Fanny, Käthe und ihre Väter (24. Juni 2021)

Fanny liebte die Musik. Ihre Mutter, selbst aus einer Pianistenfamilie stammend, hatte ihr das Klavierspiel nahegebracht, sie hatte gute Lehrer gehabt, sie hatte bereits erste Kompositionen gefertigt und mit Erfolg vorgetragen. Jetzt war Fanny 15 Jahre alt, und voller banger Gefühle betrachtete sie den noch geschlossenen Umschlag. Es war ein Brief ihres Vaters. Der Vater war wie immer in Geschäften unterwegs, eine Autoritätsperson, weit weg vom Leben seiner Kinder. Ein schwerreicher Geschäftsmann, heute würde man vielleicht sagen: der CEO eines Familienunternehmens, Patriarch einer Bank, die auch ein Beteiligungsunternehmen mit Geschäften bis ins ferne Ausland war. Der geschäftstüchtige Vater hatte zusammen mit seiner Familie, auch der sechsjährigen Fanny, 1811 Hamburg verlassen müssen, weil die französischen Besatzer der Hansestadt Handel mit England verboten – was aber für seine Geschäfts von existentieller Bedeutung war. In Berlin hatte die jüdische Familie eine neue sichere Heimat gefunden, der Vater bestimmte sogar, dass sie alle zum evangelischen Glauben übergetreten waren. Hier konnte er ein angesehenes Leben inmitten der höheren Gesellschaft führen.  Der Reichtum des Vaters hatte Fanny und ihren drei Geschwistern ein gehobenes Leben in Berlin möglich gemacht, und Fanny wusste, welche Privilegien sie genießen durfte.  

„Stets nur Zierde“?

Fanny Hensel, Büste vor der Mendelssohn-Remise in Berlin, Jägerstraße

Was also konnte dieser Brief des Vaters bedeuten? Musste sie heiraten? Hatte der Vater über ihr Schicksal bestimmt? Fanny saß am Fenster des dunkelgetäfelten Wohnzimmers, ein Flügel inmitten des großen Raums, in edlem Leder gebundene Bücher in den Regalen und auf dem Tisch, dunkelmatt glänzende Gemälde an der Wand. Vielleicht war es so, dass gerade Fannys jüngerer Bruder auf dem Klavier klimperte, während Fanny den Umschlag öffnete. „Die Musik wird für ihn vielleicht Beruf”, schrieb der Vater da, “während sie für Dich stets nur Zierde, niemals Grundbass Deines Seins und Tuns werden kann und soll.“ Nur Zierde? Fanny spürte Empörung, Trauer, Wut in sich aufsteigen. Darum also ging es, so war über ihr Schicksal entschieden worden. Ja, der Vater hatte es durchaus gehört, wie sie schon als 13-jährige ihm in diesem schönen Wohnraum im Zentrum Berlins Teile des  Bach´schen “Wohltemperierten Klavier” vorgespielt hatte. Ja, der Vater wusste um ihr Talent und ihre Begeisterung für das Komponieren. Aber es hatte nichts genutzt, in ihrem Fall war beides “nur Zierde”. Der für sie bestimmte Weg war Heirat, Ehe, Kinder bekommen, ein großes Haus führen. Ihr Talent sollte dem Ruhm des ebenfalls talentierten Bruders Felix nicht im Wege stehen.  

Die Geschichte der talentierten Fanny, die nicht berühmt werden durfte, damit ihr Bruder Felix Mendelssohn-Bartholdy es sein konnte, wurde schon tausendfach erzählt. Fanny fügte sich in ihr Schicksal. Wir wissen es nicht, aber nichts deutet darauf hin, dass Vater Mendelssohn diese seine harte Entscheidung je bedauert hätte. Fanny Mendelssohn-Bartholdy heiratete den klugen Kunstmaler Wilhelm Hensel, der ihre musikalische Leidenschaft würdigte und ihr ermöglichte, Hauskonzerte (übrigens an der Stelle, an der heute das Bundesrats-Gebäude in der Leipziger Straße steht) zu veranstalten, die in ganz Berlin einen legendären Ruf hatten und Fanny Hensel zu einer wichtigen Figur der Musikszene ihrer Zeit in der großen Stadt machte. Komponiert hat sie weiterhin, weniges davon erschien sogar unter dem Namen ihres Bruders, vieles blieb im Schatten, überstrahlt vom öffentlichen Glanz des Bruders. Kurz vor ihrem Tod ignorierte sie das Verbot des inzwischen verstorbenen Vaters und veröffentlichte einige ihrer Kompositionen. Fanny Hensel starb wenige Monate vor ihrem Bruder Felix, erst 42-jährig, im Jahr 1847.  

Bitte einsteigen in die Zeitmaschine

Berlin ist eine Zeitmaschine, also bitte einsteigen! Und schnell mal gut fünfzig Jahre vorspulen: Stellen wir uns für das Jahr 1875 ein Gespräch im preußischen Königsberg vor. Käthe Schmidt hieß das Mädchen, acht Jahre war sie alt, und der Vater hatte sie zu sich gerufen. Käthes Vater schrieb keine Briefe. Ihr Vater arbeitete als Maurermeister, nachdem er wegen zu liberaler Ansichten mit seinem Jurastudium auf politische Schwierigkeiten in Preußen gestoßen war. Wir stellen uns es daher einmal so vor: Der Vater war müde und gezeichnet von einem harten Arbeitstag, und das Gespräch könnte am Küchentisch der Familie stattgefunden haben. Käthes Geschwister tobten herum, der Bruder versuchte am gleichen Tisch seine Aufgaben aus der Schule zu lösen, während die Mutter noch das Abendessen zubereitete. „Schöne Zeichnungen machst du da“, sagte der Vater, dem sie am Tag zuvor eines ihrer Bilder gezeigt hatte. „Mach weiter! Das könnte etwas Großes werden, wenn Du Dich anstrengst.“  

Käthe Kollwitz, Selbstportrait

Ein solches Gespräch ist Fantasie. Aber nach allem, was wir wissen, hat Vater Schmidt genauso wie  Vater Mendelssohn-Bartholdy das Talent seiner Tochter früh erkannt. Er förderte Käthe, gab ihr Rückhalt, machte sie nicht klein, sondern groß, stellte Kontakte her. Er ließ Käthe, als sie eine junge Frau geworden war, nach Berlin auf die „Damenakademie des Vereins Berliner Künstlerinnen“ ziehen. Käthe arbeitete hart an ihrer Kunst, suchte ihren spezifischen Weg nach künstlerischem Ausdruck und setzte sich früh mit den harten sozialen Realitäten ihrer Zeit auseinander. Käthe Schmidt lernte ihren späteren Mann, den Arzt Karl Kollwitz, kennen und heiratete ihn 1891. Gemeinsam zogen sie nach Berlin an den Prenzlauer Berg. Das Paar hatte zwei Söhne; der ältere davon fiel im 1. Weltkrieg, was Käthe Kollwitz´ künstlerisches Werk über Jahre prägte, ihr peinigende  Schuldgefühle auflud, und sie zu einer überzeugten Pazifistin werden ließ. Käthe Kollwitz musste für niemanden zurückstecken, nicht für ihre Geschwister, nicht für die gesellschaftliche Erwartung, nicht für ihren Mann. Käthe Kollwitz konnte während der Nazi-Herrschaft zwar nur eingeschränkt arbeiten, wurde aber toleriert. Sie starb 78-jährig kurz vor Kriegsende.  

Zwei Väter, zwei Lebenswege?

Zwei Väter, zwei Lebenswege? Das ist eine gewagte, nicht angemessene Verkürzung. Aber es ist eine Tatsache, dass für die Würdigung des Werkes von Fanny Hensel noch immer engagierte Künstlerinnen (ja, es sind in der Regel die Frauen) kämpfen müssen. Denn die Musik von Fanny Hensel ist von größtem Zauber, ihre Klavierlieder perlen mit betörender Sinnlichkeit dahin, ihre wenigen Orchesterwerke strahlen und jubeln mit den denen ihres Bruders um die Wette. Aber hören wollen viele immer nur den berühmten Felix.  

Wie anders bei Käthe Kollwitz: Ihre Grafiken sind von getragener Schwere, alles andere als gefällig, thematisieren komplexe gesellschaftliche Nöte – Armut, Widerstand, Krieg. „Nie wieder Krieg“ ist die Plakat-Ikone aus der Feder von Käthe Kollwitz, die wir alle im Kopf präsent haben. Um Käthe Kollwitz´ Berühmtheit aber muss niemand kämpfen. Für sie gibt es in Berlin (und anderswo) ein eigenes Museum, Schulen und Bibliotheken sind nach ihr benannt, Plätze und Straßen sowieso. Als überlebensgroßes Denkmal sitzt Käthe Kollwitz am Prenzlauer Berg auf dem nach ihr benannten Platz. Streng, mit Kohlestift in der Hand, schaut sie dort in die Ferne, während die Prenzlberg-Kinder auf ihr herumklettern. Ganz im Zentrum des geeinten Deutschland ist sie angekommen. Der Konservative Helmut Kohl persönlich entschied, dass eine von der bekennenden Sozialistin Käthe Kollwitz inspirierte Skulptur in der Neuen Wache unter den Linden uns alle an die Opfer von Krieg oder Gewaltherrschaft mahnen soll. Es ist eine Pieta, die dort in diesem ernsten Raum, im Innersten unserer Republik, unseren Blick auf die Trauer einer Mutter um ihren gestorbenen Sohn lenkt.  

Es ist auch der Blick auf die Trauer von Käthe Kollwitz um ihren eigenen Sohn, vielleicht sogar ihre Reue, ihn nicht zurückgehalten zu haben, als er euphorisch in den Krieg zog.  

Kollwitz-Pieta in der Neuen Wache in Berlin

Mehr über das Leben von Fanny Hensel und Käthe Kollwitz jeweils bei Wikipedia;  

 

Musik von Fanny Hensel findet man auch auf Youtube, z.B. dieses:  Fanny Mendelssohn: Overture in C Major (ROCO) 

Die nationale Gedenkstätte “Neue Wache” auf Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Neue_Wache 

 

 

Streitgespräch der Prachtstraßen (15. Juni 2021)

Dies ist die Aufzeichnung eines unwahrscheinlichen Streitgesprächs. Es findet statt – so stellt sich das der Flaneur vor – am Brandenburger Tor in Berlin, und es treffen sich die beiden Prachtstraßen dieser Stadt: Der Kurfürstendamm, hier kurz der „Damm“ genannt, und die Karl-Marx-Allee, also die „Allee“. Natürlich kommt die Allee von Osten und der Damm von Westen.

Allee: Freundschaft, Kurfürstendamm! Finde ich gut, dass wir uns auf meinem früheren Staatsgebiet treffen.

Damm: Hallo, alte Sozialistin, ich bin Dir gerne entgegengekommen. Eigentlich hatte ich die Straße des 17. Juni als Treffpunkt vorgeschlagen …

Allee: … eine Provokation!

Damm: … aber es hätte dafür gute historische Bezüge gegeben. Und geografisch wäre der Tiergarten die Mitte zwischen uns gewesen, habe ich extra auf Google Maps nachgeguckt. Aber von mir aus lassen wir das, alles alter Tobak, Du aus der Zeit gekommene Kollegin.

Der Strausberger Platz eröffnet das Ensemble der Karl-Marx-Allee

Allee: Da höre ich sie schon wieder, die westliche Arroganz. Spare Dir unbegründeten Hochmut. Als erstes sollten wir festhalten, dass ich unbestreitbar die Schönere von uns beiden bin. „Karl-Marx-Allee“ – schon der Name! Und diese wunderbare Monumentalarchitektur, eine geschlossene, prächtige, verkachelte Häuserfront auf beiden Seiten fast zwei Kilometer lang, Säulen und Kapitele, dazwischen Grünflächen und Bäume. Da kannst Du nur neidisch sein, bei Deinem Wirrwarr von Konsumtempeln.

Damm: Ich gebe überhaupt nichts zu. Etwas zugeben, das war noch nie meine Stärke. Und ich habe die Geschichte auf meiner Seite. Du musstest erst mühsam errichtet werden, viele alte Häuser …

Allee: … also das waren genauso wie bei Dir alles Ruinen …

Damm: …ja, ok, aber sie mussten dafür weichen, damit man für Deine Breite Platz schaffen konnte: Für die Paraden, für die Panzer und Raketen, für die Tribünen Deiner kommunistischen Autokraten. Und soll ich Dich daran erinnern, wie Du eigentlich ursprünglich geheißen hast? Soll ich …?

Allee: Lass doch den alten Kram …

Damm: Jedenfalls war Dein Karl Marx als Namensgeber erst zweite Wahl. Ursprünglich war das ein gewisser…

Allee: Still jetzt!

Damm: … ein gewisser Stalin, den ihr mit Deinen Arbeiterpalästen ehren wolltet. Ein Massenmörder! Ich dagegen war schon immer da, früher als Weg zur Jagd unseres Kurfürsten, später hat sich Otto von Bismarck für mich eingesetzt. Auf mir fuhr die erste dampfgetriebene Straßenbahn, und ich war die wichtigste Amüsiermeile Berlins in einer Zeit, die heute alle an Babylon erinnert.

Allee: Ha! Erst der Kurfürst und dann Bismarck! Und da spottest Du über Ulbricht und Honecker als Autokraten! Das waren wenigstens Repräsentanten der Werktätigen, der einfachen Leute, der Arbeiter und Bauern, die dort die Paraden unserer Armee abgenommen haben, …

Damm: Repräsentanten? Von Demokratie kann da aber keine Rede sein!

Allee: Beim Kurfürst und  bei Bismarck noch weniger.

Damm: Von mir aus, lassen wir die Herrscher von damals aus dem Spiel. Aber nachdem Ihr Eure Mauer gebaut hattet, war die Welt doch wohl klar geordnet: Auf meiner Seite gab es nur noch lupenreine Demokraten, die über mein Pflaster flanierten.

Allee: So, so – „lupenreine“ Demokraten seid Ihr gewesen? An Deinem Pflaster klebt das Blut von Rudi Dutschke, vergiss das nicht. Und mit Polizeiknüppeln habt Ihr auf die Demonstranten gegen den Vietnam-Krieg eingeprügelt.

Damm: Das war schon eine schwierige Zeit. Muss ich zugeben. Aber geschunden wurde ich dabei, die schönen Schaukästen haben sie damals eingeschlagen, meine Schaufenster demoliert. Mir tut es heute noch, wenn ich daran denke.

Allee: Mein Beileid. Solche Streitereien auf meinem Rücken hatten wir nicht, dafür haben Walter und Erich gesorgt. Aber weißt Du eigentlich, wie schwer die Panzer und die Raketen-Laster eigentlich sind, die ich aushalten musste?

Damm: Nee, mit Militärparaden habe ich bis heute nichts zu schaffen. Da bin ich zu eng für. Das hast Du jetzt von Deiner Breite und Pracht.

Allee: Ich bin eben schöner als Du.

Damm: Warum kommen dann alle Menschen zu mir, und nicht zu Dir? Täglich muss ich mich mit Millionen Menschen herumschlagen, die auf mir rumtrampeln, tütenschleppend sich von einem Markenladen zum nächsten durchschlagen. Dabei gibt es diese Läden in jeder größeren Stadt immer gleich. Ich sag Dir, das ist eine Plage, dauernd das Getrappel, und manchmal stehen sie ewig lang auf mir herum, nur um in den Apple-Shop reinzukommen.

Allee: Deine Probleme hätte ich gerne! Ich erinnere mich gut, als das auch bei mir noch so war. Jeder, der in unserem sozialistischen Land etwas Besonderes gesucht hat, kam in die Karl-Marx-Allee – die erste Einkaufsadresse im ganzen Land! Edle Tuche, die wenigen aus dem Westen importierten Jeans, gute Leckereien, manchmal sogar Orangen und Bananen – alles das gab´s in der Karl-Marx-Allee. Und dazu das schöne Restaurant Moskau, das schicke Hotel Berolina, die großen Kinos und die Mokka-Eisbar – ach war das schön! Bei mir war richtig was, los, sag ich Dir. Weißt Du was, Du Wessi-Jammer-Damm: Ich habe mich inzwischen von den Militärparaden erholt. Gib mir was ab von Deinen Markenshops, ein paar Leute mehr auf meinem panzergeprüften Pflaster machen mir nichts aus.

Damm: Da musst Du erstmal Deinen Denkmalschutz loswerden. Da darf ja kein Gucci oder Prada sein Logo fett vorne hin montieren!

Denkmalschutz Ost: Wein drin, Briefmarken obendrauf

Allee: Kann ich das ändern? Stimmt schon, hier wird eben auf Geschichte und Schönheit geachtet, bei Euch geht es immer nur um Kommerz. Sogar meine alten sozialistischen Leuchtreklamen stehen unter Denkmalschutz. Deshalb muss einer meiner Geschäftsleute sein Weinlokal unter der Leuchtschrift „Briefmarken“ betreiben.

Denkmalschutz West: Eine Verkehrskanzel am Kurfürstendamm

Damm: Ich fasse es nicht, wer kommt denn auf so eine Schnapsidee? Sowas fiele mir nicht ein. Wir haben nur eine Verkehrskanzel aus den 50ern, die unter Denkmalschutz steht.

Allee: Ihr wollt mich eben als nostalgisches DDR-Museum erhalten. Sogar die schöne Karl-Marx-Buchhandlung steht leer. In dieser Lage, bei diesem Namen! Schon traurig, aber dafür bin ich eben auch die Schönere von uns beiden.

Damm: Fang nicht schon wieder damit an! In Deinen Prachthäusern macht schon deshalb kein toller Laden auf, weil es in Deinen Seitenstraßen keine so reichen Leute gibt wie bei mir, die da einkaufen könnten.

Allee: So ein Blödsinn! Ja, wir sanieren eben aus unseren sozialistischen Plattenbauten, die hinter meinen schönen Kachelfassaden stehen, nicht die Leute heraus. An Deiner Seite, mein lieber geldgieriger Kurfürstenkollege, kann man sich das Leben eben gar nicht mehr leisten, so ist das. Bei mir schon.

Damm: Und warum sieht man dann auch bei Dir so viel Armut auf der Straße, Menschen ohne Wohnung, Alkoholkranke, flaschensammelnde Rentner?

Allee: Das ist gemein! Die gibt es alle bei Dir auch, und zwar ganz üppig. Man muss nur genauer hinschauen, weil Dein ganzer Glitterglanz und Deine Leuchtreklamen so blenden. „Und man sieht die im Licht, die im Dunkeln sieht man nicht“, hat schon Bertolt Brecht geschrieben. Recht hat er.

Damm: Anderes Thema, schöne Allee! Kannst Du mir nicht etwas von Deinen Grünflächen abgeben, zum Beispiel die Weberwiese?

Allee: Das könnte Dir so passen. Ihr Wessis glaubt immer, Ihr könnt alles kaufen. Du bekommst gar nichts von mir: keine Kachel, keine Säulenarchitektur, keinen meiner Fontänenbrunnen, kein Grün. Ich will alles behalten, was mich so schön macht.

Damm: Dann wirst Du in Schönheit sterben.

Allee: … und Du an Deinem Geld ersticken.

 

 

Wer sich die Geschichte der beiden Prachtstraßen Berlins näher zu Gemüte führen will, kann dies z.B. auf Wikipedia tun:

Kurfürstendamm: https://de.wikipedia.org/wiki/Kurf%C3%BCrstendamm

Karl-Marx-Allee: https://de.wikipedia.org/wiki/Karl-Marx-Allee

 

 

 

Querschläger (11. Juni 2021)

Strandbad Wannsee

Das Berliner Mädchen Karla war vielleicht mit einem Fahrrad gekommen. Sieben Jahre war es alt, geboren 1945, mittendrin in den Wirren des Kriegsendes, in der Armut und Not, im Chaos der Wochen und Monate, nachdem die Waffen endlich schwiegen. Im Sommer 1952 war das Gröbste vorbei, die Verhältnisse hatten sich einigermaßen geordnet. Karla war gestrampelt durch den Grunewald, vielleicht zusammen mit ihren Eltern. „Nischt wie raus zum Wannsee!“ hatte ein Jahr zuvor Cornelia Froboess als Kinderstar berlinerisch geträllert, ein Schlagerhit der Nachkriegsjahre, dessen Refrain sich sofort als Ohrwurm in unseren Kopf einnistet. Bestimmt hatte es die Siebenjährige auch schon gehört, vielleicht lag es ihr auf den Lippen – „Pack die Badehose ein, nimm Dein kleines Schwesterlein, und dann …“. Es war ein heißer Augusttag.

Manchmal waren die Schüsse zu hören

Wenn der Wind entsprechend stand, konnten die Nachkriegs-Badegäste am Wannsee die Schüsse hören. Sie hatten sich daran gewöhnt. Wer 1952 hier badete, hatte den Krieg erlebt, kannte das Zusammenzucken, wenn ein Schuss fiel, hatte sich tausendmal geduckt bei Detonationen, und hatte zahllose Todesängste ausgestanden. Aber hier am Wannsee musste man die Schüsse nicht mehr fürchten. Die Berliner wussten, dass amerikanische Soldaten in den aufgeschütteten Böschungen unweit des Strandbades ihre Schießfertigkeit übten. „Keerens Range“ nannte die Besatzungs- und Schutzmacht dieses Areal. Das Knallen der Schüsse am Wannsee war nicht beliebt, aber so gewohnt wie das ohrenbetäubende Jaulen der Jagdbomber, gewohnt wie der staubige Knall, wenn in Berlin die Ruinen gesprengt wurden und in sich zusammenfielen in einer Staubwolke.

Doch an diesem 5. August war es plötzlich anders; Klara greift sich an den Hals, Blut rinnt durch ihre Finger, das Kind schreit und schluckt und sinkt auf die mitgebrachten Decken.

So kann man sich das Geschehen vorstellen, das sich vor fast siebzig Jahren abgespielt hat – so oder so ähnlich. Ein Querschläger aus amerikanischer Waffe hatte sich aus dem Übungsareal verirrt, hinüber zum Wannseebad, und dort das unglückliche Kind am Hals getroffen. Das Leben des Mädchens konnte gerettet werden. Es war nicht das erste Ereignis dieser Art seit Kriegsende, und auch nicht das letzte. Die Verletzung des Kindes wurde propagandistisch ausgeschlachtet; sogar eine Ost-Version des „Pack die Badehose ein“-Schlagers wurde produziert, in der vom Einpacken der Badehose dezidiert abgeraten wurde, „weil der Ami schießt am Wannsee“.

Ein weiter Ort voller Friedfertigkeit

Wer heute in das Strandbad am Wannsee kommt, braucht keine Schüsse zu fürchten. So sitzt der Flaneur denn also dort im Strandkorb, überwältigt von der Friedfertigkeit dieses weiten Ortes, geblendet von der glitzernden Wasserfläche vor ihn, und gedenkt kurz der kleinen Karla. Dann wird er zum Teil des bunten Treibens an diesem Vormittag: Fröhliche Rentner bemühen sich um sommerliche Bräune, kommunikative Damen gehen ihrem Sozialleben nach, junge Familien genießen ruhige Momente, weil sie hier ihre Kinder sorglos durch den Sand toben lassen können.

Wannsee: Strandkörbe in der Großstadt

Das Strandbad Wannsee ist ein Sehnsuchtsort für Nicht-Berliner, die fasziniert und verlockt sind von den Bildern dieser größten Badeanstalt an einem Binnensee in Europa:  weit mehr als ein Kilometer öffentlicher Sandstrand, um die 50 Meter breit, massenhaft Sand, herangekarrt in Güterwaggons von der Ostsee, darauf 250 Strandkörbe – welche Stadt kann damit aufwarten, wenn sie nicht am Meer liegt? Davor glitzert die Wasserfläche des Sees, der weniger ein See als eine Verbreiterung der Havel ist. Aber gerade deshalb trägt jedes vorbeiziehende Boot auch das Versprechen in sich, dass dieses Wasser fast so wie das Meer unendlich ist, dass es weitergeht, dass man hinausschwimmen könnte in die weite Welt, wenn man nur möchte. Man käme vorbei an der verträumten Pfaueninsel, wo das Geschrei der exotischen Vögel wie akustische Querschläger zu hören ist. Und an den fantastischen Gärten und Schlössern des Landschaftsparks rund um Potsdam, deren Bild uns einfängt wie eine Theaterkulisse, in der wir zu Gästen einer anderen Welt werden. Ein geübter Schwimmer müsste man dafür schon sein, zugegeben – aber möglich wäre es.

Kein Spaßbad, ein nostalgisches Freizeitparadies

Der Flaneur ist kein geübter Schwimmer und bleibt im Strandkorb sitzen. Vielleicht ein Kaffee, ein kühles Getränk? Kein Problem, zwar stehen die Gebäude des Strandbades unter Denkmalschutz, aber sie halten alles vor, was der Badegast verlangt. Vieles wirkt freundlich aus der Zeit gefallen und erfreulich unkommerziell. Das hier ist kein modernes „Spaßbad“ – Wannsee ist ein in die Jahre gekommenes, nostalgisches Freizeitparadies, in dem die Zeit ganz wohltuend anstrengungsfrei verrinnt.

Welcher Prachtbau steht da am anderen Ufer?

Aber wie immer, wenn es droht, allzu schön zu werden, bewährt sich der genaue Blick. Also nochmal die sommerlich sonnengeblendeten Augen im Strandkorb scharfgestellt: Was ist denn das da für ein schöner Prachtbau, fast ein Schloss, am Ufer direkt gegenüber? Ausgebreitet in einem Park steht er dort still und stumm und mahnend. Es ist die Villa am Wannsee, in der am 20. Januar 1942 sich unvorstellbare Kälte ausbreitete, als Funktionäre des NS-Regimes die weiteren Schritte zur systematischen Ermordung der Juden in Europa geschäftsmäßig diskutierten und festlegten.

 

Ein sehr schöner geschichtlicher Überblick zum Strandbad Wannsee auf der Website der Berliner Bäder: https://www.berlinerbaeder.de/fileadmin/user_upload/Baeder/35_strandbad_wannsee/Geschichte_Strandbad_Wannsee/Geschichtliches_zum_Strandbad_Wannsee_Stand-20-2-17.pdf

 

Die ganze Geschichte von den Schüssen am Wannsee hat der Tagesspiegel aufbereitet; der Artikel ist im Archiv dort online abrufbar: https://web.archive.org/web/20070702211345/http://www.tagesspiegel.de/zeitung/Sonntag;art2566,2259339

 

Das „Haus der Wannseekonferenz“ hat eine eigene Website: https://www.ghwk.de/de

 

Brecht lebt (3. Juni 2021)

Das Brecht-Denkmal beim Berliner Ensemble

Man kann es hören, jeden Schritt. Knirsch, knirsch, knirsch – die Schritte des Dramatikers und Theaterdirektors auf dem Kies. Oder auch trapp, trapp, auf dem Straßenpflaster. Bertolt Brecht muss weitergehen, obwohl er so oft lieber stehen bleiben würde. Zerstreut ist der Dichter, unpraktisch und mürrisch, die Frauen seines Lebens müssen ihn treiben, damit er rechtzeitig zum Schlussapplaus in sein Stammhaus, in das „Berliner Ensemble“ kommt. Aber Brecht ist widerspenstig, will sich sogar erst noch vorsorglich eine Grabstelle aussuchen, interessiert sich mal für dieses und jenes am Weg und hat zu allem eine Meinung. Er hat Angst, im Theater anzukommen, er würde vielleicht lieber hinausgehen aus der großen Stadt, hinaus dorthin, wo das Wasser plätschert und das Schilf im Wind rauscht.

Aber Bertold Brecht darf nicht. Er muss durch Berlin gehen und trifft dabei vier Frauen, die wichtig waren in seinem Leben. Jede von ihnen war ihm ergeben, obwohl er „als Mann“ vermutlich alles andere als „attraktiv“ war, klein, gern störrisch und oft ungepflegt, aber eben auch ein faszinierendes Genie, geistreich, überraschend, witzig, humorvoll.  Deshalb haben Frauen es hingenommen, dass er unklar blieb in Beziehungsfragen, haben ertragen, dass er mehrere gleichzeitig liebte, haben akzeptiert, dass er ihre Ideen, ihre Beharrlichkeit, ihre Texte zu seinem Erfolg machte, und den Ruhm und das Geld dafür alleine einstrich.

Das Wohnhaus von Bertolt Brecht und Helene Weigel in der Berliner Chausseestraße

Knirsch, knirsch, wir gehen mit Bertolt Brecht durch den Dorotheenstädter Friedhof. Dort ist er in einem gemeinsamen Grab mit Helene Weigel beerdigt, aber auch die drei anderen Frauen liegen hier: Isot Killian, Elisabeth Hauptmann und Ruth Berlau. Knirsch, knirsch, noch auf dem Friedhof geht Brecht an seinem Berliner Wohnhaus in der Chausseestraße vorbei. Und schon hören wir im Kopfhörer „Helli“ Helene Weigel schimpfen: „Geh in das Theater, troll Dich!“.

Eine Zeitreise to go

Der Brecht-Spaziergang durch Berlin ist kein Audioguide, sondern ein echtes Theatererlebnis, eine Zeitreise to go, ein individuell durchführbarer Schauspiel-Spaziergang. Umsonst und draußen! Den gesprochenen Text – wie auch die – knirsch, trapp – Schritte kann man sich auf das eigene Handy herunterladen, und dann idealerweise im Gleichschritt mit Brecht seinen Weg gehen. Er hat ihn selbst einmal auf einem Notizzettel aufgezeichnet. Der Theaterweg ist ein wunderbares Erlebnis, ein Spaziergang durch die Straßen der Mitte Berlins, aber auch durch die Seele dieses Literaten, durch seine Publikumsscheu und Wortgewalt bis hin zu seiner Angst vor dem Tod. Deshalb heißt er auch „Brecht stirbt“, obwohl dieser Gang durch Berlin auf dem Friedhof beginnt und im Theater endet.

Trapp, trapp, Brecht läuft durch seine Stadt, die er – 1956 gestorben – nicht als Stadt mit Mauer kennengelernt hat. Er ist irritiert, aber auch angetan über das heutige Berlin, über den erreichten Wohlstand in Berlin. Aber auch entsetzt über die Bausünden („Architekt verklagen!“), irritiert über die vielen Schranken und Sperren, das große Krankenhaus, an dem er vorbeikommt.

Lassen wir – trapp, trapp – Brecht ein Stückchen allein gehen! Weichen wir ab von seinem Weg und suchen wir die Begegnung mit ihm an anderen Stellen dieser Stadt. Brecht war Kommunist und glaubte an die idealtypische Ausgestaltung des realen Sozialismus. Er war überzeugt, dass es gelingen könnte, eine klassenfreie Gesellschaft mit Wohlstand für alle zu formen. Er begegnet uns also auch am 17. Juni 1953 auf der Karl-Marx-Allee, die damals Stalinallee hieß. Dort, an einer heute markierten Stelle, hatte das Volk der sowjetischen Zone gegen die Lebensmittelpreise protestiert, und Brecht war entsetzt über das Handeln der Mächtigen: Wenn das Volk das Vertrauen der Regierung verscherzt habe, „wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“

Mit Brecht durch Neukölln und über den Kurfürstendamm

Trapp, trapp – gehen wir mit Brecht durch Neukölln und Kreuzberg. Hier und anderswo begegnen wir seinen Helden der Dreigroschenoper, den einfachen Leuten, die sich mit kleiner Kriminalität über Wasser halten, und den Gangsterbossen, ihren willfährigen Helfern und hilflosen Opfern. Aber auch in den feinen Vierteln der Stadt, am Brandenburger Tor, wo sich die Touristen tummeln, auf dem Kurfürstendamm, wo die Reichen shoppen, läuft Brecht mittendurch zwischen den Bettlern, organisiert von osteuropäischen Bettlerbanden, die so tun müssen, als wären sie arm und beladen. Dabei wären sie es vielleicht nicht, wenn ihre Bettler-Bosse sie nicht wie Mr. Peachum aus der Bettleroper als Arme verkleiden und unter Kontrolle halten würden. „Wovon lebt der Mensch?“, fragt Macheath, und alle Bettler antworten: „Der Mensch lebt nur von Missetat allein!“

Trapp, trapp, weiter geht’s. Vielleicht pfeifen wir jetzt die Ballade vom Haifisch und den Zähnen?  Wer mit Brecht durch Berlin läuft, sieht auch die vielen Mütter, mit und ohne Kopftuch, aus Hartz oder Aleppo, die alltäglich mit Courage ihre Familien durchbringen müssen. Sie betreiben keinen fliegenden Warenhandel mehr, aber sie müssen genau hinsehen, was sie kaufen können, um ihre Kinder satt zu bekommen, sie anzuziehen und zu bilden, damit sie nicht verloren gehen wie die Söhne der „Mutter Courage“.

Trapp, trapp! Jedes Wochenende werden hier tausende Kinder hin und hergefahren zwischen ihren getrennten Eltern. Wir haben Brechts Lektion des „Kaukasischen Kreidekreises“ gelernt. Wir wollen nicht mehr an an den Armen unserer Kinder zerren, um zu ihren Lasten Recht zu behalten.  Und doch kommt es wohl noch oft genug vor.

Da, der Karlsplatz! Hier treffen wir Bertolt Brecht wieder auf seinem Weg zum Theater, nur noch wenige Schritte sind es bis dorthin. Hier, auf der Rückseite des Denkmals für Virchow, lehnt eine Tafel. Darauf steht ein Gedicht. Es berichtet über das kleine Wunder dieser Pappeln, die den Winter 1946 überstanden haben, obwohl er kalt war und die Menschen Holz zum Heizen brauchten. „Doch die Pappel dort am Karlsplatz zeigt uns heute noch ihr grünes Blatt: Seid bedankt, Anwohner vom Karlsplatz, dass man sie noch immer hat.“ Die Zeilen sind von ihm.

Da sitzt der Dichter

Das Berliner Ensemble – Theater von Bertolt Brecht und Helene Weigel

Trapp, trapp – zum Theater! Im Kopfhörer rauscht Applaus. Der Dichter sitzt da schon, eisern und freundlich blickt er uns gerade in die Augen und die Kinder klettern ihm auf die Schulter. Da sitzt ein freundlicher Mensch voller Empathie für die „kleinen Leute“, angekommen in seiner Wahlheimat Berlin, nach einem langen Weg durch zwei Weltkriege, Flucht, Exil, enttäuschten Hoffnungen. Jetzt sitzt er hier auf Dauer. Rechts von ihm „sein“ Theater. Junge Menschen warten auf Einlass, aufgeregt, erwartungsfroh suchen sie noch immer und immer wieder neu die Inspiration des gesprochenen Wortes.

Trapp, trapp – weiter, weiter! Das kluge Wort stirbt nicht, es lebt immer weiter.

 

Den wunderbaren Spaziergang durch Berlin mit Bert Brecht kann man hier erleben (wobei es natürlich am Schönsten ist, vor Ort mitgehen zu können): https://www.berliner-ensemble.de/audiospaziergang-brecht-stirbt

Mehr über Bert Brecht bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Bertolt_Brecht

 

 

 

Hier blickte Fontane vom Turm (#0008)

St. Nikolai, Berlin-Spandau, Reformationsplatz 1, 13597 Berlin

Mein Besuch am 30. Mai 2021

St. Nikolai, Innenraum und gotischer Altar

Eine große klare Kirche, hell und doch streng. Das gotische Gewölbe weist in den Himmel, der Kirchenraum ist breit gegliedert und lädt zum stillen Rundgang ein. Die Kirche ist sehr alt; im Rohbau um 1370 erstmals fertiggestellt, ein 1398 gestiftetes gotisches Taufbecken ist bis heute erhalten. Später wurde die Kirche neugotisch von Karl Friedrich Schinkel restauriert, der Turm brannte mehrfach aus und trägt eine barocke Spitze mit einer Aussichtskanzel, die schon Theodor Fontane in seinen „Wanderungen“ für einen ersten Rundblick auf das Havelland nutzte (siehe auch „Im Brieselang“ unter #BerlinerFlaneur).

Wer das Glück hatte, wie ich die Kirche geöffnet zu erleben, und das auch noch bereichert durch  Klavierspiel einer Kirchenmusikerin, findet sein stilles Glück in diesem Raum.

Barocke Kanzel, um 1700, Holz

Während des Nationalsozialismus war hier Superintendent Martin Albertz tätig, ein mutiger Mann aus dem kirchlichen Widerstand gegen das Hitler-Regime. Diesen Widerstand musste er nicht nur gegenüber dem Staat durchsetzen, sondern auch gegenüber der Mehrheit seiner eigenen Amtsbrüder und seines Kirchengemeinderates. Er war Mitbegründer und eine der führenden Vertreter der „Bekennenden Kirche“, die sich gegen die Gleichschaltung durch das NS-Regime wehrte.

Mehr über Martin Albertz: https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Albertz

und über St. Nikolai auf der Website der Pfarrgemeinde: https://nikolai-spandau.de/page/2062/st-nikolai-kirche

und der Text von Fontane im Original: https://www.textlog.de/41235.html

Im Brieselang (31. Mai 2021)

„Heute schon bewegt?“ mahnt das Hashtag in einer Chatgruppe täglich mehrfach den Flaneur. Was für eine Frage! Das Erkunden der großen Stadt Berlin und ihrer noch größeren Umgebung ist Bewegung an sich. Aber in Zeiten von Couch-Potatoes, von Serien-Sucht, Sitzberufen im Büro wie im Homeoffice, gilt das Sitzen bekanntlich als „das neue Rauchen“. Zwei Autoren haben so ihr Buch genannt, in dem es – wenig überraschend – um ein Bewegungsprogramm für Vielsitzer geht. Aber Bewegen allein ist nicht genug. Wir wollen auch darüber reden: Wir feiern jeden Schritt, jeden er-radelten Kilometer, jedes gestemmte Kilo, wir „teilen“ es und machen es so zum Gegenstand eigener Motivation und fremder Bewunderung.

2430 Seiten, 99 Cent

Nach und nach, im Laufe von insgesamt 27 Jahren ab 1862, hat der Berliner Schriftsteller Theodor Fontane seine Heimat rund um Berlin durchwandert. Auch er „teilte“ seine Erlebnisse, zunächst in Aufsätzen für die Zeitung, später zusammengefasst in dicken Büchern. Der sportliche Aspekt fand dabei allenfalls im Hinterkopf statt. Fontane ging es um die alten Geschichten, Gerüchte und Sagen rund um die vielen Orte, die er aufsuchte. Ihm war die Wahrnehmung von Natur und Kultur wichtig. Für 99 Cent kann man sich heute die „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ auf den e-Reader laden, fünf Bände mit 2430 Seiten, und damit handlich geeignet als Wanderbegleiter.

St. Nikolai in Berlin-Spandau

Aber auch nützlich? Der Flaneur macht sich auf, dem berühmten Dichter auf eine der beschriebenen Wanderungen hinterher zu folgen. Start in Berlin-Spandau. Fontane suchte die damals noch eigenständige Stadt auf, um den Kirchturm der St.-Nikolai-Kirche zu besteigen, und er durfte tatsächlich hinauf auf den Turm. In seinem Text sinnierte er beim Hochsteigen über die Vorteile von spiralförmiger Ausgestaltung eines Turmaufstiegs gegenüber zu langen geraden Holztreppen und spottete über die vertrackte Vielfalt der Schlösser. An all das ist für den Besucher von heute nicht zu denken. Fest verschlossen ist die Turmtür und kein Hinweis lässt hoffen, dass ein Besteigen möglich wäre. Also müssen wir uns auf das verlassen, was Fontane beschrieb, nachdem er endlich die offene, nicht verglaste Aussichtskanzel auf der Kirchturmspitze erreicht hatte: „Ostwärts im grauen Dämmer die Türme von Berlin, nördlich, südlich die bucht- und seereiche Havel, inselbetupfelt, nach Westen hin aber ein breites, kaum hier und da von einer Hügelwelle durchbrochenes Flachland – das Havelland.“

Dort im Havelland hat Fontane einen Wald mit einem eigenen Kapitel bedacht: den „Brieselang“. Das Datum, an dem Fontane seine Wanderung durch diesen Wald absolvierte, ist genau benannt, es war der 22. Mai 1870, ein warmer, schwül-gewittriger Tag, wie dem Text zu entnehmen ist. Ausgehend von einem Gasthaus „Finkenkrug“ ging die Wanderroute, mit einer Rast in der Försterei inmitten des mächtigen Waldes, bis hin zu einer Eiche, die damals als „Königseiche“ bis Berlin hin bekannt war.  Denn „nur erst, wer bei der Königseiche steht, der den Brieselang hinter sich hat, kann mitsprechen!“, ruft uns Fontane wildromantisch zu. Mitsprechen ist angesagt in unseren kommunikativen Zeiten. Also auf in den Brieselang!

Im Finkenkrug gibt es kein Bier mehr, …

Das Unternehmen gestaltet sich schon bald problematischer als gedacht. Der Weg ist nach einer neuzeitlich aktualisierten Planung auf Maps zwar anspruchsvoll, aber doch auch der durch jahrelange Schreibtischarbeit geschwächten Muskulatur des Nach-Wanderers noch zuzutrauen. Leider ist aber nichts mehr zu finden von allem, was Fontane beschreibt. Der „Finkenkrug“ ist keine umtriebige Gastwirtschaft mehr, in der zwischen „links Kaffee und Kegelbahn, recht ist Bier und Büchsenstand“ zu wählen wäre. Fontane entschied sich für die einladende Außengastronomie des Cafés, und ließ sich dorthin das Bier bringen, was offenbar auch funktioniert hat. Heute trägt ein Ortsteil von Falkensee diesen Namen, gänzlich ohne gastronomisches Angebot. Die Försterei, in der Fontane und seine Wandergesellschaft so humorige Gespräche mit dem Förster und seiner Familie führen konnte, so viel zu hören bekam über die wilden Gewitter im Brieselang, ist ersetzt durch einen schmucken Neubau. Auch hier keine Einkehrmöglichkeit mehr. Der weitere Weg durch den Wald führt vorbei am lauschigen Waldfriedhof der Gemeinde Brieselang, den es vor 150 Jahren noch nicht gab und der jeden vorbeiziehenden Gast nur neidisch machen kann auf alle, die für sich einen solchen lauschigen, Laub-umrauschten und Vogel-umzwitscherten letzten Ruheplatz gefunden haben, wenn es denn unbedingt sein muss.

… also Rast auf dem Friedhof.

Der Waldfriedhof im Brieselang

Ein paar wenige gräberpflegende Brieselanger sind da zu beobachten, und vorbeiziehende Jogger, kilometerfressende Radfahrer oder um ein gemeinsames Fahrttempo ringende Familien. Fontane hatte auf seinem Weg durch den Brieselang originelle Begegnungen mit Naturfreunden: Da waren Sammler aller Art unterwegs – auf der Jagd nach Kräutern, nach Käfern, nach Schmetterlingen, nach Schlangen und Fröschen und Vogeleiern. Ein solcher Käferfreund kam für den Dichter sogar leibhaftig aus dem Unterholz und begleitete ihn ein Stück des Weges, plaudernd über die Vielfalt von Flora und Fauna.

Die Beweglichen von heute sammeln keine Kräuter oder Käfer, und Zeit für einen Plausch haben sie auch nicht. Sie sammeln Schritte, Kilometer und Kardiopunkte. Sie treiben sich durch das Gehölz, nur selten zuckt der konzentrierte Sportlerkopf zur Seite: Was war das da für ein geschäftiges Geraschel der Vögel im Gebüsch? Den gehetzten Blick auf die Daten am Armgelenk gerichtet, bleibt das lautlos-emsige Treiben der Ameisen unerkannt. Und das Surren des eBikes übertönt jedes Rauschen des Eichenlaubs, wie es anschwillt und verebbt im Wind dieses kühlen Maitages.

Die „Königseiche“

Eichenlaub! Jetzt aber endlich auf zur Königseiche! Schon die Lektüre der „Wanderungen“ macht skeptisch: „Sie steht da wie ein Riesenskelett mit gen Himmel gehobenen Händen.“ Fontane sah nur einen toten Baum, dessen Ausmaß ihn immerhin schwer beeindruckt hat: um die 30 Meter hoch, „man braucht zwanzig Schritt, um ihn zu umschreiten“. Als die wandernden Herren von 1870 den berühmten Baum endlich erreicht hatten, erhoben sie voller Respekt und Hochachtung die mitgeführte Wein-Proviantflasche auf den Baum und gaben seinem toten Stamm sogar einen eigenen Schoppen ab. Der mächtige Baum, dessen Alter die Waldkundigen schon damals auf etwa 1000 Jahre geschätzt hatten, war bei Fontanes Wanderung bereits seit drei Jahren abgestorben. Den Förster zitiert Fontane mit der Prognose: „Er steht noch hundert Jahr.“

Vor 150 Jahren war die Eiche auch ein Symbol für Deutschtümelei, eine Annäherung an die Unvergänglichkeit Preußens. Sie war auch eine besonders prominente „Jahneiche“, eine Kultstätte für nationalistisch motivierte Bewegungsfreude. Für einen Besuch der Königseiche nahmen die Turner und andere Sportbegeisterte aus Berlin die lange Anreise in Kauf, um sich deutschtümelnd körperlich zu ertüchtigen. Fontane schildert all dies und zitiert distanzlos jene Ehrentafel, die an dem großen Baum angebracht war: „Eiche, hehre, stolze, freie – sieh: Dein Volk wird auferstehen!“

Da lacht das grüne Herz

Heute schon bewegt? Hoffentlich im Kopf. Dort und im Wohnzimmer sollte die Eichenholz-Schrankwand verbannt sein. Wenn wir heute Fontane lesen, können wir uns auf die Ökologie stürzen: „Eine Welt von Getier bewohnt die alte Eiche. Der Bockkäfer in wahren Riesenexemplaren hat sich zu Hunderten eingenistet, am ersten großen Ast schwärmen Waldbienen um ihren Stock, und im kahlen Geäst, höher hinaus, haben zahllose Spechte ihre Nestlöcher.“ Da lacht das grüne Herz, das heute so umkämpft ist, wie damals das nation ale Selbstbewusstsein.

Aber wo ist denn nun dieser prominente Baum? Die unpräzise Wegbeschreibung von 1870 hilft nicht weiter, aber wohl ein Blick ins Internet: Die Hundert-Jahre-Prognose der Förster stellte sich schon bald als falsch heraus. Der Baum wurde 1896 von einem Blitz getroffen, brannte, und sein Torso stürzte schließlich um. Angeblich sind heute noch Reste davon zu sehen (aber dem Flaneur gelang es nicht, diese Stelle zu finden). Ein „neuer“ Baum soll jetzt erinnern an die Stelle der alten Königseiche. Vor mehr als hundert Jahren gepflanzt, ist sie auch schon ein sehr stattlicher Baum, und kann doch noch immer kaum ein Enkel des mächtigen Ahnen sein.

Wenn wir Menschen es zulassen, leben Bäume eben in anderen zeitlichen Dimensionen. Und das, obwohl sie sich überhaupt nicht bewegen. Heute schon nachgedacht? Na klar, im Brieselang!

 

Fontanes Text über den Brieselang findet man auch online hier:

http://www.zeno.org/Literatur/M/Fontane,+Theodor/Reisebilder/Wanderungen+durch+die+Mark+Brandenburg/Havelland/Spandau+und+Umgebung/Der+Brieselang

Ein schönes Bild der originalen „Königseiche“ im Brieselang findet sich auf der Website der Gemeinde Schoenwalde-Glien:

https://www.schoenwalde-glien.de/city_info/webaccessibility/index.cfm?item_id=853017&waid=114&modul_id=5&record_id=147837

Über die St. Nikolai-Kirche in Spandau habe ich auch in meiner Sammlung #1000Kirchen geschrieben: https://vogtpost.de/st-nikolai-berlin-spandau-0008/01/06/2021/

 

 

Eine Kirche bekennt sich zu ihrer Geschichte (#0007)

Johanneskirche Frohnau, Zeltinger Platz 18, 13465 Berlin

Mein Besuch am 17. Mai 2021

Johanneskirche Frohnau

Das findet man selten: Eine Kirche bekennt sich klar zu ihrer Geschichte, nicht nur kunsthistorisch, sondern auch politisch. „Die Johanneskirche ist ein Kirchenbau aus nationalsozialistischer Zeit“, schreibt die Ev. Kirchengemeinde im ausliegenden Informationsblatt. Die Grundsteinlegung erfolgt 1935. Während mich in anderen Kirchen Gedenktafeln für gefallene Soldaten irritieren (die es auch hier gab, aber zu DDR-Zeiten entfernt wurde), findet sich hier nun vor der Kirche ein Gedenkstein für die aus Frohnau verschleppten und ermordeten jüdischen Bürger.

Die Kirche mit ihrem massigen, sehr wehrhaft wirkenden Backsteinturm passt sich ein in die architektonische Idee der Gartenstadt Frohnau, die früher entstand und bis heute einen einladenden Zauber verbreitet mit der klaren städtebaulichen Struktur und dem vielen Grün, in dem die niedrigen Häuser und Villen nahezu verschwinden.

Johanneskirche Frohnau

Das Kirchenschiff wirkt tatsächlich wie ein umgedrehter Schiffsrumpf. In spitzen Bögen überspannen die Träger den weiten Raum, der damit sehr offen und und licht wirkt. Der Altarraum ist durch einige Treppenstufen abgesetzt. Kerzen auf den Stufen laden zu einem meditativen Moment ein. Oder zum Studium des wirklich informativen, bereits erwähnten Informationsblattes, das sich „geistliches Portrait der Johanneskirche“ nennt, aber viel mehr ist – nämlich eine selten gefundene, kluge Auseinandersetzung mit dem eigenen Kirchenraum, informativ, selbstkritisch und anregend. Der Text kann auch im Internet auf der Website der Kirchengemeinde nachgelesen werden:

https://www.ekg-frohnau.de/page/6561/die-johanneskirche

Mehr über die Geschichte der Gartenstadt Frohnau bei Wikipedia:

https://de.wikipedia.org/wiki/Berlin-Frohnau

 

Sonderzug nach Schönhausen (25. Mai 2021)

Schloss Schönhausen in Berlin-Pankow

Wie muss man sich das vorstellen, wenn darüber entschieden wird, den eigenen Staat einzumauern? Als Walter Ulbricht im Juni 1961 seine weltberühmte Lüge sächselte, wonach „niemand“ die Absicht habe, „eine Mauer zu bauen“, war er Hausherr im Schloss Schönhausen. Das Schloss im Berliner Norden war nach vielen Umwegen und Verwerfungen der deutschen Geschichte zu seiner Zeit Amtssitz des Staatsoberhauptes der DDR geworden. Und da dem jungen Arbeiter- und Bauernstaat die Menschen davonliefen, plante Ulbricht bekanntlich trotz allem, was er sagte, eine Mauer.

Wer möchte, kann sich im Schönhauser Schloss das Büro ansehen, in dem dies geschah: Schwere Eichenmöbel, ein riesiger Schreibtisch, tiefe Sessel, alles im Original erhalten. Trank man importierten Cognac? Oder einheimisches Bier? Oder standen nur Wasserkaraffen auf dem Tisch, als der Plan für die Abtrennung Ost- von Westdeutschland und die Mauer durch Berlin geplant wurde? Gab es Häppchen? Oder Kekse? Lagen Pläne auf den Tischen? Wurde geraucht? Waren auch Frauen dabei oder blieb es eine Männerrunde? Das kann auch die freundliche Aufsichtsdame der Stiftung preußischer Schlösser und Gärten nicht beantworten.

Historiker und Archivare könnten es vermutlich wissen; aber der Flaneur bedient sich ohnehin lieber seiner Fantasie. Denn draußen, im Schönhauser Schlosspark, hat dieser Ortes die Fantasie bereits beflügelt: Als über die Mauer durch Deutschland entschieden wurde, war ihr Vorbild bereits da, wenige Meter entfernt vom Ort des Geschehens: trennend, ausgrenzend, wuchtig.

Die kleine Mauer von Schönhausen

Die Schlossmauer von Schönhausen

Wie kann das sein? In den 50er Jahren hatten die Verantwortlichen der DDR entschieden, den größeren Teil des alten königlichen Schönhauser Schlossparks abzutrennen und für die allgemeine Öffentlichkeit freizugeben. Der kleinere Teil des Parks aber, unmittelbar um das Schloss gelegen, wurde mit einer hohen Mauer abgetrennt, damit das Staatsoberhaupt in Sicherheit seinen Geschäften nachgehen konnte. Diese Mauer teilt den Park bis heute. Wer das Schloss umrundet, schlendert unter den Jahrhunderte alten Bäumen auf fein gezogenen Wegen dahin, vorbei an der Brunnenfontäne, vorbei am alten Teehaus – und schon stößt er auf die Mauer. Eine respektable Steinwand, mehr als zwei Meter hoch, dahinter das einfache Volk, davor ein sorgsam freigehaltener Streifen, Patrouillen-tauglich für gut bewaffnete Beschützer des Amtssitzes. Sogar die Leuchten sind noch da, mit deren Hilfe einst diese innere Grenze ausgeleuchtet wurde. Wenn auch zerstört, verbeult, verrostet, zeugen sie doch von Zeiten, da hier in Pankow hinter Mauern über Mauern entschieden wurde.

Hierhin sollte Lindenbergs Sonderzug fahren

Als Udo Lindenberg 1983 in seiner frechen innerdeutschen Musikprovokation singend einen „Sonderzug nach Pankow“ verlangte, hinderte ihn die große Mauer an der Reise. Sein gedankliches Ziel war dieses Schloss Schönhausen im Berliner Bezirk Pankow, wo er Erich Honecker vermutete. Der Hamburger Panikrocker war allerdings nicht up to date. Ulbrichts Nachfolger, laut Udo Lindenberg „eigentlich auch ein Rocker“, war längst in das neue Staatsratsgebäude in die Berliner Innenstadt umgezogen und eben doch ein „sturer Schrat“, wie Lindenberg im Lied schon befürchtet hatte. Über den Spott des West-Musikers soll er nachhaltig verstimmt gewesen sein. Lindenberg durfte trotzdem ein paar Monate später tatsächlich kurz in Ostberlin singen, wenn auch nicht dieses Lied. Eine Tournee scheiterte an politischen Auflagen.

Udo Lindenberg hatte mit seinem Ruf nach einem Sonderzug nach Pankow im Westen großen wirtschaftlichen Erfolg. Im Osten schuf er ganz nebenbei eine heimliche Hymne für Öffnung und Erneuerung. Vielleicht hat auch ein wenig sein freches Lied dazu beigetragen, die Entfremdung zwischen Volk und Führung in der DDR wahrnehmbarer, aussprechbarer zu machen. Dennoch blieb die Intervention des in Hamburg lebenden Künstlers Lindenberg ein risikoloser Angriff von außen, war gewissermaßen so mutig wie das Bemalen der Westseite der Mauer mit Freiheitsparolen.

Kein Sonderzug für Wolf Biermann

Für den in Hamburg geborenen Liedermacher und DDR-Dissidenten Wolf Biermann ging es da schon um viel mehr, als er sich 1976 in einen Zug (wenn auch keinen Sonderzug, sondern eine schlichte Berliner S-Bahn) setzte, um mit Genehmigung seines Staates zu einer Konzertreise in den Westen aufzubrechen. Wenige Tage später bliebt für ihn nach einem als zu regime-kritisch verstandenen Konzert in Köln die Mauer geschlossen. Biermann wartete 13 Jahre, bis er am 1. Dezember 1989, drei Wochen nach dem Mauerfall, in Leipzig wieder ein Konzert in der DDR geben konnte. Vor 5000 Menschen, übertragen vom west- wie vom ostdeutschen Fernsehen. Was für ein Triumpf der Lieder über die Mauern!

Man kann sich das Konzert und die wütend-bissige Abrechnung Biermanns gegen die greisen Männer der DDR-Staatsführung auf Youtube ansehen; mehr als drei Stunden, die jeden Zuhörer auf eine Zeitreise in die deutsche Geschichte hineinreißen, gewissermaßen ein virtueller Sonderzug nach Leipzig. Inzwischen ist Biermann Berliner Ehrenbürger, lebt aber wieder in Hamburg.

„Berlin tut weh“

Hier schlief Michail Gorbatschow und viele andere Staatsgäste der DDR

Politisch fern gehalten hat sich der dritte im Bund der Liedermacher, die durch diesen Text ziehen. Reinhard Mey hat den beiden anderen voraus, dass er ein echter Berliner ist, dort geboren und bis heute zu Hause. „Berlin tut weh“, klagt eines seiner Lieder, das noch in der Zeit des Kalten Krieges entstand. Mey hadert darin mit seiner Heimatstadt: „Du hast mich um ein Stück Freiheit betrogen, mich, der nichts Teureres als Freiheit weiß…“ „Staatsmann und Hinterbänkler“, singt Mey, „alle kamen mit großen Sprüchen und mit Prunk und Pracht“. Politischer wird´s bei Reinhard Mey nicht, und gemeint hat er wohl die Besuche westlicher Größen im eingeschlossenen Westberlin: Kennedy, Elisabeth II., de Gaulle. Und eher nicht die Staatsgäste der DDR, die inzwischen im zum Gästehaus umgebauten Schönhauser Schloss hinter verschlossenen Toren und einer hohen Mauer nächtigten, wie Jassir Arafat, Fidel Castro oder Michael Gorbatschow.

Der Fahnenmast hat ausgedient

Was für ein verändertes Bild bietet das schöne schlichte Sommerschloss der Königin Elisabeth Christine von Preußen heute: Offen steht das Tor, ein Gartencafé begrüßt den Besucher, Bänke laden zum Verweilen unter den Kastanienbäumen ein, welche die Allee zum Schloss hin säumen. Kinder spielen, Radler kreuzen, Hunde tollen herum. Der Fahnenmast hat ausgedient, sein Seilzug klappert nutzlos im Wind. Zugewachsen und verfallen sind die Garagen, in denen die eskortierten Karossen der Staatsgäste zuletzt parkten. Nur die Mauer hinter dem Schloss, mit ihren verrosteten Scheinwerfern, mit dem gepflasterten Pfad für die Wachsoldaten, die ist immer noch da.

Mehr Informationen zur sehr wechselvollen Geschichte von Schloss Schönhausen bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss_Sch%C3%B6nhausen

Udo-Lindenbergs Sonderzug nach Pankow auf Youtube:

 

Das legendäre Konzert von Wolf Biermann am 1. Dezember 1989 in Leipzig:

Und das Lied „Berlin tut weh“ mit Reinhard Mey:

 

 

Von Regeln und Rasenflächen (19. Mai 2021)

Nennen wir ihn Joe. Joe ist 25 Jahre alt, studiert in Berlin und arbeitet nebenbei als Wolt-Fahrer. Für ihn gilt nur eine Regel: Vorankommen und ankommen. Wolt ist ein finnisches Startup, das im Berliner Straßenbild omnipräsent ist. Auf jedem Radweg, durch jede Straße jagt eine oder ein Wolt-Radler/in dahin, den würfelförmigen blauen Thermo-Kubus auf dem Rücken. Es gilt, den Boom-Markt der Essenslieferungen zu erobern. Überarbeitete Businessleute, übermüdete Familien mit Kleinkindern, kochuntaugliche Singles – das sind die Zielgruppen, allesamt hungrig und ungeduldig.  Joe will möglichst viel Geld in möglichst kurzer Zeit verdienen, mit Fahrradfahren, was auch ohne Kasten auf dem Rücken seine Leidenschaft ist. Joe muss schnell sein, damit er sich einen guten Stundenlohn erarbeitet, wozu auch gehört, dass das Essen nicht kalt wird. Sein Trinkgeld steigt mit der Zufriedenheit der Kunden, und die mögen kein kaltes Essen. Also hält Joe auch wenig von Verkehrsregeln. Vorankommen, das Essen wird kalt!

Berlin wirbt für Abstand

In Berlin gelten unzählige Regeln. Joes Jagdrevier der Neuzeit ist der Straßenverkehr, nehmen wir also diesen als Beispiel. Verkehrsschilder, Ampeln, Straßenmarkierungen versuchen, das Regelwerk unseres mobilen Zusammenlebens zur Geltung zu bringen. Aber oft siegt die Anarchie: Markierungen sind für viele Autofahrer nur eine Empfehlung, vor der Kreuzung herrscht ein spurenübergreifendes Geschiebe wie in Palermo. Jeder will vorankommen! Das Mantra der gehetzten Dynamik steht über jeder Regel. Regelwidriges Anhalten in zweiter Parkreihe zum Liefern ist Alltag. Wie sollte es auch anders sein? Im Halteverbot am Straßenrand stehen Autos kreuz und quer, und irgendwie muss die Fracht ja zum Ziel kommen. Der nächste Kunde wartet auf seine Pakete! Rotlicht für Fußgänger? Eher eine Empfehlung. Tempo 30? Gilt nicht für Taxifahrer und andere, die es eilig haben. Vorankommen! In diesem Getriebe ist Wolt-Fahrer Joe nur ein kleines Rädchen. Rote Ampel beachten, wenn gerade keiner kommt? Handyverbot im Straßenverkehr? Das kostet Joe alles Zeit und damit Geld. Also rüber auf die andere Straßenseite, dem hungrigen Kunden ein paar Meter, ein paar Sekunden näher. Und dabei noch schnell ein Blick aufs Handy, den nächsten Auftrag annehmen – alles normal. Vorankommen!

„Is´ mir egal“ heißt die Hymne der Regelübertretung

Die Erfahrung der alltäglichen Regelübertretung prägt das Leben in Berlin. Wer sich immer an alle Regeln halten würde, käme schlicht nicht durch, wäre der sprichwörtlich „Dumme“. Die Verantwortlichen dieser Stadt sind demütig geworden gegenüber dieser Logik. Sie versuchen sich daher in einer unterhaltsamen Balance aus Repression und Kreativität. Im Stadtbild ist Polizei gut präsent, aber gleichzeitig wirbt Berlin kreativ für die freiwillige Einhaltung ihrer Regeln, bettelt geradezu um die Vernunft ihrer Bürger: „1,5 Meter = 1 Pony“ oder „1,5 Meter = 3 Corgies“ blödelt in der Pandemie das Plakat an den Haltestellen von Bus und Bahn, daneben steht dichtgedrängt der Fahrgastpulk mit tief unter der Nase sitzenden Masken. „Krassere Öffnungszeiten als Dein Späti!“ kündet der flotte Spruch auf dem überfüllten öffentlichen Müllbehälter, darunter ein Berg von Abfall.

Kreativität entsteht dort, wo es erlaubt ist, Regeln nicht allzu ernst zu nehmen. „Is mir egal“, singt der schon früh verstorbene Kazim Akboga auf Youtube im Auftrag der Berliner Verkehrsbetriebe. Egal ist ihm angeblich, wenn Leute mit einem Pferd in der U-Bahn stehen oder in der Straßenbahn Zwiebeln schneiden, Hauptsache, man hat ein gültiges Ticket. Die überaus witzige und geistreiche Berliner Hymne auf die bunte Dynamik der Regelübertretung wurde schon über zehn Millionen Mal geklickt.

Eine falsche Uniform macht Eindruck …

Den falschen Hauptmann von Köpenick ehrt ein Denkmal …

Eine der originellsten Regelübertretungen in Berlin verdanken wir dem Schuhmacher und kreativen Kleinkriminellen Wilhelm Voigt. Seine Dreistigkeit machte ihn und den heutigen Berliner Stadtteil Köpenick weltbekannt. Der Begriff „Köpenickiade“ hat es in den Duden und zu einem Wikipedia-Eintrag geschafft, und hat als Stoff für ein Theaterstück von Carl Zuckmayer literarischen Weltruhm erlangt. Und die Geschichte gab es wirklich: Voigt, der „Hauptmann von Köpenick“ schneiderte sich im Jahre 1906 selbst eine Phantasieuniform, stellte mit ihrer autoritätsverleihenden Ausstrahlung zwei von ihm zufällig aufgesuchte Soldatenbrigaden unter sein Kommando (die das auch anstandslos mit sich machen ließen), fuhr mit ihnen mit der Straßenbahn nach Köpenick (ob er Fahrkarten kaufte, ist nicht überliefert), spendierte „seinen“ Soldaten ein Bier und ließ sich dann mit ihrer Unterstützung von der ebenfalls überrumpelten Ratsspitze die gesamte Köpenicker Stadtkasse aushändigen.

… und echte Uniformen stürzen ins Unglück

… an Schloss Köpenick erinnert wenigstens eine Gedenktafel an ein historisches Unrecht.

Wir hegen Sympathien für diesen rebellischen, falschen Hauptmann, dessen Geschichte uns heiter lehrt, wohin zu viel uniform-ergebene Regeltreue führt – und auch, wie weit es ein kreativer Regelübertreter bringen kann. Das tragische Gegenstück dazu ereignete sich keine 500 Meter entfernt vom heutigen Köpenicker Rathaus, aber 170 Jahre früher. Im Schloss Köpenick wurde 1730 mit katastrophalem Ausgang vor dem preußischen Kriegsgericht verhandelt. Angeklagt war Hans Hermann von Katte, der Jugendfreund des späteren preußischen Königs Friedrich II. („der Große“). Von Katte war wie sein prominenter Freund ein – erste Regelübertretung! – künstlerischer Frei- statt soldatischer Kleingeist. Und er war mit dem damals noch achtzehnjährigen, vom Vater tyrannisierten und auch deshalb kreuzunglücklichen Thronfolger– zweite Regelübertretung! – vermutlich als Liebespaar verbunden. Auch der Thronfolger selbst hatte einen Regelverstoß geplant: Er wollte seinem Vater und dessen Brutalität nach Frankreich entfliehen. Sein kluger Freund hatte davon gewusst, hatte gewarnt, wurde denunziert und vor dem Kriegsgericht der Mithilfe zur Fahnenflucht beschuldigt. Die Köpenicker Richter versuchten, in ihrem Urteil das Leben des sonst untadeligen Premierleutnants der preußischen Armee zu retten. Aber der „Soldatenkönig“ Friedrich I. kannte kein Pardon. Von Katte wurde hingerichtet, und angeblich zwang der Vater seinen verzweifelten Sohn sogar dazu, Zeuge dieses Mordgeschehens zu sein.

Rasen betreten erlaubt!

„In Deutschland kann es keine Revolution geben, da man dafür den Rasen betreten müsste“, soll der Diktator Josef Stalin mit Blick auf das im nationalsozialistischen Wahn vernebelte Volk der Deutschen einmal gesagt haben. In Berlin kann man vielerorts besichtigen, wie berechtigt diese Einschätzung über unser historisches Versagen gewesen ist (wobei Stalin wahrlich kein guter Zeuge für einen solchen Vorwurf ist). Ein Besuch in der Villa am Wannsee macht stumm ob der Bedenkenlosigkeit, mit der Nazi-Bürokraten 1942 frei von Zweifeln oder Skrupeln die Regeln zur Ermordung von Millionen Juden aufstellten, um sich anschließend zu einem Arbeitsfrühstück zusammen zu gesellen.

Noch immer beginnen nur selten Revolutionen, wenn die Berliner heute den Rasen betreten. Immerhin, sie tun es! Schaut hin, da radelt Joe! Er nimmt die Abkürzung über eine Rasenfläche, um schneller voranzukommen im wilden Zickzack-Kurs zwischen den Sonnenanbetern, der Slacklinern, den Grill-Familien. Was kümmert ihn schon, dass Radfahren im Park eigentlich verboten ist? Das Essen wird kalt, der nächste Auftrag wartet.

 

Sehr informativ finde ich diesen Film von Pocketmoney über das Arbeiten als Essenlieferant in Berlin: https://www.youtube.com/watch?v=UoaTpQ3WZIY

Viel Spaß mit „Is mir egal“ mit Kazim Akboga: https://www.youtube.com/results?search_query=Video+mir+doch+egal

Die Geschichte des Hauptmanns von Köpenick findet sich auch bei Wikipedia:

https://de.wikipedia.org/wiki/Hauptmann_von_K%C3%B6penick

wie auch das tragische Schicksal von Hans Hermann von Katte

https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Hermann_von_Katte

Das Haus der Wannsee-Konferenz hat eine eigene Website: https://www.ghwk.de/de

 

 

 

Ein weites Feld (11. Mai 2021)

Die Geschichte der unglücklichen Effi beginnt wie jede Geschichte im Leben mit ihren Eltern. Eine streng-protestantisch gradlinige Mutter, durchaus liebevoll, aber auch voller klarer Prinzipien. Immer weiß sie ganz genau, worum es geht, hat Effi fromm und wohlbehütet aufgezogen, und sie ist sich auch ganz gewiss, dass eine gute Heirat das Ziel für Effi sein muss; eine Heirat, die standesgemäß nach oben weist, jedenfalls nicht nach unten. Effis liberal-konservativer Vater, stolzer, kleiner Landadel, hat Effi aus freundlich-väterlicher Distanz auch immer sehr geliebt, aber Erziehung und Lebensplanung der Tochter doch weitgehend seiner Frau überlassen. Und so heiratet Effi, noch ein Kind, den ersten Mann, der ein Auge auf das schöne Mädchen geworfen hatte, viel zu alt, viel zu steif, kein Mann für eine Siebzehnjährige. Effi wird Mutter, lebt unglücklich, verliebt sich zum ersten Mal im Leben wirklich … nun, das geht nicht gut aus.

Nachdem das Schicksal zugeschlagen hat und nichts mehr zu retten ist für Effi, fragt Mutter Luise ihren Mann das, was sich alle Eltern fragen, wenn die Entwicklung ihrer Kinder nicht so verläuft, wie gewünscht. „Ob wir sie nicht anders in Zucht hätten nehmen müssen?“ – sprich: besser erziehen? Der altersmilde Vater Briest antwortet mit einem Satz, der zum Standard für das Ausweichen und Herumlavieren in der deutschen Sprache geworden ist: „Ach, Luise, lass – das ist ein zu weites Feld …“.

Längst hat es jeder kundige Leser erkannt und sich an seinen Deutschunterricht erinnert: Es geht um Effi Briest, die bekannteste Romanfigur von Theodor Fontane. Fontane lebte in Berlin, als er im Jahr 1894 Effi zum literarischen Leben erweckte. Bis heute ist das Buch eine Mahnung, welches Unglück über Frauen kommen kann, wenn sie ihr Schicksal nicht selbst in die Hand nehmen, und zwar definitiv auch dann, wenn sie es „gut meinen“. Denn alle in diesem Roman meinen es „gut“ mit Effi. Aber ihre Freiheit haben sie nicht im Sinn.

Landebahn auf dem Tempelhofer Feld

Es gibt immer viele Wahrheiten

Zur Zeit der Veröffentlichung dieses großen deutschen Gesellschaftsromans war die freie und weite Fläche des späteren Flughafens Berlin-Tempelhof noch Militärgelände, geeignet für preußische Schießübungen und erste fliegerische Experimente. Fontane hatte sicher nicht dieses weite Feld im Sinn, als er dem alten Vater Briest die berühmten Worte in den Mund legte. Er meinte es sinnbildlich: Es ist eben oft unklar, was richtig und was falsch ist. Es gibt viele Wahrheiten, und alle haben ihre Berechtigung. Wer also will festlegen, was gewesen wäre, wenn …?

Was wäre gewesen, wenn …?

Was wäre denn gewesen, wenn die Nationalsozialisten nicht für ihren Berliner Zentralflughafen diesen gigantischen Betonbau, mit 1,2 Kilometern noch immer eines der längsten Gebäude Europas, errichtet hätten; ein Bau, der jeden, der an ihm entlangschreitet, klein und unbedeutend macht im Angesicht seiner schieren Größe? Wenn der letzte NS-Kommandant des Tempelhofer Flughafens 1945 nicht lieber sein Leben selbst beendet hätte, statt die von den totalen Kriegern bereits angeordnete Sprengung der Riesengebäudes zu vollziehen? Wenn die sowjetischen Truppen, die das von Bombenkratern übersäte Areal dann eroberten, Flughafen Tempelhof nicht absprachegemäß an die nachrückenden Amerikaner übergeben hätten? Wenn die West-Alliierten nach der Blockade Berlins 1948/49 nicht mit Hilfe dieses Flughafens die Luftbrücke zur Versorgung der eingeschlossenen Stadt sichergestellt hätten, was jedenfalls die damaligen Westberliner als nichts anderes erlebt haben als die Gewährleistung ihrer eingeschlossenen Freiheit?

Dann kam die deutsche Wiedervereinigung, und Berlin hatte plötzlich drei Flughäfen. Tempelhof wurde 2008 als Flughafen geschlossen, schöner Bau hin oder her. Was wäre passiert, wenn die Berliner Bürger danach in einer Volksabstimmung anders entschieden hätten, als sie es taten – nämlich nicht, dass dieses Riesenareal frei bleibt, weitgehend so, wie es ist? Weltweit exotisch war und ist die Idee ja nun wirklich, einen geschlossenen Flughafen, fast so groß wie 50 Fußballfelder, für alle zu öffnen zum Rumlaufen und Radeln, zum Skaten und Surfen, aber nicht für Flugzeuge. Was wäre, wenn das anders gewesen wäre?

Weite ist ein Glück

Tempelhofer Feld

Ein weites Feld! Müßig, darüber nachzudenken. Denn es kam so, wie es jetzt ist, und deshalb kann der Flaneur einen halben Tag hindurchschreiten durch diese einladende, verlockende, weite Ödnis, einmal die kilometerlange und fünfzig Meter breite Hauptlandebahn entlang. Weite ist ein Glück, das der Glückliche spüren kann am breiten Nordseestrand bei Ebbe. Oder beim Blick aus dem Flugzeugfenster über den Wolken, wo die Freiheit – so der berühmte Liedtext eines anderen Berliners – wohl grenzenlos ist. Oder auf diesem Feld, wo jeder, der oder die es möchte, die in der Weite geronnene Freiheit mitten in der Stadt spüren kann.

Es ist die Freiheit der Feldlerchen, deren Gezwitscher in der Mitte dieses weiten Feldes das ewige Lied des Windes übertönt. Es ist die Freiheit der Füchse, der Schmetterlinge und Käfer und allen anderen Getiers, das sich den weiten Raum mitten in der Stadt erobert hat. Es ist die Freiheit der Rennradler und Inliner, die jetzt auf dem Asphalt für Flugzeuge ungestört eine Runde nach der anderen drehen können. Die Freiheit des Gitarrenspielers, der auf einer Bank ein Konzert für sich selbst gibt. Die Freiheit der Jongleure, die nur für sich erproben, ob ein Kegel fällt. Die Freiheit der Skater, die spüren, dass ihre Räder sie nach überall hintragen können. Die Freiheit der Sonnenanbeter, der Quatschrunden, der Griller, der Drachenfreunde, der Urban-Gardeners, der Hippies. Es ist die Freiheit für jeden, niemandem in die Quere zu kommen, immer ausweichen zu können, weil die Weite es erlaubt. Es ist die Freiheit der Weite, die still macht und doch auch mutig genug, laut zu schreien.

Bäume an der Landebahn?

Wer diese Freiheit im steten Windhauch auf dem Tempelhofer Feld spürt, wird es vielleicht doch Vater Briest gleichtun und sich in „beständige Zweideutigkeiten“ flüchten, in immer relativierende Unbestimmtheit. Es ist eben ein weites Feld. Ja sicher, auch die Freiheit auf dem Tempelhofer Feld hat ihre Regeln, aber wer sollte sie hier kontrollieren oder durchsetzen? Ganz gewiss hätte man da auch ein paar tausend Wohnungen am Rand bauen können, wenn doch die Wohnungsnot so groß ist in Berlin? Und könnte man nicht wenigstens in der Mitte dieses Riesenfeldes einen Getränkekiosk, eine Toilette schaffen? Bräuchte man nicht mehr Bänke? Wären ein paar Bäume in dieser schattenlosen Wüste nicht eine Wohltat? Aber auf welchem Flughafen stehen schon Bäume an der Landebahn? Könnte man alles machen, aber immer spricht auch etwas dagegen. Dieses Feld haben die Berliner sich selbst übereignet, und damit ihrer Freiheit ein eindrücklicheres Denkmal gesetzt als manches andere in dieser an Denkmälern wahrlich nicht armen Stadt.

Ach, es ist ein weites Feld …

 

Wikipedia über das Tempelhofer Feld und seine Geschichte: https://de.wikipedia.org/wiki/Tempelhofer_Feld

Wikipedia über den Roman Effi Briest: https://de.wikipedia.org/wiki/Effi_Briest

Die Idee, den Romantext „Ein weites Feld“ mit dem Tempelhofer Feld zu verbinden, verdanke ich der Ankündigung einer inzwischen nicht mehr verfügbaren Ausstellung im ehem. Flughafen Tempelhof über seine Geschichte. Vielen Dank dafür!