Winternachtstraum – Ein Kulturspaziergang

In schweren Zeiten unterwegs zu einer barocken Feier des Lebens

Tausendfach berühren weiße Tupfer den Asphalt, ein steter Strom nimmermüder Zwecklosigkeit, denn sogleich schmilzt das Weiß dahin, wenn es den Boden erreicht hat. Im Dämmerlicht bedarf es der Straßenlampen, denn erst deren Lichtkegel macht das endlos herabsinkende Raster des Schnees sichtbar. Was waren das für Zeiten, denkt der vorweihnachtliche Flaneur, als es noch galt, jeden Regentropfen herbeizusehnen in der sommerlichen Hitze und Trockenheit! Jetzt ist es nasskalt. Es ist Winter.

Alles schwebt, alles dreht, alles fliegt – Oper als „barockes Fest des Lebens“ verspricht der Abend „La Fest“ von und mit Eric Gautier in der Stuttgarter Oper. Und jedes Wort davon ist wahr. (hier: Diana Haller) Foto: Matthias Baus, bereitgestellt von Oper Stuttgart

Fahl glitzert und blinkt es im nassen Licht. Im dahinschmelzenden Schnee triefen die Buden des Weihnachtsmarktes vor sich hin. Glühweinfreunde ducken sich unter die zu schmalen Vordächer, von denen es auf die Kapuzenköpfe tropft. Die tausend Lichter der Adventszeit schimmern wieder sorglos ins das Schneegestöber. Noch vor einem Jahr wurde gebangt, wie lange der Strom für Notwendigeres reichen wird. Noch immer ist es eine Welt voller Besorgnis, in die hinein die Lämpchen und Lichterketten nun ihre Eitelkeit verschwenden. Menschen überfallen einander, massakrieren ihre Nachbarn aus religiösem Eifer oder nationalistischem Hass. Die Antwort ist legitime Notwehr, eine Tat der Not. Glück entsteht so nicht, auch der wehrhafte Überfallene muss Leid zufügen.

Soviel Solidarität ist noch

Fünf Euro für einen Glühwein! Die Inflation!, wägt der Budenbesitzer das Haupt, kein Personal, die Energiekosten! Unter einem Trauf sucht der Flaneur Schutz, damit das teure Gebräu nicht auch noch vom steten Strom der nassen Flocken verdünnt wird. Immerhin: So viel Solidarität ist noch, dass die anderen Glühweintrinker willig zusammenrücken, um Platz zu machen am klebrigen Stehtisch. Das gemeinsam erduldete Nass verdrängt den vorschnellen Hass, der als unstillbarer Strom herausquillt aus dem Handy, sobald man die populären Netzwerke des Bösen aufsucht. Auf dem Weihnachtsmarkt gibt es keine Häme und keinen Spott für das notleidende Gemeinwesen, das eingeklemmt ist zwischen den Regeln des Staates und den Krisen der Welt. Höchstens für das Selfie wird das wasserempfindliche Gerät gezückt, sonst ist die winterliche  Tändelei ein wohltuend digitalfreier Schonraum.

Ein Klang bricht sich seinen Weg

In ein paar Stunden wird der Weihnachtsmarkt schließen. Dann versiegt der Strom des teuren Glühweins, die letzte wärmende Bratwurst wird verspeist sein, die bunte Bude mit dem Zuckerzeug verbarrikadiert. Was bleibt, ist der Missmut: Das Milliardenloch im Haushalt, die Ratlosigkeit der ruhelos Regierenden, die Sprachlosigkeit des stocksteifen Kanzlers. Noch rieselt der nasse Schnee, noch dudelt die Musik aus dem quäkenden Lautsprecher über den Glühweinfreunden.

Was für Töne sind denn das?, grübelt der Flaneur, keine Weihnachtsklänge, sondern tastender Barock, breite Akkorde, kaum hörbar zwischen den Rufen der Kinder, dem Gequietsche des Karussells? Dann bricht sich der Klang seinen Weg, jubelnd, triumphierend. Eine Musik, die das Unbeschreibliche beschreibt, dem Aufglühen der Raketen Töne verleiht, ihrem Hinaufsteigen in den Himmel, ihrem kurzen Triumph, ihrem Verglühen in einer strahlenden Explosion der Farben, zweckfrei wie ein prächtiger Blumenstrauß, der verblühen wird. Ein Trost in Leben und Schönheit. Jetzt jubelt die Musik in ihrem Feuerwerk, das sie beschreibt.

Wie wäre es mit einem Fest?

Ein Feuerwerk als Musik! Ja, wie wäre es denn, statt der ganzen schweren Gedanken einfach ein Fest zu feiern? Um alles hinter sich zu lassen, was belastet, wenigstens für ein paar Stunden? Ein nächtlicher Traum wäre das, wirbelnd in einem Rausch aus Musik, Tanz, Gesang. Ein paar Stunden nur wie von Sinnen, albern, sinnlich, mit berstender Leidenschaft auf den Lippen, mit ungeahnter, noch niemals entdeckter Energie in den Gelenken, voller verrückter Ideen im Kopf? Wie wäre es, alle Last hineinzuschieben in Momente des heiteren Spiels, über sie hinwegzulachen, wie es Kinder können?  Mit Topfschlagen und Flaschendrehen, mit der schnellen Suche nach einem freien Platz auf der Reise nach Jerusalem, ja genau jetzt: Nach Jerusalem!

Heillos verliebt dahinschweben, auch das dürfte einmal wieder sein für ein paar Stunden. Sich willenlos dem Glück des Lebens hingeben, hinaus aus der eigenen Routine der langweiligen Pflichten, hinein in die Hoffnungen von Leidenschaft und Fantasie. Bunt flattern wie die Schmetterlinge, vielarmig umarmen wie eine Krake, laut feiern, in der Musik versinken, knallig, schmissig – wie wäre es damit? Bei so einem Fest müsste sich gewiss auch die ganze Fragilität unseres menschlichen Daseins hineindrängen: Die eigene Dummheit und das Lernen daraus, die zwischenmenschlichen Abgründe, der Streit, die Eifersucht. Und unsere Sterblichkeit gar, die uns umklammert? Alles das würde dazugehören, weil es uns ausmacht, weil es der lauernde Ernst ist, der menschlicher Sinnlichkeit heiteren Sinn verleiht.

Die Fantasie muss fliegen, die Gedanken torkeln

Noch immer nasskaltes Schneetreiben. Der Flaneur fröstelt. Die Gespräche unter dem dürftigen Wasserschutz sind belanglos. Der teure Glühwein glüht schon längst nicht mehr. Die Bratwurst liegt schwer im Magen. Ein Fest, so ein Fest, in dem alles möglich ist, das die Fantasie fliegen, die Gedanken torkeln lässt, das wäre jetzt richtig. Ein Fest, das die Schwere des Lebens nicht ausblendet, sondern für ein paar wunderbare Stunden leicht werden lässt wie eine Traube silberner Luftballons.

Das ist mein Winternachtstraum, denkt sich der Flaneur, und lenkt seine Schritte unter dem schneedurchstöberten Nachthimmel, vorbei am träge in seinem Rund gefesselten Riesenrad, hinüber ins Stuttgarter Opernhaus. Dort gibt´s jetzt so ein Fest.

 

 

 

Die Barock-Revue im Stuttgarter Opernhaus mit dem Titel „La Fest“, gestaltet und inszeniert und auch selbst präsentiert von Eric Gautier, entzieht sich einer regulären Schilderung. Sie ist als gesamtsinnliches Erlebnis der Extraklasse jeden Weg Wert, nicht nur den hier geschilderten kurzen vom Stuttgarter Weihnachtsmarkt hinüber zum Opernhaus. Wer noch dabei sein will bei diesem ebenso klugen, fantasievollen, leichtfüßigen, wie auch nachdenklich stimmenden Fest, muss sich allerdings auf das Glück an der Abendkasse verlassen. Schon jetzt sind alle derzeit geplanten neun Vorstellungen im Dezember 23 und Januar 24 ausverkauft.

(Premiere am 3.12.2023; gesehen habe ich die Generalprobe am 30. November).

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

Ideale Fehlbesetzung für das große Glück

Wolf Biermann erzählt vom ewigen Kampf für die Freiheit

Natürlich steht am Anfang die Gitarre. Noch bevor Wolf Biermann irgendetwas gesagt hat in einer Podcast-Aufnahme, die erst enden soll, wenn der Gast der Meinung ist, dass „alles gesagt“ sei, greift er zur Gitarre. Er sing eines seiner Lieder, und stellt dann die Gitarre zur Seite, seufzend fast. „Hier geht es ja nicht im Lieder“, sagt er, „heute soll geredet werden.“ Wie ein stiller Gast wird die Gitarre auf dem kleinen Podium verbleiben, geduldig wartend, bis sie mehr als sieben Stunden später wieder erklingen wird. Dazwischen wurde geredet.

Geredet über Deutschland. „Ist Biermann moderierbar?“, hatte sich Co-Moderator Jochen Wegner, Chefredakteur von „Zeit online“ bei einem Kollegen mit Erfahrung im Umgang mit dem 86-jährigen erkundigt, und als lapidare Auskunft ein „Nein“ erhalten. Diebische Freude hat der kleine Wolf daran, jede Regie durcheinanderzubringen, sich jeder Anweisung zu widersetzen. Eine Schar von Biermann-Fans hatte sich dafür im Rahmen des Hamburger Harbour Literatur-Festivals in einem ausverkauften Tonstudio durchaus kuschelig zusammengefunden.

Gezeichnet von vielen Stunden schwerer Last eines Gesprächs über deutsche Geschichte: Wolf Biermann im Gespräch mit Christoph Amend, Editorial Director ZEITmagazin, bei der Podcast-Aufnahme „alles gesagt“ in Hamburg

Biermann moderiert sich selbst

Biermann führt hier das wortwuchtige Kommando, moderiert sich nahezu selbst in diesem mäandernden Gesprächsmarathon. Ein Leben wird da ausgebreitet, das Leben einer deutschen Ikone der Gegenwart. Wie konnte dieser kleine Mann mit dem markanten, heruntergezogenen Schnauzbart dazu werden?

Im Laufe der Gesprächsstunden mangelt es nicht an Selbstbeschreibungen des putzmunteren Gastes, der von seinen Gastgebern als „größter Drachentöter der deutschen Nachkriegsgeschichte“ begrüßt wurde. Immer wieder tadelt er sich selbst als „Idiot“, schlägt sich gegen die eigene Stirn dabei, spart aber mit solcher Bewertung auch nicht gegenüber seinen Mitmenschen. Vor allem sei er ein Glückskind, eine „ideale Fehlbesetzung“, wundert er sich in eigener Sache. Wer ihm folgt über alle diese Stunden, geduldig den Redeschwall aushält, mit ihm seine häufigen Denkpausen durchschweigt, unterwirft sich seiner geschulten Dominanz, die prallvoll ist von einem deutschen Leben.

Eine Biografie, die verstummen lässt

Zuhören ist also angesagt. Aber diese Biografie lässt ohnehin jeden verstummen, der sie nicht durchlebt hat. Gesäugt an der Brust wurde er, während seine Mutter in den Gestapo-Verhörräumen mit klugen Lügen das Schicksal des Vaters zum Guten zu wenden versuchte. Erfolglos, denn der Vater war zu stolz, sich retten zu lassen. Wolf Biermann, der aus einer Hamburger Kommunisten-Familie stammt, war drei Monate alt, als sein Vater von den Nazis (bereits zum zweiten Mal) verhaftet wurde und nicht mehr freikam, bis sie ihn 1943 in Auschwitz ermordeten. Als Jude, wozu sich der Vater ausdrücklich gegenüber den SS-Schergen bekannt hatte, obwohl er als Kommunist ja eigentlich gar keinen Gott kennen wollte.

Als 17-jähriger siedelte der kleine Wolf Biermann im Jahr 1953 auf Veranlassung der Kommunistischen Partei in die gerade erstandene DDR über, ohne seine Mutter, aber mit ihrem Einverständnis. Schon wieder so ein Glücksfall, meint der Sohn heute, da die Mutter sich niemals dem diktatorischen Duktus der DDR-Bonzen untergeordnet hätte: „Die wäre in Bautzen gelandet“.

Aber so blieb die Mutter im Westen, und der Sohn legte sich im Osten mit den Bonzen an. Unbeugsam verfolgte er seinen künstlerischen Weg, der ihn schon bald isolierte in der berühmten Wohnung in der Chausseestraße, wo seine ersten illegalen Plattenaufnahmen entstanden. Nach und nach geriet Wolf Biermann in die Heldenrolle „dieses deutschen Theaterstücks, das wir aufführen“, wie er sagt.  Wer hätte erwarten können, dass dieser in einer kommunistischen Arbeiterfamilie aufgewachsene Hamburger „Jung“, einmal so gefährlich für den Arbeiter- und Bauernstaat werden könnte, dass dieser ihn 1976 in den verhassten Westen entließ, nur um ihm dann eine Rückkehr zu verweigern?

Loswerden wollten sie ihn, aber das Gegenteil haben sie erreicht

Loswerden wollten sie ihn, den Unbequemen, aber das Gegenteil haben sie erreicht. Er wurde zum Kronzeugen für viele, die dreizehn Jahre später mit dem damals noch so mächtigen, unbelasteten Ruf „Wir sind das Volk“ massenhaft den Kollaps des Systems herbeidemonstrierten. 5000 Menschen kamen am 1. Dezember 1989 zu seinem ersten Konzert nach dem Mauerfall nach Leipzig. Sein Auftritt war damals so bedeutend, dass beide deutschen Fernsehanstalten, Ost wie West, ihn live übertrugen.

Nochmal 25 Jahre später saß der Drachentöter im Bundestag, nicht gewählt, sondern eingeladen, mit Gitarre natürlich, und zupfte sein Lied von der „Ermutigung“. Zuvor aber ließ er es sich nicht nehmen, auch nicht vom launigen Hausherren Norbert Lammert, bei dieser Gelegenheit die unmittelbar vor ihm versammelten Linken-Politiker als „Drachenbrut“ zu beschimpfen. Der Präsident ließ ihn damals gewähren, was ihm Kritik einbrachte, aber beide zu Freunden machte. Vor einiger Zeit, erzählt Biermann, sei er dann von Lammert, der inzwischen Vorsitzender der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung ist, in die CDU-Parteizentrale eingeladen worden. Dorthin sei er seinem Freund zuliebe natürlich gerne gekommen. Neben Lammert habe dann da aber auch der Friedrich Merz gesessen, und da habe er zu dem gesagt: Na, wenn Sie mich eingeladen hätten, dann hätte ich natürlich abgesagt.

Unbeugsam, rebellisch, selbstgewiss: Es bedarf viel Disziplin, Wolf Biermanns Erzählungen über mehr als sieben Stunden zu folgen. Wer es tut, blickt staunend und sprachlos auf eine deutsche Biografie der Sonderklasse.

Ein Rebell ist er also geblieben, der Kommunistensohn, unbeugsam jetzt als straffer Antikommunist.  Die Mischung aus Schalk und Haltung lässt im Laufe der Gesprächsstunden in Hamburg die Luft immer nebeliger werden vor lauter gelebtem Leben, sanfter Wut und sprachlicher Fantasie. Biermann schreibt Lieder und Gedichte, die oft nicht gefällig sind, anstrengend, aber auch klug, voller Kraft und Wortwitz, der nichts zu tun hat mit dem billigen, berechneten Humor von Komödianten. Ein ganz einmaliges Amalgam schafft er, ist er selbst, eine Mischung aus Stolz und Trotz, aus Reflexion und Scharfsinn, aus kontrollierter Angst und unbändiger Lebenslust.

Und nun? Biermann ist 86 Jahre alt, kein „verdorbener Greis“ (wie er 1989 die Nomenklatura der versinkenden DDR gegeißelt hatte), sondern ein Institution der deutsche Geschichte. Ruhig könnte er sein, sich in Hamburg-Altona zurückziehen. Oft genug Recht behalten, könnte er sich denken, der schon immer vor Putin gewarnt hatte, der die DDR von innen kritisierte, als dazu noch ein Maß von Mut gehörte, das sich die von einem Rechtsstaat verwöhnten Kritiker deutscher Wirklichkeiten von heute gar nicht mehr vorstellen können.

Resignieren ist keine Option, sagt der alte Kämpfer

Aber der proletarische Kämpfer in ihm lebt noch immer. Wie er auf das heutige Deutschland blicke, auf den Rechtsruck im Osten,  wie man das alles aushalten soll mit AfD, mit Populismus, mit dem von Putin angezettelten Krieg?

Lange muss er nachdenken. Mucksmäuschenstill ist es im Tonstudio, keiner zuckt, keiner räuspert, bis Biermann sich eine Antwort zurechtgelegt hat: Der Krieg in der Ukraine, sagt er dann, und auch die Hinwendung vieler Menschen nach rechts, das seien doch letztlich auch nichts anderes als Teile des großen Freiheitskrieges, den die Menschheit führen muss, schon seit Jahrhunderten. Schon immer eigentlich, setzt er hinzu. Zu resignieren sei keine Option, sagt er,  nirgends, die Freiheit gibt’s nur im Kampf, nicht umsonst.

„Was wird mit meinem Vaterland?“

Schließlich der Griff zur Gitarre. „Was wird mit meinem Vaterland?“, singt er, und bricht doch wieder ab. Es gibt noch etwas loszuwerden, über die DDR, über die Feigheit, über die Stasi und die Uneinlösbarkeit ihrer Vertraulichkeitsversprechen. Dann setzt er neu an und bringt das Lied zu Ende. Es geht um Putin und seine Todesfurcht „vor eine Frau, die Freiheit heißt“.

Damit ist nach seiner Meinung alles gesagt, und nach sieben Stunden und vierzig Minuten trotten erschöpft die verbliebenen Zuhörer hinaus in den Hamburger Nieselregen, hinaus in die „fetten finst´ren Zeiten“, wie der in einer jüdisch-kommunistischen Familie aufgewachsene „Drachentöter“ in seinem Schlusslied noch reimte. Finstere, fette Zeiten – es ist der Abend von Freitag, dem 6. Oktober 2023, und am nächsten Morgen ermorden Hamas-Terroristen in Israel mehr als 1200 wehrlose Menschen.

 

Den ZEIT-Podcast mit Wolf Biermann in voller Länge finden Sie kostenlos unter diesem Link: https://www.zeit.de/politik/2023-11/wolf-biermann-interviewpodcast-alles-gesagt

Von dem in meinen Text angesprochene Konzert in Leipzig gibt es einen Mitschnitt auf Youtube, wie auch von Biermanns Auftritt im Deutschen Bundestag zum 25. Jahrestag des Mauerfalls.  (Klick führt jeweils zu Youtube).

Noch bis 2. Juni 2024 widmet auch das Deutsche Historische Museum in Berlin Wolf Biermann eine Ausstellung: https://www.dhm.de/ausstellungen/wolf-biermann-ein-lyriker-und-liedermacher-in-deutschland/

Weitere Texte als #Kuturflaneur finden Sie hier. 

 

 

 

 

Dem Krieg gebaut, dem Frieden gewidmet (#51)

Ev. Friedenskirche Ludwigsburg, Stuttgarter Str. 42, 71638 Ludwigsburg

Mein Besuch am 29.Oktober 2023

Ihr Turm ist ein markanter Orientierungspunkt für Autofahrer/innen in und nach Ludwigsburg, der barocken Residenzstadt der württembergischen Könige im Norden von Stuttgart. Die Friedenskirche wendet sich der Straße zu; wer den Turm passiert hat, muss sich links halten, um in das Stadtzentrum von Ludwigsburg zu gelangen, oder nach rechts, um zum Residenzschloss und seinem Park zu gelangen.

Ein weiter Raum, luftig, nicht überladen: Die Friedenskirche in Ludwigsburg war einst Garnisionskirche, heute finden hier auch Konzerte statt.

So habe auch ich schon hundertmal oder öfter die Friedenskirche passiert, jetzt erstmals habe ich sie im Rahmen eines Konzertes auch besucht. Das neobarock gestaltete Gotteshaus ist zu Beginn  des 20. Jahrhunderts als Garnisionskirche errichtet worden, also anfangs ausschließlich für Militärgottesdienste. Die neuere Geschichte Ludwigsburg ist mitgeprägt von der Rolle als Standort für militärische Einrichtungen, auch die amerikanische Besatzungsmacht und später die Bundeswehr nutzten entsprechende Infrastruktur.

Die Friedenskirche beeindruckt mit einem gewaltigen Raumprogramm. Ihre umfassenden Ausmaße ermöglichen, dass die Kirchengemeinde ohne Gemeindehaus auskommt – alles kann in der Kirche untergebracht werden. Foto: Ecelan – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3614904

Nach dem 2. Weltkrieg besann man sich neu, was die ehemalige Garnisionskirche anging. Sie wurde in „Friedenskirche“ umbenannt und ist nun ein ganz „normales“ Gotteshaus für die evangelische Kirchengemeinde. Sie empfängt den Besucher mit einem eindrucksvollen Raumprogramm; zusammen mit den Galerien, Logen und diversen weiteren Nebenräumen finden in der Kirche nicht nur problemlos mehr als eintausend Menschen Platz, sondern auch noch alle Begegnungsräume der Gemeinde. Ein zusätzliches Gemeindehaus ist überflüssig. In der Kirche finden regelmäßig Konzerte und Veranstaltungen aller Art statt, sie ist damit auch ein Mittelpunkt im kulturellen Leben der Stadt. Die Friedenskirche hat eine brocke Ausstattung, wirkte auf mich trotzdem luftig und großzügig, an keiner Stelle überladen. Weitgehend in weiß gehalten, dominiert eine vergoldete Christusfigur den Altarraum und ein träumerisch-buntes Deckenfresko das breite Hauptschiff.

Friedenskirche? Nun ja, ein großer Anspruch. Die Kirchengemeinde will ihm gerecht werden, und lädt z.B. einmal monatlich zu einem Friedengebet auf den Ludwigsburger Marktplatz ein.

 

Eine sehr gute Zusammenfassung zu Geschichte und Ausstattung der Friedenskirche findet sich auf der Website der Kirchengemeinde.

In der Friedenskirche habe ich Ende Oktober 2023 das Oratorium „Messiah“ von Georg Friedrich Händel erlebt und dazu als #Kulturflaneur meine aktuellen, politisch gefärbten Gedanken aufgeschrieben: „Aktuell kein Messias in Sicht“. 

Weitere Kirchen finden Sie in meiner Sammlung #1000Kirchen

 

Einladendes Kleinod zwischen Ruinen (#50)

Marienkapelle Kloster Hirsau, Liebenzeller Str. 25, 75365 Calw

Mein Besuch am 3.November 2023

Ein in jeder Hinsicht harmonischer Ort, der Mut macht zum Innehalten: Die Marienkapelle in Kloster Hirsau.

Selten hat mich eine Kirche so warm und einladend empfangen wie diese. Die vergleichsweise kleine Marienkapelle (die aber dennoch eine vollwertige Kirche ist) am Rande des Geländes der Ruine von Kloster Hirsau nimmt es ernst mit der Idee einer offenen Kirche. Ganz im wörtlichen Sinne ist das evangelische Gotteshaus zumindest im Sommer (April bis Oktober) tagsüber geöffnet. Und im Inneren lädt die Aktion „Amen Atmen“ dazu ein, meditative Momente zu verbringen, zum Beispiel sinnbildlich der Auflösung der eigenen Sorgen zuzusehen.

Ein Beispiel der Stationen, die zum Nachdenken einladen: Wer möchte, kann eine Sprudeltablette in das Wasserglas werfen und zusehen, wie sich nach und nach die Sorgen symbolisch auflösen.

Die Marienkapelle von Hirsau ist ein außergewöhnlicher Ort von Harmonie und Stille, an dem zur Ruhe kommen und einen Moment innehalten kann, wer auch auch immer dazu den Bedarf hat am Rande des Schwarzwaldes. Ihre Baugeschichte reicht zum Beginn des 16. Jahrhunderts zurück, ihre heutige Gestalt erhielt die Kirche nach einem Umbau nach 1888. Umgeben ist die Kirche von der Ruine eines ehemaligen Benediktinerklosters aus dem 11. Jahrhundert, so dass schon der Weg vom Parkplatz zur Kapelle ein ganz besonderer Eindruck ist.

Was bezahlen Menschen für einen Moment der Ruhe? Sie besuchen Achtsamkeitstrainings,  buchen Yoga-Kurse, laden sich Meditations-Apps herunter oder reisen zu Klosteraufenthalten ohne Handy. Alles das mag sinnvoll sein. Ein weiteres, ganz günstiges Angebot ist ein besuch in dieser Kirche. Ein kostenloser Ort zum Innehalten, zum Hineinhören in sich selbst – und deshalb eine würdige #50 meiner Sammlung.

Zur Website von Kloster Hirsau mit historischen Daten zur Marienkapelle:  https://www.klosterhirsau.de/erlebnis-kloster/kloster/gebaeude/peter-und-paulskloster/marienkapelle

Die meditative Einladung der ev. Landeskirche zum Innehalten findet man auch auf dieser Website: https://amen-atmen.de/

Weitere Kirchen aus meiner Sammlung #1000Kirchen finden Sie hier. 

 

 

Aktuell kein Messias in Sicht

Eine politische Textarbeit über Händels Oratorium „Messiah“

Herbstregen in Deutschland. Die Tropfen platschen auf die Windschutzscheibe, breiten sich aus, bis der unermüdliche Wischer sie zur Seite schaufelt. Es dämmert ungewohnt früh. Ah, Sommerzeit vorbei, erinnert sich der Kirchgänger. Stimmt, heute Morgen länger geschlafen. Dafür muss man jetzt den Preis bezahlen: Es ist dunkel, wenn es noch hell sein sollte. Finsternis jetzt, Dunkelheit überall.

Ein Windstoß treibt einen Schwall brauner Blätter über die Straße, eines davon verfängt sich im Blech unterhalb der Scheibe, will sich dort festhalten, aber der Fahrtwind zerrt es auf das rutschige Glas, wo es der Wischer zur Seite schiebt. Kein Halt auf dem Glatt, da segelt es fort, zur Seite, irgendwohin, seinem fauligen Tod entgegen.

Wegschauen ist auch keine Lösung

„Die Lage der Zivilbevölkerung im Gazastreifen wird immer schlimmer“, nimmt sich der Nachrichtensender im Autoradio wichtig. Nichts neues also, denkt sich der Kirchgänger, nichts neues nach den Meldungen der letzten Tage. Vielleicht die Bilder gar nicht mehr ansehen? Die Bilder von den blutigen Betten, in denen Menschen ermordet wurden? Keine Kamerafahrten mehr ertragen? Keine Videos voller zerbombter Trümmer, panisch rollender Krankenwagen, blutiger Pritschen mehr zur Kenntnis nehmen?

Andererseits: Wegschauen ist auch keine Lösung.

Der Kirchgänger drückt auf den Knopf, der das Radio abstellt. Mit welchem Recht fahre ich hier herum, satt und sicher, geht ihm durch den Kopf, während er einen Parkplatz sucht. Was soll ich hier, während überall die Menschen sterben, um ihr Überleben kämpfen. In Israel. In Gaza. In der Ukraine. Und an tausend anderen Orten auf der Welt. Im strömenden Regen steigt er aus, fummelt seinen Schirm heraus. Autos zischen vorüber. Da erwischt ihn ein Schwall Wasser von hinten. Zu spät springt er zur Seite. Es gibt keine Sicherheit mehr.

Barocke Klänge füllen die Friedenskirche

Als er die Kirche betritt, die „Friedenskirche“ heißt, wartet kein Gottesdienst. In Gottesdienste geht der Kirchgänger schon lange nicht mehr. Aber in Kirchen geht er gerne, oft sucht er dort die Stille des Raumes, das Glück des Lichts, den Duft der Kerzen. Heute lockt ihn die Musik, die den Raum füllen wird. „Messiah“ heißt das Werk, das zur Aufführung kommt.

Die Friedenskirche füllt sich schnell. Dann erstirbt das Surren der geflüsterten Gespräche und das Rascheln der Jacken und Mäntel um ihn herum. Die barocken Klänge dringen auf den Kirchgänger ein, sie bohren sich in ihrer berechenbaren Gefälligkeit in seine Sinne. 275 Jahre ist es her, dass das gottesfürchtige Oratorium von Georg Friedrich Händel in Dublin erstmals erklang. Zweieinhalb Stunden wird es dauern.

Eigentlich warten Christen wie Juden gleichermaßen

Der Kirchgänger liest mit, was da gesungen wird, und vielleicht ist das ein Fehler in diesen aufgewühlten Zeiten. Wer geht schon wegen des antiquierten Textes in ein Oratorium aus der Barockzeit? Da geht es doch um die Musik, um die schönen Stimmen, um den wuchtigen Chor! Aber er kann nicht anders, er muss auf Deutsch lesen, was in Englisch zu hören ist.

Ein Messias ist wörtlich übersetzt ein „Gesalbter“, hier in einer Darstellung aus dem 3. Jahrhundert n.Chr.: Samuel salbt David; Wandmalerei in der Ruinenstadt Dura Europos, heute Syrien, nahe der irakischen Grenze. Foto: gemeinfrei aus Wikipedia

Die Geschichte, die erzählt wird, ist ein Kirchenstreit der Jahrtausende. Der Kirchgänger kramt in seinem abgespeicherten Halbwissen. Der Messias, das ist doch der, auf den die Juden noch warten? Für die Christen war er schon da, in Gestalt von Jesus Christus. Andererseits: Auch für die Christen soll er nochmal wiederkommen. Also eigentlich warten beide. Unstrittig sollten also in heutigen aufgeklärten Zeiten zwei Dinge sein: Erstens, dass die Idee ursprünglich jüdisch ist, wonach ein Messias, ein „Gesalbter“, die Menschen aus ihrem Zustand erlösen könnte. Und der Zustand ist schlecht, denn da steht es doch im Text: „Denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich, und Dunkel die Völker“.

Und zweitens, dass er auf alle Fälle kommen oder wiederkommen wird: für die Christen erneut, für die Menschen jüdischen Glaubens erstmals. Händels „Messiah“ erzählt aber fromm nur die christliche Version der umstrittenen biblischen Geschichte. Suchend blättert der Kirchgänger vor und zurück im Textheft – kein Hinweis auf die jüdische Sicht. Sicher zu viel verlangt in einer christlichen Kirche, räumt er ein.

Der Kirchgänger schreckt auf: „Halleluja!“ wird gejubelt.

Ganz verloren war der Kirchgänger in der meditativen Folge der Klänge, ganz abgeschweift in seinen Gedanken. Da ruft ihn der Chor lautstark zurück: „Halleluja!“, wird gejubelt. Anschwellend, von den Trompeten und Pauken unterstützt, ansteigend, wuchtig, füllen die Töne des geistlichen Gassenhauers die Kirche, rollen immer wieder neu über die Konzertbesucher hinweg. Halleluja! Halleluja! „Der allmächtige Gott regiert, wird regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit! Halleluja!“

Vielleicht besser nicht, werden sie denken in Tel Aviv, wo sie sich vor den Bomben der Hamas in die Keller flüchten müssen. Oder bei uns, wo Menschen jüdischen Glaubens sich nicht mehr mit Kippa auf deutsche Straße trauen. Oder in der Ukraine und in Gaza, wo Hilfe fehlt für die Kranken und Alten, für alle, die schutzlos die Folgen tragen müssen in Kriegen, die ohne ihr Zutun über sie gekommen sind.

Keine gute Zeit für ein christliches Halleluja, meint der Kirchgänger. Müde folgt er dem weiteren Verlauf des Oratoriums. Die edlen Töne tragen ihn fort, die Auferstehung der Toten wird verhießen, der Sieg des ewigen Lebens über das irdische Sterben. Dann schließlich singt der Chor vielstimmig: „Amen“. Beifall brandet auf, anfangs schüchtern, dann immer stärker. Ermattet klatscht auch der Kirchgänger. Seit Monaten haben die wackeren Sänger, das feinsinnige Orchester, der engagierte Chor das alte fromme Werk eingeübt, Note um Note, Ton um Ton. Nichts haben sie mit seinen Textzweifeln zu tun.

Noch immer herrscht Finsternis und Dunkel

Noch immer Finsternis und Dunkelheit rund um die Friedenskirche. Autos brausen vorbei, Konzertbesucher strömen auseinander in ihre verwöhnte Welt, in der Frieden herrscht und Freiheit dazu. Es hat aufgehört zu regnen. „Heute wieder antisemitische Demonstrationen in deutschen Innenstädten“, meldet das Autoradio. „Die Polizei griff ein und beschlagnahmte verbotene Flaggen und Spruchbänder, die das Existenzrecht Israels in Frage stellten.“

Der Kirchgänger schaltet das Radio ab. Kein Messias in Sicht. Und wir singen hier Halleluja? Nein, nein, denkt er sich. Das passt nicht.

 

Erlebt habe ich die Aufführung des „Messiah“ von Georg Friedrich Händel (Link führt zu weiteren Informationen auf Wikipedia) durch die Kantorei der Karlshöhe in der Friedenskirche Ludwigsburg am 29. Oktober 2023. Mehr über das Konzert, die Mitwirkenden und Bilder davon auf der Webseite der Kantorei Karlshöhe. 

Die Friedenskirche in Ludwigsburg ist auch Teil meiner Sammlung der #1000Kirchen, nämlich als #51.

 

 

Hamilton? Seibold? Ideen zu einer Parallele

Über das Politik-Musical „Hamilton“ und was man in Deutschland daraus lernen könnte

Vielleicht könnte es „Seibold“ heißen? Eignet sich der Name für Rap-Reime? Der Vorname wäre schon mal vielversprechend: Kaspar. Kaspar Seibold könnte der Held sein, um den alle herumtanzen und wirbeln, zu dessen Schicksal sie mitfiebern, mitsingen, schließlich trauern, bis der Schlussakkord sie von den Sitzen reißt.

Ja, vielleicht könnte es „Seibold“ heißen, das Musical über die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Auf keinen Fall „Adenauer“ oder „Schumacher“.

So schmissig kann Geschichte vermittelt werden: Das Musical „Hamilton“ erzählt einen Ausschnitt der Gründungsgeschichte der USA. Foto: Stage Entertainment

Jeder historische Vergleich ist falsch. Das gilt auch hier, aber um das Wagnis zu ermessen, das die Macher des US-amerikanischen Erfolgsmusicals „Hamilton“ eingegangen sind, darf man der Phantasie freien Lauf lassen. „Seibold“ also. Als Kaspar Seibold beträte ein Rapsänger, Tänzer, Schauspieler die Bühne, vom begeisterten Johlen des Publikums begrüßt, schmissig von der elektronisch verstärkten Musik untermalt, und würde erzählen, was er schon erlebt hat:

Die Geschichte von Kaspar Seibold

Kaspar Seibold aus Oberbayern war der jüngste Delegierte im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz verabschiedete. Er zählt zu den Mitunterzeichnern, obwohl er in der Schlussabstimmung gegen den Text des GG gestimmt hatte. Damit bekannte er sich zu dem demokratischen Prozess, auch wenn er inhaltlich unterlegen gewesen war. Foto: Bestand Erna Wagner-Hehmke, Stiftung Haus der Geschichte

Als er geboren wurde, war der erste Krieg des letzten Jahrhunderts gerade begonnen worden von Deutschland. Dann kamen die wilden Jahre der 20er, von denen er als Kind auf dem Land nicht viel mitbekam, dann die braunen Zeiten der Nazis. Auf dem Bauernhof seiner Eltern waren alle beschäftigt von früh bis spät, hatten keine Zeit, sich viel mit Politik zu befassen. Vermutlich bestellten bedauernswerte Zwangsarbeiter die elterlichen Felder, während sich der junge Kaspar in der Wehrmacht dem Zusammenbruch entgegenstellen musste. Als Gebirgsjäger wurde er schwer verletzt. Kaspar Seibold überlebte, und nach dem Ende de Krieges suchten auch in seiner Heimat, im oberbayerischen Lenggries, zerlumpten Flüchtlinge aus dem Osten Deutschlands und aus den zerbombten Städten kraftlos und erschöpft nach Essbarem.

Da entschied Kaspar Seibold: So konnte es nicht weitergehen. Er engagierte sich in der staatlichen Landwirtschaftsverwaltung. 1948 trat er in die neu gegründete CSU ein, und schon im Herbst des gleichen Jahres fand er sich als jüngster Abgeordneter im Parlamentarischen Rat wieder, jenem Vorab-Parlament, das nach der Katastrophe des Nazireichs ein neues, demokratisches Deutschland schaffen sollte. Und es schuf. Kaspar Seibold war einer der Gründerväter des neuen demokratischen Deutschlands.

Auch Alexander Hamilton schrieb an der Verfassung der USA mit

Alexander Hamilton lebte gut 150 Jahre früher und half mit, die USA zu gründen. Am Anfang seines Weges stand eine uneheliche Herkunft in der Karibik, aber blitzgescheit war er wohl, ehrgeizig dazu. So stieg er im Militär des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges zum wichtigsten Unterstützter für George Washington auf, der später erster amerikanischer Präsident wurde. Die britischen Kolonialherren gaben auf, und die Siedler machten sich daran, einen neuen demokratischen Staat zu schaffen. Weiße Männer waren es, die den Ton angaben, die Frauen, die Ureinwohner ihres Landes, gar die gewaltsam aus Afrika herbeigeschleppten Sklaven, durften nicht mitreden bei ihren Überlegungen.

Seibolds Einfluss war gering im Gründungsparlament der Bundesrepublik (61 Männer, vier Frauen) zwischen Konrad Adenauer, Theodor Heuss und Carlo Schmid, die allesamt den Terror der Nazi-Schergen mit mehr oder weniger tiefen Wunden überstanden hatten. Seibold war jung und politisch unerfahren, während die alten Wortführer schon in der Weimarer Republik politisch aktiv gewesen waren. So musste sich der junge bayerische Landwirtssohn mit einer Statistenrolle unter den Gründervätern des demokratischen Deutschland abfinden.

Statistenrolle für Seibold, aber Hamilton wollte hoch hinaus

Alexander Hamilton aber wollte hoch hinaus. Er wurde 1787 Mitglied im Verfassungskonvent der Vereinigten Staaten, spielte bald mit in der ersten Garde der amerikanischen Politik. Als Minister schuf er das bis heute wirksame Finanzsystem der USA, das mit einer Stärkung der Zentralgewalt in den USA einherging. Seine Gegner bekämpften ihn deshalb, weil sie lieber einen lockeren Staatenbund anstrebten.

Von seinem stürmischen Gemüt angetrieben ließ er sich in einen undurchsichtigen Ehrenhändel verstricken, ruderte im Morgennebel über den Hudson River zu einem Duell nach New Jersey (weil der schießwütige Unsinn in New York bereits verboten war). Vielleicht glaubte er, dass auch sein Widersacher Aaron Burr, immerhin der amtierende Vizepräsident der USA, nur zum Schein auf ihn anlegen würde, aber Hamilton irrte sich. Er wurde getroffen und erlag am nächsten Tag 49-jährig seinen Verletzungen.

So schlimm meinte es das Schicksal nicht mit Kaspar Seibold. Der junge Mann aus Bayern musste sich nur in einem politischen Duell schlagen und unterlag. Typisch bayrisch wollte er das neue Deutschland eher als einen lockeren Staatenbund etablieren, aber es setzte sich doch die Idee einer deutlichen Machtkonzentration auf Bundesebene durch. Seibold verweigerte deshalb in der Schlussabstimmung am 8. Mai 1949 seine Zustimmung zum Grundgesetz.

59 Männer und vier Frauen unterschrieben das Grundgesetz

Trotz seiner Ablehnung in der Abstimmung unterzeichnete er in der feierlichen Zeremonie am 23. Mai 1949 in Bonn neben den Ministerpräsidenten der Länder, den Parlamentspräsidenten der Landtage und den 59 weiteren Männern und vier Frauen aus dem Parlamentarischen Rat (nur die beiden Kommunisten verweigerten die Signatur) die Urfassung des deutschen Grundgesetzes. Der jüngste Gründervater der Bundesrepublik war zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt.

Dr. Kaspar Seibold: Das jüngste Mitglied de Parlamentarischen Ragtes unterschieb 1949 die Urfassung des deutschen Grundgesetzes, obwohl er dagegen gestimmt hatte.

Wer kennt heute noch Kaspar Seibold? Schnell findet man seinen Namen in den allwissenden Suchmaschinen. Seibold ist nicht vergessen, aber zurückgesetzt gegenüber den großen Figuren seiner Zeit. So erging es auch Alexander Hamilton. Im Central Park von New York steht er als Statue herum und die Zehn-Dollarnote zeigt sein Gesicht. Trotzdem müssen wohl auch die meisten Amerikaner den Namen erst einmal googeln, wenn sie ihn einordnen wollen zwischen die großen Helden seiner Zeit: George Washington, Thomas Jefferson, John Adams.

Politik als Bühnenshow: Ein kühner Plan, …

Es war also ein kühner Plan, diese weitgehend vergessene Figur in den Mittelpunkt eines Stücks Musiktheater zu stellen, das noch dazu ohne öffentliche Subventionen auskommen muss. In New York und London wurde „Hamilton“ zum hochdekorierten Kassenschlager. Der Cast ist zeitgeistig divers besetzt, ein subtiler Hinweis darauf, dass die Hamiltons und ihre Zeitgenossen ganz sicher ausschließlich weiß waren. Die Musik kommt schmissig-modern daher, der Rap ist auch für Silverager erträglich und nachvollziehbar, und für das Auge wird ohnehin jede Menge geboten. Eine schwungvolle Bühnenshow, in der noch dazu die tragisch endende Lebensgeschichte dieses unterschätzten Gründervaters publikumsgerecht mit einer romantischen Liebe verflochten wurde.

… aber die Handlung zeigt Politik, wie sie ist.

Aber die Handlung zeigt eben Politik, so wie sie ist. Sie erzählt von komplizierten Fragen, die sich dem mehrheitlich auf fröhlich-gefühlige Unterhaltung  eingestimmten Publikum nicht schnell erschließen. Bis vor wenigen Tagen war „Hamilton“ auf Deutsch in Hamburg zu besuchen, jetzt muss man wieder nach London oder New York reisen. Noch im September 2023 erhielt die Hamburger Produktion den Deutschen Musical-Theaterpreis. Trotzdem war nun nach gerade mal einem Jahr Schluss. Die amerikanische Gründungsgeschichte füllte offenbar nicht so wie „Cats“, „König der Löwen“ oder „Das Phantom der Oper“ jeden Abend das privat betriebene Musical-Theater ausreichend.

Hätte eine deutsche Bühne den Mut, die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik so zu erzählen, halbwegs realistisch, niemals langweilig, überhaupt nicht belehrend? Musik und Rap als tragendes Element für bunte Bilder aus einer grauen Zeit? Der Parlamentarische Rat als divers besetztes Tanzballett? Die Debatten über die Stellung der Grundrechte, ob Bundesstaat oder Staatenbund, als Pop-Duette im Gesang? Und das alles vielleicht mit Kaspar Seibold mittendrin?

 

 

Der nicht in die USA reisen möchte, kann sich „Hamilton“ in London ansehen, täglich, an vielen Tagen sogar zweimal am Tag: https://hamiltonmusical.com/london/#/

Wer nicht verreisen möchte, kann sich auf Youtube Ausschnitte der Hamburger Produktion (auf Deutsch) ansehen (Klick führt zu Youtube).

Über die Beratungen des Parlamentarischen Rates zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland informiert sehr anschaulich eine eigene Website des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik in Bonn, auch mit weiteren Informationen über Dr. Kaspar Seibold, den jüngsten Abgeordneten des Parlamentarischen Rates.

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

Ausgeträumt. Ein Weckruf an meine Generation

Israel, umringt von Todfeinden, muss um seine fragile Sicherheit bangen, mehr denn je. In Europa überfallen aggressive Staaten ihre Nachbarn. Und in Deutschland ist es erfolgreich, mit  rechtsradikalen Parolen aufzutreten. Es ist Zeit zum Aufwachen für eine verträumte Generation. 

Als wir noch glaubten, die Welt könnte sich zum Besseren wandeln, da wähnten wir uns fast glücklich. Aufgewachsen nach dem Krieg, gnädig geschont von der „späten Geburt“ (Helmut Kohl) haben wir die Verheerungen der Bomben und der Schuld in den Seelen unserer Eltern und Großeltern besichtigt. Aber wir sahen vor allem, wie die Wunden verheilten, die Trümmer verschwanden, der Wohlstand sich ausbreitete.

Hinter dem „Eisernen Vorhang“, der Europa teilte, lag das Reich der Finsternis, ein paar Mal flackerte die Gefahr auf, dass sich an der Nahtstelle zwischen unserer und deren Welt etwas entzünden könnte, aber es kam niemals wirklich dazu. Unsere misstrauisch beäugten amerikanischen Freunde schützten uns mit ihren Atomwaffen. Und als sie aus Vietnam vertrieben wurden, fanden wir das auch irgendwie richtig.

Die Gründung des Staates Israel, so lernten wir, war auch eine Antwort darauf, dass unsere Erzeuger sich beispiellos mörderisch vergangen hatten am migrantischen  Kulturvolk der Juden. Israel musste seither mehrfach um sein Bleiberecht auf biblischem Boden kämpfen. Eine Gewissheit schien es uns, dass es dabei unter amerikanischem Schutz stets erfolgreich sein würde.

Ausgeträumt! Nichts wird so bleiben, wie es ist, und es wird uns Geld kosten. Viel Geld. Foto: Sarah Richter, lizenzfrei auf Pixabay

 

 

 

 

Mehrfach überschüttete uns das Glück

Mehrfach überschüttete uns das Glück. Der Staat der Juden vergaß die Gräuel der Nazis nicht, aber konnte sie uns verzeihen. Deutschland und Israel schlossen Freundschaft. Zwar wuchsen wir in einem geteilten Land auf, aber damit hatten wir uns abgefunden. Und sogar diese Last wurde uns genommen, als die deutsche Mauer zu nutzlosem Beton wurde. Freudetrunken stürmten wir unüberwindlich geglaubte Grenzen. Die einen staunten über die Sonne am blau glitzernden Mittelmeer, die ihnen lange unerreichbar gewesen war. Und die anderen konnten endlich problemlos dorthin fahren, wo die eigenen Eltern geboren waren, durften die schönen Städte an der Ostsee kennenlernen, vielleicht sogar die prächtigen Metropolen Russlands besuchen.

Ja, es gab auch Irritationen

Ja, es gab auch Irritationen in diesen glücklichen Jahren. Im Balkan fielen die Völker übereinander her. Und unser Blick auf die Welt sah großzügig über die globalen Ungerechtigkeiten hinweg, obwohl es genau diese waren und sind, denen wir eine ständige Mehrung unseres Reichtums verdankten. Wir bildeten uns ein, dass der heiße Stein der globalen Armut mit dem Tropfen unserer Entwicklungsarbeit abkühlen könnte.

Während unser Reichtum wuchs, glitten die Flugzeuge immer preiswerter dahin. So stiegen wir ein, staunten über das orientalische Bunt, das asiatische Jing-Jang, die fremde Tierwelt Afrikas, die glühenden Sonnenuntergänge Australiens und die plastikverliebte Luxuspracht der Amerikaner.

Und nun ist es vorbei

Und nun ist es vorbei. Ausgeträumt! Die verwöhnte Generation muss aufwachen.

Die hitzig flackernden Displays der globalen Vernetzung erzählen den Verzweifelten dieser Welt, wie wir leben: Wie die Maden im Speck. Ein Stück davon, eine Chance darauf, wollen auch sie. Warum sollten sie es nicht versuchen? Migration war schon seit biblischen Zeiten ein Ausweg aus purer Not. Das jüdische Volk lehrt es uns. Und noch vor gut hundert Jahren waren es die Europäer, die von feudal verursachter Armut vertrieben wurden. Voller Hoffnung brachen sie auf in die keineswegs unbesiedelten Weiten der „Neuen Welt“.

Und dann lockt auch noch die Freiheit. Millionen sind es auf dieser Welt, die jedes Wort wägen müssen in den Diktaturen, die keine Freiheit darüber haben, was sie anziehen und ob sie ihre Haare verhüllen wollen oder nicht, die nicht frei sprechen und handeln können, die nur flüstern dürfen auf ihrer Flucht vor dem eigenen Staat. Sie alle suchen ihre Chance. Sie nehmen dafür in Kauf, ihr ganzes Hab und Gut windigen Schleusern in den Rachen zu werfen, um dann doch zu ertrinken, erschossen zu werden, zu verdursten auf der Suche nach Löchern in unseren Grenzzäunen. Sie handeln nicht anders als die vielen Deutschen, die in den dumpfen Jahren der Wachtürme und Selbstschussanlagen den schnellen Tod riskierten für ihre Freiheit.

Es wird nicht aufhören

Ausgeträumt! Es wird nicht aufhören damit.

Die Chancenlosen, Verzweifelten, Hoffnungsfrohen dieser Welt werden weiterhin zu uns kommen, werden Wege finden für ihre Chance auf Glück und Leben und Freiheit, egal, ob wir ihnen Sozialleistungen kürzen, Bezahlkarten statt Geld verordnen oder Grenzkontrollen in den Weg stellen. Wir werden sie nicht aufhalten, jedenfalls nicht zu Bedingungen, die unser Gewissen beruhigen.

Ausgeträumt! Wir haben die Ressourcen des Planeten mithilfe korrupter Mördereliten ausgeplündert, die zufällig Herren über die flüssigen und gasförmigen Schätze der Erde wurden. Jetzt wollen wir auch noch die gleiche Clique dafür in den Dienst nehmen, uns die Flüchtenden aus aller Welt vom Hals zu schaffen. Es wird nicht gelingen.

Gierig haben wir Luft und Wasser vollgepumpt mit Giften, die Meere verseucht, Tiere ausgerottet oder versklavt, die Gletscher und Polkappen zum Schmelzen gebracht. Es sind auch unsere Überschwemmungen, unsere Dürren, unsere Waldbrände, die immer mehr Menschen weit fort von uns aus purer existentieller Verzweiflung dorthin treiben, wo ihnen ein lebenswertes Leben noch möglich erscheint: In den Norden, zu uns.

Wir sind Süchtige

Ausgeträumt! Unsere Demut haben wir verräumt in die hinterste Ecke unseres satt gefüllten Vorratsschranks. Wir sind Süchtige. Süchtig nach Öl und Gas, süchtig nach unserem billigen Vorteil. Wir fürchten um unsere Glitzerpaläste und Einfamilienhäuser, und delirieren davon, dass unser altes Glück zurückkehren könnte. Unsere Freiheit halten wir für selbstverständlich, und die Demokratie, so glauben wir, gibt es bei möglichst wenig Steuern fast gratis dazu.

Jetzt aber ist Schluss.

Die finsteren Mächte greifen zu und verwandeln unsere Welt, als wäre sie die Kulisse einer Grusel-Serie auf Netflix. Diese Monster sind echt: Sie fallen her über unsere Welt, sie massakrieren ihre Nachbarn in der Ukraine und in Israel, vielleicht bald auch im Kosovo oder anderswo. Sie bauen ihre perfiden Unterdrückungsregime aus mit den digitalen Waffen gegen das eigene Volk. Und auch manche Demokratie wankt schon unter dem populistischen Druck der gewissenlosen Rattenfänger, die versprechen, dass es so bleiben könnte, wie es ist. Die bösen Mächte wissen um unsere Träume, sie kennen unsere fettleibige Bequemlichkeit, sie lachen uns aus.

Lauter wird der Wecker nicht klingeln

Aufwachen! Lauter wird der Wecker nicht mehr klingeln.

Unser Wohlstand wird nichts Wert sein, wenn die Hitze die Felder versengt und das Wasser die Plantagen davonschwemmt. Unsere Freiheit wird verloren gehen, wenn wir nicht entschlossen für sie eintreten. Der Kampf für Demokratie entscheidet sich nicht daran, ob wir gendern oder Cannabis legalisieren, er wird nicht an der Fleischtheke verteidigt oder mithilfe der Radarfallen auf der Autobahn. Für gleichmacherische Phantasien der Sozialromantiker ist kein geeigneter Zeitpunkt, denn wir brauchen Initiative und Tatendang. Der Rückwärtsgang der Ewiggestrigen führt uns in den Abgrund.

Nichts wird bleiben

Ausgeträumt!  Entschlossen handeln werden wir müssen, um die Trümmer unserer Träume aus dem Weg zu räumen. Sonst werden wir ersticken an unserer bürokratischen Trägheit, an faktenfreier Streitlust, am Hin- und Herschieben von Verantwortung.

Respekt müssen wir haben für Polizei und Bundeswehr, wenn sie die Waffen zur Verteidigung unserer Freiheit bedienen und sich in unseren Dienst stellen. Respektvoll willkommen heißen müssen wir diejenigen, die unsere Pflegeheime, Krankenhäuser und Industriehallen, unsere Rentenkassen und Steuern mit ihrer Schaffenskraft füllen sollen.

Ausgeträumt! Es wird uns Geld kosten, viel Geld. Nichts wird so bleiben, wie es ist. Aber es ist unsere einzige Chance.

 

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier.

 

Die Spur des Steins von Neu-Ulm

Söders Plan und der Steinwurf auf die Grünen

Gleich fliegt der Stein: Ein Besucher der Wahlkampfveranstaltung der Grünen in Neu-Ulm holt aus. (Klick auf das Bild verbindet zu dem Video auf Youtube)

Das Video ist im Internet verfügbar. Es wurde am 17. September dieses Jahres um 19.02 Uhr in Neu-Ulm aufgenommen. Man sieht eine schüttere Menschenmenge, die vor einem Podium herumsitzt. Auf der Bühne stehen die beiden Spitzenkandidaten der Grünen für die Landtagswahl in Bayern: Katharina Schulze und Ludwig Hartmann. „Hol Dir Deine Zukunft zurück!“, steht auf der Wand, vor der sie sprechen. Was sie dazu sagen, ist unwichtig, und zwar wegen der Gegenwart. Der Mann, der den Stein wirft, hört ohnehin nicht zu. 44 Jahre ist er alt und gehört dem „Querdenker-Milieu“ an, wie später zu erfahren war. Er trägt ein weißes T-Shirt, steht auf, zögert, überlegt sich genau, was er macht. Er hat einen Stein in der Hand, holt aus und wirft ihn in Richtung des Podiums.

Es ist eine Sekunde des Entsetzens. Hartmann, der gesprochen hatte, unterbricht. Der Stein schwirrt auf Hüfthöhe zwischen den beiden Rednern hindurch. Katharina Schulze weicht reflexartig aus, dann knallt das Geschoss auf den Boden der Wahlkampfbühne. Menschen springen herbei, stellen den Steinewerfer zur Rede, in Sekundenschnelle eilt die Polizei hinzu und nimmt den Mann fest. Schulze greift sich das Mikrophon und bedankt sich bei der Polizei. „Warum zielt er?“, fragt einer von vielen anonymen Hasskommentatoren auf Youtube – „trifft doch eh immer den richtigen“.

Die Spur des Steins beginnt zwei Jahre früher

Zwei Jahre früher beginnt die Spur des Steins. CDU und CSU haben mit ihrem vom Unglück verfolgten und auch oft unglücklich agierenden Kanzlerkandidaten Armin Laschet die Bundestagswahl vom 25. September 2021 verloren. Schnell war geklärt, dass – wenn man keine weitere große Koalition haben möchte – nur entweder die SPD oder die CDU/CSU gemeinsam mit Grünen und FDP eine Regierung bilden können – „Ampel“ oder „Jamaika“. Die SPD hatte mit 25,7 % der Stimmen gegenüber der Union (23,3%) die Nase vorn. Im weit verbreiteten Irrtum, die Bundestagswahl sei so etwas wie eine heimliche direkte Kanzlerwahl, dominierte bald die öffentliche Erwartung, dass der „Sieger“ Scholz, und nicht der „Verlierer“ Laschet ins Kanzleramt einziehen sollte.

Politisch gesehen hätte es auch anders gehen können. Für „Jamaika“ gab es eine Mehrheit im Bundestag. Und es gab nicht wenige politische Beobachter, die für den inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft vor großen Herausforderungen – insbesondere der unbestreitbar notwendigen, ökologischen Wende unter dem Druck des Klimawandels – eine schwarz-grüne Zusammenarbeit eine versöhnliche Option gewesen wäre für das Land. Aber es kam anders. Scholz und die SPD wollten sich ihren Sieg nicht nehmen lassen, Grüne und FDP fürchteten vielleicht den Zorn der Bürger, wenn sie sich über die diesbezügliche Erwartung in der Bevölkerung hinwegsetzen würden.

Laschets Hoffnungen störten Söders Pläne

Zusätzlich wurden die Bemühungen Laschets, eine Zusammenarbeit der Union mit FDP und Grünen im Gespräch zu halten, absichtsvoll hintertrieben wurden. Und zwar von: Markus Söder und der CSU. Sie waren gewissermaßen ein „Stein des Anstoßes“ (Martin Luther) für Söders Pläne. Die Inhalte der vertraulichen Sondierungsgespräche zwischen Union, FPD und Grünen wurden sekundenschnell durchgestochen, das gegenseitige Vertrauen damit gezielt zerstört.

Auch öffentlich distanzierte sich Söder von Laschets Hoffnungen auf eine Regierungsbildung. Schon zwei Tage nach der Bundestagswahl wurde Söder damit zitiert, dass die Union „keinen Anspruch auf eine Regierungsbildung“ habe (zitiert nach Frankfurter Rundschau, 27.9.2021): Jamaika sei zwar eine Option, könne aber „nicht um jeden Preis erfolgen“. Es gebe für ihn Punkte, die zentrale Bedingungen seien. Dazu zähle, „keine Steuererhöhungen zu beschließen und die Schuldenbremse nicht aufzuheben“ (beides übrigens Inhalte, die später die „Ampel“ ebenfalls so vereinbart hat).

Da lag er also im politischen Feld, der Stein. Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) analysierte am 8. Oktober 2021: „Söder geht es um den eigenen Erfolg. In Bayern wird in zwei Jahren gewählt.“ Ein schwacher CDU-Kanzler Laschet und eine gerupfte Union „würde es Söder zusätzlich erschweren, sich im Landtagswahlkampf als starker Mann der bayerischen Christsozialen zu präsentieren.“ Dagegen ließe sich, so die WAZ vor zwei Jahren, gegen eine „unchristliche“ Ampel-Regierung aus SPD, Grünen und FDP einfacher Wahlkampf führen im konservativen Lager: „Gegen eine Ampel kann Söder stänkern. Im Falle einer Jamaika-Koalition von Union, Grünen und FDP wäre der CSU-Chef hingegen mitverantwortlich.“

Auf den Ministerpräsidenten kommt es an? Markus Söder wollte nicht, dass Steine fliegen gegen die Grünen. Aber er verfolgte seit zwei Jahren einen Plan, der das dafür geeignete Klima schuf. Als der Stein von Neu-Ulm flog, schob er die Schuld auf das Internet.  Foto: Josef A. Preiselbauer auf Pixabay

Söder und die CSU warfen den Stein nicht, aber hoben ihn auf

Söder und die CSU warfen keinen Stein. Aber sie hoben den Stein auf. Seither beschimpft der ruppige „Landesvater“ wie geplant die Politik der „Ampel“ allgemein, und die der Grünen besonders. Die Grünen würden ein Fleischverbot befürworten, behauptet er, es drohe eine Pflicht zur Gendersprache, sogar ein geplantes Verbot von Luftballons unterstellte er ihnen zeitweilig. „Die Grünen stehen letztendlich für diese Kultur: Nein, nein, nein. Verbot, Verbot, Verbot,“ poltert Söder in seiner Wahlkampf-Standardrede in fast jedem bayerischen Bierzelt. „Nur das einzige Mal überhaupt sind sie bei etwas nicht fürs Verbot,“ baut er Spannung auf, und es folgt dann eine polemische Unwahrheit:  „Es gibt nur eine Geschichte, wo die Grünen für eine Erlaubnis sind: Das sind Drogen.“ (so z.B. im Bierzelt Trudering am 12.5.2023).

Nun ist Zuspitzung ist ein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung, auch wenn sie an die Grenze der Wahrheit heranreicht. Und sicherlich gibt es auch gute Gründe für harte Kritik an der Berliner Regierung und den Grünen. Mit Hubert Aiwanger von den Freien Wählern liefert sich Söder einen Wahlkampf als Überbietungswettbewerb der Aggressivität gegenüber einem einzelnen politischen Gegner aus dem demokratischen Spektrum. Was hat es mit Zuspitzung zu tun, wenn in maßloser Übertreibung suggeriert wird, großstädtische Kulturrevolutionäre würden an den Gartenzäunen rütteln, um den Bayern ihre individuelle Lebensgestaltung zu rauben? Manche Gemüter sind so aufgepeitscht von diesen Reden, dass ihnen das Wählen nicht mehr reicht. Sie wollen mit anderen Mitteln ganz sicher gehen, dass es nicht zur gefürchteten grünen Unterjochung kommt.

Bald liegen Steine vor den Bierzelten

Und so liegen schon bald Steine vor den sommerheißen Bierzelten. Die Stimmung heizt sich auf den Siedepunkt. Viele CSU-Anhänger empfänden es inzwischen als „kulturelle Aneignung“, wenn Katharina Schulze im Bierzelt ein Dirndl trage, sagt Andreas Glas von der Süddeutschen Zeitung. Die von Söder und Aiwanger angestachelte Wut gegen die Grünen bricht sich unkontrolliert Bahn. Vor einem Bierzelt in Chieming werden am 1. August Eier und Tomaten als potenzielle Wurfgeschosse verkauft, als Schulze und Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir auftreten wollen. Und auch große Steine werden dabei „zur Schau gestellt, a bissl in die lustige Richtung“ (aber nicht verkauft, wie der Standbetreiber der Süddeutschen Zeitung versicherte). Die Reden der beiden Grünen gehen in einem organisierten Pfeifkonzert unter. Özdemir kann nur unter massivem Polizeischutz sprechen.

Aber noch fliegt kein Stein in Chieming. Was hier tobt, ist der Mob, den ein Ministerpräsident und sein Stellvertreter und deren Helfershelfer angestachelt haben. In Sorge um die eigene Macht hatte Söder vor zwei Jahren eine Strategie ersonnen, die politische Verantwortung missachtete: Lieber nicht in Berlin regieren, damit man in Bayern Stimmung machen kann.

Und dann fliegt der Stein. Wer blutet?

Und dann, am 17. September, fliegt der Stein von Neu-Ulm. Es ist fast genau zwei Jahre, nachdem Söder den Stein des Anstoßes aufgenommen hatte. Söder hat den Vorfall verurteilt. Besorgt äußerte er sich über eine „zunehmend destruktive Demokratie“. In der „Augsburger Allgemeinen“ sieht er als Ursache „digitale Blasen“, in denen nur noch Platz für die jeweils eigenen Standpunkte sei. Das führe zu einem immer raueren Ton und der Unfähigkeit zu Kompromissen.

Zehn Tage später droht ein Mann, der nach Erkenntnissen der Polizei eine Schreckschusswaffe besitzt, dem Schweinfurter Grünen-Landtagsabgeordneten Paul Knoblach einen „Kopfschuss“ an.

Am Sonntag wird gewählt. Bisher wurde niemand verletzt. Aber der Anstand blutet.

 

 

Inspiriert zu dem Text hat mich die mehrteilige Podcast-Serie der Süddeutschen Zeitung „Söders Endspiel“. Einzelne Informationen habe ich daraus entnommen.

Zur Flugblatt-Affäre rund um Hubert Aiwanger habe ich Neue Fragen an Hubert Aiwanger formuliert.

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier. 

 

Zerrissenes Geburtstagskind (#49)

Evangelische Stiftskirche, Stiftstraße 12, 70173 Stuttgart

Mein Besuch am 13. September 2023

Ein Sammelsurium der Baustile und Ausstattungselemente erwartet den Besuch der Stiftskirche in Stuttgart, der Hauptkirche im Zentrum der Stadt.

Es ist schwer, über diese Kirche zu schreiben, und vielleicht deshalb habe ich es lange nicht getan. Die Evangelische Stiftskirche im Zentrum Stuttgarts ist in der tief-protestantischen Stadt so etwas wie die Hauptkirche, aber man muss sie suchen; kein prächtiger Platz gruppiert sich um sie, kein dominanter Turm prägt das Stadtbild. Immerhin ist sie im Regelfall täglich von 10 bis 16 Uhr geöffnet und lädt zu einem Besuch ein, eine meditative Insel im materialistischen Umfeld schicker Markenshops.

Es ist auch schwer, über diese Kirche zu schreiben, weil sie so geschunden ist. Seit 1000 Jahren wird am Platz dieser Kirche gebetet, schreibt die lesenswerte und einladend gestaltete Webseite der Kirchengemeinde. Anfang Oktober feiert die Kirche ihr 700-jähriges Jubiläum, und bezieht sich dabei auf die Errichtung des frühgotischen Chorbaus, der im Wesentlichen bis heute an dieser Stelle steht.

Seither ist die Kirche mehrfach erweitert, zerstört, umgebaut, ausgebombt, niedergebrannt, eingestürzt – und anders als in anderen Städten hat man nicht den alten Bau immer und und immer wieder neu errichtet, oder sich zu einer vollständigen Neuerrichtung entschlossen.  Jedes Mal haben sich die Herrscher und Bürger den dann gerade aktuellen Gegebenheiten und Bedürfnissen angepasst, das Vorgefundene  ergänzt und erweitert. Jede Generation, die an dieser Kirche herumbastelte, hatte für sich gesehen, dafür sicherlich gute Gründe.

Als Besucher heute ging es mir aber so, dass dabei ein Sammelsurium herausgekommen ist, ein zerrissenes Gebäude, dessen Türme nicht zueinanderpassen und dessen Raumwirkung unter den vielen Kompromissen leidet. Beispielswiese ist schon seit Jahrhunderten der Chorraum seitlich gegenüber dem Hauptschiff verschoben, vermutlich deshalb, weil die engstehende Umgebungsbebauung nichts anderes zuließ. Zugangstore wurden verändert und verschoben, die im Krieg zerstörten Fenster in verschiedensten Stilen ersetzt. Die Harmonie der Raumwirkung leidet unter diesen Spannungen, und auch die vor 20 Jahren eingebauten Akustiksegel stellen ein weiteres, fremdartiges Element in diesem komplexen Bau dar, auch wenn sie für die Kirchenmusik ganz sicher unverzichtbar sind.

Für mich ist diese Kirche ein Sinnbild für gesellschaftliche Pragmatik: Die württembergische Seele hat hier klug, engagiert und immer auf den bewussten Einsatz der Mittel achtend eine Kirche über Jahrhunderte erhalten und immer wieder neu gestaltet. Das ist ehrenwert und auf gewisse Weise auch sympathisch, vielleicht sogar vorbildlich. Ein großer Wurf, ein kühner Plan, eine gestalterische Vision freilich, die ist dabei nicht herausgekommen.

 

Mehr über die Baugeschichte der Stiftskirche bei Wikipedia.

Die Website der Kirchengemeinde ist neu und sehr informativ und ansprechend gestaltet. Dort findet sich auch das Jubiläumsprogramm zum 700. „Geburtstag“ der Kirche vom 6. bis 8. Oktober 2023.

Weitere Kirchen aus meiner Sammlung #1000Kirchen finden  Sie hier. 

 

Die eingestürzte Welt des Händedrucks

Eine Geschwistergeschichte

Nun war es schon wieder ein warmer Sommer gewesen, und die Sonne flirrte auch heute vom wolkenlos blauen Himmel. Nur Schattenplätze stellten Schweißfreiheit in Aussicht. Und wer sich unter Menschen begab, so hatte es sich eingegraben in seinen Lebensüberzeugungen, der sollte möglichst nicht schwitzen; Umarmungen von Schweißleibern waren ihm eine besondere Herausforderung. Also stand er im dichten Schatten der Weide, deren Blätterdach sich üppig-girlandenhaft auf die stille Wasserfläche des kleinen Sees herabsenkte. Besser kühl bleiben, dachte er sich, obwohl gar kein Anlass für eine klebrige Umarmung in Sichtweite war.

„An körperlicher Nähe hatte er das Sitzen auf dem weichen Schoß seiner Mutter in Erinnerung, auch das Raufen mit seinen Brüdern, später das Händeschütteln der Erwachsenen, in das er sachte hineinwuchs.“  Foto: Lizenzfrei von HeungSoon auf Pixabay

(1)

Daran, dass sich alle ständig umarmten, hatte er sich erst mühsam gewöhnen müssen. Aufgewachsen war er ohne Umarmungen. An körperlicher Nähe hatte er das Sitzen auf dem weichen Schoß seiner Mutter in Erinnerung, auch das Raufen mit seinen Brüdern, später das Händeschütteln der Erwachsenen, in das er sachte hineinwuchs. Wenn es sein musste, fasste man sich an, aber man umarmte sich nicht. Die feuchten Küsse seiner Tanten auf die Backe hatte er ekelverzerrt ertragen wie alle Kinder, und war dankbar gewesen, dass seine Eltern ihn nicht küssten.

Dann hatte er die Welt außerhalb seiner Familiengewohnheiten kennengelernt, und die Umarmung hatte sich in sein Leben geschlichen. Anfangs noch als besonderes Ereignis, fand er sich bald schon sinnenberauscht in den Armen seiner ersten schüchternen Frauenbekanntschaften wieder. Er sog den Duft ihrer Haare ein, spürte den sanften Druck begehrter Körperstellen, fühlte eine unerhörte, nie erlebte, ganz singulär empfundene Nähe, und verwechselte sie verwirrt mit Liebe. Enttäuscht schreckte er zurück, wenn ihm der Irrtum bewusst gemacht wurde. Eine Umarmung war neu für ihn, sie war intensiv, aber was bedeutete sie?

„Wir geben uns zur Begrüßung die Hand“, hatte ein deutscher Bundesinnenminister noch im Jahr 2017 als Teil einer deutschen „Leitkultur“ vorgeschlagen. 2017! Da hatte die Umarmung für ihn längst den geschützten Raum des Intimen verlassen. Seine festgefügte Welt des Händedrucks als Regelfall war schon viel früher eingestürzt. Sommer um Sommer hatte sich die Umarmung immer fester an seine anwachsende Lebenserfahrung geklammert. Wie eine Epidemie, so schien es ihm, griff das Umarmen um sich. Eingerissen wurde die wohlvertraute Mauer zwischen Liebe und Bekanntschaft, die in seiner erwachsenen Welt anfangs noch sauber sortiert hatte, wen es zu umarmen gilt und wen nicht. Irritiert beobachtete er, wie seine halbwüchsigen Kinder bei jedem nichtig erscheinenden Anlass ihre Freundinnen und Freunde umarmten, und seine Frau wusste sowieso nichts von seiner Mauer. Fasziniert beobachtete er, wie Männer sich gegenseitig in den Arm nahmen, undenkbar in seiner Welt, und staunte über Frauen, die sich mit Umarmungen begrüßten, die das Ziel hatten, zur Schonung von Makeup und Frisur sich möglichst wenig zu berühren. Was für ein absurdes Ritual gespielter Nähe, dachte er sich.

Sogar seine Arbeitskolleginnen -kollegen, die er doch jahrelang mit geübtem Händedruck routiniert begrüßt hatte, begannen zu seinem Erstaunen damit, sich gegenseitig zu umarmen. Eifersüchtig schielte er auf die emotionale Nähe, die manche damit auszudrücken schienen, wo doch professionell ermittelte Distanz angebracht gewesen wäre. Er fühlte sich ausgeschlossen. Neid und Misstrauen wucherten in ihm, und deshalb überwand er sich schließlich in geeigneten Momenten. Er übte das Umarmen ein, wie andere eine Sprache oder ein Musikinstrument erlernen. Rechts oder links? Mit oder ohne Küsschen? Einmal oder zweimal?

Er lernte es also, zu umarmen, aber eine körperliche Muttersprache war es ihm nicht. Für sich selbst entschied er sich schließlich für die distanziert trockene Variante als Regelfall. Entschlossen wich er Küsschen-Überfällen aus, und verweigerte den Lippeneinsatz.

(2)

War da schon der Herbst in den Blättern? Er prüfte die Farbe des satten Grüns über sich, ließ auch den Blick schweifen über den See, auf die im Wasser dahintreibende Entenfamilie, die dahinterliegenden Bäume, musterte das Laub: Alles noch lebendig und saftig grün. Der Herbst wird kommen, überlegte er, das prächtige Sterben der Blätter wird sich ereignen, wie immer, und der unerbittliche Wind wird es herunterzerren und nur kahles Geäst zurücklassen. Es wird sich Eis bilden auf dem See. Aber noch war es nicht so weit, noch war Sommer.

Er war schon tief in der zweiten Lebenshälfte, im goldenen Spätsommer des Lebens gewissermaßen, von der Arbeit befreit, aber auskömmlich wohlhabend, halbwegs gesund und voller Tatendrang. Aus Sicht seiner Kinder war er alt, aber doch der ewig jüngste von insgesamt vier Geschwistern: eine Schwester, die in diesem Jahr einen runden Geburtstag feierte, zwei Brüder.

Der kleine See war ein Urlaubsort. Ein Fest hatte seine Schwester gegeben, eine fröhliche Geburtstagssause mit launigen Ansprachen und musikalischen Einlagen, und sogar sein ältester Bruder, der seit Jahrzehnten in Südamerika lebte, deutlich über achtzig, hatte zu diesem Zweck die weite Reise in die gemeinsame Heimat auf sich genommen. Damit sich dieser Aufwand auch lohnt, hatten sich die vier Geschwister aus Anlass der seltenen Zusammenkunft zu einer gemeinsamen Woche am See verabredet.

Wer glücklich alt werden wolle, der müsse auf gelungene, menschliche Kontakte setzen. Das sei Ergebnis einer großen amerikanischen Langzeitstudie. Ein Interview dazu hatte er auf der Autofahrt an den See mit der Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates gehört. „Der eine Faktor, der alles übertrumpft, der am stabilsten ist als Prädiktor dafür, dass man mit achtzig sagt: Ich habe ein gutes Leben gelebt, ein sinnvolles Leben,“ so hatte die kluge Frau die Studie wiedergegeben, „sind gute Beziehungen zu Geschwistern.“ Natürlich sei das auch nur ein Faktor, nicht der einzige, aber eben der stärkste. Wer ein gutes Verhältnis zu seinen Geschwistern habe, der könne mit guten Chancen darauf hoffen, lang und zufrieden zu leben. Geschwister würden verlässlich dem eigenen Leben einen Rahmen geben.

Seine Geschwister waren fast immer fort gewesen, ihm uneinholbar weit voraus im Leben. Sie führten alle ihre eigenen Leben, ungezählte Kilometer und noch viel mehr Erfahrungen entfernt voneinander. Jahre war es her, dass sie sich zu viert getroffen hatten, monatelang sahen und hörten sie zweitweise nichts voneinander.

Ein großes Hallo war es gewesen, als sie beim Fest aufeinandertrafen. Schon seit einiger Zeit hatte er sich angewöhnt, seine Geschwister nicht mehr wie einst mit Handschlag, sondern mittels einer Umarmung zu begrüßen. Wenn ich schon meine Arbeitskollegen umarme, hatte er sich gedacht, dann kann ich doch bei meinen Geschwistern nicht zur ausgestreckten Hand greifen. Ungefragt nötigte er ihnen also seither Umarmungen auf, auch wenn er regelmäßig das Gefühl hatte, dass sie ihm als linkisch-peinliche Momente herbeigezwungener Körpernähe misslangen. Ganz besonders empfand er es so, als er dem fernen Ältesten, dem es abstandsbedingt an Routine im neuen Begrüßungsritual fehlen musste, der auch gerade erst übernächtigt aus dem Flugzeug gestiegen war, die brüderliche Umarmung aufzwang. Und doch: Alles andere wäre ihm noch unpassender erschienen.

(3)

„Da bist Du ja“, rief er jetzt aus seinem Weidenversteck heraus genau diesem ältesten Bruder entgegen. Er hatte ihn auf dem Rundweg um den See entdeckt. Vorsichtig schritt der alte Mann behutsam auf dem Kiesweg dahin, in seiner typischen Haltung: Die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Blick fest auf den Weg geheftet. Hatte er den Zuruf überhaupt gehört?

Es war eine vorhersehbare Zufallsbegegnung. Er hatte die Absicht gehabt, den See allein zu umrunden. Das war sein täglicher Spaziergang hier in der Spätsommerfrische, seine persönliche Rückzugszeit vom Familien-Intensivprogramm. Die letzte Woche war vor allem damit vergangen, dass sich die Geschwister tagelang Geschichten aus ihrer Kindheit erzählt hatten, ihre Erinnerungen abgeglichen hatten, endlos, immer wieder und wieder sich ihrer selbst versichernd. Alte Fotos hatten sie durchsucht, alte Geschichten aufgewärmt, gelacht über Dinge, über die nur sie lachen konnten. Es war ihm eine warme Lust gewesen, sich in diesem Gefühl wohliger Gemeinsamkeit zu suhlen, aber es war auch ein sumpfiger Morast, und die Pampe ihrer verklärten Erinnerungen klumpte an ihnen fest wie das aufgeweichte Erdreich eines regengeplagten Festivalgeländes.

Heute, im flirrenden Licht der hochstehenden Spätsommersonne, hatte er den Weg noch bewusster als sonst abschreiten wollen, meditativ, still, ganz für sich allein. Der gemeinsame Urlaub der Geschwister war vorbei. Würde es noch einmal für alle ein Wiedersehen geben?

„Ah, wie geht´s?“, hörte er den Gruß seines Bruders, der seinen Blick nur wenige Sekunden vom Weg nach oben gehoben und ihn erkannt hatte, nachdem er aus seinem Weidenversteck herausgetreten war. Er reagierte mit belanglosem Gemurmel – „gut, gut, alles Ordnung“ -, begrüßte den Bruder mit einer sanften Berührung der gebeugten Schulter, ganz bewusst die Umarmung vermeidend, aber auch den anachronistischen Handschlag.

Dann passte er sich dem behutsamen Schritt des Älteren an. „Sag mal“, hob der Bruder unvermittelt zu einer Frage an, „erinnerst du Dich, dass wir mit unseren Eltern auch immer am Sonntag spazieren gegangen sind?“

Wie Schluckauf stieg Überdruss an „Erinnerst Du Dich noch“-Gesprächen in ihm auf, zu viele davon hatte er in den letzten Tagen geführt, zu jung fühlte er sich trotz seines fortgeschrittenen Alters für die Fokussierung auf das Erinnern an Vergangenes. Dann aber antwortete er artig zustimmend. Dabei stellte er entsetzt fest, dass er die gleiche Laufhaltung wie sein Bruder angenommen hatte: Blick auf den Weg, die Hände nach hinten, verschränkt auf dem Rücken. Es war die Gehhaltung ihres gemeinsamen Vaters gewesen. Erschrocken löste er die Hände hinter sich voneinander, ließ sie zunächst unentschlossen neben seinen Hüften schlackern, fühlte sich damit aber unwohl und räumte sie schließlich in seine Hosentaschen auf.

„Ich erinnere mich vor allem,“ hörte er jetzt seinen Bruder, „wie langweilig es war, wenn die Eltern dann Bekannte getroffen haben. Ewig haben die sich dann unterhalten über uninteressantes Zeug, und ich musste mir die Beine in den Bauch stehen.“

Nickend stimmte er dem Älteren zu, etwas unkonzentriert, ihm erschien diese Erinnerung belanglos, und seine Gedanken eilten ihm voraus zur kurz bevorstehenden Abschiedsszene. Wie würde die wohl verlaufen, überlegte er.

„Weißt Du eigentlich noch, wie man sich damals begrüßt und verabschiedet hat?“, fragte er.

Schritt für Schritt setzen sie ihren Gang fort, und er hatte schon den Eindruck, der ältere Bruder habe die Frage nicht gehört oder nicht verstanden. Aber dann, während er feststellte, dass seine ungehorsamen Hände sich schon wieder auf seinen Rücken geflüchtet hatten, hörte er ihn doch:

„Na, ganz normal. Mit Handschlag. Immer mit Handschlag. Und unser Vater ging ja nie ohne Hut aus dem Haus. Ich glaube, der hat ihn dann immer gelüftet, so wie sich das damals gehörte.“ Ein Lächeln huschte über das blasse Gesicht des Älteren.

(4)

„Er hatte es gelernt, zu umarmen, aber eine Muttersprache war es ihm nicht geworden.“ Foto: Lizenzfrei von erge auf Pixabay

Der Abschied stand an. Eine ganze Woche waren sie zusammen gewesen. Wann hatte es das zuletzt gegeben? Vielleicht als Kinder, in den letzten gemeinsamen Urlauben mit den Eltern.  Ewig her, sicher mehr als fünfzig Jahre, überschlug er. Nun standen die Autos bereits gepackt vor der Tür des Urlaubsquartiers, die Angeheirateten warteten ungeduldig auf den Aufbruch. Nervös zögerte er den Moment noch heraus, prüfte, ob die Sonnenbrille im Auto bereitlag, stellte die Wasserflasche griffbereit in die dafür vorgesehene Ausbuchung. Hinter ihm hatte bereits seine Frau mit der Verabschiedung begonnen, keine weitere Verzögerung mehr duldend, den Schwager herzhaft umarmend, so wie es ihre Art war.

Dann war er an der Reihe. Noch einmal blickte er in das von einem schütteren grauen Bart umstandene Gesicht des ältesten Bruders, in die vertrauten Augen, in sein faltenumspieltes Lächeln. Eine warme Welle schwappte über ihn hinweg, überspülte ihn mit der Empfindung für das Unwiederbringliche, vielleicht sogar Unwiederholbare dieses Augenblicks. Dann breitete er seine Arme aus. Da bemerkte er, dass der Bruder ihm seine rechte Hand entgegenstreckte. Bereit zum Handschlag.

 

 

Der Vorschlag von Lothar de Maiziere, damals Bundesinnenminister, aus dem Jahr 2017 zu den Merkmalen einer deutschen „Leitkultur“ – „Wir geben uns die Hand“ – finden Sie hier.

Die von Alena Buyx, der Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates, zitierte Studie ist die Grant-/Glueck-Studie der Universität Harvard. Über die Ergebnisse kann man sich u.a. in diesem Video, einem übersetzten Vortragsmitschnitt, informieren.   (Klick leitet weiter auf Youtube) 

Das Gespräch mit Alena Buyx aus der ZEIT-Podcast-Reihe „alles gesagt?“ dauert mehr als fünf Stunden. Wer sich nicht alles anhören möchte (was aber durchaus lohnend ist), findet die von mir zitierte Stelle genau 30 Minuten vor Schluss: https://www.zeit.de/gesellschaft/2023-08/alena-buyx-ethikrat-interviewpodcast-alles-gesagt

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.