Neue Fragen an Hubert Aiwanger

Vom „Scheiß in der Jugend“ und was seither geschah – Ein Brief

Hallo Herr Aiwanger,

ich hätte da noch ein paar Fragen! Sie brauchen zwar meine Stimme nicht, ich darf in Bayern nicht wählen. Sie brauchen auch mein Verständnis nicht.

Aber Sie reden ja auch von mir. „Jawohl, auch ich hab´ in meiner Jugend Scheiß gemacht“, haben sie bekenntnismutig gerufen vor ein paar Tagen beim Karpfhamer Volksfest in Niederbayern. „Auch ich“ haben Sie gesagt, und damit haben sich in eine Reihe gestellt mit uns allen, mit Menschen wie auch mich.

Meine Jugend liegt noch fünfzehn Jahre weiter zurück als die Ihre, aber einen Scheiß habe ich da auch schon gemacht. Möglicherweise kann ich mich besser als Sie daran erinnern. Mancher Scheiß war einmalig und lehrreich: Nie wieder wollte ich so ein ertapptes Häufchen Elend sein wie damals, als ich meinen Eltern gestehen musste, dass ich das Geld für den Ausflugsbus der Schülermitverwaltung zwar eingesammelt, aber dann für meine ersten Kneipenbesuche ausgegeben hatte. Und die stümperhaft gefälschte Unterschrift meines Vaters unter die Fünf in der Latein-Schulaufgabe büßte ich mit einer saftigen Ohrfeige, die ich nie vergessen werde, vor allem deshalb, weil mein Vater so gelitten hat an seiner vermeintlichen Pflicht zur Züchtigung.

Erinnern kann ich mich auch ganz genau …

…. an dumme Sprüche darüber, dass nicht alles falsch gewesen sei beim Hitler. Manchmal redeten meine Eltern so daher. Dazu kam, dass wir im Geschichtsunterricht gar nicht bis zum mörderischen „Dritten Reich“ gekommen sind. Immer war das Schuljahr zu Ende, und wir steckten immer noch im langweiligen Mittelalter fest. Auch an unappetitliche Witze über das Schicksal von Juden erinnere ich mich, die wir uns in dem Alter erzählt haben, in dem bei Ihnen ein Flugblatt im Schulranzen gefunden wurde.

Bei mir war es so: Ich habe mitgelacht, auch dümmlich weitererzählt, ahnungslos, denn ich kannte keine Juden. Es waren keine mehr da in unserer kleinen bayerischen Stadt, oder wenn doch, dann gaben sie sich nicht zu erkennen.

Jawohl, auch ich habe in meiner Jugend Scheiß gemacht.

Nun sind Sie in Bayern in einem hohen Staatsamt, und der Scheiß aus Ihrer Jugend wird Ihnen vorgehalten. Sie sind der Meinung, dass das unfair ist, weil es so lange zurückliegt, und halt ein Scheiß aus Ihrer Jugend sei. Damit ich beurteilen kann, ob das wirklich so ist, müsste ich schon ein wenig mehr wissen.

Deshalb kommen hier ein paar Fragen, …

… für die ich mich an meinen eigenen Erinnerungen orientiere, die ich aus den letzten fünfzig Jahren habe:

Waren Sie denn seit Ihrer Strafarbeit von 1987 und – wohlgemerkt! – vor der aktuellen Diskussion um Ihren „Scheiß in der Jugend“, also irgendwann einmal in den letzten 36 Jahren,  zu Besuch in Dachau oder Buchenwald? Oder gar in Auschwitz? Treblinka? In Dachau war ich zweimal, und jedes Mal hat mich das dort gezeigte Grauen so tief erschüttert, dass ich schließlich zu feige war, mir das Unbeschreibliche in Buchenwald noch einmal anzusehen. Und das, obwohl ich mehrere Jahre ganz in der Nähe von Weimar gelebt und gearbeitet habe. Es ist diese eigene Feigheit, die mich beschämt, und die ich noch überwinden will. Vor einem Besuch in Auschwitz fürchte ich mich noch mehr. Und auch vor der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Kennen Sie diese Furcht? Diese beiden Orte der Erinnerung habe ich noch nicht besucht. Waren Sie schon dort?

Herr Aiwanger, waren Sie in den letzten 36 Jahren schon einmal in der KZ-Gedenkstätte Dachau … (Foto: KZ-Gedenkstätte)

Sind Sie an einem dieser Orte auch stumm geworden …

… angesichts der Leichenberge, der Kisten mit herausgebrochenem Zahngold, der herausgeschmuggelten Fotos nackter Todgeweihter auf dem Weg in die Gaskammern?

Haben Sie es gespürt, das unermessliche, tödliche Grauen, das die sogenannten rechtschaffenen deutschen Bürger dort und an Millionen anderen Stellen angerichtet haben, viele aus fester innerer Überzeugung, vielleicht sogar als schweigende große Mehrheit?

Haben Sie den Film „Schindlers Liste“ gesehen?

Haben Sie sich auch, so wie ich, gequält herumgewälzt im Kinosessel, um der gewissenlosen, brutalen Unerbittlichkeit der Nazi-Schergen nicht weiter zusehen zu müssen?

Haben Sie „Mein Leben“ von Marcel Reich-Ranicki gelesen? Haben Sie mit ihm und mir gebangt und gelitten, als er von seiner Flucht erzählte, vom unfassbaren Glück, das ihn und seine Frau Tosia beschützte, als er seine letzte und einzige Chance nutzte, den sicher todbringenden Verfolgern im  Warschauer Ghetto doch noch zu entkommen?

Haben Sie einmal das Haus der Wannseekonferenz in Berlin besucht?

Haben Sie die eiskalte Sprache des gebeugten Rechtes gelesen, die zynischen Berechnungen nachvollzogen? Oder den Film gesehen, der die Konferenz der Nazimörder vom 20. Januar 1942 in Echtzeit nachstellt? Haben Sie die geschäftsmäßige Normalität dieses Behördentermins nacherlebt, die bleiern-bürokratische Atmosphäre einer lästigen Besprechung wahrgenommen, das dröge Vorbringen von Einzelinteressen ertragen, die niederträchtige Routine eines Verwaltungsalltags mit-durchlitten, in dem es um den Tod von Millionen ging?

… oder im Haus der Wannseekonferenz in Berlin?

Sind Sie schon einmal ganz allein, nur für sich, …

…. durch das Stelenfeld in Berlin gewandert? Haben Sie sich verirrt in diesem steinernen Labyrinth der Sprachlosigkeit, konnten Sie einen Moment innehalten, nachdenken, was es bedeutet, sechs Millionen Menschen auf dem deutschen, historischen, wenn auch nicht eigenen, Gewissen zu haben?

Haben Sie schon einmal innegehalten, ganz allein für sich, inmitten des Stelenfeldes am Brandenburger Tor? Oder …

Waren Sie schon einmal im NS-Dokumentationszentrum in München, um zu verstehen, dass das Grauen überall war, an jeder Straßenecke? Ich bin von Stuttgart dorthin gefahren – für Sie sind es von Ihren Ministerium aus nur wenige Schritte.

Waren Sie schon einmal in einem jüdischen Museum?

Mir wurde erst beim Besuch des Jüdischen Museums in Berlin so wirklich bewusst, dass unsere Großväter und Väter mit dem systematischen Töten der Menschen auch eine große Kultur zu zerstören versucht haben. Wann haben Sie das verstanden und auch so empfunden?

… kennen Sie den jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee?

Und waren Sie schon einmal auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee? Sind Sie schon einmal dort zwischen den mehr als 100.000 Gräbern herumgewandert, haben die vergessenen Namen gelesen, vor den verfallenden Familiengräbern verharrt, auf deren stolzem Marmor noch viel Platz gewesen wäre, aber nach 1933 niemand mehr bestattet wurde?

 

Alles das, Herr Aiwanger, liegt hinter mir.

Nichts davon ist ungewöhnlich. Millionen Menschen, die nach 1945 in Deutschland geboren wurden, mussten lernen, dass mancher Scheiß in der Jugend nicht nur irgendein dummer Unsinn war, nicht nur ein Bier zu viel am prallvollen Schanktresen des Lebens. Sondern eine Schuld, die man sich aufgeladen hat.

Nun sagen Sie in Ihren Antworten an Ihren Ministerpräsidenten, man solle Ihnen nach dem Scheiß in der Jugend doch einen „Entwicklungs- und Reifeprozess zugestehen“. Mache ich gerne, Herr Aiwanger, aber dafür bräuchte ich Ihre Antworten. Ich warte!

 

Der Film „Die Wannseekonferenz“ ist noch bis 17. Januar 2024 in der ZDF-Mediathek verfügbar.

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Hockneys bunter Blick durch die Glaswand

Über zwei Bilder zum Entlanglaufen, und was sie uns sagen

Eine Frau findet sich plötzlich allein auf der Welt wieder. Was als Wochenendausflug in eine idyllisch im Wald gelegene Berghütte begonnen hatte, endet jäh in einem Alptraum. Für einen schnellen Einkauf in den nächsten Ort entschwinden die Freunde und kehren nicht zurück. Bei dem Versuch, sie zu finden, stößt die Frau gegen eine glasklare, unsichtbare, aber auch unüberwindbare und unzerstörbare Wand. Durch die blickt sie nun auf die Rest-Welt außerhalb ihres Gefängnisses. Was sie sieht, ist prächtige Natur, blühende Wiesen, ländliche Idylle am sprudelnden Bachlauf unter strahlend blauem Himmel. Aber nichts lebt dort: kein Schmetterling, kein Vogel, kein Mensch. Irgendetwas Katastrophales muss dort geschehen sein, denn alles ist tot, übrig ist eine schöne Welt der Flora ohne jedes sonstige Leben.

Über 90 Meter erstreckt sich raumumgreifend das Panorama-Werk „A Year in Normandie“ von David Hockney, zur Zeit zu sehen im Museum Würth 2 in Künzelsau. Foto: Würth/Ufuk Arslan © David Hockney

 

Die Szene stammt aus der großartigen Verfilmung des Romans „Die Wand“ von Marlen Haushofer. Es ist der Blick auf unsere Welt, den die Kunst eröffnet. Es ist ein Blick wie durch ein Fenster oder eben durch die unüberwindliche Glaswand. Wer davor steht, hinausblickt, kann sich fragen, wie die Welt ist oder sein sollte.

Fast 1000 Jahre liegen zwischen den Werken und ihren Welten

Fast 1000 Jahre liegen zwischen den beiden Kunstwerken, um die es hier gehen soll. Es sind beides monumentale Werke, die zu einem Blick auf die jeweils aktuelle Wirklichkeit einladen und doch ihre Betrachter genau dorthin zurückwerfen, wo sie stehen: Wie soll es weitergehen?

Auf den ersten Blick haben die beiden Werke vor allem eines gemeinsam: ihre enorme Länge. Das ist ein ungewöhnliches Merkmal für Kunst. Für das ältere der beiden wurde sogar ein eigenes Museum in der französischen Stadt Bayeux gebaut, durch das sich nun die Touristen enggedrängt an einer langgestreckten, hinter einer Glaswand gesicherten Sehenswürdigkeit entlangschieben. Der Besuch in dem abgedunkelten Raum, in dem der „Teppich von Bayeux“ gezeigt wird, bleibt unvergesslich, obwohl ein gelassenes Studieren der zahlreichen Bilder mithilfe eines übereifrigen Audioguides sabotiert wird. Der ungeduldige Apparat erläutert die kriegerische Bildfolge in einem Tempo, das dazu zwingt, zügig Platz zu machen für die nachdrängenden Gleichgesinnten. Um die 50 Zentimeter hoch und fast 70 Meter lang ist diese textile Einmaligkeit, ein mittelalterlicher Wandbehang. In ungezählten Stichen haben fleißige Hände darauf 623 Männer (und nur 3 Frauen), 202 Pferde und Maultiere, 50 Hunde und weitere Tiere, 41 Schiffe und 37 Festungsbauten verewigt. Das Wort passt, wenn man es als ein Antippen an der Ewigkeit akzeptiert, eine zusammengenähte Stoffbahn fast eintausend Jahre zu erhalten.

Wie in einem Film wandelt der Betrachter vorbei

Der britische Künstler, insbesondere Landschaftsmaler, David Hockney hat sich von diesem in der Normandie ausgestellten Werk inspirieren lassen, selbst ein Panorama zu schaffen, das zum Wandeln entlang der Wand einlädt. In seiner Länge und Höhe übertrifft Hockney sein Vorbild von Bayeux sogar: 90 Meter lang ist es, und einen Meter hoch, und es trägt die Bezeichnung „iPad-Gemälde“, was noch zu erläutern ist. Das Werk heißt „A Year in Normandie“ und ist derzeit noch bis 3. September 2023 im Museum Würth 2 (bei stets freiem Eintritt!) in der schwäbischen Provinzstadt Künzelsau zu besichtigen. Dort kann man sich Zeit lassen, gedrängelt wird nicht.

Wie in einem Film schreitet man bei beiden Kunstwerken einen Ablauf entlang. Bei Hockney ist es der Jahresverlauf rund um sein ländliches Anwesen in der Normandie. Schritt für Schritt ist der Wechsel der Jahreszeiten zu erleben, beginnend mit kahlen Baumgerippen vor kaltblauem Himmel, vorbei an sprießender Blütenpracht und saftigem Grün. Schließlich fallen im lautlosen Rausch die bunten Blätter, und der Gang endet in einer Schneelandschaft. Kein einziger Mensch, kein einziges Tier ist zu entdecken auf den langen Metern seiner Bild-Dokumentation. Die Pflanzen leben und funktionieren – der Rest ist tot. Hockneys Welt gleicht dem Blick aus der Glaswand im Film.

Menschen, Schlachten, Schiffe – Der Teppich von Bayeux ist ein Mittelalter-Comic über Macht und Krieg.

Unendliche Mühsal steckt im einen Werk …

Dagegen wimmelt es von Menschen und Tieren auf dem gestickten Teppich von Bayeux, der um das Jahr 1070 entstanden ist. Vier Jahre vorher gelang es den normannischen Herrschern in der Schlacht von Hastings, einen Teil Englands zu erobern. Mit diesem Sieg begann die Integration Englands in die politischen und kulturellen Geschehnisse des Kontinents, an der auch ein Brexit nichts ändern wird. Vom Weg zu diesem Sieg erzählt der spektakuläre Mittelalter-Comic. Erbfolgestreitigkeiten spielen eine Rolle, und auch die Machtverteilung zwischen Kirche und Adel. Erzählt wird von den Vorbereitungen und Gesprächen um die Thronfolge und das Schlachtengeschehen. Geschildert werden die Lebensumstände der Zeit, die Ernährung der Soldaten, der Bau der Schiffe, sogar der vorbeiziehende Komet Halley ist eingestickt. Hunderte, vielleicht Tausende kunstfertige Menschen waren mit der Herstellung des Textils beschäftigt, ungezählte Stiche in die Fingerkuppen mussten verheilen, ehe das Werk fertig war, das von einem Sieg erzählen sollte.

… und digitale Kreativität im anderen

Hockneys Panorama (Ausschnitt aus „A Year in Normandie“) ist eine menschenleere Idylle …

David Hockney schuf sein langgestrecktes Werk fast ganz allein mit einem Tablet. Der heute 86-jährige eignete sich die Technik des digitalen Zeichenprogramms an und malte die Landschaft vor ihm in zahlreichen elektronisch erstellten Bildern, die er dann zum Jahreszeiten-Panorama zusammenfügte. Entstanden ist ein knallig bunter Kontrapunkt, ein Triumpf der unberührten Natur über eine von Machtkämpfen und Kriegen zerfressene Welt der Menschen. Zu sehen, nein, zu erleben, sind Szenen in saftiger Natur, die Pracht der Bäume, ländliche Idyllen, knuffige Landhäuser mit Fachwerk. Man kann Hockneys gefällig bunte Pracht als Traum einer heilen Welt deuten, und viele im Würth-Museum gönnen sich genau diese Illusion. Die Motive aus dem Panorama eignen sich bestens zur kommerziellen Vermarkung, und so quillt der Museumsshop in Künzelsau über von Postkarten, Kühlschrankmagneten und anderem Merchandising. Als Vorwurf eignet sich das allerdings nicht, denn auch in Bayeux sind die Motive der als Weltdokumentenerbe geadelten Riesenstickerei in jeder beliebigen Form erwerbbar.

Nicht nur die Länge verbindet beide Werke

… in der es nicht einmal Tiere gibt. Nur die Pflanzen funktionieren. (Ausschnitt aus „A Year in Normandie“)

Es ist nicht nur die Länge, die beide Kunstwerke gemeinsam haben. Verloschen sind die Dynastien, die einst untereinander über England stritten. Vergessen sind die Menschen, die ihre Kämpfe ausfechten mussten und deren Abbild hier mühsam gestickt wurde, tot die Pferde ihrer Schlachten, verrostet die Schilde, vermodert die stolzen Schiffe. Alles vorbei. Und Hockneys Blick durch die Glaswand sagt uns voraus: Wenig von dem, was uns wichtig ist, wird bleiben, wenn wir so weitermachen.

 

 

Mehr über die Ausstellung „A Year in Normandie“ im Museum Würth 2 in Künzelsau finden Sie hier. Die Ausstellung wurde verlängert und ist noch bis 3. September 2023 bei freiem Eintritt zu sehen.

Ein Einblick in die Art, wie David Hockney Bilder mit dem iPad malt, ist hier zu finden: (Klick bedeutet Einwilligung zu Youtube)

Der Wandteppich von Bayeux ist zu besuchen im Museum in Bayeux. Mehr Informationen dazu auch auf Wikipedia.

Mehr Informationen über den Film „Die Wand“ nach dem Roman von Marlen Haushofer u.a. hier: https://www.filmstarts.de/kritiken/190949.html

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Die Fünfe gerade kleben lassen?

Über Gelassenheit und den Sand im Getriebe

So eine Spielstraße hat ein wechselvolles Leben. Vor vielen Jahren waren alle Häuser neu und die Straße war voller Kinder, tobend, tanzend, seilhüpfend beherrschten sie den damals noch frisch getrockneten Asphalt. Wenn ein Paket gebracht wurde, war das ein seltenes Ereignis, und es kam in einem gelben Postauto, das vorsichtig zwischen den spielenden Kindern hindurch schlich. Ist ja eine Spielstraße.

Kein Rechtsbruch: Diese fünf Finger kleben nicht auf dem Asphalt, und sie sind gerade – ein Signal für friedliches Miteinander.
Ein Rechtsbruch: Es ist verboten, Zigarettenkippen auf die Straße zu werfen. Trotzdem geschieht es täglich. Ein Fall für „Fünfe gerade sein lassen“?

Dann wuchsen die Kinder wie auch die Büsche und Bäume. Bald waren sie groß genug, um den Jugendlichen, die hier mal als Kinder herumsprangen, Schatten zu spenden für ihre Treffen, für die ersten heimlichen Zigaretten, den billigen Fusel und die Chipstüten aus dem Supermarkt. Dann zerstreuten sich die Jugendlichen in alle Welt und niemand spielte mehr auf der Spielstraße. Die Autos eroberten sie sich zurück, darunter auch die verschiedenen bunten, nicht mehr nur gelben Transporter.

Inzwischen sind neue Familien eingezogen und warten auf ihre vielen Pakete. Hurtig brettern die getriebenen Fahrer durch die Spielstraße. Nun sind da aber auch wieder Kinder, die Fangen spielen oder Fußball und Seiltanzen. Hier nur Schrittgeschwindigkeit!, mahnen besorgte Eltern. Da staunt der Lieferant: Ach, sagt er, wissen Sie, wie viele Pakete ich noch zu liefern habe? Man muss auch mal fünfe gerade sein lassen. Ist ja noch nichts passiert.

Ist ja noch nichts passiert

An der Ecke, neben seiner Stammkneipe, steht der rauchende Rentner, der da immer steht. Früher, sagt er, früher hab´ ich da nicht so drauf geachtet. Wenn die Zigarette zu Ende war, dann hab´ ich die Kippen einfach auf den Boden geworfen. Kennt jeder: Kippen auf der Straße. Oder vor einem fährt ein Auto, und aus dem Fenster fliegt der noch glühende Zigarettenstummel.

Streng genommen wär´s verboten

Streng genommen, ergibt die Internet-Recherche, ist das eigentlich verboten. Rücksichtslos und gefährlich ist es auch, Kippen sind umweltschädlich, giftig, gefährden die Gesundheit vor allem von Kindern, und können Brände auslösen. Trotzdem liegen Milliarden Zigarettenstummel auf unseren Straßen und Wegen.

Früher hab´ ich gedacht, sagt der rauchende Rentner, was kümmert mich das? Muss man mal fünfe gerade sein lassen. Aber jetzt, sagt er, mach ich das nicht mehr. Er zieht eine kleine Metallschachtel aus der Hosentasche.

Bringt Gelassenheit Deutschland nach vorne?

So ein Döschen hat Bundeskanzler Olaf Scholz sinnbildlich den Deutschen verordnet, als er im Rahmen seiner Sommerpressekonferenz vor wenigen Tagen mehr Gelassenheit empfohlen hat. Es brauche mehr Kompromisse, in der Politik und auch in unserem gesellschaftlichen Diskurs. „Kompromisse finden und Fünfe gerade sein lassen, das bringt Deutschland nach vorne.“

Der Redewendung von den geraden Fünfen ist nicht etwa ein Plädoyer für weniger Genauigkeit in der Mathematik, sondern stammt aus dem Mittelalter und bedeutete: Wer „die Fünfe gerade sein lässt“, der ballt die fünf Finger seiner Hand nicht zur Faust. Dies konnte als Friedenssignal gedeutet werden, denn wenn es anders war, drohte Gewalt.

Also kein Faustschlag in das Gesicht der Raucher, die ihre Kippen einfach fallen lassen, keine Handgreiflichkeiten gegen den eiligen Paketboten. Der Kompromiss lautet: Dein Verhalten ist ist grenzwertig, aber ich toleriere es, es ist keiner Gewalt würdig.

Der Sand im Getriebe fordert Gelassenheit

Solche Gelassenheit könnte auch das Motto sein im Umgang mit denjenigen, die ihre Fünfe auf den Asphalt kleben, um auf einen unbestreitbaren Missstand hinzuweisen. Immerhin ist diese Aktionsform ein Musterbeispiel für gewaltfreien Widerstand im Sinne der Redewendung: Wenn die Finger mal kleben, dann wird es ganz sicher erstmal nichts mit einer Faust.

Der Kanzler hat die Klimakleber bei anderem Anlass einmal als „bekloppt“ bezeichnet. Das darf man so sehen, wenn man möchte, aber sein Motto von der Gelassenheit und dem „Fünfe gerade sein lassen“ passt doch gut auch auf viele Situation, die von den festgeklebten Blockaden verursacht werden. Schon blöd, dass viele dann nicht weiterfahren können, manche Pakete die Spielstraße nicht pünktlich erreichen, der Tagesplan durcheinandergerät. Auch die Straßenreinigung bleibt stecken, die sich um die Kippen kümmert. Es ist der Sand im Getriebe des Alltags, der Gelassenheit erfordert. Der Ärger darüber ist gut zu verstehen, so wie Ärger über einen Bahnstreik, oder den Selbstmörder, der den Zug aufhält, oder die Kita-Schließung wegen Personalausfällen.

Nein, nein, wird da nun schnell jemand rufen, das ist ja ganz etwas anderes! Der Streik ist legitim, und der Krankenstand der Erzieher auch, aber den Verkehr behindern, das ist doch ein Rechtsbruch! Das ist kein Fall für Gelassenheit, sondern für die ganze Unerbittlichkeit des Rechtsstaates!

Mag sein, nur gilt das auch für die weggeworfenen Zigarettenkippen und das flinke Tempo in der Spielstraße. Die Faust zu ballen, wird in allen diesen Situationen wenig helfen.

 

Über die Entstehung der Redewendung „Die Fünfe gerade sein lassen“ kann man z.B. hier mehr erfahren: https://www.abendblatt.de/region/stormarn/article205497179/Warum-kann-man-fuenf-gerade-sein-lassen.html

Die Sommerpressekonferenz von Bundeskanzler Olaf Scholz gibt’s nachzuerleben bei Phoenix via YouTube:  https://www.youtube.com/live/ft4HZittxKk?feature=share

 

 

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Die Barocke am Birnbaum (#48)

Wallfahrtskirche Maria Birnbaum,  Maria-Birnbaum-Straße 51, 86577 Sielenbach

Mein Besuch am 7. Juli 2023

Auch heute steht ein Birnbaum vor der Kirche „Maria Birnbaum“. Warum sie nach einem solchen Baum heißt, ist eine fromme Geschichte. Foto: GFreihalter – Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=19268701

 

Seit Jahrzehnten fahre ich an diesem Schild vorbei. Es ist braun und steht an der Autobahn zwischen Augsburg und München, eine sogenannte „Touristische Unterrichtungstafel“. „Wallfahrtskirche Maria Birnbaum“ steht darauf, und seit ich vorbeifahre, habe ich mich gefragt, was das für ein merkwürdiger Name für eine Kirche ist. Zumal ich selbst im Schatten großer Birnbäume aufgewachsen bin.

Nun endlich bin ich einmal abgebogen. Ich hatte Zeit und Lust, die Maria und den Birnbaum kennenzulernen. Über Landstraßen, hindurch zwischen saftigen Wiesen und hinweg über sanfte Hügel dauerte es nochmal zehn Kilometer, aber dann trat tatsächlich und überraschend nach einer Biegung am rechten Straßenrand eine prächtigen Barockkirche am Ortsrand des bayrische-schwäbischen Dorfes Sielenbach ins Bild. 350 Jahre ist der Bau in seinen Grundzügen alt, seine Geschichte noch älter. Ein „Verperbild“, also eine fromme Mariendarstellung, sei an dieser Stelle um 1600 geschnitzt und dann im Dreißigjährigen Krieg zerstört worden – oder eben auch nicht. Ein Dorfbewohner habe die schon reichlich angegriffene Holzskulptur im Moor gefunden, restauriert, und in einen hohlen Birnbaum hinein aufgestellt. Dort, so erzählt die Legende, sei es dann zu überraschenden „Wunder“-Heilungen gekommen, und der Baum und die Maria habe sich immer mehr zu einem Wallfahrtsort entwickelt.

Die Kirche hat eine lichte, helle Raumwirkung und ist trotz der Barockausstattung nicht überladen. Sie wird überspannt von einer prächtigen Kuppel.

An der Stelle des alten Baumes wurde dann die Kirche errichtet, um dem Ansturm der Gläubigen ein stolzes Ziel zu geben. Ein Stück vom Birnbaum ist auch heute noch hinter dem Hauptaltar zu bestaunen. Mich hat das Stück Holz wenig beeindruckt. Die Kirche selbst aber ist groß und weiträumig, nicht überladen, still und voller Frömmigkeit, die zu respektieren mir mehr ist als eine Pflicht, auch wenn ich selbst nicht so glauben kann.

 

Mehr über Maria Birnbaum auf der Website des Deutschen Ordens, der die Kirche betreut:  https://www.maria-birnbaum.de/ oder auch auf Wikipedia 

Weitere Kirchen aus meiner Sammlung #1000Kirchen finden Sie hier. 

Deutschland. Aber zum Abgewöhnen.

Fünf Szenen aus einem Sommer der politischen Unkultur

Die erste: Ein Kind im Bundestag

Das könnte Deutschland sein, aber normal: Eine erwachsene Frau, gut vierzig Jahre alt, engagiert im Beruf und in der Familie, ein Kind, freut sich auf den bevorstehenden Sommerurlaub. Zum letzten Arbeitstag hat sie ihr Kind, das gerade so laufen kann, mit an den Arbeitsplatz gebracht, warum auch immer. Niemand hat ein Problem damit.

Ein Kleinkind läuft durch die Lobby des Bundestages. Die Mutter muss zur Abstimmung, kurz vor dem Sommerurlaub. So normal ist Deutschland. Aber der Mob regt sich auf. Foto: Katharina Beck via Twitter

Weil sie Bundestagsabgeordnete ist, läuft der letzte Arbeitstag vor dem Sommerurlaub anders als geplant. Auch das ist normal, könnte in jeder anderen Arbeit auch so sein. Die AfD, die in ihrem Claim „Deutschland, aber normal“ verspricht, hat an diesem späten Freitagnachmittag eine sogenannte „Hammelsprung“-Abstimmung erzwungen. Die Rechtspopulisten wollen feststellen lassen, ob das Parlament in den letzten Stunden der parlamentarischen Arbeit vor der Sommerpause noch beschlussfähig ist. Ein wichtiges Gesetz wird damit aufgehalten, kann erst im September verabschiedet werden. Aber darum geht es der AfD nicht. Sie will die demokratische Mehrheit vorführen: Die AfD-Abgeordneten vermuten, dass viele ihrer Parlamentskolleg/innen aus den anderen Parteien bereits in den Sommerurlaub gestartet sind. Damit die Abstimmung auch das von der AfD erhoffte Ergebnis erbringt (zu wenige anwesend, also keine Beschlussfähigkeit), nehmen viele AfD-Abgeordnete selbst nicht an dem von ihr beantragten „Hammelsprung“ (also dem Zählen an unterschiedlichen Eingangstüren) teil, obwohl sie eigentlich anwesend wären.

Die Abgeordnete mit dem Kind ist im Gegensatz dazu anwesend und nimmt teil. Zur Abstimmung nimmt sie ihr kleines Kind mit. Und sie veröffentlicht dazu ein Foto auf Twitter. Zu sehen ist ein Kleinkind, das durch die Lobby des Reichstagsgebäudes wackelt. Die Abgeordnete schreibt dazu: „Zu einem Hammelsprung am späten Nachmittag gehört für manche auch, die Pläne mit den Kleinen anzupassen.“

Wenige Minuten nach Veröffentlichung des Bildes bricht ein Shitstorm über die Abgeordnete und Mutter Katharina Beck aus Hamburg herein: Sie solle sich nicht so leidtun! Das sei der Arbeitsalltag ganz vieler Mütter, dass sie auch mal Pläne mit Kindern umschmeißen müssen! Die Alleinerziehende, die um 21 Uhr beim Lidl sitzt, habe sicherlich geweint bei diesem Foto! Sie werde vom Steuerzahler hoch alimentiert als Abgeordnete!

Katharina Beck wehrt sich: Sie habe sich weder beklagt noch etwas über andere Mütter gesagt. Sie habe nur ihren Alltag geteilt, wie es Millionen tun. Es nutzt wenig. Die virtuelle Diskussion ufert aus, es gibt Parteinahmen für und gegen das Foto, schließlich ebbt der Disput ab, eine neue Geschichte zieht die Aufmerksamkeit auf sich.

Ist das Deutschland? Ja, aber zum Abgewöhnen.

Die zweite: Arme Frauen werden „zur Kasse gebeten“

Wofür sind Wissenschaftler/innen da? Sie sollen forschen, nachdenken, anregen. Eine Wirtschaftsprofessorin regt also in einem Interview an, über die Abschaffung der Witwer/-Witwenrente nachzudenken. Dass Menschen eine Rente bekommen, für die sie selbst niemals eingezahlt haben, sei ungerecht. Es führe zum Beispiel dazu, dass alleinerziehende Mütter mit ihren Beiträgen Renten von wohlhabenden Hinterbliebenen mitfinanzieren.

Man kann diesen Vorschlag kritisieren. Aber sofort macht sich die Meute auf den Weg: ein sozialpolitischer Kahlschlag drohe, die Lebensleistung der älteren Menschen werde zerstört, das Ganze sei ein „Angriff auf Familien“. Hört noch jemand zu? Hat noch jemand die Argumentation der „Wirtschaftsweisen“ Monika Schnitzler überhaupt gelesen und abgewogen? Hat jemand vernommen, dass sie in ihrem Denkanstoß – und nichts mehr war ihre Äußerung – bestehende Witwen- und Witwer-Renten garantieren möchte? Dass der Vorschlag ohnehin nur Teil einer grundlegenden Rentenreform sein könnte?

Nein, niemand hört zu. „Viele Frauen, die heute Witwenrente beziehen, hatten früher nicht die Möglichkeiten, Familie und Beruf so zu vereinen, wie das heute möglich ist. Sie haben eine kleine Rente. Diese Frauen jetzt zur Kasse zu bitten, um die Rente zu sanieren, ist zynisch“, schreibt der Bundestagsabgeordnete Kai Whittaker (CDU) auf Twitter (zitiert nach FAZ).

Geht es Frau Schnitzler darum, „diese Frauen jetzt zur Kasse zu bitten“? Nein. Aber die Angst zu schüren, dass nun bald den armen Witwen von heute ihre kleinen Renten gestrichen werden – das kommt der Meute der Denkfaulen und Erregungsfanatiker gerade Recht.

Ist das Deutschland? Ja, aber zum Abgewöhnen.

Die dritte: Süßigkeiten sollen verboten werden

Der eine Enkel mag gar keine Schokolade, die andere Enkelin schon, aber sie bekommt sie nur selten. Seit ihrer Geburt wachen die Eltern akribisch darüber, dass Oma und Opa nicht mit zu vielen Süßigkeiten die Geschmackssinne ihrer Kinder verderben. Und sie haben Recht: Jeder Schwimmbadbesuch zeigt, dass Übergewicht bei vielen Kindern ein Problem ist. Die Gesundheitsgefahren von zu hohem Gewicht schon im Kindesalter sind ohnehin fachlich unbestritten.

In dieser Lage macht ein Verbraucherschutzminister einen Vorschlag: Man solle gesetzlich untersagen, für ungesunde, überzuckerte Lebensmittel im Umkreis von Kindertagesstätten und Schulen werben zu dürfen. Oder entsprechende Fernsehwerbung in Sendungen zu platzieren, die sich an Kinder richten.

Aber der Mob der Populisten interessiert sich nicht für die Gesundheit der Kinder. Den Mob kümmert auch nicht die Chancengleichheit, er ignoriert die evident festgestellten sozialen Unterschiede, in denen Kinder aufwachsen. Es sind Unterschiede zwischen bildungsstarken und bildungsschwachen Elternhäusern und den damit verbundenen Gesundheitschancen.

Warum nachdenken oder abwägen, wenn man auch Krawall machen kann: „Ob Kinder Süßigkeiten bekommen, sollten die Eltern und nicht ein grüner Minister entscheiden“, erklärte der CSU-Ministerpräsident Markus Söder zum Vorschlag des grünen Ministers Cem Özdemir. Geht es überhaupt um ein Verbot des Konsums? Nein, es geht um Stimmungsmache: nicht zuhören wollen, nichts verstehen wollen, aber verantwortungslos draufschlagen.

Ist das Deutschland? Ja, aber zum Abgewöhnen.

Die vierte: Die Ersteigung des „Gipfels der Doppelmoral“

Ein Land ringt um seine Freiheit. Es benötigt Waffen für seinen Kampf, und es benötigt für diese Waffen Munition. Eine Weltmacht ist bereit, dem angegriffenen Land auch eine besonders hinterhältig tödliche Art von Munition zu liefern. Viele Länder auf der Welt, auch Deutschland, haben genau diese Art von Munition als so inhuman bezeichnet, dass sie sich vertraglich verpflichtet haben, sie weder zu besitze, noch weiter zu verbreiten. Die Ukraine ist einem solchen völkerrechtlich vereinbarten Verbot der grausamen Streumunition nie beigetreten, die USA auch nicht. Das macht sie nicht besser, aber formal völkerrechtlich spricht also nichts gegen eine solche Lieferung. Moralisch wohl schon. Obwohl andererseits, nach allem, was Experten berichten, die Ukraine von Russland bereits mit genau dieser grausam-tödlichen Munition angegriffen wurde.

Was immer eine deutsche Regierung tut, ist falsch. Verurteilt oder blockiert sie die Lieferung durch die USA (falls das überhaupt möglich wäre), schwächt sie die Ukraine. Tut sie es nicht, widerspricht sie ihren eigenen Prinzipien.

Wie ist eine solche Situation üblicherweise zu nennen? Ein Dilemma. Wie nennt die Linken-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen den Vorgang? „Gipfel der Doppelmoral“, eine „Bankrotterklärung“ für die deutsche Politik sei es, die USA nicht von der Lieferung der Streumunition abzuhalten. Keine Mühe ist spürbar, den unentrinnbaren Zwiespalt zu verstehen, anzuerkennen, dass alles falsch sein könnte, was immer man tut. Keine Differenzierung, kein Nachdenken, kein Innehalten.

Ist das Deutschland? Ja, aber zum Abgewöhnen.

Die fünfte: Der Verlust deutscher „Energie-Souveränität“

Der europäische Strommarkt ist komplex, und alle profitieren davon, dass er eng vernetzt ist. Deutschland exportiert dabei mehr Strom, als es importiert. Soweit die Fakten. Was macht der Mob daraus? Grafik: https://energy-charts.info/charts/import_export/chart.htm?l=de&c=DE&interval=year

„Die Ampel hat mit dem Abschalten der nationalen Kernkraftwerke die Energie-Souveränität Deutschlands ins Wanken gebracht. Statt ausreichend Strom in Deutschland zu produzieren, sind wir jetzt auf Atomstrom aus Frankreich angewiesen.“ Zitat des CSU-Politikers Stefan Müller gegenüber der Bild-Zeitung. Die Grünen hätten aus ideologischen Gründen die letzten deutschen Atomkraftwerke abgeschaltet, „um am Ende den Atomstrom von Frankreich zu importieren“, plappert auch Markus Söder bei Sandra Maischberger hinterher.

Was davon stimmt? Nichts. Eine deutsche „Energie Souveränität“ hat es nie gegeben und ist in der Idee eines europäischen Strommarktes weder angelegt noch wünschenswert. Deutschland exportiert deutlich mehr Strom als es importiert. Das gilt auch für den Im- und Expert zu und von Frankreich.

Unbegründete Panik schürt Missmut. Und was folgt danach?

Interessiert das irgendjemanden, der gegenteilige Behauptungen aufstellt? Bemühen sich Medien und Politik, die Diskussion der Öffentlichkeit durch redliche Diskussionen zu bereichern? Manche schon, in allen demokratischen Parteien. Und viele Qualitätsmedien auch. Aber oft wird nur noch der Ausschnitt der Wahrnehmung mitgeteilt, der ins eigene Bild passt. Die Medienmacht der Bild-Zeitung verfolgt dabei offenkundig eine eigene Agenda: Panik zu schüren fördert Verkaufszahlen und Klicks, beide steigern die Werbeeinnahmen. Und Teile der Politik hoffen zu profitieren, wenn verunsicherte Wahlbürger irgendwann mal zur Urne gerufen werden. „Es denen da oben mal zeigen“, raunen einzelne der so Umworbenen dann missmutig in die Kameras und Mikrofone.

Ist das Deutschland? Ja, aber zum Abgewöhnen. Es ist Zeit zum Innehalten.

 

 

Hier ein paar Quellen für eine differenzierte Wahrnehmung der Tatsachen:

Der Tweet von Katharina Beck und die Kommentare dazu: https://twitter.com/kathabeck/status/1677331518350303237

Zur Witwenrente: https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/witwenrente-rente-sachverstaendigenrat-1.6012742

Das plant Cem Özdemier wirklich in Sachen Werbeverbot für Süßigkeiten: https://www.bmel.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2023/024-lebensmittelwerbung-kinder.html

Zu den Streubomben: https://www.streubomben.de/streubomben/laender/streubomben-in-der-ukraine/#c21982

Zur angeblichen „Energie-Souveränität“, die Deutschland verloren habe:https://www.energy-charts.info/index.html?l=de&c=DE und ein Artikel aus dem SPIEGEL, der die Daten einordnet: https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/energieversorgung-bild-union-und-afd-vereint-in-prepperfantasien-kolumne-a-ac81cfe7-5c7a-4fe6-adda-430d869fe9a4

 

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Das romanische Chamäleon (#47)

Kaiser- und Mariendom zu Speyer, Domplatz, 67346 Speyer

Mein Besuch am 26. Juni 2023

Die Last der Jahrhunderte – Detailausschnitt aus der Krypta des Doms von Speyer (Grabplatte von Rudolf v. Habsburg, gest. 1291)

Ein weiter, freier, schattenloser Platz liegt vor dem Dom von Speyer, und an diesem hochsommerlichen Junitag glüht schon am Vormittag das Pflaster. Der Dom verspricht Abkühlung, und das in seinen Ursprüngen fast 1000 Jahre alte Bauwerk hält, was der erhitzte Besucher erhofft. Schon die Vorhalle mit gewaltigen, goldbesetzten Mosaiken bereitet vor auf ein Bauwerk, das mehr stummer Zeitzeuge ist als lebendige Kirche, was dieser gewaltige Raum schon aufgrund seiner schieren Größe gar nicht sein kann. (Womit kein Urteil gesprochen sein will über die Kirchengemeinde selbst, die diesen Dom nutzt; es ist eine Besucherperspektive, die ich hier einnehme).

Zur Stadt hin liegt vor dem Dom einer weiter, schattenloser Platz – auf den anderen drei Seiten umgibt das Bauwerk ein grüner Stadtpark.

Der Dom zu Speyer ist die größte erhaltene romanische Kirche der Welt. Der Bau begann um 1025, erstmals als vollständige Kirche geweiht wurde die Kirche 1061. Seither hat sie alle Schicksale durchlebt, welche die europäische Geschichte bereithält: Machtkämpfe und Besitzerwechsel, Brände und Kriege, Plünderungen, bauliche Veränderungen und Wiederherstellungen. Der Dom wurde als Viehstall benutzt und in seiner Gruft wurden Kaiser bestattet.

Wer die Kirche heute betritt, findet sich in einer romanischer Illusion vor – himmelstrebend wuchtig, demutspendend hoch, glattgeputzt und scheinbar unverfälscht, so findet sich romanischer Baustil selten. Die allermeisten Elemente aus anderen Epochen wurden entfernt, die Kirche wurde „re-romanisiert“, was Kunsthistoriker durchaus auch kritisieren. Mir ist diese Kritik egal, der Besuch dieses weitgehend schmucklosen Mammutbaus ist mir wie eine Meditation: Nur Stein und Zeit ist hier zu spüren, kaum Schmuck und Tand.

Wo Schmucklosigkeit zum Konzept gehört, wird das Licht zum zentralen Gestaltungsmoment.

Eine Stunde war ich in dieser Kirche, habe das Licht auf mich wirken lassen, die Weite und Höhe gespürt, die Schattenwürfe bewundert und bin herabgestiegen in die Krypta, die hier ein Ausmaß hat, um das manche Dorfkirche beneidet würde. Die Kaiser-Särge liegen dort grau und stumm, längst vergangen, zu Staub geworden ist ihr Inneres.

Dort unten, tief unter der Kirche, ist so so kühl, dass den andächtig Staunenden beim Heraufsteigen in den großen alten Kirchenraum das relative Gefühl von angenehmer Wärme empfängt, wo es doch das Versprechen der Kühle war, das dort hinein gelockt hatte. Genau in dieser chamäleonhaften Vielschichtigkeit  habe ich den Dom erlebt: Ein aufgeräumter Ort des zeitlosen Willkommens, eine Einladung zur Annäherung an die Illusion von Dauerhaftigkeit. Ein Ort, der spüren lässt, dass vieles, das mich umgibt, so viel größer ist als mein eigenes, so begrenztes Dasein.

 

Der Dom zu Speyer ist Weltkulturerbe und es gibt über ihn Literatur ohne Ende. Ich empfehle für einen Überblick die Website der Kirchengemeinde, die auch einen virtuellen Rundgang anbietet: https://www.dom-zu-speyer.de/

Die drei deutschen Kaiserdome sind Mainz. Worms und Speyer. Dem Dom in Main habe ich vor einem Jahr besucht: https://vogtpost.de/dom-mainz/31/07/2022/

Weitere Kirchen meiner Sammlung #1000Kirchen finden Sie hier. 

Das Bädle und die große Politik

Beim Schwimmen drängen sich die originellsten Gedanken ins Bewusstsein. Einer davon: Die einen baden hier zum Vergnügen, andere ertrinken im Mittelmeer. Foto: lizenzfrei von Ben_Kerckx via pixabay

Abseitige Gedanken eines Schwimmers

So ein Bädle ist eine entspannte Sache, wenn es heiß ist. Sie fragen sich, was ein Bädle ist? Ein kleines Schwimmbad. Ein Sommerfreibad mit nur zwei Becken; eines für Schwimmer und eines für solche, die es werden wollen. Ein Kinderplanschbecken. Eine Liegewiese. Pommes oder Gyros gibt´s beim Griechen, der das Bistro betreibt. Fertig. Kein Schnickschnack, kein Strömungskanal, keine Wasserrutsche. Dafür ein Liegenraum, auf den wir noch zu sprechen kommen werden.

Sie fragen sich vermutlich schon nicht mehr, wo es so ein Bädle gibt. Die Verniedlichung verrät das südwestdeutsche Idiom. Wir schwimmen in Stuttgart, im Norden der Metropole, ein von der Industrie geprägter Vorort der Großstadt. Mehr als die Hälfte der Einwohner hat einen sogenannten „Migrationshintergrund“. Viele davon trifft man auch im Bädle.

Lust auf eine Abkühlung?

Dann kommen Sie doch bitte herein ins Schwimmerbecken, ein paar Bahnen ziehen. Vorher duschen! Den schaurig schönen Kälteschock genießen, losschwimmen. Heute ist es hier ganz entspannt, aber am Wochenende wird es voll im Bädle. Und wenn man mit den Schwimmmeistern spricht, erzählen sie davon, dass es manchmal Ärger gibt. Zu heiß, zu viele Leute, zu wenig Platz. Auch Leute, die sich daneben benehmen. Dann muss man halt eingreifen.

Aber noch nie hat man was von ernsthaften Problemen gehört im Bädle. Keine tödlichen Badeunfälle. Niemand ertrunken. Niemand ertrunken – war da nicht was?

Nicht schlappmachen! Weiterschwimmen!

Wenn es Ihnen zu langweilig ist, schauen Sie sich mal die Plakate links und rechts an. Das Bädle ist ein öffentliches Freibad, aber nicht von der Kommune getragen. Ein Sportverein ist Hausherr im Bädle. Ehrenamtliche leiten den Vorstand, kümmern sich um Anträge und die Einhaltung der Gesetze, stellen das Personal ein, das für Ordnung sorgt. Freiwillige Helfer decken abends die Becken ab, damit das Wasser nachts nicht so auskühlt und man Energie sparen kann.

Eine Bahn mehr, kurzer Stopp am Beckenrand, und dann zurückschwimmen!

Also, was hängen denn da für Plakate? Werbung ist das; der Sportverein ist auf alle Einnahmen angewiesen. Ein örtlicher Heizungsbauer und ein Autohaus preisen sich da, auch die letzte Bank, die noch eine mit Menschen besetzte Filiale hat im Stadtteil. Und ein Immobilienmakler. Wer im Bädle schwimmt, kann über Hauskauf oder –verkauf nachdenken, renoviert auch mal sein eigenes Bad, kauft sich ein neues Auto. Hat Geld auf der Bank. Vielleicht nicht viel, aber genug, dass sich die Bank die Werbung leistet.

Noch eine Bahn?

Klar! Aber aufpassen auf die langsam rückwärts schwimmende Rentnerin! Rücksicht ist angesagt im Bädle. Hier sind die „normalen“ Leute versammelt, von denen manche Politiker so gerne reden. Ist das ein Luxus-Millionär, der da auf der Bahn hurtig entgegengeschwommen kommt? Nein, Unsinn, nur ein sportlich ambitionierter Freizeit-Kampfschwimmer. Braucht immer eine Bahn für sich, müssen die anderen halt ausweichen. Das sind eben normale Leute hier mit normalem schwäbischem Wohlstand, egal wo sie geboren wurden. Fleißige Leute in ihrer Freizeit schwimmen hier, oder Rentner, die mal fleißig gewesen sind. Wer wollte irgendwem auf der Welt verübeln, wenn sie oder er auch so leben will, auch mit so einem Bädle?

Wunderbar erfrischend, das Wasser!

So friedlich plätschert es herum im rechteckigen Becken! Selbst bei ruhiger See sind die Wellen im Mittelmeer bestimmt fünfmal so hoch wie das Kräuseln hier im Bädle. Und das Meer ist tausendmal so tief wie hier, wo wir noch stehen können.

Komischer Gedanke. Wie kommt man denn auf sowas? Gibt ja keinen Zusammenhang zwischen dem Bädle und den Bedauernswerten, die sich durch die öden Wüsten Afrikas bis zum Mittelmeer durchkämpfen, um dann Gefahr zu laufen, in seinen Fluten zu ertrinken.

Noch eine Bahn? Oder lieber raus und die Sonne genießen? In Ordnung, noch eine Bahn.

Neulich erst war zu lesen, dass andere Freibäder in diesem Sommer weniger öffnen können, weil ihnen das Personal fehlt. Gilt nicht nur für Freibäder. Überall in Deutschland mangelt es an Fachkräften, auch an ungelernten Händen. Die Berichte darüber füllen so viele Zeitungsspalten wie alle Schwimmbäder zusammen Bahnen haben.

Genug geschwommen? Als raus jetzt.

Aber vielleicht besser im Schatten lagern bei der Hitze? Ja klar, im Bädle gibt’s auf der Liegewiese alles, was man haben möchte: Pralle Sonne für die Bräunungsfanatiker, oder guter Schatten unter dichten Bäumen. Die Leute in den Wüsten und auf so einem Schrottkahn im Mittelmeer, die haben übrigens keine solche Wahl. Entschuldigung, schon wieder so ein abseitiger Gedanke.

Also in den Schatten. Sie haben eine Decke dabei? Gut so.

Mir ist das zu unbequem. Ich brauche eine Liege. Und weil das Bädle ein Verein ist, und nicht nur ein öffentliches Schwimmbad, haben Mitglieder des Bädlevereins Sonderrechte – sie dürfen zum Beispiel ihre eigene Liege in einen Liegenraum einstellen.

Das wollen Sie sehen?

Jede Menge Platz im Liegenraum. Nicht nur dort, denkt sich der Schwimmer …

Na, dann kommen Sie mal mit. So schön deutsch ist das dort! Ein ganz kleines Zimmerchen ist der Liegenraum nur, aber wunderbare metallene Regale füllen ihn bis oben hin. Akkurat reingezirkelt sind die bequemen Klappgestelle dort; manche Liegenbesitzer misstrauen ihren Vereinsfreunden und schließen ihre Liegen mit einem Schloss ab, andere sichern sich mit kleinen Zettelchen die besten Liegenlagerplätze. Fast wie im Urlaub am Mittelmeer. So sind wir Deutsche eben. Dabei ist die Hälfte der Liegen-Fächer leer. Es ist Platz da für alle.

Das war nicht immer so, sollten Sie wissen! Ein regelrechter Verhau war dieser Raum gewesen, Liegen über Liegen stapelten sich in den Fächern und daneben und darüber und am Boden, manche verdächtig verstaubt, verbleicht, angerostet. Dann hatte der Verein eine Idee: Alle Mitglieder wurden aufgefordert, zum Saisonende ihre Liegen für einen Winter abzuholen. Was danach noch herumlag, wurde entsorgt. Und jetzt: Jede Menge Platz im Liegenraum.

Ein Windhauch. Wunderbar kühl auf der noch nassen Haut, nicht wahr? So ein friedlicher Ort, dieses Bädle.

Wir haben doch eigentlich Platz hier, oder?

Und brauchen Leute, damit wir die Arbeit erledigt bekommen. Warum investieren wir dann also viel Geld in die Abschottung an den europäischen Außengrenzen, anstatt in die Ausbildung für diejenigen, die zu uns kommen wollen?

Jetzt reicht´s Ihnen, sagen Sie? Schluss mit Politik auf der Liegewiese?

Ist ja gut. Ich meine ja nur, weil – weil doch hier im Bädle noch niemand ertrunken ist. Wäre uns ja auch nicht egal, oder?

 

 

Das hier angesprochene „Bädle“ gibt es wirklich und heißt auch so: https://www.ssv-zuffenhausen.de/freibad-baedle/

Inspiriert zu dem Text hat mich unter anderem das Gespräch zwischen Carolin Emke und dem Sozialwissenschaftler und Asyl-Experten Karl Kopp im Podcast „In aller Ruhe“ der Süddeutschen Zeitung. Die inakzeptablen Folgen einer europäischen Asylpolitik, die auf Abschottung setzt, werden dort bewusst gemacht.

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Die Signatur – Ein Bucherlebnis

Die Schlange und die Signatur – Wie es dazu kam, dass in einem modernen Roman die einzige Handschrift vom Autor kommt.

Der berühmte Autor ist spindeldürr und groß wie ein Basketballspieler. Schütteres blondes Haar krönt seinen schmalen Kopf, ein Spitzbart ziert das hagere, brillenlose Gesicht.  18 Romane hat er schon geschrieben in seinen bald 75 Lebensjahren, ungezählte Kurzgeschichten – Worte über Worte, die er geschaffen hat. In seinem neuesten Buch, dem zu Ehren er in dieser Stadt, in diesem Land, auf dem alten Kontinent weilt, geht es um moderne Zeiten: Um die Selbstverständlichkeit, mit der die Klimaveränderung und ihre Folgen in den Alltag einer amerikanischen Familie hineinkriecht.

Niemand im Roman schreibt etwas auf

Weil es im Jetzt spielt, in unserer Zeit, mitten im Leben also, erzählt (ganz nebenbei) keines der Worte auf den 400 Seiten der deutschen Übersetzung, kein einziges, dass irgendwer irgendwas aufschreibt. Die Protagonisten des Romans halten keine Stifte, sie korrespondieren per e-Mail oder Messanger, sie rufen sich an oder sie begegnen sich persönlich. Aber was sie nicht tun, ist: Etwas mit der Hand zu schreiben.

Ausverkauft ist der große Saal. Im Foyer klingelt schon vor Beginn der Lesung die Kasse am Verkaufsstand der Buchhandlung. Alle wollen das neue Buch des großen Mannes. Manche, die ganz Schnellen, die fanatischen Freunde, die Süchtigen, die wahren Verehrer, die haben es sogar schon gelesen.

Dann rauscht Beifall auf, als der Schriftsteller die Bühne betritt. Als „Rockstar der Literatur“ wird er begrüßt. Es ist nicht einfach, eine Lesung zu organisieren mit einem englischsprachigen Autor, der anlässlich der gerade erschienenen deutschen Fassung seines Buches nach Deutschland kommt. Geduldig fügt sich das Publikum in die Sprachbarriere; es hört sich das teilübersetzte Interview an und auch ein paar kurze Ausschnitte, die der Autor im englischen Original vorliest. Den Rest erledigt eine routinierte Sprecherin, die den deutschen Text zum Klingen bringt. Großer Beifall.

Es geht um eine Schlange

Im Wesentlichen geht es um eine Schlange in diesem Buch, lernen die Bücherfreunde. Jedenfalls im ersten Kapitel, das hier zu Gehör gebracht wurde. Wofür die Schlange denn wohl steht?, wird der Autor gefragt. Vielleicht für die zahllosen Verführungen der modernen Zeiten? Der Hagere nutzt die Antwort zur Kaufempfehlung: Man solle besser lesen, als hier zuzuhören und über mögliche Deutungen seines Textes zu spekulieren. Er werde nichts interpretieren. Er habe das Buch geschrieben und dort alles gesagt, was er zu sagen habe.

Erwartungsgemäß macht die Lesung Lese-Appetit. Der Bücherstand ist noch mehr umlagert als zuvor. Vielstimmiges Gewühl wimmelt im engen Foyer. Die einen suchen einen Ausgang, die anderen das Ende einer Schlange, an deren Kopf der berühmte Autor sitzen sollte, um zu signieren. Zunächst ist er nicht zu entdecken im Getümmel. Erst nach zwanzig Minuten im dichtgedrängten Pulk, nach Vorrücken in Millimetern, gibt die nächste Biegung der Schlange den Blick frei: Da sitzt er auf dem Hochstuhl am Stehtisch, einen geduldigen Stift in der Hand, Wasser und Rotwein vor sich, und geht seiner Arbeit nach: Schreiben.

Da sitzt er: Wasser und Rotwein vor sich

Weitere dreißig Minuten bleibt Zeit, ihn und die Mit-Wartenden zu beobachten. Menschen, die zweifeln, ob sie sich die Warterei weiterhin antun möchten. Passionierte Autogrammjäger, die nach jedem verfügbaren Zettel zur Signatur kramen. Buchbegeisterte Ehepaare mit großen Einkaufstüten voller Bücher; ihre ganze Sammlung der Werke des berühmten Autors werden sie abzeichnen lassen. Ein Einsamer, der Bücher eines anderen Verfassers (ähnlichen, aber nicht gleichen, Namens) in den Händen hält. Wird er erfolgreich sein? Schüchterne, denen die Sorge vor dem bevorstehenden Sekunden-Gespräch mit dem Autor im ungewohnten Englisch ins Gesicht gezeichnet ist. Heitere, die wissen, wie sie ihren Charme werden einsetzen können. Selbstgewisse, die nicht ohne kleinen Plausch am bekannten Mann vorbeiziehen wollen, und dabei den nervösen Blick der Ungeduldigen hinter ihnen vielleicht sogar genießen. Erleichtert registriert das Saalpersonal: „Endlich, ich sehe das Ende!“ Denn langsam nur, aber doch: Die Schlange rückt vor.

Einer wie Du und ich, nur genial

Der berühmte Autor und sein Verehrer – ein Moment der Begegnung.

Dann ist es soweit: Der wahre Verehrer, der alle 18 Romane gelesen hat, steht vor dem freundlichen, hageren Gesicht, sieht ihm in die Augen, nimmt ihn wahr in seinem ganzen Menschsein, einer wie Du und ich, nur genial, jetzt angestrengt, trotzdem wach, natürlich sympathisch. Er sieht die Stirn, hinter der Tiefsinn, Humor, Fantasie und all die Ideen verborgen sind, die dem Verehrer seit Jahrzehnten so viele Stunden der Nachdenklichkeit, der Spannung, der Heiterkeit, geschenkt haben.

„Guten Abend“, sagt der Berühmte auf Deutsch, beantwortet freundlich eine Frage, blättert in seinem Buch („In meinem Buch!“, denkt sich der Verehrer) auf die dritte Seite, und zeichnet seinen Namen hinein, wie tausende, zigtausende Male in seinem Leben zuvor.

Vielleicht weiß er es gar nicht, dass seine schwungvolle Signatur das Buch ganz einzigartig macht. Sie ist das einzige Wort in Handschrift, das in diesem Buch vorkommt.

 

Der amerikanische Schriftsteller T. Coraghassian Boyle ist noch bis 19. Juni auf Lesereise durch Deutschland: https://www.tcboyle.de/lesereise-2023/

Im Zuge seiner Lesereise hat er auch den Tagesthemen ein Interview gegeben, das sich lohnt anzusehen: https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tagesthemen/video-1206626.html

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Draußen dröhnt die Dult (#46)

Kath. Pfarrkirche Maria Hilf in der Au (Mariahilfkirche), Mariahilfplatz, 81541 München

Mein Besuch am 3. Mai 2023

Tief unter den Fenstern des Turms von Mariahilf warten die Stände der Auer Dult. Foto: Amrei-Marie – Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16993994

Draußen dröhnt die Dult, wobei man Nichtmünchnern erklären muss, was das ist: Dreimal im Jahr, im Mai, im August und im Oktober, findet auf dem Mariahilfplatz, einem weiten Gelände rund um jene Kirche, um die es hier geht, ein Stadtteilfest statt, jeweils etwa zehn Tage lang. Die „Auer Dult“ ist eine Mischung aus Kirmes mit Fahrgeschäften und Bratwurstbuden, Antiquitäten- und Raritätenmarkt und Verbrauchermesse im Freien. Beste Stimmung herrscht bei gutem Wetter dort, der Scooter jault und die Marktschreier rufen – und wem das zu viel ist, der darf sich in das Riesenkirchenbauwerk retten, das (zur Zeit eingerüstet) inmitten des ganzen Trubels steht.

Angeblich das größte textile Wandkunstwerk (der Welt? Wikipedia lässt das offen.) hängt im Chorraum der Mariahilfkirche in München: Ein 22,5 Meter hoher Gobelin mit dem Titel „Maria im Rosenkranz“.

Die Mariahilfkirche ist ein Backsteinbau, im neugotischen Stil aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und damit der älteste neugotische Kirchenbau Deutschlands. Im zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude grundlegend zerstört, wenigstens der Turm bleib weitgehend erhalten. Bei der Wiedererrichtung in den frühen 50er Jahren blieb außen der Eindruck der Neugotik erhalten, aber innen erwartet jetzt ein moderner Kirchenraum im Stil der Nachkriegszeit die Besuchenden. Hochstrebendes, freiliegendes Beton strebt dem fast flachen Kirchendach entgegen, das ein modernes Farbmuster in gedeckten Farben trägt. Farblich passt dazu der Wandteppich, der den Chorraum und damit die ganze Kirche prägt: „Maria im Rosenkranz“ heißt er und ist mit 22,5 m Höhe (lt. Wikipedia) der größter Gobelin christlicher Textilkunst.

„Der größte, der schnellste, der billigste!“, rief ein billiger Jakob, als ich aus der Kirche trat, wieder hinaus aus der Stille, hinein in das pralle Leben. Ob die Kirche mir gefallen hat mit ihrem etwas spröden Charme, nach meinem Geschmack auch sehr vollgestellt mit Kleinkram – das bleibt offen. Ich muss wiederkommen, um mir ein abschließendes Urteil zu bilden. Ihre Ruhekraft als Fluchtraum inmitten des Dult-Trubels aber wird mir in bester Erinnerung bleiben.

 

Mehr über die Mariahilfkirche bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Mariahilfkirche_(M%C3%BCnchen) 

Die Auer Dult hat eine eigene Website, der man auch die Termine entnehmen kann: https://www.auerdult.de/

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Die Dunkelbunte im Regen (#45)

Raumhohe Glasfenster geben St. Nikolaus im Hasenbergl ihre besondere farbliche Raumwirkung.

Kath. Pfarrkirche St. Nikolaus, Stanigplatz 13, 80933 München (Hasenbergl)

Mein Besuch am 1. Mai 2023

Es war Regenwetter in München. Tief hingen die Wolken über der Stadt, immer wieder ergossen sich Schauer auf die flüchtenden Menschen, die sich hineinduckten unter die Vordächer und in die Durchgänge, auf der Suche nach einem trockenen Platz. Der Wind peitschte ihnen das Nass hinterher. Unwirtliches Frühlingswetter.

Silberne Vögel stürzen durch den Raum der katholischen Pfarrkirche St. Nikolaus und bilden einen plastischen Kontrast zu dem grandiosen Buntglasfenstern.

Totenstill und menschenleer war die Kirche an diesem unwirtlichen Nachmittag. Vermutlich hätte man Lichter einschalten können, aber mich umfing das Gotteshaus am nördlichen Münchner Stadtrand so buntdunkel meditativ, dass elektrisches Licht nur gestört hätte. Die Anordnung des Raumes ist fast rund, vier Säuen aus rohem Beton halten das mit Holz ausgekleidete, zeltartige Dach. Parlamentarisch um den Hauptaltar herum sind die Kirchenbänke angeordnet, es ist so ein Raum von einladender Weite entstanden. Beleuchtet wird er von fünf raumhohen Buntglasfenstern, die inhaltlich den großen Kirchenfesten gewidmet sind. Mir war die inhaltliche Botschaft dieser Fenster vergleichsweise gleichgültig, aber nicht, welche verträumte Farbwelt sie hineinzaubern in diesen dunklen Kirchenraum. Wenn es wieder regnet im Hasenbergl, dann werde ich dort wieder Schutz suchen. Oder vielleicht vor der Hitze des Sommers? Wie müssen diese Fenster erst leuchten, wenn die Sonne scheint?

St. Nikolaus wurde 1962/63 errichtet, zusammen mit dem Stadtteil aus Mehrfamilienhäusern, der sie umgibt. Sie ist damit auch ein Zeitdokument der alten, aufstrebenden Bundesrepublik: Das Wirtschaftswunder hatte für bescheidenen Wohlstand gesorgt, Wohnraum wurde benötigt und die Menschen wollten damals noch eine Kirche in ihrer Mitte wissen. Diese Zeiten haben sich geändert. Die nebenan zur gleichen Zeit errichtete protestantische Evangeliumskirche wird gerade umgebaut. Sie ist zu groß geworden für die schrumpfende Gemeinde, der Kirchenraum wird reduziert zugunsten moderner, barrierefreier, flexibel nutzbarer Begegnungsorte „gelebter Nächstenliebe in Münchner Norden“ (so deren Pfarrerin Sophie Schuster im Gemeindebrief von St. Nikolaus),

 

Eine gute Übersicht und Beschreibung der Kirche findet sich hier: https://strasse-der-moderne.de/kirchen/muenchen-hasenbergl-st-nikolaus/

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