Neue Fragen an Hubert Aiwanger

Vom „Scheiß in der Jugend“ und was seither geschah – Ein Brief

Hallo Herr Aiwanger,

ich hätte da noch ein paar Fragen! Sie brauchen zwar meine Stimme nicht, ich darf in Bayern nicht wählen. Sie brauchen auch mein Verständnis nicht.

Aber Sie reden ja auch von mir. „Jawohl, auch ich hab´ in meiner Jugend Scheiß gemacht“, haben sie bekenntnismutig gerufen vor ein paar Tagen beim Karpfhamer Volksfest in Niederbayern. „Auch ich“ haben Sie gesagt, und damit haben sich in eine Reihe gestellt mit uns allen, mit Menschen wie auch mich.

Meine Jugend liegt noch fünfzehn Jahre weiter zurück als die Ihre, aber einen Scheiß habe ich da auch schon gemacht. Möglicherweise kann ich mich besser als Sie daran erinnern. Mancher Scheiß war einmalig und lehrreich: Nie wieder wollte ich so ein ertapptes Häufchen Elend sein wie damals, als ich meinen Eltern gestehen musste, dass ich das Geld für den Ausflugsbus der Schülermitverwaltung zwar eingesammelt, aber dann für meine ersten Kneipenbesuche ausgegeben hatte. Und die stümperhaft gefälschte Unterschrift meines Vaters unter die Fünf in der Latein-Schulaufgabe büßte ich mit einer saftigen Ohrfeige, die ich nie vergessen werde, vor allem deshalb, weil mein Vater so gelitten hat an seiner vermeintlichen Pflicht zur Züchtigung.

Erinnern kann ich mich auch ganz genau …

…. an dumme Sprüche darüber, dass nicht alles falsch gewesen sei beim Hitler. Manchmal redeten meine Eltern so daher. Dazu kam, dass wir im Geschichtsunterricht gar nicht bis zum mörderischen „Dritten Reich“ gekommen sind. Immer war das Schuljahr zu Ende, und wir steckten immer noch im langweiligen Mittelalter fest. Auch an unappetitliche Witze über das Schicksal von Juden erinnere ich mich, die wir uns in dem Alter erzählt haben, in dem bei Ihnen ein Flugblatt im Schulranzen gefunden wurde.

Bei mir war es so: Ich habe mitgelacht, auch dümmlich weitererzählt, ahnungslos, denn ich kannte keine Juden. Es waren keine mehr da in unserer kleinen bayerischen Stadt, oder wenn doch, dann gaben sie sich nicht zu erkennen.

Jawohl, auch ich habe in meiner Jugend Scheiß gemacht.

Nun sind Sie in Bayern in einem hohen Staatsamt, und der Scheiß aus Ihrer Jugend wird Ihnen vorgehalten. Sie sind der Meinung, dass das unfair ist, weil es so lange zurückliegt, und halt ein Scheiß aus Ihrer Jugend sei. Damit ich beurteilen kann, ob das wirklich so ist, müsste ich schon ein wenig mehr wissen.

Deshalb kommen hier ein paar Fragen, …

… für die ich mich an meinen eigenen Erinnerungen orientiere, die ich aus den letzten fünfzig Jahren habe:

Waren Sie denn seit Ihrer Strafarbeit von 1987 und – wohlgemerkt! – vor der aktuellen Diskussion um Ihren „Scheiß in der Jugend“, also irgendwann einmal in den letzten 36 Jahren,  zu Besuch in Dachau oder Buchenwald? Oder gar in Auschwitz? Treblinka? In Dachau war ich zweimal, und jedes Mal hat mich das dort gezeigte Grauen so tief erschüttert, dass ich schließlich zu feige war, mir das Unbeschreibliche in Buchenwald noch einmal anzusehen. Und das, obwohl ich mehrere Jahre ganz in der Nähe von Weimar gelebt und gearbeitet habe. Es ist diese eigene Feigheit, die mich beschämt, und die ich noch überwinden will. Vor einem Besuch in Auschwitz fürchte ich mich noch mehr. Und auch vor der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Kennen Sie diese Furcht? Diese beiden Orte der Erinnerung habe ich noch nicht besucht. Waren Sie schon dort?

Herr Aiwanger, waren Sie in den letzten 36 Jahren schon einmal in der KZ-Gedenkstätte Dachau … (Foto: KZ-Gedenkstätte)

Sind Sie an einem dieser Orte auch stumm geworden …

… angesichts der Leichenberge, der Kisten mit herausgebrochenem Zahngold, der herausgeschmuggelten Fotos nackter Todgeweihter auf dem Weg in die Gaskammern?

Haben Sie es gespürt, das unermessliche, tödliche Grauen, das die sogenannten rechtschaffenen deutschen Bürger dort und an Millionen anderen Stellen angerichtet haben, viele aus fester innerer Überzeugung, vielleicht sogar als schweigende große Mehrheit?

Haben Sie den Film „Schindlers Liste“ gesehen?

Haben Sie sich auch, so wie ich, gequält herumgewälzt im Kinosessel, um der gewissenlosen, brutalen Unerbittlichkeit der Nazi-Schergen nicht weiter zusehen zu müssen?

Haben Sie „Mein Leben“ von Marcel Reich-Ranicki gelesen? Haben Sie mit ihm und mir gebangt und gelitten, als er von seiner Flucht erzählte, vom unfassbaren Glück, das ihn und seine Frau Tosia beschützte, als er seine letzte und einzige Chance nutzte, den sicher todbringenden Verfolgern im  Warschauer Ghetto doch noch zu entkommen?

Haben Sie einmal das Haus der Wannseekonferenz in Berlin besucht?

Haben Sie die eiskalte Sprache des gebeugten Rechtes gelesen, die zynischen Berechnungen nachvollzogen? Oder den Film gesehen, der die Konferenz der Nazimörder vom 20. Januar 1942 in Echtzeit nachstellt? Haben Sie die geschäftsmäßige Normalität dieses Behördentermins nacherlebt, die bleiern-bürokratische Atmosphäre einer lästigen Besprechung wahrgenommen, das dröge Vorbringen von Einzelinteressen ertragen, die niederträchtige Routine eines Verwaltungsalltags mit-durchlitten, in dem es um den Tod von Millionen ging?

… oder im Haus der Wannseekonferenz in Berlin?

Sind Sie schon einmal ganz allein, nur für sich, …

…. durch das Stelenfeld in Berlin gewandert? Haben Sie sich verirrt in diesem steinernen Labyrinth der Sprachlosigkeit, konnten Sie einen Moment innehalten, nachdenken, was es bedeutet, sechs Millionen Menschen auf dem deutschen, historischen, wenn auch nicht eigenen, Gewissen zu haben?

Haben Sie schon einmal innegehalten, ganz allein für sich, inmitten des Stelenfeldes am Brandenburger Tor? Oder …

Waren Sie schon einmal im NS-Dokumentationszentrum in München, um zu verstehen, dass das Grauen überall war, an jeder Straßenecke? Ich bin von Stuttgart dorthin gefahren – für Sie sind es von Ihren Ministerium aus nur wenige Schritte.

Waren Sie schon einmal in einem jüdischen Museum?

Mir wurde erst beim Besuch des Jüdischen Museums in Berlin so wirklich bewusst, dass unsere Großväter und Väter mit dem systematischen Töten der Menschen auch eine große Kultur zu zerstören versucht haben. Wann haben Sie das verstanden und auch so empfunden?

… kennen Sie den jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee?

Und waren Sie schon einmal auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee? Sind Sie schon einmal dort zwischen den mehr als 100.000 Gräbern herumgewandert, haben die vergessenen Namen gelesen, vor den verfallenden Familiengräbern verharrt, auf deren stolzem Marmor noch viel Platz gewesen wäre, aber nach 1933 niemand mehr bestattet wurde?

 

Alles das, Herr Aiwanger, liegt hinter mir.

Nichts davon ist ungewöhnlich. Millionen Menschen, die nach 1945 in Deutschland geboren wurden, mussten lernen, dass mancher Scheiß in der Jugend nicht nur irgendein dummer Unsinn war, nicht nur ein Bier zu viel am prallvollen Schanktresen des Lebens. Sondern eine Schuld, die man sich aufgeladen hat.

Nun sagen Sie in Ihren Antworten an Ihren Ministerpräsidenten, man solle Ihnen nach dem Scheiß in der Jugend doch einen „Entwicklungs- und Reifeprozess zugestehen“. Mache ich gerne, Herr Aiwanger, aber dafür bräuchte ich Ihre Antworten. Ich warte!

 

Der Film „Die Wannseekonferenz“ ist noch bis 17. Januar 2024 in der ZDF-Mediathek verfügbar.

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Die Fünfe gerade kleben lassen?

Über Gelassenheit und den Sand im Getriebe

So eine Spielstraße hat ein wechselvolles Leben. Vor vielen Jahren waren alle Häuser neu und die Straße war voller Kinder, tobend, tanzend, seilhüpfend beherrschten sie den damals noch frisch getrockneten Asphalt. Wenn ein Paket gebracht wurde, war das ein seltenes Ereignis, und es kam in einem gelben Postauto, das vorsichtig zwischen den spielenden Kindern hindurch schlich. Ist ja eine Spielstraße.

Kein Rechtsbruch: Diese fünf Finger kleben nicht auf dem Asphalt, und sie sind gerade – ein Signal für friedliches Miteinander.
Ein Rechtsbruch: Es ist verboten, Zigarettenkippen auf die Straße zu werfen. Trotzdem geschieht es täglich. Ein Fall für „Fünfe gerade sein lassen“?

Dann wuchsen die Kinder wie auch die Büsche und Bäume. Bald waren sie groß genug, um den Jugendlichen, die hier mal als Kinder herumsprangen, Schatten zu spenden für ihre Treffen, für die ersten heimlichen Zigaretten, den billigen Fusel und die Chipstüten aus dem Supermarkt. Dann zerstreuten sich die Jugendlichen in alle Welt und niemand spielte mehr auf der Spielstraße. Die Autos eroberten sie sich zurück, darunter auch die verschiedenen bunten, nicht mehr nur gelben Transporter.

Inzwischen sind neue Familien eingezogen und warten auf ihre vielen Pakete. Hurtig brettern die getriebenen Fahrer durch die Spielstraße. Nun sind da aber auch wieder Kinder, die Fangen spielen oder Fußball und Seiltanzen. Hier nur Schrittgeschwindigkeit!, mahnen besorgte Eltern. Da staunt der Lieferant: Ach, sagt er, wissen Sie, wie viele Pakete ich noch zu liefern habe? Man muss auch mal fünfe gerade sein lassen. Ist ja noch nichts passiert.

Ist ja noch nichts passiert

An der Ecke, neben seiner Stammkneipe, steht der rauchende Rentner, der da immer steht. Früher, sagt er, früher hab´ ich da nicht so drauf geachtet. Wenn die Zigarette zu Ende war, dann hab´ ich die Kippen einfach auf den Boden geworfen. Kennt jeder: Kippen auf der Straße. Oder vor einem fährt ein Auto, und aus dem Fenster fliegt der noch glühende Zigarettenstummel.

Streng genommen wär´s verboten

Streng genommen, ergibt die Internet-Recherche, ist das eigentlich verboten. Rücksichtslos und gefährlich ist es auch, Kippen sind umweltschädlich, giftig, gefährden die Gesundheit vor allem von Kindern, und können Brände auslösen. Trotzdem liegen Milliarden Zigarettenstummel auf unseren Straßen und Wegen.

Früher hab´ ich gedacht, sagt der rauchende Rentner, was kümmert mich das? Muss man mal fünfe gerade sein lassen. Aber jetzt, sagt er, mach ich das nicht mehr. Er zieht eine kleine Metallschachtel aus der Hosentasche.

Bringt Gelassenheit Deutschland nach vorne?

So ein Döschen hat Bundeskanzler Olaf Scholz sinnbildlich den Deutschen verordnet, als er im Rahmen seiner Sommerpressekonferenz vor wenigen Tagen mehr Gelassenheit empfohlen hat. Es brauche mehr Kompromisse, in der Politik und auch in unserem gesellschaftlichen Diskurs. „Kompromisse finden und Fünfe gerade sein lassen, das bringt Deutschland nach vorne.“

Der Redewendung von den geraden Fünfen ist nicht etwa ein Plädoyer für weniger Genauigkeit in der Mathematik, sondern stammt aus dem Mittelalter und bedeutete: Wer „die Fünfe gerade sein lässt“, der ballt die fünf Finger seiner Hand nicht zur Faust. Dies konnte als Friedenssignal gedeutet werden, denn wenn es anders war, drohte Gewalt.

Also kein Faustschlag in das Gesicht der Raucher, die ihre Kippen einfach fallen lassen, keine Handgreiflichkeiten gegen den eiligen Paketboten. Der Kompromiss lautet: Dein Verhalten ist ist grenzwertig, aber ich toleriere es, es ist keiner Gewalt würdig.

Der Sand im Getriebe fordert Gelassenheit

Solche Gelassenheit könnte auch das Motto sein im Umgang mit denjenigen, die ihre Fünfe auf den Asphalt kleben, um auf einen unbestreitbaren Missstand hinzuweisen. Immerhin ist diese Aktionsform ein Musterbeispiel für gewaltfreien Widerstand im Sinne der Redewendung: Wenn die Finger mal kleben, dann wird es ganz sicher erstmal nichts mit einer Faust.

Der Kanzler hat die Klimakleber bei anderem Anlass einmal als „bekloppt“ bezeichnet. Das darf man so sehen, wenn man möchte, aber sein Motto von der Gelassenheit und dem „Fünfe gerade sein lassen“ passt doch gut auch auf viele Situation, die von den festgeklebten Blockaden verursacht werden. Schon blöd, dass viele dann nicht weiterfahren können, manche Pakete die Spielstraße nicht pünktlich erreichen, der Tagesplan durcheinandergerät. Auch die Straßenreinigung bleibt stecken, die sich um die Kippen kümmert. Es ist der Sand im Getriebe des Alltags, der Gelassenheit erfordert. Der Ärger darüber ist gut zu verstehen, so wie Ärger über einen Bahnstreik, oder den Selbstmörder, der den Zug aufhält, oder die Kita-Schließung wegen Personalausfällen.

Nein, nein, wird da nun schnell jemand rufen, das ist ja ganz etwas anderes! Der Streik ist legitim, und der Krankenstand der Erzieher auch, aber den Verkehr behindern, das ist doch ein Rechtsbruch! Das ist kein Fall für Gelassenheit, sondern für die ganze Unerbittlichkeit des Rechtsstaates!

Mag sein, nur gilt das auch für die weggeworfenen Zigarettenkippen und das flinke Tempo in der Spielstraße. Die Faust zu ballen, wird in allen diesen Situationen wenig helfen.

 

Über die Entstehung der Redewendung „Die Fünfe gerade sein lassen“ kann man z.B. hier mehr erfahren: https://www.abendblatt.de/region/stormarn/article205497179/Warum-kann-man-fuenf-gerade-sein-lassen.html

Die Sommerpressekonferenz von Bundeskanzler Olaf Scholz gibt’s nachzuerleben bei Phoenix via YouTube:  https://www.youtube.com/live/ft4HZittxKk?feature=share

 

 

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Deutschland. Aber zum Abgewöhnen.

Fünf Szenen aus einem Sommer der politischen Unkultur

Die erste: Ein Kind im Bundestag

Das könnte Deutschland sein, aber normal: Eine erwachsene Frau, gut vierzig Jahre alt, engagiert im Beruf und in der Familie, ein Kind, freut sich auf den bevorstehenden Sommerurlaub. Zum letzten Arbeitstag hat sie ihr Kind, das gerade so laufen kann, mit an den Arbeitsplatz gebracht, warum auch immer. Niemand hat ein Problem damit.

Ein Kleinkind läuft durch die Lobby des Bundestages. Die Mutter muss zur Abstimmung, kurz vor dem Sommerurlaub. So normal ist Deutschland. Aber der Mob regt sich auf. Foto: Katharina Beck via Twitter

Weil sie Bundestagsabgeordnete ist, läuft der letzte Arbeitstag vor dem Sommerurlaub anders als geplant. Auch das ist normal, könnte in jeder anderen Arbeit auch so sein. Die AfD, die in ihrem Claim „Deutschland, aber normal“ verspricht, hat an diesem späten Freitagnachmittag eine sogenannte „Hammelsprung“-Abstimmung erzwungen. Die Rechtspopulisten wollen feststellen lassen, ob das Parlament in den letzten Stunden der parlamentarischen Arbeit vor der Sommerpause noch beschlussfähig ist. Ein wichtiges Gesetz wird damit aufgehalten, kann erst im September verabschiedet werden. Aber darum geht es der AfD nicht. Sie will die demokratische Mehrheit vorführen: Die AfD-Abgeordneten vermuten, dass viele ihrer Parlamentskolleg/innen aus den anderen Parteien bereits in den Sommerurlaub gestartet sind. Damit die Abstimmung auch das von der AfD erhoffte Ergebnis erbringt (zu wenige anwesend, also keine Beschlussfähigkeit), nehmen viele AfD-Abgeordnete selbst nicht an dem von ihr beantragten „Hammelsprung“ (also dem Zählen an unterschiedlichen Eingangstüren) teil, obwohl sie eigentlich anwesend wären.

Die Abgeordnete mit dem Kind ist im Gegensatz dazu anwesend und nimmt teil. Zur Abstimmung nimmt sie ihr kleines Kind mit. Und sie veröffentlicht dazu ein Foto auf Twitter. Zu sehen ist ein Kleinkind, das durch die Lobby des Reichstagsgebäudes wackelt. Die Abgeordnete schreibt dazu: „Zu einem Hammelsprung am späten Nachmittag gehört für manche auch, die Pläne mit den Kleinen anzupassen.“

Wenige Minuten nach Veröffentlichung des Bildes bricht ein Shitstorm über die Abgeordnete und Mutter Katharina Beck aus Hamburg herein: Sie solle sich nicht so leidtun! Das sei der Arbeitsalltag ganz vieler Mütter, dass sie auch mal Pläne mit Kindern umschmeißen müssen! Die Alleinerziehende, die um 21 Uhr beim Lidl sitzt, habe sicherlich geweint bei diesem Foto! Sie werde vom Steuerzahler hoch alimentiert als Abgeordnete!

Katharina Beck wehrt sich: Sie habe sich weder beklagt noch etwas über andere Mütter gesagt. Sie habe nur ihren Alltag geteilt, wie es Millionen tun. Es nutzt wenig. Die virtuelle Diskussion ufert aus, es gibt Parteinahmen für und gegen das Foto, schließlich ebbt der Disput ab, eine neue Geschichte zieht die Aufmerksamkeit auf sich.

Ist das Deutschland? Ja, aber zum Abgewöhnen.

Die zweite: Arme Frauen werden „zur Kasse gebeten“

Wofür sind Wissenschaftler/innen da? Sie sollen forschen, nachdenken, anregen. Eine Wirtschaftsprofessorin regt also in einem Interview an, über die Abschaffung der Witwer/-Witwenrente nachzudenken. Dass Menschen eine Rente bekommen, für die sie selbst niemals eingezahlt haben, sei ungerecht. Es führe zum Beispiel dazu, dass alleinerziehende Mütter mit ihren Beiträgen Renten von wohlhabenden Hinterbliebenen mitfinanzieren.

Man kann diesen Vorschlag kritisieren. Aber sofort macht sich die Meute auf den Weg: ein sozialpolitischer Kahlschlag drohe, die Lebensleistung der älteren Menschen werde zerstört, das Ganze sei ein „Angriff auf Familien“. Hört noch jemand zu? Hat noch jemand die Argumentation der „Wirtschaftsweisen“ Monika Schnitzler überhaupt gelesen und abgewogen? Hat jemand vernommen, dass sie in ihrem Denkanstoß – und nichts mehr war ihre Äußerung – bestehende Witwen- und Witwer-Renten garantieren möchte? Dass der Vorschlag ohnehin nur Teil einer grundlegenden Rentenreform sein könnte?

Nein, niemand hört zu. „Viele Frauen, die heute Witwenrente beziehen, hatten früher nicht die Möglichkeiten, Familie und Beruf so zu vereinen, wie das heute möglich ist. Sie haben eine kleine Rente. Diese Frauen jetzt zur Kasse zu bitten, um die Rente zu sanieren, ist zynisch“, schreibt der Bundestagsabgeordnete Kai Whittaker (CDU) auf Twitter (zitiert nach FAZ).

Geht es Frau Schnitzler darum, „diese Frauen jetzt zur Kasse zu bitten“? Nein. Aber die Angst zu schüren, dass nun bald den armen Witwen von heute ihre kleinen Renten gestrichen werden – das kommt der Meute der Denkfaulen und Erregungsfanatiker gerade Recht.

Ist das Deutschland? Ja, aber zum Abgewöhnen.

Die dritte: Süßigkeiten sollen verboten werden

Der eine Enkel mag gar keine Schokolade, die andere Enkelin schon, aber sie bekommt sie nur selten. Seit ihrer Geburt wachen die Eltern akribisch darüber, dass Oma und Opa nicht mit zu vielen Süßigkeiten die Geschmackssinne ihrer Kinder verderben. Und sie haben Recht: Jeder Schwimmbadbesuch zeigt, dass Übergewicht bei vielen Kindern ein Problem ist. Die Gesundheitsgefahren von zu hohem Gewicht schon im Kindesalter sind ohnehin fachlich unbestritten.

In dieser Lage macht ein Verbraucherschutzminister einen Vorschlag: Man solle gesetzlich untersagen, für ungesunde, überzuckerte Lebensmittel im Umkreis von Kindertagesstätten und Schulen werben zu dürfen. Oder entsprechende Fernsehwerbung in Sendungen zu platzieren, die sich an Kinder richten.

Aber der Mob der Populisten interessiert sich nicht für die Gesundheit der Kinder. Den Mob kümmert auch nicht die Chancengleichheit, er ignoriert die evident festgestellten sozialen Unterschiede, in denen Kinder aufwachsen. Es sind Unterschiede zwischen bildungsstarken und bildungsschwachen Elternhäusern und den damit verbundenen Gesundheitschancen.

Warum nachdenken oder abwägen, wenn man auch Krawall machen kann: „Ob Kinder Süßigkeiten bekommen, sollten die Eltern und nicht ein grüner Minister entscheiden“, erklärte der CSU-Ministerpräsident Markus Söder zum Vorschlag des grünen Ministers Cem Özdemir. Geht es überhaupt um ein Verbot des Konsums? Nein, es geht um Stimmungsmache: nicht zuhören wollen, nichts verstehen wollen, aber verantwortungslos draufschlagen.

Ist das Deutschland? Ja, aber zum Abgewöhnen.

Die vierte: Die Ersteigung des „Gipfels der Doppelmoral“

Ein Land ringt um seine Freiheit. Es benötigt Waffen für seinen Kampf, und es benötigt für diese Waffen Munition. Eine Weltmacht ist bereit, dem angegriffenen Land auch eine besonders hinterhältig tödliche Art von Munition zu liefern. Viele Länder auf der Welt, auch Deutschland, haben genau diese Art von Munition als so inhuman bezeichnet, dass sie sich vertraglich verpflichtet haben, sie weder zu besitze, noch weiter zu verbreiten. Die Ukraine ist einem solchen völkerrechtlich vereinbarten Verbot der grausamen Streumunition nie beigetreten, die USA auch nicht. Das macht sie nicht besser, aber formal völkerrechtlich spricht also nichts gegen eine solche Lieferung. Moralisch wohl schon. Obwohl andererseits, nach allem, was Experten berichten, die Ukraine von Russland bereits mit genau dieser grausam-tödlichen Munition angegriffen wurde.

Was immer eine deutsche Regierung tut, ist falsch. Verurteilt oder blockiert sie die Lieferung durch die USA (falls das überhaupt möglich wäre), schwächt sie die Ukraine. Tut sie es nicht, widerspricht sie ihren eigenen Prinzipien.

Wie ist eine solche Situation üblicherweise zu nennen? Ein Dilemma. Wie nennt die Linken-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen den Vorgang? „Gipfel der Doppelmoral“, eine „Bankrotterklärung“ für die deutsche Politik sei es, die USA nicht von der Lieferung der Streumunition abzuhalten. Keine Mühe ist spürbar, den unentrinnbaren Zwiespalt zu verstehen, anzuerkennen, dass alles falsch sein könnte, was immer man tut. Keine Differenzierung, kein Nachdenken, kein Innehalten.

Ist das Deutschland? Ja, aber zum Abgewöhnen.

Die fünfte: Der Verlust deutscher „Energie-Souveränität“

Der europäische Strommarkt ist komplex, und alle profitieren davon, dass er eng vernetzt ist. Deutschland exportiert dabei mehr Strom, als es importiert. Soweit die Fakten. Was macht der Mob daraus? Grafik: https://energy-charts.info/charts/import_export/chart.htm?l=de&c=DE&interval=year

„Die Ampel hat mit dem Abschalten der nationalen Kernkraftwerke die Energie-Souveränität Deutschlands ins Wanken gebracht. Statt ausreichend Strom in Deutschland zu produzieren, sind wir jetzt auf Atomstrom aus Frankreich angewiesen.“ Zitat des CSU-Politikers Stefan Müller gegenüber der Bild-Zeitung. Die Grünen hätten aus ideologischen Gründen die letzten deutschen Atomkraftwerke abgeschaltet, „um am Ende den Atomstrom von Frankreich zu importieren“, plappert auch Markus Söder bei Sandra Maischberger hinterher.

Was davon stimmt? Nichts. Eine deutsche „Energie Souveränität“ hat es nie gegeben und ist in der Idee eines europäischen Strommarktes weder angelegt noch wünschenswert. Deutschland exportiert deutlich mehr Strom als es importiert. Das gilt auch für den Im- und Expert zu und von Frankreich.

Unbegründete Panik schürt Missmut. Und was folgt danach?

Interessiert das irgendjemanden, der gegenteilige Behauptungen aufstellt? Bemühen sich Medien und Politik, die Diskussion der Öffentlichkeit durch redliche Diskussionen zu bereichern? Manche schon, in allen demokratischen Parteien. Und viele Qualitätsmedien auch. Aber oft wird nur noch der Ausschnitt der Wahrnehmung mitgeteilt, der ins eigene Bild passt. Die Medienmacht der Bild-Zeitung verfolgt dabei offenkundig eine eigene Agenda: Panik zu schüren fördert Verkaufszahlen und Klicks, beide steigern die Werbeeinnahmen. Und Teile der Politik hoffen zu profitieren, wenn verunsicherte Wahlbürger irgendwann mal zur Urne gerufen werden. „Es denen da oben mal zeigen“, raunen einzelne der so Umworbenen dann missmutig in die Kameras und Mikrofone.

Ist das Deutschland? Ja, aber zum Abgewöhnen. Es ist Zeit zum Innehalten.

 

 

Hier ein paar Quellen für eine differenzierte Wahrnehmung der Tatsachen:

Der Tweet von Katharina Beck und die Kommentare dazu: https://twitter.com/kathabeck/status/1677331518350303237

Zur Witwenrente: https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/witwenrente-rente-sachverstaendigenrat-1.6012742

Das plant Cem Özdemier wirklich in Sachen Werbeverbot für Süßigkeiten: https://www.bmel.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2023/024-lebensmittelwerbung-kinder.html

Zu den Streubomben: https://www.streubomben.de/streubomben/laender/streubomben-in-der-ukraine/#c21982

Zur angeblichen „Energie-Souveränität“, die Deutschland verloren habe:https://www.energy-charts.info/index.html?l=de&c=DE und ein Artikel aus dem SPIEGEL, der die Daten einordnet: https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/energieversorgung-bild-union-und-afd-vereint-in-prepperfantasien-kolumne-a-ac81cfe7-5c7a-4fe6-adda-430d869fe9a4

 

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Das Bädle und die große Politik

Beim Schwimmen drängen sich die originellsten Gedanken ins Bewusstsein. Einer davon: Die einen baden hier zum Vergnügen, andere ertrinken im Mittelmeer. Foto: lizenzfrei von Ben_Kerckx via pixabay

Abseitige Gedanken eines Schwimmers

So ein Bädle ist eine entspannte Sache, wenn es heiß ist. Sie fragen sich, was ein Bädle ist? Ein kleines Schwimmbad. Ein Sommerfreibad mit nur zwei Becken; eines für Schwimmer und eines für solche, die es werden wollen. Ein Kinderplanschbecken. Eine Liegewiese. Pommes oder Gyros gibt´s beim Griechen, der das Bistro betreibt. Fertig. Kein Schnickschnack, kein Strömungskanal, keine Wasserrutsche. Dafür ein Liegenraum, auf den wir noch zu sprechen kommen werden.

Sie fragen sich vermutlich schon nicht mehr, wo es so ein Bädle gibt. Die Verniedlichung verrät das südwestdeutsche Idiom. Wir schwimmen in Stuttgart, im Norden der Metropole, ein von der Industrie geprägter Vorort der Großstadt. Mehr als die Hälfte der Einwohner hat einen sogenannten „Migrationshintergrund“. Viele davon trifft man auch im Bädle.

Lust auf eine Abkühlung?

Dann kommen Sie doch bitte herein ins Schwimmerbecken, ein paar Bahnen ziehen. Vorher duschen! Den schaurig schönen Kälteschock genießen, losschwimmen. Heute ist es hier ganz entspannt, aber am Wochenende wird es voll im Bädle. Und wenn man mit den Schwimmmeistern spricht, erzählen sie davon, dass es manchmal Ärger gibt. Zu heiß, zu viele Leute, zu wenig Platz. Auch Leute, die sich daneben benehmen. Dann muss man halt eingreifen.

Aber noch nie hat man was von ernsthaften Problemen gehört im Bädle. Keine tödlichen Badeunfälle. Niemand ertrunken. Niemand ertrunken – war da nicht was?

Nicht schlappmachen! Weiterschwimmen!

Wenn es Ihnen zu langweilig ist, schauen Sie sich mal die Plakate links und rechts an. Das Bädle ist ein öffentliches Freibad, aber nicht von der Kommune getragen. Ein Sportverein ist Hausherr im Bädle. Ehrenamtliche leiten den Vorstand, kümmern sich um Anträge und die Einhaltung der Gesetze, stellen das Personal ein, das für Ordnung sorgt. Freiwillige Helfer decken abends die Becken ab, damit das Wasser nachts nicht so auskühlt und man Energie sparen kann.

Eine Bahn mehr, kurzer Stopp am Beckenrand, und dann zurückschwimmen!

Also, was hängen denn da für Plakate? Werbung ist das; der Sportverein ist auf alle Einnahmen angewiesen. Ein örtlicher Heizungsbauer und ein Autohaus preisen sich da, auch die letzte Bank, die noch eine mit Menschen besetzte Filiale hat im Stadtteil. Und ein Immobilienmakler. Wer im Bädle schwimmt, kann über Hauskauf oder –verkauf nachdenken, renoviert auch mal sein eigenes Bad, kauft sich ein neues Auto. Hat Geld auf der Bank. Vielleicht nicht viel, aber genug, dass sich die Bank die Werbung leistet.

Noch eine Bahn?

Klar! Aber aufpassen auf die langsam rückwärts schwimmende Rentnerin! Rücksicht ist angesagt im Bädle. Hier sind die „normalen“ Leute versammelt, von denen manche Politiker so gerne reden. Ist das ein Luxus-Millionär, der da auf der Bahn hurtig entgegengeschwommen kommt? Nein, Unsinn, nur ein sportlich ambitionierter Freizeit-Kampfschwimmer. Braucht immer eine Bahn für sich, müssen die anderen halt ausweichen. Das sind eben normale Leute hier mit normalem schwäbischem Wohlstand, egal wo sie geboren wurden. Fleißige Leute in ihrer Freizeit schwimmen hier, oder Rentner, die mal fleißig gewesen sind. Wer wollte irgendwem auf der Welt verübeln, wenn sie oder er auch so leben will, auch mit so einem Bädle?

Wunderbar erfrischend, das Wasser!

So friedlich plätschert es herum im rechteckigen Becken! Selbst bei ruhiger See sind die Wellen im Mittelmeer bestimmt fünfmal so hoch wie das Kräuseln hier im Bädle. Und das Meer ist tausendmal so tief wie hier, wo wir noch stehen können.

Komischer Gedanke. Wie kommt man denn auf sowas? Gibt ja keinen Zusammenhang zwischen dem Bädle und den Bedauernswerten, die sich durch die öden Wüsten Afrikas bis zum Mittelmeer durchkämpfen, um dann Gefahr zu laufen, in seinen Fluten zu ertrinken.

Noch eine Bahn? Oder lieber raus und die Sonne genießen? In Ordnung, noch eine Bahn.

Neulich erst war zu lesen, dass andere Freibäder in diesem Sommer weniger öffnen können, weil ihnen das Personal fehlt. Gilt nicht nur für Freibäder. Überall in Deutschland mangelt es an Fachkräften, auch an ungelernten Händen. Die Berichte darüber füllen so viele Zeitungsspalten wie alle Schwimmbäder zusammen Bahnen haben.

Genug geschwommen? Als raus jetzt.

Aber vielleicht besser im Schatten lagern bei der Hitze? Ja klar, im Bädle gibt’s auf der Liegewiese alles, was man haben möchte: Pralle Sonne für die Bräunungsfanatiker, oder guter Schatten unter dichten Bäumen. Die Leute in den Wüsten und auf so einem Schrottkahn im Mittelmeer, die haben übrigens keine solche Wahl. Entschuldigung, schon wieder so ein abseitiger Gedanke.

Also in den Schatten. Sie haben eine Decke dabei? Gut so.

Mir ist das zu unbequem. Ich brauche eine Liege. Und weil das Bädle ein Verein ist, und nicht nur ein öffentliches Schwimmbad, haben Mitglieder des Bädlevereins Sonderrechte – sie dürfen zum Beispiel ihre eigene Liege in einen Liegenraum einstellen.

Das wollen Sie sehen?

Jede Menge Platz im Liegenraum. Nicht nur dort, denkt sich der Schwimmer …

Na, dann kommen Sie mal mit. So schön deutsch ist das dort! Ein ganz kleines Zimmerchen ist der Liegenraum nur, aber wunderbare metallene Regale füllen ihn bis oben hin. Akkurat reingezirkelt sind die bequemen Klappgestelle dort; manche Liegenbesitzer misstrauen ihren Vereinsfreunden und schließen ihre Liegen mit einem Schloss ab, andere sichern sich mit kleinen Zettelchen die besten Liegenlagerplätze. Fast wie im Urlaub am Mittelmeer. So sind wir Deutsche eben. Dabei ist die Hälfte der Liegen-Fächer leer. Es ist Platz da für alle.

Das war nicht immer so, sollten Sie wissen! Ein regelrechter Verhau war dieser Raum gewesen, Liegen über Liegen stapelten sich in den Fächern und daneben und darüber und am Boden, manche verdächtig verstaubt, verbleicht, angerostet. Dann hatte der Verein eine Idee: Alle Mitglieder wurden aufgefordert, zum Saisonende ihre Liegen für einen Winter abzuholen. Was danach noch herumlag, wurde entsorgt. Und jetzt: Jede Menge Platz im Liegenraum.

Ein Windhauch. Wunderbar kühl auf der noch nassen Haut, nicht wahr? So ein friedlicher Ort, dieses Bädle.

Wir haben doch eigentlich Platz hier, oder?

Und brauchen Leute, damit wir die Arbeit erledigt bekommen. Warum investieren wir dann also viel Geld in die Abschottung an den europäischen Außengrenzen, anstatt in die Ausbildung für diejenigen, die zu uns kommen wollen?

Jetzt reicht´s Ihnen, sagen Sie? Schluss mit Politik auf der Liegewiese?

Ist ja gut. Ich meine ja nur, weil – weil doch hier im Bädle noch niemand ertrunken ist. Wäre uns ja auch nicht egal, oder?

 

 

Das hier angesprochene „Bädle“ gibt es wirklich und heißt auch so: https://www.ssv-zuffenhausen.de/freibad-baedle/

Inspiriert zu dem Text hat mich unter anderem das Gespräch zwischen Carolin Emke und dem Sozialwissenschaftler und Asyl-Experten Karl Kopp im Podcast „In aller Ruhe“ der Süddeutschen Zeitung. Die inakzeptablen Folgen einer europäischen Asylpolitik, die auf Abschottung setzt, werden dort bewusst gemacht.

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Die allerletzte Generation – Eine Polemik

Die letzte Generation? Zur Illustration des Textes dieser Polemik müssen hier symbolisch  jene sechs rechtschaffenen Bürger von Calais herhalten, die im 14. Jahrhundert bereit gewesen waren, ihr Leben zu opfern, damit ihre Stadt nach elf Monaten Belagerung vor Plünderung und Zerstörung bewahrt werden konnte. Ihr Mut beeindruckte die Frau des siegreichen englischen Königs Edward III. so sehr, dass sie bei Ihrem Gemahl einen Verzicht auf die Hinrichtung der sechs erreichte. Das Foto zeigt eine Vorstudie zur späteren Skulptur in lebensgroßen Figuren von Auguste Rodin (gesehen im Musée Rodin, Paris).

 

Schaut hin!

Schaut hin, da kommt er heran, der große Marsch der allerletzten Generation! Ein Zug von düsteren Gestalten nähert sich. Sind es Totengräber?

Vorne: Die Populisten

Vorne voran stapft schaufelschwingend die wohlgeordnete Abteilung der schwarzbraunen Populisten. Sie sind Schnäppchenjäger! Ihre Spaten haben sie im großen Kaufhaus der Vereinfachungen erworben. Jetzt, hier im großen Marsch, brüsten sie sich mit nationalem Stolz, aber dass ihre billigen Werkzeuge aus China oder Russland stammen, stört sie nicht. Daheim verschanzen sie ihre SUVs, die Statussymbole ihrer gedanklichen Ärmlichkeit, gut sichtbar hinter den hässlichen Zäunen ihrer gasbeheizten Reihenhäuser, ganz so wie dies früher ihre Väter mit den Gartenzwergen taten.

Einige von ihnen rasieren sich die Köpfe und tragen Springerstiefel. Manche arbeiten bei Springer und verätzen mit ihrem Gift den Konsens der Willigen. Viele aber stecken in maßgeschneiderten Anzügen und sonnen sich im Licht ihrer Ämter und Mandate. Sie verweigern sich bewusst kenntnisgetriebener Debatte, zum eigenen Vorteil lügen sie und missverstehen böswillig. Geschichtsvergessen und dummdreist schläfern sie ihr Publikum ein mit fadenscheinigen Versprechungen: Dass wir so weiterleben könnten wie bisher, oder dass wir noch Zeit hätten, bis das Klima kippt.

Dann: Die Besserwisser

Dahinter die nächste Abteilung im großen Marsch: Laut krakeelen die Besserwisser, die schon immer wussten, was richtig ist oder falsch, und doch gebückt daherkommen unter der schweren Last des Irrtums. Gnadenlos sind sie mit ihren Mitmenschen. Jeden grüblerischen Zweifel deuten sie als Schwäche, die sie mit Häme und Hass überziehen. Im kräftigen Bogen schütten sie Benzin auf das Publikum, damit es lichterloh brennen möge im Streit der Meinungen, damit nur niemand Luft holen kann zum Zuhören und Nachdenken. Denn das Zuhören, das Abwägen, das Nachdenken hassen die Besserwisser am allermeisten.

Weiter: Die Selbstgerechten

Was für ein Lärm dringt da voran? Laut und schrill tönen die Trompeten der Selbstgerechten. Eine Marschkapelle haben sie mitgebracht, aber sie spielt falsch. Die grünen, roten und gelben Töne passen nicht aufeinander. Ein Jedes hier macht seine eigene Musik, ohrenbetäubende Kakophonie bedrängt die Szene. Einige fordern lautstark mehr Tempo, andere stolzieren, staunend wie uneinsichtige Geisterfahrer, in die gegensätzliche Richtung.

Erschreckt wendet sich das Volk ab, hält sich die Ohren zu, blickt um sich, sucht den Dirigenten dieses Chaosorchesters. Da kommt er, ganz allein schlurft er hinter seiner tobenden Kapelle her, der Kanzler, der die ständigen Respektlosigkeiten seiner Musikanten duldet, obwohl er einst Respekt versprochen hatte.

In der Mitte: Die Masse der Unpolitischen

Die große Masse der Unpolitischen trottet heran. Schlaff am Boden schleift ihr Fähnchen, das sie in den Wind halten wollen. Jederzeit sind sie bereit, sich benachteiligt zu fühlen in einer Welt, die ihnen alles gibt zum Erhalt ihrer eigenen Dürftigkeit. Wohlig wichtig fühlen sie sich dabei, „wütend“ zu sein auf einen Staat, von dem sie erwarten, dass er sie versorgt mit Schulen, Straßen und Sozialleistungen. Von dem sie Sicherheit und Schutz erwarten, immer die Polizei in Bereitschaft, und dann Gerechtigkeit im Rechtsstaat, für dessen Erhalt sie aber keinen Finger krumm machen würden. Während sie sich diebisch freuen über jeden eingesparten Steuer-Euro, schimpfen sie lautstark über die verspätete Bahn und jede Straßenbaustelle.

Am Ende: Die schwarzen Männer der Kirche.

Nun ist er ganz still, der große Marsch. Stumm schreiten die schwarzen Männer der Kirche heran. Den Blick meist scheinheilig zum Himmel gerichtet, haben sie nichts zu sagen. Dabei könnten sie Haltung zeigen, könnten für die Werte einstehen, die hier Gefahr laufen, dass sie zu Grabe getragen werden: Toleranz, Respekt, Erhalt der Lebensgrundlagen. Aber die Kirchenmänner sind zu beschäftigt mit sich selbst. Schwer schleppen sie an ihrem Versagen, suchend blicken sie um sich nach den Sündern in ihren lichten Reihen.

Wo sind die Frauen?

Männer, fast nur Männer bisher! Wo sind die Frauen in diesem Marsch? Einzelne marschieren mit. Aber Männer sind und waren es, die sie an den Rand geschoben haben, und manche haben sich sogar schieben lassen. Es wäre Zeit, dass sie ihren  Männern in den Arm fallen, wenn diese mit vereinten Kräften sich schuldig machen an der Zukunft, wenn sie die Uhr zurückdrehen wollen in Zeiten ohne „Wokeness“, aber mit geduldetem Sexismus, rassistischen Übergriffen und Herabsetzungen.

Dann steht die Kolonne still

Da stockt der lange Marsch. Die Kolonnen stehen still. Junge Menschen haben sich ihm in den Weg gestellt, viele Frauen, alle voller Energie, aber auch voller aggressiver Ängstlichkeit. In Panik um ihre eigene Zukunft schwingen sie die Sekundenkleber und Farbeimer. Sie schreien sich und den Marschierern ihren grausigen Verdacht ins Gesicht: Ist es unsere Zukunft, die Ihr mit Euren Schaufeln verscharren wollt im schon erhitzten Erdreich der Dürre, im Schlamm der Überschwemmungen? Sie lärmen und zetern und zappeln, nicht immer klug, aber mit dem Mut der Verzweiflung.

Aber die Populisten an der Spitze des großen Marsches stopfen sich die Ohren zu, damit sie das Geschrei nicht hören müssen, das sie aufhalten will. Schon trampeln sie hinweg über die festgeklebten Hände, und alle anderen trotten hinterher.

So zieht er weiter, der große Marsch der allerletzten Generation, und der Abgrund naht.

 

Mit dem Begriff „Wokeness“ und seiner missbräuchlichen Nutzung als Schimpfwort habe ich mich auch in einem Text auseinandergesetzt, der anlässlich der Ausstellung „What happened“ mit Werken von Nicole Eisenman im Museum Brandhorst in München entstanden ist. Sie finden ihn hier.

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Die „Bürger von Calais“ habe ich hier etwas missbräuchlich zur Illustration herangezogen. Unabhängig von meinem Text ist die Geschichte ihres Opfergangs interessant zu lesen, und vielleicht lässt sie auch darüber nachdenken, was wir heute bereit sind zu opfern für unsere Zukunft: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_B%C3%BCrger_von_Calais

 

 

 

 

 

Frontalcrash – Über Vertrauen und Freiheit

Wohliges Brummen hinter dem Steuer.

Eine Landstraße voraus, sie verläuft schnurgerade, gut einsehbar bis in die Ferne. Der sauber abgegrenzte Asphalt durchquert eine Senke. Links Wald, rechts Wiesen, durch die Windschutzscheibe liegt das graue Band in Gänze im Blick. Gut überschaubar senkt es sich herab, eine saubere, moderne Straße, zweispurig. Das Stakkato der weißen Striche in der Mitte sorgt für Ordnung. Gerade eben erst hatte das Auto in seiner ganzen betörenden Mühelosigkeit den höchsten Punkt des Hügels erklommen, der diesen Ausblick auf ein Versprechen von Freiheit ermöglicht.

Eine freie Straße – und was geschieht, wenn ein Fahrzeug entgegenkommt? Foto: Lizenzfrei von Sabine auf Pixabay

Die Straße schmiegt sich am tiefsten Punkt in die liebliche Landschaft, die sie durchschneidet, und dann steigt sie wieder an, hoch hinauf auf das Gegenüber des nächsten Hanges. Die Straße erklimmt den Scheitelpunkt, verschwindet dahinter in unbekannten Überraschungen von Natur und Zeit.

Nun geht es bergab.

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Hitziges Streiten am Stammtisch …

… oder im Kollegenkreis. Eine Meinung steht an ihrem Anfang. Sie hat sich gebildet zum Thema Atomausstieg oder zur Frage der Dringlichkeit des Klimawandels. Oder zur Haltung über Krieg und Frieden, zur Notwendigkeit von Lohnerhöhungen, über den Sinn eines Tempolimits. Und fast immer zur Frage, ob die Regierung etwas taugt oder nicht. Die Meinung kommt aus den Untiefen des Unbewussten oder wurde im Lärm der Argumente gebildet, oder sie hat beides durchquert. Sie biegt mal links und mal rechts ab, sie bekommt Schrammen, wird ausgebeult und aufpoliert.

Nun rollt sie stolz heraus aus der Debattenwerkstatt, erobert das breite Band der Meinungsvielfalt in einer demokratischen Gesellschaft. Die Medien wirken wie Treibstoff: Sie tragen sie hoch hinauf auf den Hügel der Wahrnehmbarkeit, fast mühelos. Immer schneller und schneller geht es voran im Diskurs, das breite Band senkt sich herab, gibt der Meinung Schub und Dynamik, und mit diesem Schwung wähnt sich die Meinung schon sicher, den gegenüberliegenden Hang zur Mehrheit zu erklimmen.

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Doch die Straße ist nicht leer.

Während das eigene Auto ruhig auf der rechten Seite der Straße, rechts von den weißen Streifen, dahineilt, gefühlt freudig über die Anstrengungslosigkeit des Hinabrollens, kommt ein fremdes Fahrzeug auf dem gegenüberliegenden Hang entgegen. Ein zufälliger Partner ist das für das Durchleben dieses Augenblicks, unbekannt, niemals gesehen, gelenkt von einer wildfremden Person. Sekunden sind es nur, vielleicht eine Viertelminute, in denen die beiden Gefährte aufeinander zurasen.

Eine kleine Lenkbewegung, vielleicht eine Unachtsamkeit, ein unkluger Blick aufs Handy, eine irritierende Fliege im Auto – was auch immer: Ein paar Zentimeter nach links, und die Begegnung würde taumeln zwischen Folgenlosigkeit und Katastrophe.

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Aber da – was kommt da entgegen?

Eine Gegenmeinung hat sich formiert auf dem grauen Band der Meinungsvielfalt. Breitbeinig rollt sie vom gegenüberliegenden Debattenhügel herunter, gleißend und stolz leuchten die Scheinwerfer ihrer Argumente auf, laut hupt sie, schafft Platz für bange Ängste und große Hoffnungen.

Es wird nicht mehr lange dauern, dann werden sich Meinung und Gegenmeinung begegnen. Die Meinung überlegt fieberhaft: Welche Lenkbewegung nun? Der Gegenmeinung ausweichen? Schnell die Scheinwerfer aufblenden, die Hupe betätigen? Nur nicht nachgeben, frontal drauf zu!

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Dann ein kaum spürbarer Windhauch.

Ein rasch anschwellendes Brummen und Rauschen ist zu hören – und ist schon wieder verklungen. Im Auto ein leichtes Wanken. Die rasende Begegnung ist vorüber, in einem Bruchteil einer Sekunde nur, und doch war es ein Glücksmoment des vertrauensvollen Miteinanders. Wachsamkeit, Disziplin und Regeltreue haben Leben und Freiheit ermöglicht.

Beide Fahrzeuge verschwinden hinter den Hügeln, welche die Senke begrenzen. Weiter, immer weiter streben sie auseinander, in entgegengesetzte Richtungen, zu anderen Zielen. Leer und still liegt die Straße da, als wäre nichts geschehen.

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Der krachende Zusammenstoß …

… war weithin hörbar gewesen. Übersäht ist nun das graue Band der Meinungsvielfalt mit rauchenden Trümmern. Der Zusammenprall der Meinungen hatte katastrophale Folgen. Überall liegen Beleidigungen und Herabsetzungen herum. Im Aufprall herausgeschleuderte Unterstellungen zucken noch wie abgerissene Körperteile. Hässliche Pfützen von Hass und Hetze verschandeln das graue Band. Böswillige Fehlinformationen schwelen weiter, und noch immer könnten sie einen Flächenbrand auslösen in der Landschaft der demokratischen Gesellschaft.

„Es wäre ein leichtes gewesen“, sagt später im Prozess vor dem Gericht der Wahrheitsfindung ein renommierter Gutachter aus der Wissenschaft. „Der Frontalzusammenstoß wäre vermeidbar gewesen.“ Es hätte genug Zeit gegeben, zu bremsen, vorsichtig aneinander vorbeizufahren, oder gar anzuhalten und nach einem Konsens zu suchen.

„Und warum ist das dann nicht geschehen?“, fragt der Richter der Wahrheitsfindung.

„Man kann es nicht verstehen. Es fehlte wohl am Vertrauen, die Freiheit des anderen  zuzulassen.“

 

 

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Liebe Verbots-Paniker! Ein empörter Brief

Liebe Verbots-Paniker!

Dieses Schreiben richtet sich an Euch. Es richtet sich an solche Mitbürgerinnen und Mitbürger, die bei jeder Diskussion um eine Transformation unserer Gesellschaft herumschreien: „Verbot!“ Wenn diskutiert wird, ob es sinnvoll ist, jetzt noch neue Gas- oder Ölheizungen in unsere Keller zu wuchten – „Verbot!“. Wenn wir diskutieren, ob wir in zwanzig Jahren noch neue (!) Verbrenner-Autos zulassen sollten – „Verbot!“. Wenn Zweifel bestehen, ob es eine kluge Idee ist, rund um Schulen und Kindergärten oder in Kinder-Fernseh-Sendungen für Süßigkeiten zu werben – „Verbot!“. Oder ob ein strengeres Waffenrecht angebracht wäre? – „Verbot!“ Und wenn über ein Tempolimit auf Autobahnen gesprochen wird, oder über Tempo 30 als Regelfall innerhalb von Ortschaften – dann sowieso: „Verbot!“. Wenn das Ausmaß unseres Fleischkonsums kritisch hinterfragt wird – „Verbot!“.

Liebe Verbots-Paniker,

ich kann es nicht mehr hören. Euer Geschrei geht mir auf  die Nerven, weil es mich und die Gesellschaft intellektuell unterfordert. Habt Ihr Eure Kindheit nicht überwunden? Ja, ich erinnere mich selbst gut daran, wie ich es als Kind gehasst habe, etwas verboten zu bekommen. Es war so interessant, was da auf der Herdplatte köchelte. Es war so spannend, was es da hinter dem Bauzaun in der tiefen Grube zu sehen gegeben hätte. Aber ich durfte nicht. Als ich dann selbst Kinder zu erziehen hatte, habe ich mir vorgenommen: Keine Verbote! Und was war das erste, was ich aussprach? Verbote! War das bei Euch anders?

Was hat es mit „verbieten“ zu tun, darüber zu diskutieren, welche Technik sinnvollerweise neu einzubauende Heizungen haben sollten?

Jetzt bitte nicht das Argument: Damals waren wir doch Kinder, aber jetzt sind wir erwachsen! Als ob das eine Garantie wäre, dass wir alles aus purer Vernunft heraus machen: Auto fahren immer nur so schnell, dass es niemanden gefährdet. Leise sein, um niemanden zu stören. Rücksicht üben, wo es möglich ist. Wäre es so, könnten wir auf die ganze Polizei, die Justiz, die Gefängnisse, die Gerichtsvollzieher verzichten. Ist es aber nicht. Wir brauchen Regeln, und dazu zählen auch Verbote.

Und die Freiheit, fragt ihr?

Die Art von Freiheit, die Ihr hier ungebeten ans Tageslicht zerrt, die hatten vielleicht unsere Ur-Vorfahren in der Höhle. Aber seit wir diese verlassen haben, schränken wir uns gegenseitig unsere Freiheit ein, weil sonst ein Zusammenleben nicht funktionieren würde. „Die Freiheit eines jeden beginnt dort, wo die Freiheit eines anderen aufhört“, wusste schon der kluge Immanuel Kant. Freiheit und Regeln gehören zusammen – es gibt das eine nicht ohne das andere.

Verbote begleiten un seren Alltag. Was also soll die dümmliche Verbots-Empörung bei jeder neuen Regel-Diskussion?

Oder wollt Ihr das jetzt ändern? Zulassen, dass jeder Dahergekommene in Euere Wohnung oder euer Haus eindringt?  Schon jetzt ist es verboten, seinen Kindern die Schule vorzuenthalten. Schon jetzt muss jedes Jahr ein Kaminkehrer messen, ob der Dreck aus unseren Schornsteinen noch unter einer bestimmten Höchstgrenze liegt. Schon jetzt müsst Ihr alle zwei Jahre zum TÜV mit Eurer Freiheitskarre. Schon jetzt braucht Ihr einen gültigen Führerschein zum Rumfahren, sonst ist es verboten. Sind das alles auch Verbote, die Ihr abschaffen wollt? Wollt Ihr allen Erstes plattgefahren werden von irgendeinem Troll, der ohne Führerschein und wirksame Bremsen unterwegs ist? Wäre das Eure Freiheit?

Kann man so verblendet sein?

Das darf doch nicht wahr sein, dass man das nicht versteht. Was hat denn das mit „Verbot“ zu tun, wenn eine Gesellschaft die Grenzen zwischen individueller Freiheit und Gemeinwohl immer wieder neu diskutiert? Kann man so verblendet sein, das nicht zu verstehen? Die Erde heizt sich auf, und wir müssen reagieren, um unsere Lebensgrundlagen zu erhalten. Auf dem Herd der Klimakatstrophe kocht die heiße Brühe, und wenn manche das nicht glauben wollen, dann wird es wohl verboten werden, den brodelnden Topf vom Herd zu ziehen. Denn sonst verbrühen wir uns alle.

Also, liebe Verbots-Paniker,

rüstet doch bitte einfach mal ab. Nicht jede Diskussion über eine Veränderung in der Gesellschaft ist ein „Verbot“. Wir diskutieren neue Regeln, und gerne kann jeder aus irgendwelchen, auch egoistischen, Gründen gegen diese oder jene neue Regel sein. In unserer Demokratie könnt ihr dagegen opponieren, die Notwendigkeit bestreiten, dafür werben, darauf schimpfen, was auch immer. Aber lasst bitte die „Verbot!“-Keule im Sack. Verbote sind schon jetzt ein sinnvolles und notwendiges Instrument zur Regelung unseres Zusammenlebens. Es pauschal doof zu finden, dass einem etwas verboten wird, ist kindisch.

Immer noch nicht überzeugt? Es gefällt Euch einfach zu gut, erwachsene Leute billig und populistisch an ihre verbotsgeschwängerten Kindheitserinnerungen zu packen, statt um ihre erwachsene Vernunft zu werben? Dann stellen wir uns mal bitte gemeinsam eine Welt vor, in der es keine Regeln, also auch keine Verbote mehr gibt, in der einfach jeder machen kann, was er will.

Das ist dann grob gesagt die Welt unserer Höhlenvorfahren, in der das Recht des Stärkeren gilt. Keule drauf und fertig. Es gibt genügend Regionen in der Welt, wo man Reste davon besichtigen kann. Und was dort als erstes verboten wird, das ist die eigene Freiheit.

Mit empörten Grüßen

Der #Politikflaneur

 

 

Auf die Idee zu diesem Text hat mich u.a. das kluge Interview mit Ulrich Wegst im Deutschlandfunk Kultur gebracht, das ich zum Nachlesen empfehle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/ulrich-wegst-verzicht-100.html

 

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Der Ring des Diktators

Zwei Ringe und das Kriegsglück – eine moderne Parabel

Er stand auf seines Daches Zinnen,
er schaute mit vergnügten Sinnen
auf das beherrschte Samos hin.
„Dies alles ist mir untertänig,“
begann er zu Ägyptens König,
„Gestehe, dass ich glücklich bin.“

(aus: Friedrich Schiller, „Der Ring des Polykrates“)

 

 

„Wer bist Du?“, fragt der Diktator seinen Gast. Der Fremde war, ohne anzuklopfen, eingedrungen in den Prachtsaal voller Gold und Stuck, aus dem der Diktator sein Reich befehligt.

„Ich bin Wotan, der Wanderer“, antwortet der Gast ohne Zögern. „Ich durchstreife die Welt.“

„Und kennst Du auch mein Reich?“, fragt der Diktator eitel.

Der Gast schweigt.

„Dann will ich es Dir zeigen, und Du wirst mich bewundern.“

Der Diktator öffnet eine unscheinbare Türe. Er geht voraus, und sie steigen eine schmale Treppe hinauf auf eine Terrasse. Sie ist, gut geschützt, in das Dach der stolzen Burg eingelassen. Mächtige Befestigungen umgeben die Burg, deren Pracht und Größe von grenzenlosem Reichtum und Wohlstand zeugen sollen. Gleich daneben glitzern die vergoldeten Zwiebelturmhauben der Kathedralen im Sonnenlicht.

Der Diktator ist bester Laune.

„Dies alles ist mir untertänig!“ ruft er im sanften Wind seinem Gast zu, und weist mit ausholender Geste im Halbkreis über sein Reich. Der Gast sieht eine prächtige Stadt, unter ihm liegt ein breiter, ruhig dahinströmender Fluss. Er sieht emsig eilende Autos, von hier oben klein wie Spielzeug. Am Horizont verliert sich weites grünes Land in der Unendlichkeit des Sichtbaren, Wälder, Wiesen, und wieder Wälder.

Der Blick des Gastes folgt der flachen Hand des Diktators, die nach Westen zeigt. Vor der Weite des Landes funkelt ein prachtvoller Ring an seinem Finger.

„Hier entlang marschieren meine Truppen,“ prahlt er. „Wir werden weitere Provinzen erobern!“,  Dann blickt er zu seinem Gast. „Gestehe, dass ich glücklich bin!“

Der Wanderer zögert. Dann widerspricht er. Ob der Herrscher nicht sehe, welche Gefahren überall lauern? Jederzeit könne er Opfer einer Palastrevolte oder eines Aufstandes werden, schon viele Diktatoren vor ihm wurden auf dem Höhepunkt der Macht grausam ermordet, warum nicht auch er? „Dich kann mein Mund nicht glücklich sprechen,“ mahnt Wotan kopfschüttelnd, „solang des Feindes Auge wacht!“

In diesem Moment kommt ein Soldat aus der Leibgarde des Diktators heraufgeeilt. „Schau her, was wir verhindert haben!“, ruft er stolz und deutet auf den Bildschirm seines Handys. „Ein Attentäter wollte Euch stürzen, aber wir haben ihn mit Gift ausgeschaltet!“ Der Diktator lächelt, nimmt das Gerät und zeigt seinem Gast das Bild eines toten Mannes.

Der Wanderer tritt einen Schritt zurück. „Kein schönes Bild“, versetzt er mit besorgtem Blick. „Und doch warn´ ich Dich, dem Glück zu trauen. Bedenke die Gefahr fremder Armeen, die sich an den Grenzen Deines Reiches versammeln!“

Da winkt der Diktator seinen Assistenten heran, der still am Rand der Dachterrasse gewartet hatte und nun ein Notebook aufklappt. Eine Tabelle erscheint auf dem Bildschirm. „Wir mögen 100.000 Männer verloren haben in unserem Kampf, aber wir können noch Millionen neue und bessere heranziehen,“ rechnet er vor. Dann mustert der Diktator seinen Ring. „Ich habe die Macht. Alles wird mir gefügig sein.“

Das Notebook piepst. Eine Pushmeldung des Geheimdienstes flackert auf. Der Diktator und sein Gast lesen sie: Die Länder, die dem Überfallenen zu Hilfe geeilt sind, liegen im Streit darüber, ob sie mehr Waffen liefern sollen oder besser nicht?

Der Diktator lacht laut auf. Doch der Gast erbleicht. „Dein Glück ist heute gut gelaunt“, stammelt er, „doch fürchte seinen Unbestand!“ Der Wanderer schreitet auf der Terrasse hin und her. Dann setzt er hinzu: „Kennst Du die Geschichte des Polykrates?“

„Na klar,“ antwortet der Diktator, „er beherrschte die Insel Samos, war reich und glücklich, und auf dem Höhepunkt seines Glücks warf er seinen liebsten Ring ins Meer.“

„Stimmt,“ bestätigt der Gast. „Er wollte die Götter besänftigen, falls sie zürnen ob seines Übermaßes an Glück. Aber Polykrates bekam den Ring zurück, weil am nächsten Tag ein Fisch gefangen wurde, in dessen Bauch er lag.“

Der Diktator grinst. Der Wanderer jedoch bleibt ernst. „Er war sich seines Glückes zu sicher. Bald schon danach wurde Polykrates in eine Falle gelockt und getötet.“

„Gute Geschichte“, antwortet der Diktator und macht eine wegwerfende Handbewegung. Dicht und drohend hält er den prächtigen Fingerschmuck seinem Gast vor das Gesicht. „Aber ich bin nicht Polykrates, und das hier ist nicht sein Ring. An die Götter der Griechen glaube ich nicht. Ich muss niemanden beschwichtigen, und deshalb würde ich auch niemals diesen wunderbaren Ring in ein Meer werfen.“

„Woher hast du ihn?“, flüstert der Gast.

„Erobert“, antwortet der Diktator schmallippig.

Wieder betrachtet er den Ring von allen Seiten. Er holt tief Luft, blickt in die Ferne. „Der Ring gehörte einst den Nibelungen, einem germanischen Sagenvolk. Es war ein schweres Stück Arbeit, ihn zu beschaffen. Ich musste Blut vergießen und töten, Verträge und Versprechen brechen, Frauen betrügen, Vertraute beiseite räumen.“

„Und nun?“

„Nun habe ich die Macht und den Reichtum, mein Land so erstrahlen zu lassen, wie es ihm gebührt. Ich werde den Willen fremder Länder brechen und sie unterwerfen. Generationen nach mir wird mein Volk mich noch bewundern und verehren.“ Der Diktator fixiert seinen Gast, und setzt dann hinzu: „Dieser Ring ermöglicht meine Taten, und meine Taten werden mich unsterblich machen.“

Wotan wendet sich ab. „So kann ich hier nicht ferner hausen“, raunt er leise. „Fort eil ich, nicht mit Dir zu sterben.“ Schnellen Schrittes strebt er der Treppe entgegen.

„Sterben? Ich bin nicht Polykrates!“ ruft ihm der Diktator trotzig hinterher.

Da ist der Gast schon nicht mehr zu sehen. Er stürmt in großen Schritten hinab vom Dach der Burg. „Mag sein,“ ruft er dem Diktator durch das Treppenhaus noch zu, „aber auch dieser Ring wird Dein Verderben sein.“

Schon erreicht der Wanderer den Ausgang des Schlosses, stürmt vorbei an den Wachen, täuscht die Kontrolleure, kurvt geschickt herum um die Sperren und Zäune, eilt hinab in die lebendige Stadt, wohl wissend, dass die Schergen des Diktators ihm auf den Fersen sind.

Atemlos erreicht er den großen Fluss, sucht ein Versteck und erlaubt sich einen verborgenen Moment der Rast. Wie lange mag sie gedauert haben? Immer wieder erwartet Wotan die Schritte und Schreie seiner Verfolger, aber schließlich hört er stattdessen anschwellendes Rauschen. Das Wasser des Flusses, der gerade eben noch lautlos dahinströmte, kräuselt und schäumt, steigt an, kocht und brodelt. Wogende Wellen schlagen erst sanft, dann heftig an das Ufer, schon ist die erste Straße überschwemmt, die vorbeifahrenden Autos bremsen und schlingern, Menschen springen heraus und suchen Rettung am höherliegenden Gemäuer. Aber das Wasser wird immer mehr, es steigt und steigt, tobt und wogt.

Auch den Wanderer erfassen die Fluten, eine unerbittliche Woge reißt ihn mit. Im Wasser treibend, ringend mit der Kraft der Elemente, blickt er hinauf. Lodernde Flammen schlagen aus der prachtvollen Burg, auf deren Dach er einst gestanden hatte, ein entsetzliches Inferno verschlingt dort die ganze Pracht des Diktators. Rauchende Trümmer stürzen hinab in den ansteigenden, alles mit sich reißenden Schwall.

Da schlägt ein harter, kleiner, fester Gegenstand im brodelnden Chaos der aufschäumenden Wassermassen gegen seine Hand. Wotan greift danach, verfehlt ihn, versucht es nochmals, kämpft gegen die tobenden Wellen, die ihn hinaustreiben in die neue Zeit. Nochmals greift er zu, und fischt dann das Kleinod aus dem Nass.

Er muss nicht überlegen. In weitem Bogen wirft er den Ring hinaus in die chaotische Sintflut, damit er für alle Zeiten unauffindbar verloren bleiben möge.

 

Diese Parabel ist meine persönliche Auseinandersetzung mit dem 1. Jahrestag des Beginns des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Sie spiegelt meine Hoffnung wieder, dass eines Tages das System stürzen wird, das diese Aggression zu verantworten hat. 

Die Vorstellung, Ringen könnten magische Kräfte innewohnen, fasziniert die Phantasie der Menschen schon seit der Antike bis heute (z.B. „Der Herr der Ringe“ von Tolkien). Die (nicht zeithistorisch belegbare) Geschichte über das Ring-Erlebnis des Polykrates wurde vom Antikendichter Herodot überliefert, der wenige Jahre nach dem Tyrannen Polykrates von Samos lebte (beide ca. 500 v.Chr.). Inspiriert zu meinem Text hat mich die auf Herodots Schilderung basierende, faszinierend schöne Ballade Friedrich Schillers über den „Ring des Polykrates“.

Auch der Besuch aller vier Vorstellungen des „Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner an der Oper Stuttgart trug dazu bei, mich an diese Ring-Parabel zu wagen. Als vollständiger Zyklus ist der Wagner-„Ring“ im Frühjahr in Stuttgart zweimal zu sehen: Vom 3. bis 12. März und vom 4. bis 10. April (jeweils an vier Abenden). Mehr dazu hier: https://www.staatsoper-stuttgart.de/spielplan/der-ring-des-nibelungen/

Für jeden Teil des neuen Stuttgarter „Ring“ habe ich eine verkürzte, moderne Inhaltszusammenfassung erstellt, und dabei auch meine Eindrücke und aktuellen Assoziationen zusammengefasst. Diese Texte finden Sie hier: 

Das Rheingold

Die Walküre

Siegfried

Götterdämmerung

 

 

 

 

 

Das ganze Bild ist größer als unser Ausschnitt

Über Hilfspaletten, Panzer und zwei Engel – Ein Essay über unsere Betrachtung der Wirklichkeit

Bilder von einem Flughafen: Palettenweise werden Decken, Zelte, Nahrungsmittel verladen. Hilfe ist unterwegs zu den eingestürzten Häusern, zu den verzweifelten Menschen in der Türkei und in Syrien, die mit bloßen Händen in den Trümmern graben. Was sagt das über diejenigen, die jenseits der Kameras leiden, deren Angehörige schon tot sind, für die solche Hilfe zu spät kommen wird?

Zu sehen ist das Bild von einem Panzer. Behängt mit Tarngeflecht rollt er durchs Gelände, überwindet Hindernisse scheinbar mühelos. Drohend richtet er sein Gefechtsrohr auf ein Ziel, das wir nicht sehen.

Zu sehen sind Waldbrände und Überschwemmungen. Menschen kämpfen um ihr Überleben. Es hat etwas zu tun mit der verschwenderischen Art und Weise, in der in den hochentwickelten Ländern gelebt wird. Hier nennt man es „Freiheit“, was anderswo den Tod bedeuten kann. Was ist das ganze Bild?

Zu sehen ist ihr Abbild auf Abermillionen Kaffeetassen, Papierservietten, Postkarten, Aufklebern. Es sind immer die gleichen zwei Engelchen mit ihrem lustigen Gesichtsausdruck. Nur die wenigsten wissen: Das ganze Bild, aus dem sie stammen, ist viel größer.

Jeder kennt die putzigen Engelchen …

Jeder will ein Selfie mit den Engeln

Das ganze Bild hängt in Dresden. Es ist mehr als zweieinhalb Meter hoch und zwei Meter breit. Es zeigt eine Madonnendarstellung mit Kind. Für die „Galerie Alte Meister“ in der sächsischen Landeshauptstadt ist die „Sixtinische Madonna“ des italienischen Renaissance-Malers Raffael so bedeutend wie die Mona Lisa für den Pariser Louvre. Menschentrauben bilden sich vor dem mehr als 500 Jahre alten Madonnenbild, ordnend muss das Personal eingreifen, damit alle ein Selfie machen können. Anders als in Paris steht aber gar nicht das zentrale Bildmotiv im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern ein kleiner Ausschnitt am unteren Rand: Jene zwei kleinen Engel, die wir alle kennen.

Das Maler-Genie Raffael hat sie hinzugefügt, vielleicht ein alberner Scherz, um der frommen Darstellung eine gewisse Leichtigkeit zu verleihen. Oder um durch die nach oben gerollten Augen der Engelchen den Blick der Betrachtenden auf die Madonna zu lenken. Das ist nicht gelungen. Schon seit vielen Jahrzehnten sind die beiden Babyengel die Stars dieses Bildes, die große Madonna und ihr Kind wurden in der Wahrnehmung vieler Museumsbesucher zur Nebensache.

Das ganze Bild steht für Glauben – und einen Krieg

… aber nur wenige das ganze Bild, das uns zur Auseinandersetzung mit Glauben und Krieg zwingen würde. (Fotos: Gemäldegalerie Alte Meister Dresden)

Das ganze Bild anzusehen, würde bedeuten: Sich auseinandersetzen mit den großen Fragen der christlichen Religion. Für sich zu klären, ob es möglich ist zu glauben an eine Mutterschaft von Maria, und daran, dass hier ein Kind geboren wurde, das Menschen Halt und Erlösung geben kann. Zum ganzen Bild gehört auch: Das heute so wertvolle Bild war ein Geschenk des damaligen Papstes an den italienischen Ort Piacenza als Dank für einen in seinem Sinne gewonnenen Krieg.

Da ist es doch viel einfacher, sich an die kleinen Engel zu halten.

Mit den Hilfsgütern, den Panzern und den Wetterkatastrophen könnte es ähnlich sein. Es tut gut, sich mit Bildern von zügig anrollender Hilfe für die Verzweifelten zu beruhigen. Es ist leicht, sich gut inszenierte Firmenvideos von dahinrauschenden Leopard-Panzern auf einem Übungsgelände anzusehen. Tausendmal gefälliger sind diese Bilder als eine schmerzhafte Vorstellung davon, was dieses schwere Geschütz im kriegerischen Echt-Einsatz anrichtet. Man müsste sich ein ganzes Bild machen von der Verwüstung, der Angst, dem Tod, den es bringt.

Und auch dieses Bild wäre noch nicht groß genug. Denn es müsste auch und zuerst all das Leid zeigen, das der russische Angriffskrieg in der Ukraine erst verursacht hat, die Opfer an Leben, Körper und Psyche, die er täglich neu fordert. Es würde ein überfallenes Volk zeigen, das sich nun mit dieser besseren Waffe wehrt.

Die Panzer wirken wie Spielzeug

Doch was ist das? Da schwebt ein Ballon durchs Bild. Wo kommt der denn her? Schnell zwei Finger genommen und das Bild so gezoomt, dass der Ausschnitt, den wir sehen, noch größer wird. Ein Ballon kundschaftet da möglicherweise die Atomressourcen der USA aus. Er kommt angeschwebt aus China, einem riesigen Land, das keinen Hehl daraus macht, sich eine vergleichsweise kleine Insel einverleiben zu wollen. Die Menschen auf dieser Insel verlassen sich in ihrem Wunsch nach Eigenständigkeit auf den atomaren Schutz, über dem der Ballon gerade schwebte. Wie übrigens die Menschen in Deutschland auch.

Das Bild ist jetzt zu groß, um das Leid der verzweifelten Erdbebenopfer überhaupt noch erkennen zu können. Die Überschwemmungen und Waldbrände verschwinden im Nichts. Die furchteinflößenden Panzer wirken wie winziges Spielzeug. Und doch ist der Ausschnitt noch immer zu klein.

Wer nicht in die ISS steigen oder auf den Mond fliegen möchte, findet die entsprechenden Bilder im Internet. So schön blau ist unser Planet! Eine blau-weiß geäderte Murmel, eine marmorierte Perle, bewohnen die Menschen in den unermesslichen Weiten des Alls. Sie genießen das Glück des Zufalls, der diesen Planeten nach unserem Wissen einzigartig macht: Sonnenverwöhnt, aber noch nicht verbrannt, da gerade im richtigen Abstand zum Glutofen der Sonne. Wasserreich, aber noch nicht überflutet. Dank seiner schützenden Atmosphäre noch immer Heimat für Millionen Arten von Leben.

Das ganze Bild erzählt von Schönheit und Komplexität

Das ganze Bild. Foto: NASA

Wofür steht dieses ganze Bild? Es erzählt uns von strahlender Schönheit, aber auch von Komplexität, die es auszuhalten gilt. Mancher Wohlstandsmensch lehnt sich vorschnell beruhigt zurück, weil ein paar Hilfsgüter-Paletten rollen. Zu eilig wird gejubelt über Panzer, und zu hastig wird in wenigen Zeilen als gewissenloser Kriegstreiber verdammt, wer anders denkt. Jeder Ahnungslose weiß plötzlich Bescheid, wenn es um Wetterphänomene, Straßenblockaden oder Tempolimits geht.

Es ist leicht, sich die putzigen Engelchen herauszupicken aus dem ganzen Bild! Aber es ist auch billig.

 

Zur Geschichte des Gemäldes „Sixtinische Madonna“ von Raffael Santo – und insbesondere zur Rolle der zwei berühmten Engelchen, der „berühmtesten Lümmel der Kunstgeschichte“ habe ich das hier gelesen: https://www.welt.de/kultur/article1484114/Die-beruehmtesten-Luemmel-der-Kunstgeschichte.html

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier.

 

Ein echter – und drei falsche Könige

„Heilige Drei Könige (regionaler Feiertag)“ meldet der elektronische Kalender auf der Terminliste. Auch der gedruckte ordnet den 6. Januar den drei Königen zu. In jeder besseren Krippendarstellung tauchen die drei Könige auf, derer an diesem Tag gedacht werden soll. Dabei hat es sie niemals gegeben.

Es ist Zeit für einen echten König

Es ist also Zeit für einen echten König. Als 18-jähriger junger Mann hatte Rudolf eine beschwerliche Reise über das Meer auf sich genommen. Sechs Jahre lang war er  „Gast“ einer Lehrerfamilie in der württembergischen Kleinstadt Aalen gewesen, hatte Deutsch gelernt, deutsche Schulen besucht. Rudolf war ein wacher, intelligenter junger Mann. Als er im Auswärtigen Amt in Berlin hospitierte, lernte er zu verstehen, wie deutsches Regierungshandeln funktioniert. Schließlich kehrte er in seine Heimat zurück, und wurde tatsächlich König seines Volkes.

Rudolf Duala Manga Bell (rechts) und die Aalener Lehrerfamilie Oesterle. Foto: Roeger/Platino, bereitgestellt von MARKK Hamburg

Ein Märchen? Nein, die Wahrheit. Rudolf Duala Manga Bell war König des Volkes der Duala in Kamerun. Wir blicken zurück auf den Anfang des 20. Jahrhunderts, und Kamerun war eine deutsche Kolonie. Deutsche Soldaten hatten mit Waffengewalt Rudolfs Großvater einen „Schutzvertrag“ aufgezwungen, der den Duala angeblichen „Schutz“ vor nicht näher bezeichneten Feinden versprach. Vor allem aber sicherte der Vertrag deutsche Macht und die Durchsetzung deutscher Interessen. Was deutsche Kolonialisten in Afrika und anderen „Schutzgebieten“ errichteten, war für die Betroffenen eine einzige menschenverachtende Katastrophe aus brutaler Willkür, hemmungsloser Ausbeutung und drakonischer Entrechtung der einheimischen Bevölkerung.

Kein naiver Eingeborener

König Rudolf Duala Manga Bell war kein naiver Eingeborener. Er war auch kein Revolutionär, sondern ein treuer Anhänger des deutschen Kaisers. Und er kannte die deutsche Sprache und das deutsche Rechtssystem und vertraute darauf. Als die Duala entschädigungslos aus fruchtbaren Ländereien umgesiedelt werden sollten, forderte er ab 1910 in schriftlichen Eingaben gegenüber dem Reichstag ein Ende des rücksichtslosen Umgangs mit seinem Volk.  In Berlin nahmen ihn nur die oppositionellen Sozialdemokraten ernst; die Kolonialverwaltung dagegen erfand einen Hochverratsvorwurf. Manga Bell wurde der Prozess gemacht. Alle Regeln des Rechtsstaates wurden dabei missachtet, die Mitwirkung seiner deutschen Anwälte gezielt verhindert. Am Tag nach dem „Urteil“ wurde er am 8. August 1914 hingerichtet. Ein Justizmord.

Was gibt es an „Dreikönig“ zu feiern?

Wer an diesem Donnerstag, dem „Dreikönigstag“, sich noch einmal zufrieden im Bett herumdreht (weil in seinem Bundesland Feiertag ist), könnte sich an diese Geschichte erinnern. Immerhin geht es in ihr um einen König aus Afrika, der wirklich gelebt hat. „Gefeiert“ wird aber am 6. Januar die Legende von drei „Königen“, einer davon dunkelhäutig, die stellvertretend für ihre Kontinente (Afrika, Asien, Europa) das Jesuskind anbeten und beschenken – als Symbol der Unterwerfung der Welt unter das Christentum.

Die „heiligen Drei Könige“, die ein Christuskind anbeten, hat es nie gegeben. Ihre Unterwerfung ist eine christlich-koloniale Geste, die wir tilgen sollten.

Diese Geschichte ist nun wirklich ein Märchen, ein christlich-kolonialer Fake. Die Bibel kennt diese drei Könige nicht, sondern spricht von „Weisen“, die sich bei Jesus im Stall eingefunden haben sollen. Theologisch heißt der Feiertag schon lange „Epiphanias“, der Tag der „Erscheinung des Herrn“. Es gibt in den unterschiedlichen christlichen Religionsströmungen mehrere andere Herleitungen jenseits der „Könige“, was da am 6. Januar gefeiert wird.

Trotzdem hält sich die Legende der „drei Könige“ auch im 21. Jahrhundert hartnäckig in deutschen Kalendern und im allgemeinen Sprachgebrauch. Die FDP nennt seit Jahrzehnten ihr Stuttgarter Politikspektakel zum Jahresauftakt „Dreikönigstreffen“, Wintersportler springen oder rodeln unter dem Namen der drei Könige durch die weiße Pracht.

Immerhin: „Sternsinger“ verzichten auf Blackfacing

Und was ist mit den netten und engagierten Kindern, die in diesen Tagen von Haus zu Haus ziehen und Spenden für Projekte in Entwicklungsländern sammeln? Ganz sicher verfolgen die „Sternsinger“ mit ihrer Symbolik längst beste Zwecke, die hier nicht angezweifelt werden. Aber auch sie treten dabei eine Legende breit, von der es gilt, sich zu verabschieden. „In ihren prächtigen Gewändern greifen die Sternsinger einen alten Brauch auf“, schrieb dazu das Kindermissionswerk „Die Sternsinger“ in einer Pressemitteilung zum letztjährigen „Dreikönigssingen“. Das katholische „Kindermissionswerk“ ist bundesweit der offizielle Veranstalter der Spendensammlung. Wenigstens rät es inzwischen ausdrücklich davon ab, eines der Kinder schwarz zu schminken, auch weil das Blackfacing der geschichtlich ohnehin falschen Darstellung auch noch einen primitiv rassistischen Hut aufsetzt.

Warum nicht auch einen Feiertag umbenennen?

Wir benennen Straßen um, die rassistische Begriffe beinhalten. Wir denken über Standbilder und Gedenktafeln nach, die an kolonial engagierte Feldherren erinnern. Gleiches sollte für die „drei Könige“ gelten. Ihre Legende wurde als Sinnbild für die angebliche Überlegenheit des Christentums über den Rest der Welt erdacht. Dieser Feiertag sollte umbenannt werden. Er hat einen besseren Namen verdient, und es gibt genügend religiöse Quellen, die dazu herangezogen werden könnten. „Heilige Drei Könige“ ist in einer modernen und aufgeklärten Gesellschaft auch „nur“ als kalendarischer Alltagsbegriff inakzeptabel.  Wir sollten ihn tilgen, auch weil wir es dem echten König Rudolf Duala Manga Bell schuldig sind.

 

 

 

Duala Manga Bell lebte zwischen 1891 und 1896 in Aalen in Baden-Württemberg. Er besuchte dort die Schule und wurde in der Stadtkirche getauft. Auf der Website der Stadt Aalen wird nun berichtet: „Im Juli 2022 beschloss der Gemeinderat Aalen, den Platz an der ehemaligen Ritterschule inmitten der Aalener Altstadt nach dem Duala-König Rudolf Duala Manga Bell zu benennen. Die feierliche Einweihung des Platzes erfolgt nach der städtebaulichen Neugestaltung des Platzes – voraussichtlich im Jahr 2023.“

Der aktuelle König der Duala in Kamerun, Jean-Yves Eboumbou Douala Bell, war bei der Einweihung des Duala-Manga-Bell-Platzes am 7. Oktober 2022 in Ulm anwesend. Foto: Stadtarchiv Ulm

Etwas weiter ist da schon die Stadt Ulm, wo Manga Bell 1897 das Abitur ablegte. Sie hat im Oktober 2022 bereits einen Platz nach Duala Manga Bell benannt und dazu prominenten Besuch bekommen (siehe SWR-Beitrag): https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/ulm/rudolf-duala-manga-bell-platz-wird-eingeweiht-100.html

Der Lebensgeschichte von Rudolf Duala Manga Bell, dem König der Duala, ist eine Ausstellung im Museum am Rothenbaum Kulturen und Künste der Welt (MARKK) in Hamburg gewidmet: https://markk-hamburg.de/ausstellungen/hey-hamburg/ (noch bis 2. Juli 2023)

Über das Schicksal von Rudolf Manga Bell ist in der ZEIT ein ausgezeichneter Artikel am 25. August 2021 erschienen. Er ist auch online verfügbar, allerdings hinter einer Bezahlschranke, die sich gegen einen Euro durch ein Probeabo überlinden lässt: https://www.zeit.de/2021/35/rudolf-manga-bell-duala-volk-kamerun-kolonialismus-justizmord?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F

Zur Herleitung und Deutung der Legende und des Feiertags „Heilige Drei Könige“ siehe auch Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Heilige_Drei_K%C3%B6nige

 

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