen Bundestag neben dem Reichstagsgebäudes steht. Es ist ein Stück Mauer von der Danziger Werft, über die der Elektriker und Gewerkschafter Lech Wałęsa im August 1980 kletterte, um die Führung der in der Werft streikenden Arbeiter zu übernehmen. Das waren damals die Bilder, die den Riss zeigten.

Im „Europäischen Zentrum für Solidarität“ auf dem früheren Werftgelände wird die Geschichte der Werftarbeiter in Danzig und die Gründung der Gewerkschaft „Solidarnosc“ aufgearbeitet. Das Zentrum ist ein moderner Begegnungsort für das neue Polen.

Heute muss niemand mehr die Mauer in Danzig überwinden. Die Tore stehen offen, Schiffe werden hier schon lange nicht mehr gebaut. Wer heute unter den großen Buchstaben „Stocznia Gdańska“ hindurchgeht, den erwartet ein im Jahr 2014 eröffnetes, eindrucksvolles Gebäude, das als „Europäisches Zentrum für Solidarität“ betrieben wird. Ein lichtdurchflutetes Foyer mit Café, Pflanzen, Sitzbänken, Rolltreppen empfängt die Besucher – hier wurde dem modernen, demokratischen Polen ein schicker Begegnungs-, Diskussions- und Erinnerungsort gewidmet. Die multimedial gestaltete Ausstellung führt mitten hinein in die Streiks der Werftarbeiter, in die Gewalt, die sie erlebten, macht ihren Widerstandswillen spürbar. Letztlich haben sie gewonnen: Unter ihrem Druck wurde im Sommer 1980 „Solidarność“ gegründet, die erste freie Gewerkschaft im „Ostblock“. Solidarność übernahm bald eine zentrale Rolle in der polnischen Politik. Freiheiten wurden erkämpft zu einer Zeit, als an vergleichbare Bestrebungen in Ostdeutschland nicht zu denken war. Die Gewerkschaft überlebte sogar das polnische Kriegsrecht.

Der Held: Lech Wałęsa führt den Arbeitskampf in der Werft und veränderte ganz Polen zu einer Zeit, als im restlichen Ostblock an Liberalisierungen nicht zu denken war. 1990 wurde er zum Präsident Polens gewählt. Aber für den Alltag der Politik erwies er sich als untauglich.

Alles das ist mit einem Namen verbunden: Lech Wałęsa, der Mann, der einst über die Werft-Mauer kletterte. Im „Europäischen Zentrum für Solidarität“ atmet alles den Geist dieses Mannes, der – inzwischen 82 Jahre alt – dort sogar ein Büro hat. Ein polnischer Volksheld war er in den 80er Jahren, bestaunt vom Ausland, gefeiert und bejubelt in Polen. Die kommunistischen Machthaber internierten ihn, aber sie konnten ihn nicht unter Kontrolle bringen. Er erhielt 1983 den Friedensnobelpreis, führte eine gewaltfreie Revolte an, und wurde mit Begeisterung auf den Schultern der Massen getragen. Nach der politischen Wende wählten die Polen Wałęsa im Jahr 1990 mit 70 % der Stimmen zu ihrem Präsidenten. Aber für den politischen Alltag schien sich der Revolutionär nicht zu eignen. In der Wiederwahl 1995 scheiterte er knapp, fünf Jahre später trat er noch einmal an und bekam nur ein Prozent der Stimmen.

Brutaler kann ein Held kaum stürzen

Brutaler kann ein Held kaum stürzen. Im heutigen Polen spielt Lech Wałęsa keine Rolle mehr, trotz dieses prächtigen Zentrums, das auch ihm zu Ehren auf dem Gelände der Danziger Werft errichtet wurde. Vorwürfe der Kooperation mit dem kommunistischen Geheimdienst belasten sein Andenken genauso wie fragwürdige Äußerungen, die als homophob gedeutet werden müssen. In einem Interview von 2023 für den Sender „Arte“ zeigt sich der damals 80-Jährige entschlossen proeuropäisch, kritisiert die Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz und unterstützt die Abwehrkämpfe der Ukraine gegen den russischen Aggressor. Trotzdem wirken viele seiner Äußerungen erratisch, wie aus der Zeit gefallen. Wałęsa erkennt das selbst und blickt vor allem zurück. „Wir waren es“, sagt er, und der Stolz blitzt aus seinen Augen, „die dem russischen Bären die Zähne ausgeschlagen haben.“ Manches spricht dafür, dass ohne Lech Wałęsa und die von ihm gegründete Solidarność die Weltordnung der Moskauer Politbüro-Greise vielleicht niemals ins Wanken geraten wäre.

Und wieder zurück in Berlin

Zurück in Berlin. Wer steht da nun also in wessen Schatten? Fast scheint es, als könnte der Schatten der kleinen Backsteinmauer so lang sein, dass das ganze Reichstagsgebäude darin verschwinden kann.

 

Mehr über das Europäische Zentrum für Solidarität in Danzig finden Sie hier (in englisch). Das Interview mit Lech Wałęsa aus dem Jahr 2023 ist auf arte abrufbar. 

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier. 

 

 

 

Im Candy-Storm des Religiösen

Besuch am „Berg der Kreuze“ in Litauen – Ein Erlebnisbericht

Wahrscheinlich war es in einer Morgendämmerung, als die Bulldozer anrollten. Brutalitäten, für die sich die Verantwortlichen schämen, finden immer in der Morgendämmerung statt. Oder wurden sie schon am Abend vorher bereitgestellt? Vielleicht passierte es aber auch zu verschiedenen Tageszeiten, denn es geschah mehrfach. Sicherlich knackte und splitterte es, wenn die Hölzer unter der Last der Maschinen brachen. Es ging darum, Kreuze niederzuwalzen.

Der „Berg der Kreuze“ ist ein Ort ungebremster Religiosität, dessen außergewöhnliche Wucht auch den aufgeklärten Zweifler nicht unberührt lässt.

Niemand kann mehr genau sagen, warum die Menschen im 19. Jahrhundert genau an dieser Stelle, auf zwei unscheinbaren Hügeln in der Nähe der Stadt Šiauliai im Norden des heutigen Litauens damit begonnen hatten, Kreuze aufzustellen. Nicht ein oder zwei, sondern Zig, Hunderte, später Tausende. Vielleicht folgten sie einer Legende, wonach das Aufstellen eines Kreuzes ein Kind geheilt habe. Oder sie taten es aus anlassloser Frömmigkeit. Oder aus Angst vor dem Tod, oder als Hoffnung auf ein Leben danach. Vielleicht als Fürbitte? Oder es ging ihnen darum, der Toten in den Freiheitskämpfen Litauens gegen die russische Herrschaft zu gedenken. Warum auch immer, sie taten es.

Viermal wurde versucht, die Kreuze zu zerstören

In Folge des Hitler-Stalin-Paktes geriet auch dieser Ort unter den Einfluss der Sowjetunion. 1940 sollen auf den Hügeln etwa 140 Kreuze gestanden haben. Nach kommunistischer Ideologie zu viele, schon gar, wenn sie auch noch an die Toten erinnern wollten, die nach Sibirien deportiert worden waren. Ein solchen Ort voller Kreuze störte das Bild, ein Platz ungeregelter Volksfrömmigkeit war im Kommunismus unerwünscht. Insgesamt viermal – erstmals am 5. April 1961, dann nochmals in den Jahren 1973, 74 und 75 ließen sie die Bagger anrollen und machten die aufgestellten Kreuze dem Erdboden gleich. Sie verbrannten das Holz, zertrümmerten den Beton, schmolzen das Metall ein.

Aber es nutzte nichts, oft schon wenige Tage später standen wieder die nächsten Kreuze da. Wie von Zauberhand. So wurde mit jeder Zerstörung mehr der „Berg der Kreuze“ von einem religiösen Symbol zu einem politischen Ort. Seit 1991 ist Schluss mit der Vernichtung der Kreuze. Der politische Umsturz in Osteuropa mit der Wiedergewinnung der staatlichen Souveränität Litauens legitimierte auch diesen Ort. Wer heute den Berg besucht, findet eine gut durchstrukturierte Tourismus-Infrastruktur vor: ein gebührenpflichtiger Parkplatz, moderne Toilettenanlagen, Imbissbuden und zahlreiche Verkaufsstationen für allerlei frommen Tand. Wer Menschen erlebt hat, die ihren Glauben ganz einfach ausleben, nicht hinterfragen, nicht grübeln, sondern einfach ganz schlicht daran glauben, was die katholische Kirche verspricht – der kennt solche Orte ungebrochener Frömmigkeit.

Eine Wucht ganz besonderer Art

Der aufgeklärt-zweifelnde Besucher ahnt also, worauf er sich hier einlässt, während er den breit ausgebauten Fußweg zu den Hügeln, die jetzt ein immaterielles UNESCO-„Kulturerbe der Menschheit“ sind, entlangschreitet. Dort angelangt, ist es aber dann doch eine Wucht ganz besonderer Art, die hier das spirituell orientierungslose Gemüt überwältigt. Nicht nur, dass die politische Komponente sehr klar spürbar ist, dieses offenkundig ausgestellte, abertausendfache Obsiegen einfacher Kreuze gegen die ideologische Verneinung allen Übersinnlichen. Es auch eine Art gläubiges Evolutionserlebnis, das sich hier bietet; eine Chance, am Schicksal der Kreuze live mitzuerleben, wie alles Materielle den Weg des verrottenden Verfalls geht, welche strahlende Verheißung es auch immer gewesen sein mag zu Beginn.

So unbeugsam die Kreuze seit rund 150 Jahren der politisch gewollten Unterdrückung widerstanden haben – so sehr sind sie doch dem natürlich Verfall ausgesetzt. Die provozierende Regellosigkeit dieses Ortes lässt nachdenken über das evolutionäre Schicksal aller Materie.

Auf dem Berg der Kreuze herrscht weitgehende Regellosigkeit. Vorgegeben ist nur, wo keine Kreuze hingestellt werden dürfen, und verboten ist es aus naheliegenden Gründen, Kerzen anzuzünden. Aber sonst kann jede und jeder so viele, so große Kreuze errichten, sie beschriften und widmen, wie es beliebt. Eine Gruppe Studierender hat in den 90er Jahren einmal versucht, nur die aufgestellten (nicht die liegenden, hängenden, angelehnten) Kreuze zu zählen und hat angeblich bei der Zahl 50.000 das Experiment abgebrochen. Es sind unzählbare Massen von Kreuzen, die hier versammelt sind, sich stapeln, aneinander lehnen, hängen, abrutschen, verrotten und zerfallen. Niemand sorgt für Ordnung, zwischen den Kreuzen bahnen sich die Trampelpfade ihren Weg und wuchert das Gebüsch. Wie eine Flechte greifen die Kreuze immer weiter aus, besiedeln inzwischen schon die Zugangswege. Große Kreuze recken sich wichtigtuerisch dem Betrachter entgegen, schüchterne Kreuze erkennt man erst auf den zweiten Blick, es gibt kleine und allerkleinste, die an Bäumen hängen und im Wind baumeln. Kreuze mit Botschaft und ohne, Kreuze verschiedener christlicher Religionen, eitle Kreuze und namenlose – alles durcheinander.

Mitmachen beim Massenkreuzgang?

Der polnische Papst Johannes Paul II. war natürlich auch schon da. Eine große Messe hat er bei seinem Besuch im Jahr 1993 an dieser Stelle abgehalten; der Pavillon davon steht noch immer. Ein Kloster wurde in der Nähe gegründet. Und doch verblasst alles das gegen diese gläubige Massenenergie, die hier greifbar wird. Eine analoger Candy-Storm der Religiosität ist hier im Gange, jeden Tag neu. Kreuze in allen Größen werden verkauft neben dem Parkplatz, und während man schon zugreifen möchte, um auch dabei zu sein bei diesem Massenkreuzgang, da lädt schon eine Familie ihr stolzes Großkreuz aus dem Kofferraum.

Also auch ein eigenes Kreuz diesem Ort der Spiritualität beisteuern, es dem Verfall preisgeben, der körperlosen Ewigkeit überantworten? Bei allem Respekt für Gläubigkeit und politische Freiheitsbotschaft: Dem aufgeklärten Zweifler ist dieser Weg zum Glück eben doch versperrt.

… und für Nachschub ist gesorgt.

Der „Berg der Kreuze“ ist eine wichtige touristische Attraktion in Litauen. Eine gut zusammengefasste Information findet sich bei Wikipedia oder z.B. hier. 

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier.

Vom 17. bis 31. Mai 2025 habe ich eine Studienreise von Berlin aus durch den Norden Polens, anschließend durch alle drei baltischen Staaten unternommen. Nach einem Schiffstransfer über den finnischen Meerbusen endete die Reise in Helsinki. In mehreren Texten versuche ich, einen Teil der Eindrücke zu schildern. Einen weiterer Text finden Sie hier:  „Unterwegs im wohlvertraut Unbekannten“. 

Unterwegs im wohlvertraut Unbekannten

Fünf Impressionen aus dem Baltikum

Vom 17. bis 31. Mai 2025 habe ich eine Studienreise von Berlin aus durch den Norden Polens, anschließend durch alle drei baltischen Staaten unternommen. Nach einem Schiffstransfer über den finnischen Meerbusen endete die Reise in Helsinki. In mehreren Texten versuche ich, einen Teil der Eindrücke zu schildern. Dieser hier fasst fünf Impressionen zusammen. 

Trakai war die mittelalterliche Trutzburg gegen die Deutschordensritter – heute ist sie ein Symbol für die nationale Eigenständigkeit Litauens. Willkommen im Baltikum!

Störche, Kiefern und Kirchen

Wie vertraut diese Landschaften sind! Längst rollt das Gefährt nördlich von Deutschlands Norden, ist über die geografische Höhe von Kopenhagen weit hinaus. Polen ist durchfahren, nun weht die Fahne mit dem litauischen Ritter über der Trutzburg von Trakai, die einst den Deutschen Orden auf seinem Eroberungszug nach Norden aufhielt. Hier und im weiteren Verlauf bestimmen weite gelbe Rapsfelder das Landschaftsbild, geduldig vorbeigleitende Kiefernwälder, später oft Birken. Häufige Storchennester. Der große Vogel zieht viel Aufmerksamkeit auf sich, wo immer er auftaucht. Denn es gibt sonst wenig in der Landschaft, was im Vergleich zu dem bei uns Wohlbekannten ungewöhnlich wäre. Litauen, Lettland, Estland: Das Baltikum ist kein Abenteuer, sondern die Wiederentdeckung einer vertrauten Welt. Eine europäische Kulturlandschaft, geprägt von den gleichen Bäumen und Blumen, den gleichen Dörfern, Burgen und Kirchen, die wir aus unserer Welt kennen. Nichts Exotisches haben diese Landstriche an sich, das Baltikum ist Brandenburg ähnlicher als dem Baskenland. Wer also käme auf die Idee, diese alten Kulturvölker würden nicht dazugehören zu einem geeinten Europa? Wie gut: Sie gehören dazu, und keine Grenzkontrolle unterbricht die Reise ins wohlvertraute Unbekannte.

 

Unermesslicher Großmut im Billigflieger-Revier

Muss es wiederholt werden? Ja, es muss, damit der Partytourismus sein angemessenes Gegenstück hat. Die lettische Hauptstadt Riga liegt im Billigflieger-Trend: Schnell mal für ein Wochenende dorthin, das Bier ist preiswert, die Stimmung gut, und Fußball gucken lässt sich gesellig mit den vielen Feier-Briten, die hier unterwegs sind. Nur ein Kilometer entfernt vom heutigen Vergnügungsrevier in der Altstadt lag das jüdische Getto, heute eine Gedenkstätte. In Vilnius begegnet uns zwar nicht so viel Ballermann, aber auch ein jüdisches Viertel, das von den Deutschen wie in Riga systematisch leergeräumt wurde – durch Deportationen, Ermordungen, Massenerschießungen. Riga-Bikernieki, Kaunas, Kauen, Raasiku – wenige Namen nur sollen aufgezählt sein für die vielen anderen Orte des Grauens, die es genauso zu nennen gelten würde. Sie alle haben nun doch den Deutschen verziehen, was nicht zu verzeihen und  schon gar nicht zu vergessen ist. So erzählen sie jetzt vom unermesslichen Großmut geschundener Völker, der den Nachkommen der Mörder erst ermöglicht, in diesem Teil Europas unterwegs zu sein.

„#WirsindNATO“ steht in Mensch-großen Lettern vor dem Verteidigungsministerium von Vilnius.

Fragiler Reichtum der Unabhängigkeit in Freiheit

Mit ihrer nationalen Unabhängigkeit haben Deutsche den schrecklichst-denkbaren Missbrauch betrieben. Und doch: Das Gefühl, dass sie im eigenen Staat ihr Schicksal selbst bestimmen können – dieses Gefühl ist Deutschen seit Generationen so vertraut, als wäre es selbstverständlich. Dabei hatten sie es schon verwirkt und doch noch einmal geschenkt bekommen nach der Katastrophe der Nazidiktatur. Deutsche leben nun in einem freien Land, tief verankert in Europa, umgeben von Freunden, gewiss nicht perfekt, schuldbeladen, aber doch weitgehend unabhängig in der Gestaltung ihres Schicksals. Auf der Reise durch das Baltikum erspürt ein deutscher Mensch neu den fragilen Wert dieses Schatzes nationaler Selbstbestimmung. Litauen, Lettland und Estland wurden über Jahrhunderte hin und her geschubst zwischen de angrenzenden Großmächten. Zuletzt haben sie sich ihre Eigenstaatlichkeit erst wieder erkämpfen müssen vor gerade einmal gut dreißig Jahren. Kaum wahrgenommen  von der Weltöffentlichkeit, schon gar nicht in Deutschland, das im ungläubigen Staunen über die unerwartete Chance zur Einheit gebannt nach Ostberlin, Leipzig, Dresden starrte. Weiter nördlich haben im August 1989 zwei Millionen Menschen eine Menschenkette über 600 Kilometer durch alle drei baltischen Staaten gebildet, die damals noch Sowjetrepubliken waren. Sie haben später sowjetischen Panzern getrotzt, die der hierzulande so beliebte Michail Gorbatschow noch loskommandierte, um einen Zerfall seiner kollabierenden Sowjetunion aufzuhalten. Nun ist in jedem Gespräch, in jeder Begegnung die Angst vor Russland zu spüren. Die russische Exklave Kaliningrad lauert wie eine gefährliche Tretmine an Litauens Grenze, und der Osten Estlands grenzt direkt an den aggressiven Nachbarn. Verloren ist an beiden Stellen die dort schon einmal gewonnene Normalität. Die Unabhängigkeit ist erreicht, aber fragil, trotz EU- und Nato-Mitgliedschaft. Wissen Deutsche, was für ein Reichtum im Gewinn der Unabhängigkeit in  Freiheit steckt? Wer ihn spüren will, wer erfahren will, wie gefährdet dieser Reichtum sein kann, sollte hierher reisen.

Eine Lebensversicherung? Litauen hofft, dass die Zusagen des US-Präsidenten auch für seine Nachfolger gelten. (gesehen am Rathaus von Vilnius)

Der Stolz der Restauratoren

Wenn die Fresken zerstört sind, wenn die Mauern in Trümmern liegen, wenn die Fenster zersplittern – spielt es eine Rolle, wer Verursacher war? Deutsche haben hier gemordet und vergewaltigt, sie haben Menschen gequält und ihre Städte und Dörfer geschunden. Auch Stalins  Rotarmisten haben hier getötet und gefoltert, Kulturstätten im Baltikum zerstört, zerbombt und geplündert. Sowjetische Ideologen haben Kirchen verrotten lassen, zu Lagerhäusern umfunktioniert ohne Rücksicht auf die ihnen schutzlos ausgelieferten Kulturgüter. Die drei jungen Staaten des Baltikums bemühen sich nun um eine Restaurierung ihrer kulturellen Identitäten, ihrer Geschichte und Geschichten. Die Menschen, die es praktisch tun, berichten gerne von ihren Kämpfen und Erfolgen im Gefecht gegen den Zahn der Zeit, gegen das Vergessen und Zerstören. Es ist auch ein Streit um die Wahrheit und darum, was eigentlich die Wahrheit ist. Was davon soll sichtbar sein? Das Schöne naiv wiederherstellen, als wäre nie etwas gewesen? Die Wunden als solche erhalten? Zeigen, was fehlt? Und während der Besucher der restaurierten Orgel in Riga lauscht, bombardieren russische Flugzeuge gezielt auch Bibliotheken, Theater, Museen, Kirchen in der Ukraine. Wer den Restauratoren im Baltikum zuhört, spürt die Mühsal, aber auch den Stolz, die eigene kulturelle Identität wieder herzustellen, erfahrbar zu machen für sich selbst und alle, die kommen. Spielt es eine Rolle, wer schuld war? Nein, sagen sie dann, aber festgehalten werden, das muss es schon.

 

Von Kirchenglocken zu blau gefärbten Haaren

Natürlich könnte man einfliegen. Ein Wochenende im gemütlichen Vilnius, das nächste im feiergelaunten Riga, und schließlich eine Shopping-Tour nach Tallinn. Warum nicht? Alle drei baltischen Hauptstädte versprechen in den Sommermonaten lange helle Nächte bei angenehmen Temperaturen. Und doch hat der langsame Reiseverlauf vom Süden in den Norden des Baltikums eine eigene Qualität. Mit jedem Kilometer wandelt sich das Bild von der Tradition in die Moderne. Das geschichtlich mit Polen verbundene Litauen ist von katholischer Volksfrömmigkeit geprägt. In dieser eher konservativen Gesellschaft tönen die  Kirchenglocken noch lauter als die hochgetunten Autos. Vieles hier wirkt improvisiert, auf dem Land finden sich immer wieder verfallene Gehöfte, die ihrem Schicksal überlassen wurden. Menschen, die nicht dem europäisch-weißen Muster entsprechen, begegnen dem Reisenden kaum in Litauen und nur sehr vereinzelt in Lettland. Immerhin ist Riga urban und lebendig, die größte Stadt der ganzen Region. Aber erst im protestantisch geprägten Estland ändert sich das Bild: Der Sozialraum wirkt fast schon skandinavisch aufgeräumt, oft strahlen rote Holzhäuschen im satten Grün, fast alles ist geordnet, die Gärten akkurat. Hier schimmern auch einmal blau gefärbte Haare durch das Straßenbild, ungewöhnliche Kleidung kommt entgegen, andere Haut als weiß. Estland hat – anders als die beiden anderen Balten-Republiken – eine gemeinsame Geschichte und eine verwandte Sprache mit Finnland, und in nur zwei Stunden gleitet die Fähre von Tallinn nach Helsinki und zurück. Und zwei Stunden mit dem Zug oder dem Auto weiter Richtung Osten läge St. Petersburg, das auch zu Europa gehört. Unerreichbar – nicht nur, weil man ein Visum bräuchte.

Hinter der blauen Linie endet die Welt des Westens. (Schautafel auf der Kurischen Nehrung)

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein weiterer Text berichtet von meinem Eindruck am „Berg der Kreuze“, einen katholischen Wallfahrtsort der Sonderklasse: „Im Candystorm des Religiösen“ 

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Ein Kind des 8. Mai hat Geburtstag

Eine politische Kurzgeschichte

Das Handy gratuliert ihr als erstes. Sie war gerade aufgewacht, hatte mit tastendem Suchen nach dem Smartphone gegriffen. Auf dem Bildschirm steht: „Herzlichen Glückwunsch! Heute ist Dein Geburtstag!“ und, darunter, etwas kleiner: „8. Mai, Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus“. Vierzig Jahre alt ist sie nun, denkt sie und sinkt zurück in ihr Kopfkissen. Sie nimmt sich vor, heute einmal zufrieden zu sein mit sich: blond, schlank, sportlich, lange Haare, noch immer jugendlich wirkend, soweit sie das beurteilen kann, aber erfolgreich mitten im Leben: Beruf, Familie, zwei Kinder, eine eigene Immobilie, älter werdende Eltern. Geboren am 8. Mai 1985.

An dem Tag, als sie auf die Welt kam, hatten ihre Eltern keine Zeit gehabt für das sonstige Weltgeschehen. Die Wehen, die Schmerzen, das Glück, alles überstanden zu haben! Und dann der immerwährende Blick auf das kleine Wunder im Arm der Mutter. Ein Mädchen! Und der Vater, der sonst immer die Tagesschau schaute, hatte sich an diesem Tag um die älteren Geschwister gekümmert. Kein Gedanke frei für den damals noch gewölbten Röhrenbildschirm. Er war schwarz geblieben.

Wie ein Guckloch in die Vergangenheit

Dabei hätte es sich gelohnt. Wenn sie sich heute, an ihrem vierzigsten Geburtstag, die Zeit nähme, (z.B. auf Youtube) den Mitschnitt herauszufischen, könnte sie wie durch ein Guckloch in ihre eigene Vergangenheit blicken: Der Deutsche Bundestag in seinem Bonner Plenarsaal. Die noch nicht wiedervereinigte Republik fest in der Hand grauhaariger Männer.  Wenige Frauen sind Tupfer, seltene Einsprengsel im Einheitsschwarz der Anzüge. Keine Handys; noch nicht erfunden. Ein noch vergleichsweise schlanker Helmut Kohl als Kanzler.

Bundespräsident Richard von Weizsäcker bei seiner Rede zum 8. Mai 1985. (Foto: Bundespräsidialamt)

Es ist der 8. Mai 1985, vierzig Jahre nach Kriegsende. Der erst vor einem Jahr ins Amt gewählte, neue deutsche Bundespräsident Richard von Weizsäcker wendete mit einer Rede die Deutung der deutschen Geschichte. „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“, sagte er, selbst ehemaliger Wehrmachtssoldat, „er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“

Reden können die Welt verändern

Beifall brandete auf. Weizsäcker war nicht der erste Deutsche, der einen solchen Satz sprach, aber der wichtigste. Deutschland und die ganze Welt horchte auf: Das Land der Täter bekennt sich ohne Wenn und Aber zur historischen Einmaligkeit seiner Schuld. Endlich, vierzig Jahre nach Kriegende, versteht sich (West-)Deutschland nicht mehr als Opfer einer Niederlage, sondern als Profiteur einer Befreiung, die sie den Siegern von damals verdankt.

Reden können die Welt verändern. Die Weizsäcker-Rede von 1985 war eine solche Rede, auch wenn man sie heute noch einmal hört. Jeder Satz brilliert in schnörkelloser Klarheit. Es sind demütige Worte nach außen und versöhnende nach innen, und doch von bewundernswerter intellektueller Schärfe. Nicht jede Wortwahl, aber jeder enthaltene Gedanke hat Gültigkeit bis heute.

Die Rede war umjubelt, aber nicht unumstritten. Ewiggestrige empfahlen, auf den Blick zurück zu verzichten. „Die ewige Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftliche Dauerbüßeraufgabe lähmt ein Volk!“, schimpfte die CSU-Ikone Franz-Josef Strauß. Aber das blieben Einzelstimmen. Weizsäcker wendete das Blatt der deutschen Geschichte: Erst nach dieser Rede wurde es möglich, dass er als erster deutscher Bundespräsident nach Israel reiste. Nach dieser Rede konnte niemand, der ernst genommen werden wollte, irgendetwas herumdeuten wollen an der einzigartigen Verantwortung, die Deutsche auf sich geladen haben. Und dass bewusstes Erinnern notwendig ist, um Versöhnung erst möglich zu machen.

Wieder ist „Tag der Befreiung“ – den Namen hat Deutschland von der DDR übernommen

Seit jener Rede sind weitere vierzig Jahre vergangen. Wieder ist „Tag der Befreiung“. Den offiziellen Namen hat das wiedervereinigte Deutschland von der DDR übernommen – wo der 8. Mai schon seit 1950 so hieß. Im Westen war dieser Tag namenlos geblieben. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist der sechste Nachfolger von Weizsäckers.  Er blickt in das weite Rund des neuen Plenarsaals im Berliner Reichstagsgebäude. Er weiß genau: Was immer er sagt, wird im Schatten der großen Rede von 1985 stehen. Und so bleibt er über weite Passagen im Selbstverständlichen und Allgemeinen, zitiert seinerseits die große Rede von vor vierzig Jahren, und schlägt den Bogen zu den Herausforderungen von heute: Zur Notwendigkeit der Wehrhaftigkeit in einer Zeit, da Deutschland von der Gewalt im Osten und der Abkehr von gemeinsamen Werten in den USA bedroht ist. Und vom erstarkenden Rechtsextremismus in Deutschland: „Sie verhöhnen die Institutionen der Demokratie und diejenigen, die sie repräsentieren. Sie vergiften unsere Debatten. Sie spielen mit den Sorgen der Menschen. Sie betreiben das Geschäft mit der Angst. Sie hetzen Menschen gegeneinander auf. Sie erwecken alte böse Geister zu neuem Leben.“

Die Angesprochenen lümmeln in den blauen Sitzen

Die so Angesprochenen lümmeln in den blauen Sitzen und ertragen die präsidiale Schelte mit demonstrativem Desinteresse. Wie sich das Bild gewandelt hat in vierzig Jahren: Fort ist das Einheitsschwarz, manche Abgeordnete folgen der Rede in eher lässiger Kleidung. Jünger ist dieses Parlament, und diverser ist es auch. Aber noch längst nicht sitzen da gleich viele Frauen wie Männer, wenn auch sehr, sehr viele mehr als damals. Die Handys liegen auf der Bildschirmseite; während der Rede will sich von den allgegenwärtigen Kameras niemand beim Daddeln erwischen lassen.

„Ja, wir sind alle Kinder des 8. Mai,“ resümiert Steinmeier nachdenklich und zitiert damit den Philosophen Jürgen Habermas. Dann schließt er seine Rede mit einem Appell: „Schützen wir unsere Freiheit! Schützen wir unsere Demokratie!“ Beifall von Linken bis CDU. Kaum eine Hand der AfD rührt sich.

 

Als die Kinder in der Schule sind, gönnt sie sich wieder einen Blick auf das Handy, das ständig gebrummt hat. Geburtstagsglückwünsche trudeln ein, tanzende Torten-Videos, glitzernde Feuerwerkssterne, schwebende Luftballons. Dazwischen die Pushmeldungen im Newsfeed: „Steinmeier spricht zum 8. Mai“. Und dann: „Kein Beifall der AfD für die Rede des Bundespräsidenten“.

Aber das Kind des 8. Mai versteht gar nicht, warum das eine Meldung ist. Sie wischt sie weg.

 

 

Die Reden von Richard von Weizsäcker und Frank-Walter-Steinmeier kann man auf der Website des Bundespräsidenten nachlesen. Noch eindrucksvoller ist es, sich die Ansprache von 1985 als Video (Link führt zu Youtube) zu gönnen – 45 Minuten, in denen kluge Worte eine Welt veränderten.

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Ein Justizmord, die Nazis und der Papst

Zur Geschichte des „Tag der Arbeit“ am 1. Mai

Vielleicht war es im Mai. Wir schreiben das Jahr 1872, ziemlich genau vor 150 Jahren. Vielleicht erlebte damals ein junger Mann noch ein letztes Mal in Deutschland einen Sonnentag auf dem Höhepunkt des Frühlings, einen Tag voll blühenden Flieders, ein Tag der blumenübersäten Wiesen.

Kein Mörder, sondern ein Justizopfer: August Spies aus Deutschland. Foto: Chicago Historical Society, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=755968

Dann verließ der junge Mann Deutschland. Er bestieg ein Schiff, bezog darin ein Massenlager, vermutlich tief unten im stickigen Bauch des Ozeanriesen. Seine Reise war eine Flucht vor der Armut und sie brachte ihn nach New York.

Der junge Mann war der im Hessischen geborene Försterssohn August Spies. Er war erst 17 Jahre alt, als sein Vater starb. Spies´ Familie geriet deshalb in tiefe Not. Sozialsysteme, wie wir sie heute kennen, gab es nicht. August war das älteste Kind und arbeitsfähig, also musste er gehen. Mutter und Geschwister blieben zunächst in Deutschland zurück; später holte er sie nach.

Ein Streik veränderte die Weltsicht von August Spies

Spies schlug sich durch in der neuen Welt. Er begann in New York eine Lehre als Möbeltischler, zog um nach Chicago und begann sich für die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu interessieren. Dann erlebte er als 22-jähriger etwas, das sein weiteres Denken und Handeln grundlegend prägen sollte. Würde man es in unser deutsches Heute übertragen, dann muss man sich diese Ereignisse aus dem Jahr 1877 in den USA etwa so vorstellen:

Den Mitarbeitenden der Deutschen Bahn, den Schaffnern und Lokführerinnen, den Stellwerkern und Rangierkräften, den Werkstattmitarbeitern und dem Reinigungspersonal – einfach allen – wird zum dritten Mal innerhalb eines Jahres mitgeteilt, dass ihre Gehälter gekürzt werden. Die wirtschaftliche Lage sei schlecht, heißt es zur Begründung, außerdem habe ein Krieg das Land ruiniert. Daraufhin treten die empörten Angestellten der Bahn an verschiedenen Orten in den Streik. Immer mehr Eisenbahnerinnen und Eisenbahner schließen sich landesweit an. Kaum noch ein Zug wird gewartet, die Gleise werden blockiert, keine Fahrkarten mehr verkauft, die Loks bleiben stehen. Der Vorstand der Bahn ruft den Staat zur Hilfe – und der schickt die Bereitschaftspolizei. Mit Knüppel und Schusswaffen kämpft der Staat die Arbeitnehmer nieder, diese reagieren mit Vandalismus: Gebäude werden niedergebrannt und Lokomotiven zerstört. Nach mehr als zwei Monaten Verwüstung und Gewalt gewinnt der Staat die Oberhand. Im ganzen Land hat der Kampf der Streikenden gegen die Polizeigewalt mehr als 100 Tote gefordert.

Der Große Eisenbahnstreik von 1877, die sozialen Ungerechtigkeiten, die ihn ausgelöst haben, und die Gewalt, mit der er beendet wurde, erschütterten die USA. August Spies machten die Ereignisse um die staatliche Niederschlagung des Streiks gegen die zunächst unbewaffneten Streikenden so wütend, dass er sich einer paramilitärischen Arbeiterorganisation anschloss. Später gründete er eine Arbeiterzeitung und wurde ihr Herausgeber und Chefredakteur.

Eine Bombe, ein Justizmord

Neun Jahre später, am 1. Mai 1886, stand August Spies in Chicago auf dem Haymarket und hielt eine flammende Rede. Er brandmarkte die Ungerechtigkeit der Arbeitsordnung. Er verlangte bessere Löhne und einen gesetzlichen Acht-Stunden-Arbeitstag für die Werktätigen. Wieder eskalierte die Situation durch Gewalteinsatz der staatlichen Milizen. Es folgten über mehrere Tage Großdemonstrationen, denen der Staat jeweils mit brutaler Gewalt begegnete. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen wurden am 3. Mai sechs streikende Arbeiter erschossen, etliche weitere verletzt. Am 4. Mai explodierte auf dem Haymarket eine Bombe, deren Herkunft bis heute ungeklärt ist.

Das dadurch verursache Chaos nahm die Polizei zum Anlass, die Streikanführer zu verhaften. Acht Männer, darunter August Spies, wurden für die Bombe verantwortlich gemacht, als „Mörder“ angeklagt, zum Tode verurteilt und hingerichtet. August Spies starb im Herbst 1887 durch Erhängen. Sechs Jahre später rehabilitierte der Gouverneur von Illinois die Getöteten: Ein Zusammenhang ihrer gewerkschaftlichen Agitation mit der Bombe sei nicht nachweisbar.

Wofür werben eigentlich die Plakate seit Mitte April?

Diese Geschichte könnte im Kopf haben, wer sich an diesem Sonntag – geeignetes Wetter vorausgesetzt – im Biergarten ein kühles Bierchen bestellt. Auf dem Weg dorthin hat sich vielleicht sogar der eine oder andere gefragt, wofür die Plakate eigentlich werben, die der Deutsche Gewerkschaftsbund jedes Jahr ziemlich lieblos ab Mitte April an die Laternenmasten klemmt.

Wofür wird hier geworben? Aktuelles Plakat des DGB zur Maikundgebung vor den Werkstoren von BOSCH in Stuttgart-Feuerbach.

Der radikal-anarchistische Arbeiterführer August Spies, das deutschstämmige Opfer eines amerikanischen Justizmordes, zählt zu den Urvätern des 1. Mai als Feiertag. Die internationale Arbeiterbewegung erhob in Andenken an ihn und an den Kampf der Streikenden auf dem Chicagoer Haymarket erstmals den 1. Mai 1890 zum internationalen Kampftag der Werktätigen. Die damals Mächtigen beeindruckte das kaum. Erst mehr als 40 Jahre später waren es in Deutschland ausgerechnet die Nationalsozialisten, die diesen Schritt vollzogen und den 1. Mai zum arbeitsfreien „Tag der nationalen Arbeit“ erklärten. Ein Paradebeispiel für ideologische Aneignung: Am 1. Mai 1933 erlebten die deutschen Berufstätigen erstmals den Feiertag zu ihren Gunsten, aber am Tag darauf, am 2. Mai 1933, stürmten Nazi-Schergen die Häuser der deutschen Gewerkschaften, betrieben ihre nationalsozialistische „Gleichschaltung“ und verhafteten ihre Anführer.

Der 1. Mai: Eine ideologische Projektionsfläche

Nach dem Krieg erbte die junge Bundesrepublik Deutschland den weltlichen Mai-Feiertag. Oft strahlendes Frühsommerwetter, keine Maloche, und noch dazu kein Kirchenbesuch – der 1. Mai war der Lieblingsfeiertag der aufkommenden deutschen Freizeitgesellschaft. Immerhin, wer sich in den 60er und 70er Jahren gesellschaftlich engagierte, empfand es noch als edle Werktätigen-Pflicht, auf die gewerkschaftliche Maikundgebung zu gehen. Ein Großereignis war das, Zigtausende auf den Marktplätzen, die Radiosender übertrugen die Maikundgebungen aus verschiedenen Städten ihres Sendegebietes live in einer Konferenzschaltung wie am Samstagnachmittag die Bundesliga.

Abends dann, in der „Tagesschau“, da waren die Bilder aus Ostberlin und aus Moskau oder Peking zu sehen. Endlose Paraden defilierten vor den Tribünen, furchteinflößende Waffen rollten vorbei, fröhliche Erzieherinnen schwenkten gemeinsam mit den von ihnen beaufsichtigten Kindern im sozialistisch gradlinigen Gleichschritt die roten Fähnchen. In der kommunistischen Welt wurde der „Tag der Arbeit“ zu Schwerstarbeit für Paraden-Organisatoren und Ordensspangen-Festnäherinnen. Auf den Tribünen saßen alte Männer, die von der Situation der Werktätigen keine Ahnung hatten, sich aber als Vertreter der siegreichen Arbeiterklasse fühlten.

Neue Aufgaben für „Josef den Arbeiter“ aus der Weihnachtskrippe

In diesem ideologischen Getümmel rund um den „Tag der Arbeit“ wollte im Jahre 1955 ein anderer alter Mann nicht beiseite stehen. Der fast 80-jährige Papst Pius XII. erhob einen prominenten Zimmermann in den Status der „Arbeiters“ und machte damit den 1. Mai zu einem katholischen Gedenktag. Die Ehrung der Arbeit sollte nicht den atheistischen Systemen des Ostblocks allein überlassen bleiben. „Josef der Arbeiter“ heißt seither jener gütige, uneheliche Vater von Jesus, uns allen besser bekannt als der Mann neben dem Kindlein in der Weihnachtskrippe.

Prost! – Ein Hoch auf alle, die am 1. Mai arbeiten

August Spies hat sich das alles am 1. Mai 1886 bestimmt nicht so gedacht. Erreicht hat er einiges: Der 8-Stunden-Tag ist heute in den reichen Teilen der Welt die Regel. Und der arbeitsfreie Feiertag 1. Mai gilt in vielen Ländern für alle, die das Glück haben, den dafür passenden Beruf gewählt zu haben. Denn arbeitsfreier Feiertag für viele heißt besonders viel Arbeit für wenige, die auf unsere Sicherheit, unsere Gesundheit, unsere Mobilität achten – oder uns das Bier an den Biergartentisch schleppen.

Also lasst uns das Glas heben: Ein frisch gezapftes Maibock auf August Spies – und auf alle, die am 1. Mai arbeiten!

 

Zur Geschichte des 1. Mai siehe auch auf der Website des DGB: https://www.dgb.de/themen/++co++d199d80c-1291-11df-40df-00093d10fae2

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