Kirchen-Politik (20. Juni 2021)

Rund 400 christliche Kirchengebäude gibt es in Berlin, fast drei Viertel davon evangelisch, der Rest meist katholisch, einige orthodoxe Gotteshäuser sind auch dabei. Und natürlich gibt es Synagogen, Moscheen, Tempel. Ist Berlin eine Stadt der Kirchen? Jedenfalls nicht eine Stadt voller Christen. Von den 3,5 Millionen Einwohnern Berlins bekennen sich nur etwa 15 Prozent als evangelisch und etwa acht Prozent sind katholisch, genauso viele wie es Muslime in Berlin gibt. Zwei Drittel aller Berliner gelten als konfessionslos.

Es ist also kein Wunder, dass man viele Gotteshäuser in Berlin geschlossen antrifft, manche wirken abweisend oder wie aufgegeben. Jede Auswahl bleibt Willkür. Dies ist ein willkürlicher, aber politischer Rundgang durch einige Kirchen in (und eine bei) Berlin:

Die Auferstandene: Nikolaikirche

Der rekonstruierte Altar im Museum Nikolaikirche

Die älteste Kirche Berlins hat Fundamente aus dem 13. Jahrhundert, und ist keine Kirche mehr. Wir schreiben das Jahr 1980: Die DDR-Führung hatte alle Energie in die Linderung der Wohnungsnot und in die Schaffung modernen Wohnraums gesteckt. Aber sie erkannte auch: Heimat entsteht nicht, wenn man Plattenbauen aneinanderreiht. Also entschied sie sich für eine etwas eigenwillige Rekonstruktion des Nikolaiviertes, der alten Mitte Berlins – ganz nah an der Plattenwüste Alexanderplatz. Entstanden ist eine Mischung aus Neuem und rekonstruiertem Altem, über deren geschmackliche Treffsicherheit man streiten kann. Ein bisschen gemütlich ist es schon rund um die Nikolaikirche, auch sehr touristisch. Aber man kann sich schon auch wohlfühlen in dieser kleinteiligen Oase aus Cafés, Souvenirläden und Bierkneipen. In ihrer Mitte steht die Nikolaikirche mit ihren zwei himmelstürmenden, spitzen Turmdächern, die sie markant macht und von vielen Orten der Stadt aus sofort erkennbar. Die Kirche wurde zum Stadtjubiläum 1987 fast völlig neu erbaut – nach den Bomben des 2. Weltkriegs und Jahrzehnten weitgehend ungehemmter Verwahrlosung waren nur Ruinen übriggeblieben. Als Kirche war sie schon 1939 aufgegeben worden, heute ist sie ein kluges Museum über ihre eigene wechselhafte Geschichte. Der Alter wurde als eindrucksvolle Installation zusammengesetzt aus Bruchstücken, die man gerettet hatte oder in den Trümmern fand. Eine Tafel fordert die Besucher auf, fehlende Bruchstücke, die möglicherweise in den Jahrzehnten der unbeachteten Verlotterung aufgefunden oder entwendet wurden, zurückzugeben, damit man sie in dieses 3-D-Kirchenpuzzle einfügen kann. (Link zum Museum Nikolaikirche: https://www.stadtmuseum.de/nikolaikirche)

Die Verschwundene: Versöhnungskirche Bernauer Straße

Das herabgestürzte Turmkreuz der Versöhnungskirche

Die Bilder aus der Zeit nach dem Mauerbau machen still: Ein prächtiges, ausladendes, neugotisches Gotteshaus ist da zu sehen, unbenutzt, mitten im Grenzstreifen der Inner-Berliner Grenze an der Bernauer Straße. Gestiftet hatte die Kirche 1892 einst eine Kaiserin, nach dem Krieg wurde sie schnell in Stand gesetzt und war bis 1961 Heimat einer Kirchengemeinde, die sich sowohl über Ost- wie Westberliner Gebiet erstreckte. Beim Mauerbau wurde der Westzugang zugemauert, später alle anderen Gebäude auf der Ostseite abgeräumt und plattgewalzt für die Sicherheit des jungen Staates. Aber die Kirche stand wie ein mahnender Solitär alleine im Schussfeld der Grenzsoldaten. 1982 entschloss sich die DDR-Führung – letztlich mit Zustimmung der Kirchenleitung – das Gotteshaus zu sprengen, um freie Sicht zu schaffen für die Kontrolle der Grenze. Gottesdienste gab es dort ohnehin schon lange nicht mehr. Den Sprengungsbeschluss unterzeichnete damals der Vater von Gregor Gysi. Heute erinnert eine kleine moderne Kapelle an die große Kirche, die dem Weltgeschehen im Weg stand. Verbogen mahnt das bei der Sprengung herabgestürzte und später wieder aufgefundene Turmkreuz an eine Zeit, die vorbei ist und nicht wiederkommen wird, wenn wir uns bemühen. (Wikipedia zur Geschichte der Versöhnungskirche: https://de.wikipedia.org/wiki/Vers%C3%B6hnungskirche_(Berlin-Mitte))

Die Schöne: Heilandskirche Sacrow

… aus einer anderen Welt: Heilandskirche Sacrow

„Auch ich war in Arkadien“ – Irgendwoher kennt man diesen Spruch. Aber woher und was soll er eigentlich bedeuten? Na der Heilandskirche von Sacrow drängte sich die Assoziation an den traumhaft schönen Landstrich auf dem Peloponnes auf, und so musste der Flaneur erst einmal googeln: Die Phrase steht dafür, sich im Moment größten ästhetischen (oder wohl auch sonstigen) Glücks daran zu erinnern, dass trotz dieses perfekten Momentes doch alles im Tod endet. Der Mensch stirbt, selbst wenn er am schönsten Ort der Welt – in Arkadien – gewesen ist. Die Berliner kennen dieses Arkadien auf Potsdamer Gebiet vor allem vom gegenüberliegenden Ufer, der Berliner Seite der Havel, aus. Das Kirchlein wurde 1844 vor allem aus ästhetischen Gründen gebaut. König Friedrich Wilhelm IV. ging es darum, eine Traumlandschaft noch schöner, geradezu perfekt zu machen. Den Schlössern von Babelsberg und Glienicke, den Parks und Bäumen, den glitzernden Wasserflächen, den dahingestreuten, grün überquellenden Inselchen fügte er noch etwas mehr von unwirklicher Schönheit hinzu: Eine Kirche im italienischen Renaissance-Stil. Wer sich auf den weiten Weg zur Kirche aufmacht (und sich nicht mit dem Blick auf sie über das Wasser zufriedengibt), wird belohnt mit einem Ort, in dem blauglänzendes Wasser, grünbunt-prächtige Natur und der die Kirche umgebende Arkadengang aus schlanken Säulen eine sinnliche Symbiose eingehen – willkommen in Arkadien! Einen solchen ästhetischen Blick hatten die Grenzverantwortlichen der DDR nicht, als sie die Kirche zwischen 1961 und 1989 als Teil ihrer Mauer integrierten und das Kircheninnere für sehr weltliche Zwecke missbrauchten. Alte Fotos zeigen, wie das kleine Kirchenschiff gleich einer Wucherung in das dem Havelwasser zugewandte Niemandsland jenseits der Mauer Richtung Westen herausragte. Immerhin überstand die Kirche diese Jahre und strahlt heute im alten Glanz als Teil des landschaftlichen Weltkulturerbes an der Havel rund um Potsdam und Berlin. (Geschichte der Heilandskirche u.a. bei den Preußischen Schlössern und Gärten: https://www.spsg.de/schloesser-gaerten/objekt/park-sacrow/)

Die Engagierte: Gethsemanekirche am Prenzlauer Berg

Gethsemanekirche im Prenzlauer Berg

„Homophobie ist Sünde“ prangt als Transparent über dem Eingang der 1893 errichteten Gethsemanekirche. Davor steht eine segnende Christusfigur, die aus der gesprengten Versöhnungskirche hierher verbracht wurde. Selten bekommt man eine so klar politisch orientierte Kirche zu sehen! Hier ist das Engagement für Menschenrechte nicht Nebensache, sondern steht mindestens gleichberechtigt neben der Verkündung der christlichen Botschaft. Am Zaum hängen Biografien politische Verfolgter, in der Kirche liegen Unterschriftenblätter für Solidaritätsbekundungen aus – gegen politische Verfolgung in China, der Türkei oder Belarus, für das Volksbegehren zur Enteignung der Deutschen Wohnen, für eine Schließung der menschenunwürdigen Lager an den EU-Außengrenzen. Jeden Tag um sechs finden sich in der Kirche Gläubige zu einer „Politischen Andacht“ zusammen. Diese Kirche ist ein unbequemer Ort, ein lauter Schrei für mehr Engagement gegen das Unrecht auf dieser Welt. Und das war sie auch in der Zeit des Nationalsozialismus, als die Pfarrersfrau hier Juden versteckte, und in den letzten Monaten der DDR, als sich im Schutz dieser Kirche die friedliche Umwälzung formierte. In einer kleinen Ausstellung sind die Bilder von 1989 zu sehen, dichtgedrängt saßen die Menschen im schönen, weiten, damals prall gefüllten Kirchenraum, hören dem Pfarrer zu, der Staat und Demonstranten auffordert: „Keine Gewalt!“. Von vollgefüllten Bänken kann jetzt keine Rede mehr sein bei der politischen Andacht. Wird Kirche von heute noch einmal so relevant werden für die Gesellschaft wie in diesen Zeiten? Die Gethsemanekirche ist der richtige Ort, genau darüber nachzudenken. (Website der Kirchengemeinde: https://ekpn.de/vier-kirchen/gethsemane/)

Die Mahnende: Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche

Draußen tobt das Leben. Junge Menschen sitzen, lachen, lärmen, versammeln sich um Pizzakartons und Getränkedosen. Autos umkurven lautstark die Verkehrsinsel, die sich „Breitscheitplatz“‘ nennt. Busse schnurren heran, Polizeisirenen jaulen. Mit dicken Taschen bepackt schleppen sich Konsumfreudige in die Außengastronomie. Wenige von all diesen Menschen haben Blick für das Ensemble aus Alt und Neu, an dem sie vorbeiziehen. Der Kirchenbau aus den Jahren 1891 bis 1895, errichtet im Auftrag von Kaiser Wilhelm II. im Gedächtnis an seinen Vater – was für eine absurde Gründungsgeschichte aus heutiger Sicht für eine Kirche! – hatte einmal den höchsten Kirchturm Berlins, und ist jetzt nur noch eine Ruine. Daneben steht die 1961 fertiggestellte, achteckige neue Kirche. Wer dort hineingeht in diesen blau überfluteten Raum, beamt sich schlagartig eine andere Welt. Still ist es hier, nachdenklich und andächtig. Ein paar Kerzen züngeln goldgelb im schimmernden Blau, das durch 20.000 Glasbausteine glüht und dieser Kirche ihr ganz besonderes Licht gibt. Die alte Gedächtniskirche war ein Opfer der Bomben geworden und mahnt nun als Ruine an die Zerstörbarkeit unserer Existenz. Die neue mit ihrer blauen Stille mahnt vor allem daran, dass es in allem Trubel immer auch einen Ort geben darf, in dem die Zeit stillsteht. An wen oder was gedenken wir hier? Eher daran, als an einen Kaiser. (siehe auch #1000Kirchen) 

Die Mutige: Verklärungskirche in Marzahn

Darf ein Christus so offenkundig leiden? – Kath. Kirche Verklärung d. H. in Marzahn

In diesen Zeilen klang immer wieder Kritik am Umgang der sozialistischen DDR mit ihren Kirchen an. Aber wie so oft ist das Bild nicht so eindeutig. Es waren Kommunisten, die die Wiedererrichtung der Nikolaikirche – wenn auch aus Museum – beschlossen. Und wollen wir es verurteilen, dass dieser chronisch devisenknappe, atheistische Arbeiter- und Bauernstaat seit 1972 es den Kirchengemeinden ermöglichte, für Renovierungen und Neubauten Geld aus dem Westen anzunehmen? Der Grundstein für die katholische Kirche „Verklärung des Herrn“ in Berlin-Marzahn wurde 1984 gelegt, das Geld für den Bau kam größtenteils aus dem Westen. Eröffnet wurde sie 1987. Der Berliner Stadtteil Marzahn steht bis heute wegen der unfassbaren Ansammlung von Plattenbauwohnungen vor allem bei Westberlinern und Westdeutschen in äußerst zweifelhaftem Ruf. Mehr als 100.000 Menschen leben da heute – die allermeisten davon in renovierten Hochhäusern – für eine katholische Kirche echte Diaspora. Die Kirche „Von der Verklärung des Herrn“ thront unmittelbar über der vierspurigen Landsberger Allee. Ein nüchterner, moderner Kirchenraum ohne architektonischen Schnickschnack steht da, daneben ein alleinstehender moderner, ebenso schlichter Kirchturm. Mutig war die Gemeinde von der „Verklärung des Herren“ in der Ausstattung. Eine vier Meter hohe Figur von Christus am Kreuz (aber ohne Kreuz) dominiert den Raum, und sagt ohne ein Wort alles über das Leid am Kreuz, idealisiert nichts und redet nichts schön am Tod. Die Figur stammt aus dem Jahr 1930 und wurde vom Tiroler Künstler Hans Perathoner geschaffen, der sie aus einem einzigen Eichenstamm herausschlug. Seither wandert sie wie ein Untoter durch verschiedene Depots und Kirchen Berlins, da sie „nicht den üblichen Kirchenvorstellungen“ entsprach (wie ein diplomatisch formulierender Autor auf Wikipedia schreibt) und ist jetzt als Leihgabe in dieser modernen Kirche gelandet. Kirchenasyl für einen leidenden Christus in Marzahn. (Wikipedia zur Kirche Verklärung des Herrn: https://de.wikipedia.org/wiki/Kirche_von_der_Verkl%C3%A4rung_des_Herrn)

 

Das Innere eines blauen Saphiers (#0010)

Neue Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Berlin, Breitscheidplatz, 10789 Berlin

Mein Besuch am 14. Juni 2021

Wen im Inneren eines Edelsteins: Die neue Gedächtniskirche in Berlin

Topas, Lapislazuli oder blauer Saphir? Ich musste googeln, um die verschiedenen Blautöne von Edelsteinen zu sehen, und konnte mich dann doch nicht entscheiden. Das Innere der neuen Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche im Herzen von West-Berlin, direkt am Anfang des Kurfürstendamm ist in meiner Sammlung eine Ausnahme. Denn sie ist weltberühmt, vielleicht noch mehr wegen der Ruine ihres Vorgängerbaus, die uns an Krieg und Zerstörung mahnen soll. Geweiht wurde die neue Kirche im Dezember 1961, ein halbes Jahr nach dem Mauerbau.

Das Ensemble aus alter Ruine und neuer Kirche ist eine echte Sehenswürdigkeit, ein touristischer Hotspot – und doch ein Beispiel für genau das, warum mir Kirchen im öffentlichen Raum so wertvoll erscheinen: sie ist tagsüber geöffnet, für jeden, egal welcher Herkunft, welchen Standes und welcher Religion. In ihr ist es schlagartig still. Jeder Besucher findet sich wieder im Inneren eines blaue Edelsteins, übergossen mit blauem Licht, das durch die rund 20.000 quadratischen Glasbausteinen von außen in diesen verzaubernden Raum einströmt. Wer immer hier Ruhe sucht, kann sie in diesem Blau finden, während draußen vor der Tür das bunte und laute Leben tobt.

Wieviel diskutieren wir über die Rolle der Kirchen in unserer Zeit! Eine wichtige wäre, öfters genau solche Orte anzubieten. Deshalb ist diese Kirche einer meiner Lieblingsorte in Berlin. Auch, weil hier die Aufgabe offensiv angenommen wird, die sich für eine Kirche stellt, die inmitten der Kommerzmeile des Berliner Westens liegt, die offen gehalten wird für die Menschen, die sich modern bereithält für die Herausforderungen des Heute und Jetzt: mit kurzen täglichen Andachten, mit Konzerten, mit offensiver Informationspolitik auch auf modernen Kanälen. Persönlich würde ich mir noch wünschen, dass man den Kaiser aus dem historischen Namen streicht, wie das bereits bei der Internetpräsenz erfolgt ist. Gedächtniskirche – das genügt vollkommen, finde ich.

Die sehr informative Website der Kirchengemeinde findet man hier: https://www.gedaechtniskirche-berlin.de/

siehe auch mein Beitrag als #BerlinerFlaneur: Kirchen-Politik

 

 

Streitgespräch der Prachtstraßen (15. Juni 2021)

Dies ist die Aufzeichnung eines unwahrscheinlichen Streitgesprächs. Es findet statt – so stellt sich das der Flaneur vor – am Brandenburger Tor in Berlin, und es treffen sich die beiden Prachtstraßen dieser Stadt: Der Kurfürstendamm, hier kurz der „Damm“ genannt, und die Karl-Marx-Allee, also die „Allee“. Natürlich kommt die Allee von Osten und der Damm von Westen.

Allee: Freundschaft, Kurfürstendamm! Finde ich gut, dass wir uns auf meinem früheren Staatsgebiet treffen.

Damm: Hallo, alte Sozialistin, ich bin Dir gerne entgegengekommen. Eigentlich hatte ich die Straße des 17. Juni als Treffpunkt vorgeschlagen …

Allee: … eine Provokation!

Damm: … aber es hätte dafür gute historische Bezüge gegeben. Und geografisch wäre der Tiergarten die Mitte zwischen uns gewesen, habe ich extra auf Google Maps nachgeguckt. Aber von mir aus lassen wir das, alles alter Tobak, Du aus der Zeit gekommene Kollegin.

Der Strausberger Platz eröffnet das Ensemble der Karl-Marx-Allee

Allee: Da höre ich sie schon wieder, die westliche Arroganz. Spare Dir unbegründeten Hochmut. Als erstes sollten wir festhalten, dass ich unbestreitbar die Schönere von uns beiden bin. „Karl-Marx-Allee“ – schon der Name! Und diese wunderbare Monumentalarchitektur, eine geschlossene, prächtige, verkachelte Häuserfront auf beiden Seiten fast zwei Kilometer lang, Säulen und Kapitele, dazwischen Grünflächen und Bäume. Da kannst Du nur neidisch sein, bei Deinem Wirrwarr von Konsumtempeln.

Damm: Ich gebe überhaupt nichts zu. Etwas zugeben, das war noch nie meine Stärke. Und ich habe die Geschichte auf meiner Seite. Du musstest erst mühsam errichtet werden, viele alte Häuser …

Allee: … also das waren genauso wie bei Dir alles Ruinen …

Damm: …ja, ok, aber sie mussten dafür weichen, damit man für Deine Breite Platz schaffen konnte: Für die Paraden, für die Panzer und Raketen, für die Tribünen Deiner kommunistischen Autokraten. Und soll ich Dich daran erinnern, wie Du eigentlich ursprünglich geheißen hast? Soll ich …?

Allee: Lass doch den alten Kram …

Damm: Jedenfalls war Dein Karl Marx als Namensgeber erst zweite Wahl. Ursprünglich war das ein gewisser…

Allee: Still jetzt!

Damm: … ein gewisser Stalin, den ihr mit Deinen Arbeiterpalästen ehren wolltet. Ein Massenmörder! Ich dagegen war schon immer da, früher als Weg zur Jagd unseres Kurfürsten, später hat sich Otto von Bismarck für mich eingesetzt. Auf mir fuhr die erste dampfgetriebene Straßenbahn, und ich war die wichtigste Amüsiermeile Berlins in einer Zeit, die heute alle an Babylon erinnert.

Allee: Ha! Erst der Kurfürst und dann Bismarck! Und da spottest Du über Ulbricht und Honecker als Autokraten! Das waren wenigstens Repräsentanten der Werktätigen, der einfachen Leute, der Arbeiter und Bauern, die dort die Paraden unserer Armee abgenommen haben, …

Damm: Repräsentanten? Von Demokratie kann da aber keine Rede sein!

Allee: Beim Kurfürst und  bei Bismarck noch weniger.

Damm: Von mir aus, lassen wir die Herrscher von damals aus dem Spiel. Aber nachdem Ihr Eure Mauer gebaut hattet, war die Welt doch wohl klar geordnet: Auf meiner Seite gab es nur noch lupenreine Demokraten, die über mein Pflaster flanierten.

Allee: So, so – „lupenreine“ Demokraten seid Ihr gewesen? An Deinem Pflaster klebt das Blut von Rudi Dutschke, vergiss das nicht. Und mit Polizeiknüppeln habt Ihr auf die Demonstranten gegen den Vietnam-Krieg eingeprügelt.

Damm: Das war schon eine schwierige Zeit. Muss ich zugeben. Aber geschunden wurde ich dabei, die schönen Schaukästen haben sie damals eingeschlagen, meine Schaufenster demoliert. Mir tut es heute noch, wenn ich daran denke.

Allee: Mein Beileid. Solche Streitereien auf meinem Rücken hatten wir nicht, dafür haben Walter und Erich gesorgt. Aber weißt Du eigentlich, wie schwer die Panzer und die Raketen-Laster eigentlich sind, die ich aushalten musste?

Damm: Nee, mit Militärparaden habe ich bis heute nichts zu schaffen. Da bin ich zu eng für. Das hast Du jetzt von Deiner Breite und Pracht.

Allee: Ich bin eben schöner als Du.

Damm: Warum kommen dann alle Menschen zu mir, und nicht zu Dir? Täglich muss ich mich mit Millionen Menschen herumschlagen, die auf mir rumtrampeln, tütenschleppend sich von einem Markenladen zum nächsten durchschlagen. Dabei gibt es diese Läden in jeder größeren Stadt immer gleich. Ich sag Dir, das ist eine Plage, dauernd das Getrappel, und manchmal stehen sie ewig lang auf mir herum, nur um in den Apple-Shop reinzukommen.

Allee: Deine Probleme hätte ich gerne! Ich erinnere mich gut, als das auch bei mir noch so war. Jeder, der in unserem sozialistischen Land etwas Besonderes gesucht hat, kam in die Karl-Marx-Allee – die erste Einkaufsadresse im ganzen Land! Edle Tuche, die wenigen aus dem Westen importierten Jeans, gute Leckereien, manchmal sogar Orangen und Bananen – alles das gab´s in der Karl-Marx-Allee. Und dazu das schöne Restaurant Moskau, das schicke Hotel Berolina, die großen Kinos und die Mokka-Eisbar – ach war das schön! Bei mir war richtig was, los, sag ich Dir. Weißt Du was, Du Wessi-Jammer-Damm: Ich habe mich inzwischen von den Militärparaden erholt. Gib mir was ab von Deinen Markenshops, ein paar Leute mehr auf meinem panzergeprüften Pflaster machen mir nichts aus.

Damm: Da musst Du erstmal Deinen Denkmalschutz loswerden. Da darf ja kein Gucci oder Prada sein Logo fett vorne hin montieren!

Denkmalschutz Ost: Wein drin, Briefmarken obendrauf

Allee: Kann ich das ändern? Stimmt schon, hier wird eben auf Geschichte und Schönheit geachtet, bei Euch geht es immer nur um Kommerz. Sogar meine alten sozialistischen Leuchtreklamen stehen unter Denkmalschutz. Deshalb muss einer meiner Geschäftsleute sein Weinlokal unter der Leuchtschrift „Briefmarken“ betreiben.

Denkmalschutz West: Eine Verkehrskanzel am Kurfürstendamm

Damm: Ich fasse es nicht, wer kommt denn auf so eine Schnapsidee? Sowas fiele mir nicht ein. Wir haben nur eine Verkehrskanzel aus den 50ern, die unter Denkmalschutz steht.

Allee: Ihr wollt mich eben als nostalgisches DDR-Museum erhalten. Sogar die schöne Karl-Marx-Buchhandlung steht leer. In dieser Lage, bei diesem Namen! Schon traurig, aber dafür bin ich eben auch die Schönere von uns beiden.

Damm: Fang nicht schon wieder damit an! In Deinen Prachthäusern macht schon deshalb kein toller Laden auf, weil es in Deinen Seitenstraßen keine so reichen Leute gibt wie bei mir, die da einkaufen könnten.

Allee: So ein Blödsinn! Ja, wir sanieren eben aus unseren sozialistischen Plattenbauten, die hinter meinen schönen Kachelfassaden stehen, nicht die Leute heraus. An Deiner Seite, mein lieber geldgieriger Kurfürstenkollege, kann man sich das Leben eben gar nicht mehr leisten, so ist das. Bei mir schon.

Damm: Und warum sieht man dann auch bei Dir so viel Armut auf der Straße, Menschen ohne Wohnung, Alkoholkranke, flaschensammelnde Rentner?

Allee: Das ist gemein! Die gibt es alle bei Dir auch, und zwar ganz üppig. Man muss nur genauer hinschauen, weil Dein ganzer Glitterglanz und Deine Leuchtreklamen so blenden. „Und man sieht die im Licht, die im Dunkeln sieht man nicht“, hat schon Bertolt Brecht geschrieben. Recht hat er.

Damm: Anderes Thema, schöne Allee! Kannst Du mir nicht etwas von Deinen Grünflächen abgeben, zum Beispiel die Weberwiese?

Allee: Das könnte Dir so passen. Ihr Wessis glaubt immer, Ihr könnt alles kaufen. Du bekommst gar nichts von mir: keine Kachel, keine Säulenarchitektur, keinen meiner Fontänenbrunnen, kein Grün. Ich will alles behalten, was mich so schön macht.

Damm: Dann wirst Du in Schönheit sterben.

Allee: … und Du an Deinem Geld ersticken.

 

 

Wer sich die Geschichte der beiden Prachtstraßen Berlins näher zu Gemüte führen will, kann dies z.B. auf Wikipedia tun:

Kurfürstendamm: https://de.wikipedia.org/wiki/Kurf%C3%BCrstendamm

Karl-Marx-Allee: https://de.wikipedia.org/wiki/Karl-Marx-Allee

 

 

 

Farbfilm (7. Juni 2021)

„Du hast den Farbfilm vergessen!“ schimpfte 1974 die 19jährige Sängerin der Gruppe „Automobil“, Nina Hagen, ihren Reisebegleiter Micha. „Automobil“ landete damit in der Schlagerparade der DDR.

„Alles grau“, urteilte das Westkind

Brauchte man in der DDR einen Farbfilm? „Nun glaubt uns kein Mensch, wie schön ’s hier war“, ging der Text des Liedes weiter, „alles Blau und Weiß und Grün – und später nicht mehr wahr!“ Es gab eine Zeit, in der westdeutsches Vorurteil dem Osten unseres Landes attestierte, dort sei „alles grau“. Und tatsächlich kann sich der Flaneur gut an seine erste Reise in die gerade ganz neu und frei zugänglich gewordene Noch-DDR erinnern. Die damals sechsjährige Tochter schaute nach dem Überwinden der nicht mehr gesicherten innerdeutschen Grenze lange und fasziniert aus dem Fenster, die ersten Dörfer kamen ins vorbeiziehende Bild, und was sagte das unvoreingenommene Westkind? „Alles grau!“

Alles grau: Die Topografie des Terrors und das Bundesfinanzministerium hinter dem Mauer-Reststück

Wer heute durch Berlin wandert oder fährt, kann West und Ost nicht mehr an der Farbigkeit unterscheiden. Aber farbig bunt ist deshalb noch längst nicht alles. Von einem Ort, der „Topografie des Terrors“ heißt, erwarten wir vielleicht auch aus gutem Grund nicht gerade Farbigkeit. Hier wird kein Farbfilm benötigt. Der Ort fordert den Besucher als graue Steinwüste, ein eingezäuntes Areal, ein modernes graues Gebäude in seiner Mitte, ein abgesenkter Graben, ein langes Stück DDR-Mauer an seiner Seite – alles grau. Es bedarf einiger Mühe, sich bewusst zu machen, was das hier eigentlich für ein leeres Straßenkarree ist. Häuser standen her bis zum Kriegsende, Paläste, prächtige Bauten, ein nobles Hotel, aber es gab auch Hinterhöfe, Garagen, Gärten, Lauben. Wenig davon ist übrig, alles ist platt und grau. Die „Topografie des Terrors“ wurde 1987 nach langer Diskussion zu einer begehbare Gedenkstätte, die erinnern soll an das Grauen, das in nationalsozialistischer Zeit dort geschah. Denn hier standen die Zentralen des Terrorregimes, das Hauptquartier von SS und SA, von Gestapo und Polizei, alle auf diesem Fleck, vereint zwischen vier Straßen.

Bomben der Alliierten zerstörten das Zentrum des Grauens, Ruinen blieben übrig von der brutal-rechtlosen Machtausübung. In den 60er Jahren wurde entschieden, das unwirtliche Gelände unmittelbar an der Mauer abzuräumen – und nichts von den Palästen zu erhalten, in denen die Mörder residierten, folterten, quälten – Betriebsfeste feierten, zu Geburtstagen anstießen, Siege bejubelten und Niederlagen schönredeten. Was man heute noch dort findet ist ein modernes Dokumentationszentrum über die Nazidiktatur und eine informative Freiluftausstellung über Deutschlands Irrweg von der Weimarer Republik hin zur totalen Niederlage im selbst angezettelten „totalen Krieg“. Alles wichtig und sehenswert, vieles davon schon hundertmal gesehen.

Moderne Archäologie

Was diesen Ort besonders macht ist so etwas wie moderne Archäologie. Unter dem Schutt der abgeräumten Nazi-Paläste wurden bei der Neugestaltung als Gedenkort die immer noch vorhandenen Pflastersteine der Einfahrten gefunden, über welche die Opfer der Gestapo in die Folterkammern gekarrt wurden. Die eingestürzten Eingangstore der Gestapo-Zentrale, kantige Ruinen, mahnen, einst unbeachtet liegengelassen, jetzt an die Todesangst der Menschen, die das Osttor einst passierten. Unterirdische Gefängniszellen der Gestapo wurden ausgegraben und pietätvoll wieder zugeschüttet, aber markiert. Die graue Topografie deutet die angelegten bombensichern Kellergänge an, zeigt die unterirdisch angelegten Räume einer Cafeteria der Folterknechte.

Die Westdeutschen der Nachkriegsjahre vergaßen sicher keinen Farbfilm, wenn sie in den Urlaub fuhren. Aber die Orte ihrer eigenen grauen Vergangenheit wollten sie gerne aus den Augen und damit aus dem Sinn haben. Alle möglichen Verwendungszwecke für die leere Brache direkt an der Mauer wurden diskutiert. In den 70er Jahren richtete Westberlin schließlich auf dem Gelände ein „Autodrom“ ein, einen Freizeitpark, auf dem man das Autofahren üben konnte – ohne Führerschein hinweg über die Folterkammern des Führers.

Heute denken wir anders. Der Gang über das weite Gelände wird zur Zeitreise vom Grauen ins Grüne. Der Besucher kann das ganze Gelände abschreiten, einige der alten Trassen des Autodroms nutzend, und findet sich bald in einem idyllischen Robinienwäldchen wieder, in dem die Blumen blühen und die Bienen summen. Zurück führt der Weg zur Betonrohr-bewehrten grauen Mauer, das von Mauerspechten durchlöcherte, angenagte, jetzt unter Denkmalschutz stehende Monument der deutschen Teilung. Die Geschichte erlaubt uns, heute ohne Schmerz über sie hinweg zu sehen, hinauf zum Gebäude des heutigen Bundesfinanzministeriums, das so grau und abweisend dasteht, als wollte es allen Klischees von der grauen DDR und dem öden Grau jedes Bürokratenapparates gerecht werden.

Olaf Scholz ist am Aussehen seines Dienstsitzes unschuldig. Das „Detlef-Rohwedder-Haus“ wurde als Monumentalbau von den Nazis errichtet, beherbergte das Reichswehrministerium, später in der DDR das „Haus der Ministerien“ und gab so vielen grauen Bürokraten der DDR einen Arbeitsplatz. Nach dem Fall der Mauer war der graue Kasten dann Sitz der Treuhandanstalt (nach dessen ermordeten Präsidenten er später benannt wurde) und seit 1999 ist dort der Sitz des Bundesfinanzministers. Vermutlich würde der Minister schon am Denkmalschutz scheitern, wenn er den Versuch unternähme, sein Haus bunt anmalen zu lassen.

Das Bunte muss von woanders her kommen

Alles Bunt: Die roten Bäume von Yayoi Kusama beim Gropius-Bau

Das Graue gehört zu diesem Gebäude, wie das Grauen zur Topografie des Terrors gehört. Also muss das Bunte von anderswo kommen. Und siehe da, Blick zurück, keine hundert Meter, außerhalb der Einzäunung, da wartet es schon, das überraschende Bunt. Stehen da tatsächlich knallrote Baumstämme mit leuchtend weißen Punkten? Wie bitte – rote Baumstämme mit weißen Punkten? Kann das sein und wenn ja – wie und warum? Der Anblick ist unglaublich und macht so hoffnungstrunken wie das Licht am Ende eines zu langen Tunnels, so glücklich wie das Durchbrechen eines neuen, strahlenden Motivs in der Musik, wie die erste Blüte im Schnee.

Rote Bäume mit weißen Punkten? Gewachsen können sie so nicht sein, also nochmal hingeguckt: Die bunten Bäume sind eingewickelt und sie sind ein Kunstwerk, Teil einer Ausstellung der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama im benachbarten (von außen übrigens auch ziemlich grauen) Gropius-Museumsbau. Gelockt von den roten Bäumen, schnell online einen Timeslot gebucht, den Corona-Test gezückt, und raus aus der grauen „Topografie“ rein in den Ausstellungpalast. Durstig nach Buntheit, nach Farbenpracht und Vielfalt. Im Foyer räkeln sich die roten Punkte im dichten Gewirr dicker Tentakel über-mannshoch bis ins Obergeschoss der Halle, bilden einen Dschungel der Farbenpracht, laden ein zu weiteren farbigen Abenteuern der Kunst. Man muss nicht alles verstehen, was sich die Künstlerin aus dem fernen Osten dabei gedacht hat, aber dem bunten Zauber der manchmal durch Spiegel ins Unendliche gesteigerten Farbigkeit ihrer Werke wird sich niemand entziehen, der sensiblen Sinnes ist.

Noch mehr Farbe in der Ausstellung der japanischen Künstlerin

Übersatt erfüllt von Farben tritt der Besucher wieder heraus in das reale Berlin, das jeden Tag so bunt gepunktet sein kann, wie der Stamm dieser Bäume, zwischen denen er jetzt steht. Bunt wie das frische Grün an den Zweigen der rotgepunkteten Bäume, oder so gelb wie die vorbeirauschenden DHL-Autos, oder so leuchtend blau wie der sommerliche Himmel. Oder so grau wie das Finanzministerium.

 

 

„Du hast den Farbfilm vergessen“ mit Nina Hagen auf youtube (hier in einer Live-Aufnahme von 2018):

Die Website der Topografie des Terrors: https://www.topographie.de/topographie-des-terrors/

Die Website der Ausstellung von Yayoi Kusama (noch bis 15.8.2021): https://www.berlinerfestspiele.de/de/berliner-festspiele/programm/bfs-gesamtprogramm/programmdetail_299677.html

Zwölf Berufene an der Autobahn (#0009)

Dorfkirche Zeestow, Wustermarker Str. 16, 14656 Brieselang (Ortsteil Zeestow)

Mein Besuch am 30. Mai 2021

Dorfkirche Zeestow

Wieder mal eine künstlerische Überraschung auf meiner Suche nach der Königseiche in Brieselang (siehe dazu mein Text als #BerlinerFlaneur): die auch als Autobahnkirche ausgewiesene (und daher tagsüber immer geöffnete) Dorfkirche Zeestow. Ähnlich wie die Feinigerkirche bei Weimar verdankt sie ihre Existenz dem Engagement von Bürgern, die einen fast schon dem Verfall preisgegebenen Kirchenbau mit vielen Stunden ehrenamtlichen Engagements retteten. Ursprünglich war die Kirche nach einem Großbrand 1851 völlig neue errichtet worden, verfiel aber in den DDR-Jahren.

„Die Berufenen“ von Volker Stelzmann

Entstanden ist auch hier wieder ein lauschiger Ort, umgeben von den Resten eines alten Friedhofes, eine echte „Tankstelle für die Seele“. Die große Überraschung findet sich aber in ihrem Inneren: Ein Bilderzyklus von Volker Stelzmann findet sich dort, der unter dem Titel „Die Berufenen“ auf die zwölf Apostel in der Form von Menschen in Not verweist – vor allem aber wohl darauf hinweist, dass „Jesus solche Menschen in seine Nachfolge berufen“ habe, wie der Prospekt der Kirche formuliert. Die Darstellung ist modern und eindringlich in diesem stillen, hellen, sonst modern und zurückhaltend gestalteten Kirchenraum. Entstanden sind eindrucksvolle Porträts der Armut, der jederzeitigen Chance zur Aufrichtigkeit unter der Last des Lebens. Der Zyklus ist jede Reiseunterbrechung am Berliner Autobahnring wert!

Die informative Website der Kirche: http://dorfkirche-zeestow.de/

Der Maler Volker Stelzmann hat eine eigene Website: https://www.volkerstelzmann.de/

 

 

Brecht lebt (3. Juni 2021)

Das Brecht-Denkmal beim Berliner Ensemble

Man kann es hören, jeden Schritt. Knirsch, knirsch, knirsch – die Schritte des Dramatikers und Theaterdirektors auf dem Kies. Oder auch trapp, trapp, auf dem Straßenpflaster. Bertolt Brecht muss weitergehen, obwohl er so oft lieber stehen bleiben würde. Zerstreut ist der Dichter, unpraktisch und mürrisch, die Frauen seines Lebens müssen ihn treiben, damit er rechtzeitig zum Schlussapplaus in sein Stammhaus, in das „Berliner Ensemble“ kommt. Aber Brecht ist widerspenstig, will sich sogar erst noch vorsorglich eine Grabstelle aussuchen, interessiert sich mal für dieses und jenes am Weg und hat zu allem eine Meinung. Er hat Angst, im Theater anzukommen, er würde vielleicht lieber hinausgehen aus der großen Stadt, hinaus dorthin, wo das Wasser plätschert und das Schilf im Wind rauscht.

Aber Bertold Brecht darf nicht. Er muss durch Berlin gehen und trifft dabei vier Frauen, die wichtig waren in seinem Leben. Jede von ihnen war ihm ergeben, obwohl er „als Mann“ vermutlich alles andere als „attraktiv“ war, klein, gern störrisch und oft ungepflegt, aber eben auch ein faszinierendes Genie, geistreich, überraschend, witzig, humorvoll.  Deshalb haben Frauen es hingenommen, dass er unklar blieb in Beziehungsfragen, haben ertragen, dass er mehrere gleichzeitig liebte, haben akzeptiert, dass er ihre Ideen, ihre Beharrlichkeit, ihre Texte zu seinem Erfolg machte, und den Ruhm und das Geld dafür alleine einstrich.

Das Wohnhaus von Bertolt Brecht und Helene Weigel in der Berliner Chausseestraße

Knirsch, knirsch, wir gehen mit Bertolt Brecht durch den Dorotheenstädter Friedhof. Dort ist er in einem gemeinsamen Grab mit Helene Weigel beerdigt, aber auch die drei anderen Frauen liegen hier: Isot Killian, Elisabeth Hauptmann und Ruth Berlau. Knirsch, knirsch, noch auf dem Friedhof geht Brecht an seinem Berliner Wohnhaus in der Chausseestraße vorbei. Und schon hören wir im Kopfhörer „Helli“ Helene Weigel schimpfen: „Geh in das Theater, troll Dich!“.

Eine Zeitreise to go

Der Brecht-Spaziergang durch Berlin ist kein Audioguide, sondern ein echtes Theatererlebnis, eine Zeitreise to go, ein individuell durchführbarer Schauspiel-Spaziergang. Umsonst und draußen! Den gesprochenen Text – wie auch die – knirsch, trapp – Schritte kann man sich auf das eigene Handy herunterladen, und dann idealerweise im Gleichschritt mit Brecht seinen Weg gehen. Er hat ihn selbst einmal auf einem Notizzettel aufgezeichnet. Der Theaterweg ist ein wunderbares Erlebnis, ein Spaziergang durch die Straßen der Mitte Berlins, aber auch durch die Seele dieses Literaten, durch seine Publikumsscheu und Wortgewalt bis hin zu seiner Angst vor dem Tod. Deshalb heißt er auch „Brecht stirbt“, obwohl dieser Gang durch Berlin auf dem Friedhof beginnt und im Theater endet.

Trapp, trapp, Brecht läuft durch seine Stadt, die er – 1956 gestorben – nicht als Stadt mit Mauer kennengelernt hat. Er ist irritiert, aber auch angetan über das heutige Berlin, über den erreichten Wohlstand in Berlin. Aber auch entsetzt über die Bausünden („Architekt verklagen!“), irritiert über die vielen Schranken und Sperren, das große Krankenhaus, an dem er vorbeikommt.

Lassen wir – trapp, trapp – Brecht ein Stückchen allein gehen! Weichen wir ab von seinem Weg und suchen wir die Begegnung mit ihm an anderen Stellen dieser Stadt. Brecht war Kommunist und glaubte an die idealtypische Ausgestaltung des realen Sozialismus. Er war überzeugt, dass es gelingen könnte, eine klassenfreie Gesellschaft mit Wohlstand für alle zu formen. Er begegnet uns also auch am 17. Juni 1953 auf der Karl-Marx-Allee, die damals Stalinallee hieß. Dort, an einer heute markierten Stelle, hatte das Volk der sowjetischen Zone gegen die Lebensmittelpreise protestiert, und Brecht war entsetzt über das Handeln der Mächtigen: Wenn das Volk das Vertrauen der Regierung verscherzt habe, „wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“

Mit Brecht durch Neukölln und über den Kurfürstendamm

Trapp, trapp – gehen wir mit Brecht durch Neukölln und Kreuzberg. Hier und anderswo begegnen wir seinen Helden der Dreigroschenoper, den einfachen Leuten, die sich mit kleiner Kriminalität über Wasser halten, und den Gangsterbossen, ihren willfährigen Helfern und hilflosen Opfern. Aber auch in den feinen Vierteln der Stadt, am Brandenburger Tor, wo sich die Touristen tummeln, auf dem Kurfürstendamm, wo die Reichen shoppen, läuft Brecht mittendurch zwischen den Bettlern, organisiert von osteuropäischen Bettlerbanden, die so tun müssen, als wären sie arm und beladen. Dabei wären sie es vielleicht nicht, wenn ihre Bettler-Bosse sie nicht wie Mr. Peachum aus der Bettleroper als Arme verkleiden und unter Kontrolle halten würden. „Wovon lebt der Mensch?“, fragt Macheath, und alle Bettler antworten: „Der Mensch lebt nur von Missetat allein!“

Trapp, trapp, weiter geht’s. Vielleicht pfeifen wir jetzt die Ballade vom Haifisch und den Zähnen?  Wer mit Brecht durch Berlin läuft, sieht auch die vielen Mütter, mit und ohne Kopftuch, aus Hartz oder Aleppo, die alltäglich mit Courage ihre Familien durchbringen müssen. Sie betreiben keinen fliegenden Warenhandel mehr, aber sie müssen genau hinsehen, was sie kaufen können, um ihre Kinder satt zu bekommen, sie anzuziehen und zu bilden, damit sie nicht verloren gehen wie die Söhne der „Mutter Courage“.

Trapp, trapp! Jedes Wochenende werden hier tausende Kinder hin und hergefahren zwischen ihren getrennten Eltern. Wir haben Brechts Lektion des „Kaukasischen Kreidekreises“ gelernt. Wir wollen nicht mehr an an den Armen unserer Kinder zerren, um zu ihren Lasten Recht zu behalten.  Und doch kommt es wohl noch oft genug vor.

Da, der Karlsplatz! Hier treffen wir Bertolt Brecht wieder auf seinem Weg zum Theater, nur noch wenige Schritte sind es bis dorthin. Hier, auf der Rückseite des Denkmals für Virchow, lehnt eine Tafel. Darauf steht ein Gedicht. Es berichtet über das kleine Wunder dieser Pappeln, die den Winter 1946 überstanden haben, obwohl er kalt war und die Menschen Holz zum Heizen brauchten. „Doch die Pappel dort am Karlsplatz zeigt uns heute noch ihr grünes Blatt: Seid bedankt, Anwohner vom Karlsplatz, dass man sie noch immer hat.“ Die Zeilen sind von ihm.

Da sitzt der Dichter

Das Berliner Ensemble – Theater von Bertolt Brecht und Helene Weigel

Trapp, trapp – zum Theater! Im Kopfhörer rauscht Applaus. Der Dichter sitzt da schon, eisern und freundlich blickt er uns gerade in die Augen und die Kinder klettern ihm auf die Schulter. Da sitzt ein freundlicher Mensch voller Empathie für die „kleinen Leute“, angekommen in seiner Wahlheimat Berlin, nach einem langen Weg durch zwei Weltkriege, Flucht, Exil, enttäuschten Hoffnungen. Jetzt sitzt er hier auf Dauer. Rechts von ihm „sein“ Theater. Junge Menschen warten auf Einlass, aufgeregt, erwartungsfroh suchen sie noch immer und immer wieder neu die Inspiration des gesprochenen Wortes.

Trapp, trapp – weiter, weiter! Das kluge Wort stirbt nicht, es lebt immer weiter.

 

Den wunderbaren Spaziergang durch Berlin mit Bert Brecht kann man hier erleben (wobei es natürlich am Schönsten ist, vor Ort mitgehen zu können): https://www.berliner-ensemble.de/audiospaziergang-brecht-stirbt

Mehr über Bert Brecht bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Bertolt_Brecht

 

 

 

Hier blickte Fontane vom Turm (#0008)

St. Nikolai, Berlin-Spandau, Reformationsplatz 1, 13597 Berlin

Mein Besuch am 30. Mai 2021

St. Nikolai, Innenraum und gotischer Altar

Eine große klare Kirche, hell und doch streng. Das gotische Gewölbe weist in den Himmel, der Kirchenraum ist breit gegliedert und lädt zum stillen Rundgang ein. Die Kirche ist sehr alt; im Rohbau um 1370 erstmals fertiggestellt, ein 1398 gestiftetes gotisches Taufbecken ist bis heute erhalten. Später wurde die Kirche neugotisch von Karl Friedrich Schinkel restauriert, der Turm brannte mehrfach aus und trägt eine barocke Spitze mit einer Aussichtskanzel, die schon Theodor Fontane in seinen „Wanderungen“ für einen ersten Rundblick auf das Havelland nutzte (siehe auch „Im Brieselang“ unter #BerlinerFlaneur).

Wer das Glück hatte, wie ich die Kirche geöffnet zu erleben, und das auch noch bereichert durch  Klavierspiel einer Kirchenmusikerin, findet sein stilles Glück in diesem Raum.

Barocke Kanzel, um 1700, Holz

Während des Nationalsozialismus war hier Superintendent Martin Albertz tätig, ein mutiger Mann aus dem kirchlichen Widerstand gegen das Hitler-Regime. Diesen Widerstand musste er nicht nur gegenüber dem Staat durchsetzen, sondern auch gegenüber der Mehrheit seiner eigenen Amtsbrüder und seines Kirchengemeinderates. Er war Mitbegründer und eine der führenden Vertreter der „Bekennenden Kirche“, die sich gegen die Gleichschaltung durch das NS-Regime wehrte.

Mehr über Martin Albertz: https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Albertz

und über St. Nikolai auf der Website der Pfarrgemeinde: https://nikolai-spandau.de/page/2062/st-nikolai-kirche

und der Text von Fontane im Original: https://www.textlog.de/41235.html

Im Brieselang (31. Mai 2021)

„Heute schon bewegt?“ mahnt das Hashtag in einer Chatgruppe täglich mehrfach den Flaneur. Was für eine Frage! Das Erkunden der großen Stadt Berlin und ihrer noch größeren Umgebung ist Bewegung an sich. Aber in Zeiten von Couch-Potatoes, von Serien-Sucht, Sitzberufen im Büro wie im Homeoffice, gilt das Sitzen bekanntlich als „das neue Rauchen“. Zwei Autoren haben so ihr Buch genannt, in dem es – wenig überraschend – um ein Bewegungsprogramm für Vielsitzer geht. Aber Bewegen allein ist nicht genug. Wir wollen auch darüber reden: Wir feiern jeden Schritt, jeden er-radelten Kilometer, jedes gestemmte Kilo, wir „teilen“ es und machen es so zum Gegenstand eigener Motivation und fremder Bewunderung.

2430 Seiten, 99 Cent

Nach und nach, im Laufe von insgesamt 27 Jahren ab 1862, hat der Berliner Schriftsteller Theodor Fontane seine Heimat rund um Berlin durchwandert. Auch er „teilte“ seine Erlebnisse, zunächst in Aufsätzen für die Zeitung, später zusammengefasst in dicken Büchern. Der sportliche Aspekt fand dabei allenfalls im Hinterkopf statt. Fontane ging es um die alten Geschichten, Gerüchte und Sagen rund um die vielen Orte, die er aufsuchte. Ihm war die Wahrnehmung von Natur und Kultur wichtig. Für 99 Cent kann man sich heute die „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ auf den e-Reader laden, fünf Bände mit 2430 Seiten, und damit handlich geeignet als Wanderbegleiter.

St. Nikolai in Berlin-Spandau

Aber auch nützlich? Der Flaneur macht sich auf, dem berühmten Dichter auf eine der beschriebenen Wanderungen hinterher zu folgen. Start in Berlin-Spandau. Fontane suchte die damals noch eigenständige Stadt auf, um den Kirchturm der St.-Nikolai-Kirche zu besteigen, und er durfte tatsächlich hinauf auf den Turm. In seinem Text sinnierte er beim Hochsteigen über die Vorteile von spiralförmiger Ausgestaltung eines Turmaufstiegs gegenüber zu langen geraden Holztreppen und spottete über die vertrackte Vielfalt der Schlösser. An all das ist für den Besucher von heute nicht zu denken. Fest verschlossen ist die Turmtür und kein Hinweis lässt hoffen, dass ein Besteigen möglich wäre. Also müssen wir uns auf das verlassen, was Fontane beschrieb, nachdem er endlich die offene, nicht verglaste Aussichtskanzel auf der Kirchturmspitze erreicht hatte: „Ostwärts im grauen Dämmer die Türme von Berlin, nördlich, südlich die bucht- und seereiche Havel, inselbetupfelt, nach Westen hin aber ein breites, kaum hier und da von einer Hügelwelle durchbrochenes Flachland – das Havelland.“

Dort im Havelland hat Fontane einen Wald mit einem eigenen Kapitel bedacht: den „Brieselang“. Das Datum, an dem Fontane seine Wanderung durch diesen Wald absolvierte, ist genau benannt, es war der 22. Mai 1870, ein warmer, schwül-gewittriger Tag, wie dem Text zu entnehmen ist. Ausgehend von einem Gasthaus „Finkenkrug“ ging die Wanderroute, mit einer Rast in der Försterei inmitten des mächtigen Waldes, bis hin zu einer Eiche, die damals als „Königseiche“ bis Berlin hin bekannt war.  Denn „nur erst, wer bei der Königseiche steht, der den Brieselang hinter sich hat, kann mitsprechen!“, ruft uns Fontane wildromantisch zu. Mitsprechen ist angesagt in unseren kommunikativen Zeiten. Also auf in den Brieselang!

Im Finkenkrug gibt es kein Bier mehr, …

Das Unternehmen gestaltet sich schon bald problematischer als gedacht. Der Weg ist nach einer neuzeitlich aktualisierten Planung auf Maps zwar anspruchsvoll, aber doch auch der durch jahrelange Schreibtischarbeit geschwächten Muskulatur des Nach-Wanderers noch zuzutrauen. Leider ist aber nichts mehr zu finden von allem, was Fontane beschreibt. Der „Finkenkrug“ ist keine umtriebige Gastwirtschaft mehr, in der zwischen „links Kaffee und Kegelbahn, recht ist Bier und Büchsenstand“ zu wählen wäre. Fontane entschied sich für die einladende Außengastronomie des Cafés, und ließ sich dorthin das Bier bringen, was offenbar auch funktioniert hat. Heute trägt ein Ortsteil von Falkensee diesen Namen, gänzlich ohne gastronomisches Angebot. Die Försterei, in der Fontane und seine Wandergesellschaft so humorige Gespräche mit dem Förster und seiner Familie führen konnte, so viel zu hören bekam über die wilden Gewitter im Brieselang, ist ersetzt durch einen schmucken Neubau. Auch hier keine Einkehrmöglichkeit mehr. Der weitere Weg durch den Wald führt vorbei am lauschigen Waldfriedhof der Gemeinde Brieselang, den es vor 150 Jahren noch nicht gab und der jeden vorbeiziehenden Gast nur neidisch machen kann auf alle, die für sich einen solchen lauschigen, Laub-umrauschten und Vogel-umzwitscherten letzten Ruheplatz gefunden haben, wenn es denn unbedingt sein muss.

… also Rast auf dem Friedhof.

Der Waldfriedhof im Brieselang

Ein paar wenige gräberpflegende Brieselanger sind da zu beobachten, und vorbeiziehende Jogger, kilometerfressende Radfahrer oder um ein gemeinsames Fahrttempo ringende Familien. Fontane hatte auf seinem Weg durch den Brieselang originelle Begegnungen mit Naturfreunden: Da waren Sammler aller Art unterwegs – auf der Jagd nach Kräutern, nach Käfern, nach Schmetterlingen, nach Schlangen und Fröschen und Vogeleiern. Ein solcher Käferfreund kam für den Dichter sogar leibhaftig aus dem Unterholz und begleitete ihn ein Stück des Weges, plaudernd über die Vielfalt von Flora und Fauna.

Die Beweglichen von heute sammeln keine Kräuter oder Käfer, und Zeit für einen Plausch haben sie auch nicht. Sie sammeln Schritte, Kilometer und Kardiopunkte. Sie treiben sich durch das Gehölz, nur selten zuckt der konzentrierte Sportlerkopf zur Seite: Was war das da für ein geschäftiges Geraschel der Vögel im Gebüsch? Den gehetzten Blick auf die Daten am Armgelenk gerichtet, bleibt das lautlos-emsige Treiben der Ameisen unerkannt. Und das Surren des eBikes übertönt jedes Rauschen des Eichenlaubs, wie es anschwillt und verebbt im Wind dieses kühlen Maitages.

Die „Königseiche“

Eichenlaub! Jetzt aber endlich auf zur Königseiche! Schon die Lektüre der „Wanderungen“ macht skeptisch: „Sie steht da wie ein Riesenskelett mit gen Himmel gehobenen Händen.“ Fontane sah nur einen toten Baum, dessen Ausmaß ihn immerhin schwer beeindruckt hat: um die 30 Meter hoch, „man braucht zwanzig Schritt, um ihn zu umschreiten“. Als die wandernden Herren von 1870 den berühmten Baum endlich erreicht hatten, erhoben sie voller Respekt und Hochachtung die mitgeführte Wein-Proviantflasche auf den Baum und gaben seinem toten Stamm sogar einen eigenen Schoppen ab. Der mächtige Baum, dessen Alter die Waldkundigen schon damals auf etwa 1000 Jahre geschätzt hatten, war bei Fontanes Wanderung bereits seit drei Jahren abgestorben. Den Förster zitiert Fontane mit der Prognose: „Er steht noch hundert Jahr.“

Vor 150 Jahren war die Eiche auch ein Symbol für Deutschtümelei, eine Annäherung an die Unvergänglichkeit Preußens. Sie war auch eine besonders prominente „Jahneiche“, eine Kultstätte für nationalistisch motivierte Bewegungsfreude. Für einen Besuch der Königseiche nahmen die Turner und andere Sportbegeisterte aus Berlin die lange Anreise in Kauf, um sich deutschtümelnd körperlich zu ertüchtigen. Fontane schildert all dies und zitiert distanzlos jene Ehrentafel, die an dem großen Baum angebracht war: „Eiche, hehre, stolze, freie – sieh: Dein Volk wird auferstehen!“

Da lacht das grüne Herz

Heute schon bewegt? Hoffentlich im Kopf. Dort und im Wohnzimmer sollte die Eichenholz-Schrankwand verbannt sein. Wenn wir heute Fontane lesen, können wir uns auf die Ökologie stürzen: „Eine Welt von Getier bewohnt die alte Eiche. Der Bockkäfer in wahren Riesenexemplaren hat sich zu Hunderten eingenistet, am ersten großen Ast schwärmen Waldbienen um ihren Stock, und im kahlen Geäst, höher hinaus, haben zahllose Spechte ihre Nestlöcher.“ Da lacht das grüne Herz, das heute so umkämpft ist, wie damals das nation ale Selbstbewusstsein.

Aber wo ist denn nun dieser prominente Baum? Die unpräzise Wegbeschreibung von 1870 hilft nicht weiter, aber wohl ein Blick ins Internet: Die Hundert-Jahre-Prognose der Förster stellte sich schon bald als falsch heraus. Der Baum wurde 1896 von einem Blitz getroffen, brannte, und sein Torso stürzte schließlich um. Angeblich sind heute noch Reste davon zu sehen (aber dem Flaneur gelang es nicht, diese Stelle zu finden). Ein „neuer“ Baum soll jetzt erinnern an die Stelle der alten Königseiche. Vor mehr als hundert Jahren gepflanzt, ist sie auch schon ein sehr stattlicher Baum, und kann doch noch immer kaum ein Enkel des mächtigen Ahnen sein.

Wenn wir Menschen es zulassen, leben Bäume eben in anderen zeitlichen Dimensionen. Und das, obwohl sie sich überhaupt nicht bewegen. Heute schon nachgedacht? Na klar, im Brieselang!

 

Fontanes Text über den Brieselang findet man auch online hier:

http://www.zeno.org/Literatur/M/Fontane,+Theodor/Reisebilder/Wanderungen+durch+die+Mark+Brandenburg/Havelland/Spandau+und+Umgebung/Der+Brieselang

Ein schönes Bild der originalen „Königseiche“ im Brieselang findet sich auf der Website der Gemeinde Schoenwalde-Glien:

https://www.schoenwalde-glien.de/city_info/webaccessibility/index.cfm?item_id=853017&waid=114&modul_id=5&record_id=147837

Über die St. Nikolai-Kirche in Spandau habe ich auch in meiner Sammlung #1000Kirchen geschrieben: https://vogtpost.de/st-nikolai-berlin-spandau-0008/01/06/2021/

 

 

Eine Kirche bekennt sich zu ihrer Geschichte (#0007)

Johanneskirche Frohnau, Zeltinger Platz 18, 13465 Berlin

Mein Besuch am 17. Mai 2021

Johanneskirche Frohnau

Das findet man selten: Eine Kirche bekennt sich klar zu ihrer Geschichte, nicht nur kunsthistorisch, sondern auch politisch. „Die Johanneskirche ist ein Kirchenbau aus nationalsozialistischer Zeit“, schreibt die Ev. Kirchengemeinde im ausliegenden Informationsblatt. Die Grundsteinlegung erfolgt 1935. Während mich in anderen Kirchen Gedenktafeln für gefallene Soldaten irritieren (die es auch hier gab, aber zu DDR-Zeiten entfernt wurde), findet sich hier nun vor der Kirche ein Gedenkstein für die aus Frohnau verschleppten und ermordeten jüdischen Bürger.

Die Kirche mit ihrem massigen, sehr wehrhaft wirkenden Backsteinturm passt sich ein in die architektonische Idee der Gartenstadt Frohnau, die früher entstand und bis heute einen einladenden Zauber verbreitet mit der klaren städtebaulichen Struktur und dem vielen Grün, in dem die niedrigen Häuser und Villen nahezu verschwinden.

Johanneskirche Frohnau

Das Kirchenschiff wirkt tatsächlich wie ein umgedrehter Schiffsrumpf. In spitzen Bögen überspannen die Träger den weiten Raum, der damit sehr offen und und licht wirkt. Der Altarraum ist durch einige Treppenstufen abgesetzt. Kerzen auf den Stufen laden zu einem meditativen Moment ein. Oder zum Studium des wirklich informativen, bereits erwähnten Informationsblattes, das sich „geistliches Portrait der Johanneskirche“ nennt, aber viel mehr ist – nämlich eine selten gefundene, kluge Auseinandersetzung mit dem eigenen Kirchenraum, informativ, selbstkritisch und anregend. Der Text kann auch im Internet auf der Website der Kirchengemeinde nachgelesen werden:

https://www.ekg-frohnau.de/page/6561/die-johanneskirche

Mehr über die Geschichte der Gartenstadt Frohnau bei Wikipedia:

https://de.wikipedia.org/wiki/Berlin-Frohnau

 

Sonderzug nach Schönhausen (25. Mai 2021)

Schloss Schönhausen in Berlin-Pankow

Wie muss man sich das vorstellen, wenn darüber entschieden wird, den eigenen Staat einzumauern? Als Walter Ulbricht im Juni 1961 seine weltberühmte Lüge sächselte, wonach „niemand“ die Absicht habe, „eine Mauer zu bauen“, war er Hausherr im Schloss Schönhausen. Das Schloss im Berliner Norden war nach vielen Umwegen und Verwerfungen der deutschen Geschichte zu seiner Zeit Amtssitz des Staatsoberhauptes der DDR geworden. Und da dem jungen Arbeiter- und Bauernstaat die Menschen davonliefen, plante Ulbricht bekanntlich trotz allem, was er sagte, eine Mauer.

Wer möchte, kann sich im Schönhauser Schloss das Büro ansehen, in dem dies geschah: Schwere Eichenmöbel, ein riesiger Schreibtisch, tiefe Sessel, alles im Original erhalten. Trank man importierten Cognac? Oder einheimisches Bier? Oder standen nur Wasserkaraffen auf dem Tisch, als der Plan für die Abtrennung Ost- von Westdeutschland und die Mauer durch Berlin geplant wurde? Gab es Häppchen? Oder Kekse? Lagen Pläne auf den Tischen? Wurde geraucht? Waren auch Frauen dabei oder blieb es eine Männerrunde? Das kann auch die freundliche Aufsichtsdame der Stiftung preußischer Schlösser und Gärten nicht beantworten.

Historiker und Archivare könnten es vermutlich wissen; aber der Flaneur bedient sich ohnehin lieber seiner Fantasie. Denn draußen, im Schönhauser Schlosspark, hat dieser Ortes die Fantasie bereits beflügelt: Als über die Mauer durch Deutschland entschieden wurde, war ihr Vorbild bereits da, wenige Meter entfernt vom Ort des Geschehens: trennend, ausgrenzend, wuchtig.

Die kleine Mauer von Schönhausen

Die Schlossmauer von Schönhausen

Wie kann das sein? In den 50er Jahren hatten die Verantwortlichen der DDR entschieden, den größeren Teil des alten königlichen Schönhauser Schlossparks abzutrennen und für die allgemeine Öffentlichkeit freizugeben. Der kleinere Teil des Parks aber, unmittelbar um das Schloss gelegen, wurde mit einer hohen Mauer abgetrennt, damit das Staatsoberhaupt in Sicherheit seinen Geschäften nachgehen konnte. Diese Mauer teilt den Park bis heute. Wer das Schloss umrundet, schlendert unter den Jahrhunderte alten Bäumen auf fein gezogenen Wegen dahin, vorbei an der Brunnenfontäne, vorbei am alten Teehaus – und schon stößt er auf die Mauer. Eine respektable Steinwand, mehr als zwei Meter hoch, dahinter das einfache Volk, davor ein sorgsam freigehaltener Streifen, Patrouillen-tauglich für gut bewaffnete Beschützer des Amtssitzes. Sogar die Leuchten sind noch da, mit deren Hilfe einst diese innere Grenze ausgeleuchtet wurde. Wenn auch zerstört, verbeult, verrostet, zeugen sie doch von Zeiten, da hier in Pankow hinter Mauern über Mauern entschieden wurde.

Hierhin sollte Lindenbergs Sonderzug fahren

Als Udo Lindenberg 1983 in seiner frechen innerdeutschen Musikprovokation singend einen „Sonderzug nach Pankow“ verlangte, hinderte ihn die große Mauer an der Reise. Sein gedankliches Ziel war dieses Schloss Schönhausen im Berliner Bezirk Pankow, wo er Erich Honecker vermutete. Der Hamburger Panikrocker war allerdings nicht up to date. Ulbrichts Nachfolger, laut Udo Lindenberg „eigentlich auch ein Rocker“, war längst in das neue Staatsratsgebäude in die Berliner Innenstadt umgezogen und eben doch ein „sturer Schrat“, wie Lindenberg im Lied schon befürchtet hatte. Über den Spott des West-Musikers soll er nachhaltig verstimmt gewesen sein. Lindenberg durfte trotzdem ein paar Monate später tatsächlich kurz in Ostberlin singen, wenn auch nicht dieses Lied. Eine Tournee scheiterte an politischen Auflagen.

Udo Lindenberg hatte mit seinem Ruf nach einem Sonderzug nach Pankow im Westen großen wirtschaftlichen Erfolg. Im Osten schuf er ganz nebenbei eine heimliche Hymne für Öffnung und Erneuerung. Vielleicht hat auch ein wenig sein freches Lied dazu beigetragen, die Entfremdung zwischen Volk und Führung in der DDR wahrnehmbarer, aussprechbarer zu machen. Dennoch blieb die Intervention des in Hamburg lebenden Künstlers Lindenberg ein risikoloser Angriff von außen, war gewissermaßen so mutig wie das Bemalen der Westseite der Mauer mit Freiheitsparolen.

Kein Sonderzug für Wolf Biermann

Für den in Hamburg geborenen Liedermacher und DDR-Dissidenten Wolf Biermann ging es da schon um viel mehr, als er sich 1976 in einen Zug (wenn auch keinen Sonderzug, sondern eine schlichte Berliner S-Bahn) setzte, um mit Genehmigung seines Staates zu einer Konzertreise in den Westen aufzubrechen. Wenige Tage später bliebt für ihn nach einem als zu regime-kritisch verstandenen Konzert in Köln die Mauer geschlossen. Biermann wartete 13 Jahre, bis er am 1. Dezember 1989, drei Wochen nach dem Mauerfall, in Leipzig wieder ein Konzert in der DDR geben konnte. Vor 5000 Menschen, übertragen vom west- wie vom ostdeutschen Fernsehen. Was für ein Triumpf der Lieder über die Mauern!

Man kann sich das Konzert und die wütend-bissige Abrechnung Biermanns gegen die greisen Männer der DDR-Staatsführung auf Youtube ansehen; mehr als drei Stunden, die jeden Zuhörer auf eine Zeitreise in die deutsche Geschichte hineinreißen, gewissermaßen ein virtueller Sonderzug nach Leipzig. Inzwischen ist Biermann Berliner Ehrenbürger, lebt aber wieder in Hamburg.

„Berlin tut weh“

Hier schlief Michail Gorbatschow und viele andere Staatsgäste der DDR

Politisch fern gehalten hat sich der dritte im Bund der Liedermacher, die durch diesen Text ziehen. Reinhard Mey hat den beiden anderen voraus, dass er ein echter Berliner ist, dort geboren und bis heute zu Hause. „Berlin tut weh“, klagt eines seiner Lieder, das noch in der Zeit des Kalten Krieges entstand. Mey hadert darin mit seiner Heimatstadt: „Du hast mich um ein Stück Freiheit betrogen, mich, der nichts Teureres als Freiheit weiß…“ „Staatsmann und Hinterbänkler“, singt Mey, „alle kamen mit großen Sprüchen und mit Prunk und Pracht“. Politischer wird´s bei Reinhard Mey nicht, und gemeint hat er wohl die Besuche westlicher Größen im eingeschlossenen Westberlin: Kennedy, Elisabeth II., de Gaulle. Und eher nicht die Staatsgäste der DDR, die inzwischen im zum Gästehaus umgebauten Schönhauser Schloss hinter verschlossenen Toren und einer hohen Mauer nächtigten, wie Jassir Arafat, Fidel Castro oder Michael Gorbatschow.

Der Fahnenmast hat ausgedient

Was für ein verändertes Bild bietet das schöne schlichte Sommerschloss der Königin Elisabeth Christine von Preußen heute: Offen steht das Tor, ein Gartencafé begrüßt den Besucher, Bänke laden zum Verweilen unter den Kastanienbäumen ein, welche die Allee zum Schloss hin säumen. Kinder spielen, Radler kreuzen, Hunde tollen herum. Der Fahnenmast hat ausgedient, sein Seilzug klappert nutzlos im Wind. Zugewachsen und verfallen sind die Garagen, in denen die eskortierten Karossen der Staatsgäste zuletzt parkten. Nur die Mauer hinter dem Schloss, mit ihren verrosteten Scheinwerfern, mit dem gepflasterten Pfad für die Wachsoldaten, die ist immer noch da.

Mehr Informationen zur sehr wechselvollen Geschichte von Schloss Schönhausen bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss_Sch%C3%B6nhausen

Udo-Lindenbergs Sonderzug nach Pankow auf Youtube:

 

Das legendäre Konzert von Wolf Biermann am 1. Dezember 1989 in Leipzig:

Und das Lied „Berlin tut weh“ mit Reinhard Mey: