Neue 10 Gebote für Deutschland

Die Heimeligkeit ist vorbei. Der Baum, der gerade noch im Mittelpunkt stand, wird entsorgt – und zwar irgendwohin. Soll sich doch irgendwer drum kümmern. Es ist Zeit, klarzustellen, was sich die wohlwollende Mehrheit nicht mehr gefallen lassen will. Foto: MolnarSzabolcsErdely lizenzfrei via Pixabay

Was wir sozialen Rüpeln, Populisten, Besserwissern und Hetzern im neuen Jahr nicht mehr durchgehen lassen sollten

Deutschland zittert. Nicht nur vor der Januar-Kälte, sondern auch vor den Konflikten und Wahlen des neuen Jahres. Dabei hätte dieses Land alle Chancen, seine freiheitliche Ordnung zu erhalten, den breiten Wohlstand zu sichern und die aktuellen Krisen zu bewältigen, vielleicht sogar gestärkt aus ihnen hervorzugehen.

Wichtiger als klick-gieriger Alarmismus wäre es, dass sich die wohlwollende Mehrheit in Deutschland neu darauf verständigt, auf welcher Grundlage wir zusammenleben wollen. Wer wach durch unseren Alltag geht, erlebt Zumutungen, an die wir uns nicht gewöhnen sollten, egal welchen politischen Standpunkt wir jeweils einnehmen, die wir nicht praktizieren wollen und auch nicht ertragen wollen, wenn es andere tun.

Hier ein Vorschlag für  Zehn Gebote für das Miteinander in einem freiheitlich-demokratischen Deutschland und gegen die Spaltung unserer Gesellschaft:

 

(1) Verhalte Dich rücksichtsvoll

Eine Gruppe Jugendlicher feiert Silvester. Sie haben sich mit Böllern eingedeckt, es kracht und scheppert nach Herzenslust. Damit es noch lauter wird, werfen sie die Knallkörper in eine fremde Tiefgarageneinfahrt. Den Müll lassen sie liegen. 

Die Bereitschaft und Sensibilität für Rücksicht ist eine zentrale Basis unseres Zusammenlebens. Es gibt keine Freiheit ohne Rücksicht. Freiheit als simple Durchsetzung der eigenen Interessen führt zu massiver Unfreiheit vieler. Nicht jeder Schaden, nicht jede Beeinträchtigung ist rücksichtslos, beabsichtigt oder vermeidbar. Aber das allgegenwärtige Bemühen, größtmögliche Rücksicht zu üben, würde das gesellschaftliche Klima grundlegend zum besseren verändern.

 

(2) Achte Deine Mitmenschen, wer und wie auch immer sie sind

Karl Lauterbach postet auf X (Twitter) ein Foto mit sich und seinem Doktorvater Amartya Sen, Nobelpreisträger für Ökonomie, der inzwischen 89 Jahre alt ist. Neben Sen steht dessen Frau: Emma Rothschild. Es ergießt sich über Lauterbach eine Flut von antisemitischem Hass und düsteren Verdächtigungen.

Menschen aufgrund irgendwelcher Wesensmerkmale anders zu beurteilen als alle anderen Menschen, ist inhuman und widerspricht den Werten des Grundgesetzes: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ (Art. 3 GG).

Dort steht nicht, dass man bestimmte Menschen mögen muss. Niemand muss sich individuell anfreunden, sie einladen, ihnen helfen, sie unterstützen. Aber das Gegenteil ist unethisch und zudem oft verboten. Traditionelle, kulturelle und moralische Übereinkünfte regeln unser Zusammenleben. Für viele Situationen gelten darüber hinaus regulär zustande gekommene Gesetze. Innerhalb dieses Rahmens gilt: Jeder ist zu akzeptieren so, wer oder wie er ist. Ohne Wenn und Aber.

 

(3) Übe Respekt

Die junge Frau steht an der Supermarktkasse, das Handy zwischen Kopf und Schulter geklemmt. Sie telefoniert. Den Mann an der Kasse würdigt sie keines Blickes, das Gespräch unterbricht sie nicht. Er ist kein Mensch für sie, nur eine Funktion.  

Am Anfang jeder Begegnung steht Respekt. Im menschlichen, wie im demokratischen Diskurs darf Respekt erwartet werden, gegenüber jeder Meinung, jeder Herkunft, jeder Einstellung. Auf dieser Grundlage gilt es, Meinungsverschiedenheiten auszutragen, sich für oder gegen eine Fortsetzung des Kontaktes zu entscheiden. Respekt ist eine Haltung, Respektlosigkeit eine Beleidigung.

Respekt endet dort, wo er auf Respektlosigkeit trifft. Gegen Intoleranz und Verleumdung ist aktives Handeln mit den Mitteln des Rechtes und der öffentlichen Auseinandersetzung angezeigt.

 

(4) Verteidige das Recht

Der Weihnachtsbaum, gerade noch bestaunter Mittelpunkt des Wohnzimmers, liegt am Straßenrand. Ein paar Plastikkugeln baumeln noch daran, niemand hat sich die Mühe gemacht, das nun plötzlich lästig gewordene Grünzeug kompostierfähig dorthin zu bringen, wo es gesammelt werden kann. 

Auf der Parkbank liegt bergeweise Müll, Pizzakartons, halbleere Flaschen, Getränkebecher, Plastiktüten. Hier wurde gefeiert.

Es gilt Tempo 40, alle paar Meter steht ein Schild. Kinder springen auf dem Gehweg herum, Eltern schieben Kinderwagen. Da braust mit aufheulendem Motor der SUV heran und jagt vorbei, legt sich mit quietschenden Reifen in die nächste Kurve.

In Deutschland gilt das Recht auf der Basis von Gesetzen. Es ist aus gutem Grund geregelt, wie schnell wir fahren dürfen, wohin wir unseren Müll zu entsorgen und wie viele Steuern wir zu bezahlen haben. Gegen diese Regeln absichtsvoll zu verstoßen oder sie zu ignorieren, gefährdet das Wohl der Allgemeinheit.

Nicht überall kann Polizei stehen. Und nicht jede Regel ist in jeder Situation relevant. Gerade deshalb ist jede und jeder Einzelne gefordert, das eigene Handeln auf die Wirkung für die Allgemeinheit zu reflektieren, Regeln zu kennen, sie einzuhalten und für ihre Einhaltung zu werben.

 

(5) Sieh hin, wenn Dir Not begegnet

„Laut Paritätischem Armutsbericht 2022 hat die Armut in Deutschland mit einer Armutsquote von 16,9 Prozent im zweiten Pandemie-Jahr (2021) einen traurigen neuen Höchststand erreicht. 14,1 Millionen Menschen müssen demnach hierzulande derzeit zu den Armen gerechnet werden, 840.000 mehr als vor der Pandemie. “ (Paritätischer Wohlfahrtsverband)

Menschlichkeit ist eine Haltung. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Mit diesem Satz beginnt das deutsche Grundgesetz. Existenzielle Not und Armut sind in jedem Fall Verstöße gegen die Würde des Menschen, und zwar auch dann, wenn sie eventuell ganz oder teilweise selbst verschuldet sind. Es kann tausend gute Gründe geben, warum der einzelne sich nicht in der Lage sieht, durch eigenes Handeln das Leid auf der Welt zu lindern. Nicht jeder kann oder will spenden. Nicht jede muss sich engagieren. Und auch Deutschland als Staat kann sich gewiss nicht alles Leid auf der Welt aufladen.

Niemand wird gezwungen, sich mit Armut auseinanderzusetzen, zu spenden oder zu helfen. Das Wegsehen ist empathielos. Foto: Alan Dobson lizenzfrei auf Pixabay

 

Die Alternative dazu ist nicht das Wegsehen. Wegsehen ist das Gegenteil von Menschlichkeit. Wenigstens das Wahrnehmen, eine empathische Sicht auf die Not um uns herum und in der Welt, darf in einer humanen Gesellschaft von jedem und jeder erwartet werden.

 

(6) Hüte Dich vor der Lüge

Die Grünen stehen letztendlich für diese Kultur: Nein, nein, nein. Verbot, Verbot, Verbot. Nur das einzige Mal überhaupt sind sie bei etwas nicht fürs Verbot. Es gibt nur eine Geschichte, wo die Grünen für eine Erlaubnis sind: Das sind Drogen.“ (Markus Söder im Bierzelt Trudering, 12.5.2023)

Die Lüge ist das böse Gift des Zusammenlebens. „Du sollst kein falsches Zeugnis geben“, lautet das achte der zehn christlichen Gebote. Niemand muss eine bestimmte Meinung teilen. Jeder darf mit Argumenten fechten, auch mit Zuspitzungen, im persönlichen Gespräch genauso wie im öffentlichen Diskurs. Aber die pure Lüge ist unsittlich, genauso wie absichtsvolles, böswilliges Missverstehen des Gegenübers.

 

(7) Überwinde die Gleichgültigkeit gegenüber unseren Lebensgrundlagen

„Ab dem 4. Mai 2023 leben wir ökologisch gesehen auf Kredit: Wenn alle Menschen auf der Welt so leben und wirtschaften würden wie wir in Deutschland, wäre bereits an diesem Tag das Budget an nachhaltig nutzbaren Ressourcen und ökologisch verkraftbaren Emissionen für das gesamte Jahr aufgebraucht.“ (Germanwatch)

Überwinde die Gleichgültigkeit gegenüber unseren Lebensgrundlagen. Foto: Annette lizenzfrei via Pixabay

Was sichert den Wohlstand? Die Industrie und der Mittelstand, die Startups und die Handwerker, die Arbeitsplätze bereitstellen. Die globale, vor allem europäische Vernetzung unserer Volkswirtschaften. Das Engagement und die Veränderungsbereitschaft der Menschen, die sich in die Prozesse der Volkswirtschaft einbringen. Deshalb haben wir Arbeit, deshalb zahlen wir Steuern.

Das alles stimmt. Aber wenn wir dabei die Grundlagen unseres Lebens zerstören, dann sägen wir an dem Ast, auf dem wir sitzen. Diese Herausforderung ist existenziell und unbestreitbar. Es gibt gute Gründe, über die richtigen Wege aus dieser Situation zu streiten. Wer ihr aber mit Gleichgültigkeit begegnet und gar so tut, als gäbe es das Problem nicht, oder als gehe es ihn nichts an, der spricht oder handelt verantwortungslos.

 

(8) Achte das Eigentum der Gemeinschaft

„Graffiti-Schmierereien machen den größten Anteil von Vandalismus bei der Deutschen Bahn (DB) aus. In bundesweit knapp 24.000 von insgesamt rund 35.000 Fällen seien im vergangenen Jahr Schäden durch Graffiti festgestellt worden, teilte eine Bahn-Sprecherin der Deutschen Presse-Agentur mit.“ (rbb)  

„Open Piano nach zwei Tagen zerstört“ – eine engagierte Bürgerin hatte in Stuttgart im Sommer 2023 ein Klavier in eine U-Bahn-Unterführung gestellt und geschmückt. Alle Beteiligten waren einverstanden, niemand hatte einen Schaden, viele eine Freude. Es war als Angebot an Passanten gedacht, „im Vorbeigehen“ ein kleines Klavierstück zu spielen. An einem Freitag aufgestellt – schon am darauffolgenden Sonntag war es zerstört, die Dekoration zerfetzt. In zwischen wurde es repariert. 

Der öffentliche Raum ist das Wohnzimmer der Gesellschaft. Vandalismus ist ein Anschlag auf fremdes, gemeinschaftliches Eigentum, er verletzt Gefühle der Mitmenschen, und das Eigentum aller – strafbar ist er noch dazu. Vandalismus hinzunehmen oder zu verharmlosen, bedeutet, die Werte der Gemeinschaft als disponibel zu betrachten.

 

(9) Wenn Du Verantwortung trägst, sorge für Funktionsfähigkeit

„Der durchschnittliche Zeitaufwand für einen Amtsbesuch in einer Großstadt betrage 2 Stunden und 18 Minuten, in einer mittelgroßen Stadt 2 Stunden und 20 Minuten und in einer Kleinstadt 2 Stunden und 21 Minuten.“ (FOCUS Online unter Bezug auf eine Umfrage von Bitkom, 3.1.2024) 

„Derzeit beträgt die Bearbeitungszeit für einen Wohngeldantrags 14 Monate.“ (Eine Amtsleiterin in Stuttgart).  

So wie die Bürger ihren Pflichten gegenüber dem Staat nachzukommen haben, so muss auch der Staat sein Leistungsversprechen halten. Überbordende Bürokratie, fehlende Digitalisierung, unsinnige Formulare, schleppende Abläufe untergraben die Identifizierung des Einzelnen in den freiheitlichen Staat. Daher tragen alle dort besondere Verantwortung für das Gelingen des Zusammenlebens. Sie haben für angemessene Funktionsfähigkeit zu sorgen.

Diese Prinzip gilt immer, auch in der freien Wirtschaft. Für den Staat und seine Institutionen gilt es aber in besonders hervorgehobener Weise. Im Umgang mit Behörden ist der Bürger Kunde. Er ist angewiesen auf eine funktionsfähige Verwaltung, denn er hat dazu keine Alternative. Mangel an Personal ist keine Rechtfertigung für versagende Funktionalität, sondern Ausdruck für ein Versagen in der Wahrnehmung von Verantwortung.

Dies alles begründet jedoch keine unangemessene Anspruchshaltung gegenüber der Verwaltung. Der Staat muss sparsam wirtschaften, daher kann er nicht beliebig viele Ressourcen bereitstellen.

 

(10) Gestalte die Veränderung

„So soll es sein, so kann es bleiben, So hab´ ich es mir gewünscht. Alles passt perfekt zusammen, weil endlich alles stimmt.“ (Liedtext Annette Humpe / Adel Tawil)

Nichts bleibt, wie es ist. Im Privaten kann jeder Mensch versuchen, seine Dinge so zu belassen, wie er sie sich geordnet hat. Wer aber sein Haus verlässt, stellt fest: Alles ändert sich. Alles ist anders als vor zehn oder zwanzig Jahren. Und es wird in zehn Jahren anders sein als heute.

Wer also der Gesellschaft in Aussicht stellt, dass die Dinge so bleiben könnten, wie sie sind, ist unredlich. Wer Veränderungen gestaltet, Vorschläge dazu macht, Verantwortung übernimmt, handelt im Interesse des Gemeinwohls. Über den Umgang mit Veränderung zu streiten, ist notwendig und richtig. Die Notwendigkeit zur Veränderung selbst zu leugnen, ist unehrlich und respektlos gegenüber den kommenden Generationen.

 

Alles Selbstverständlichkeiten?

Umso besser. Wenn nur die Mehrheit unserer Gesellschaft im neuen Jahr danach handelt und nicht mehr hinnimmt, dass dagegen verstoßen wird, dann werden sie schnell verschwinden: Die Sozialrüpel, die großen Verführer, die Billighändler der einfachen Wahrheiten, die bösartigen Hetzer gegen die Menschlichkeit. Lasst uns beginnen!

 

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier.

 

Die Standhafte im Konsumsturm (#52)

Hauptkirche St. Petri, Mönckebergstraße, 20095 Hamburg

Mein Besuch am 5. Januar 2024

Kirchen, die am unmittelbaren Rand von großstädtischen Haupteinkaufsstraßen liegen, haben eine ganz besonderen Auftrag. Wie Botschafter einer anderen Welt blicken sie auf den kommerziellen Trubel um sie herum, auf leuchtende Markenreklame, auf baumelnde Einkaufstüten, auf das ganze hektische Treiben des ungehemmten Konsums. Die Verantwortlichen solcher Kirchen sind sich ihres besonderen Auftrags als Insel im Sturm der materialistischen Moderne bewusst. Sie öffnen ihre Kirchen meist ganztägig und laden das um sie herum gaukelnde Shopping-Volk ein zu einem Moment der Besinnung, zu einem Augenblick der Stille.

Ein liegender Weihnachtsbaum: Auf dem Wachs der abgebrannten Kerzen leuchtet das Licht von heute.

 

Die Hauptkirche St. Petri an Hamburgs Haupteinkaufsstraße empfängt ihre Besucher mit urbaner Weite. Nach fast vollständiger Zerstörung beim großen Hamburger Brand von 1842 fast vollständig neu errichtet, wirkt das seither neugotisch gestaltete Kirchenschiff streng, wach und standhaft. Die bunten Fenster und das gut gedimmte Licht macht im Winter die Kirche zu einem sehr einladenden Raum.

Eine Kirche, die sich den gesellschaftlichen Debatten ihrer Zeit stellt: Heute gegen Antisemitismus und Terror, früher rund um die Atomkraft.

Das Standhafte scheint mir hier ohnehin ganz wesentlich zu sein. In der Auseinandersetzung um die Atomkraft spielte dieser Kirchenbau eine Rolle, als die Petri-Kirche 1979 von Atomkraftgegnern auf der Suche nach „Kirchenasyl“ mehr als zwei Wochen lang besetzt worden war. Die Verzweiflung, die damals mit der Atomkraft verbunden war (und heute bei manchen völlig in Vergessenheit geraten zu sein scheint), trieb schon fast zwei Jahre früher, im November 1977, vor der Petrikirche den unglücklich-fanatischen Atomkraftgegner Hartmut Gründler in die Selbstverbrennung. Es war ein Protest gegen die SPD und ihren damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt, die zeitgleich ihren Parteitag in Hamburg abhielt.  Heute erinnert eine Gedenktafel an der Kirche an diese Verzweiflungstat, und sie mahnt vielleicht auch daran, welchen  gesellschaftlichen Frieden wir der Entscheidung verdanken, Deutschland aus der Atomkraftnutzung herauszuführen. Heute fordern andere Konflikte die Standhaftigkeit der Gesellschaft heraus, und damit auch dieser Kirche. Ein großes Plakat an der Fassade der Petrikirche mahnt zum „Nein zu Antisemitismus und Terror“. Und ein Denkmal für den von Nazis im KZ ermordeten evangelischen Geistlichen Dietrich Bonhoeffer steht auch im prominenten Schatten dieser Kirche, ein Mahnmal für Standhaftigkeit bis zum eigenen Tod.

In der Kirche wärmte in den Nach-Weihnachtstagen ein besonderer Christbaum mein Gemüt: Er stand nicht, sondern lag. Auf einem querliegenden Stamm türmte sich erstarrtes Wachs, herabgeronnen von Tausenden Kerzen, die man dort erwerben und auf das stetig anwachsende Wachsgebirge kleben konnte, ihrer leuchtenden, mahnenden Vergänglichkeit entgegen.

Das neugotische Kirchenschiff wurde nach dem Hamburger Brand von 1842 errichtet. Gute Lichtführung erzeugt eine Atmosphäre von einladender Wärme.

 

Die Hauptkirche St. Petri hat eine sehr informative Website mit einem virtuellen Rundgang: https://www.sankt-petri.de/turm-kirche-kunst/virtueller-rundgang

Von den Hamburger Hauptkirchen habe ich auch schon die nah am Hafen stehende Hauptkirche St. Katharinen besucht. Weitere Kirchen aus meiner Sammlung #1000Kirchen finden Sie hier. 

 

Fünfzig Jahre nach Ho Chi Minh

Mit dem Rad durch Vietnam und Kambodscha – ein politisch geprägter Reisebericht

Von Hubert Seiter

Das alte Saigon heißt jetzt Ho Chi Minh-City – aber von den Schrecken des Vietnam-Krieges ist im Alltag kaum etwas zu spüren. Überall begegnen dem Touristen überaus freundliche Menschen. (Foto: Seiter)


 

 

Hubert Seiter war von 1996 bis 2016 Geschäftsführer der Rentenversicherung Baden-Württemberg. Ehrenamtlich engagierte er sich in zahlreichen Institutionen, unter anderem im Krebsverband Baden-Württemberg, in zahlreichen Patienten- und Behindertenorganisationen und als alternierender Vorsitzender im Verwaltungsrat des Medizinischen Dienstes (MD) Baden-Württemberg. Seiter ist passionierter Radfahrer und lebt in Bietigheim-Bissingen. (Foto: Staatsministerium Baden-Württemberg)


„Ho Ho  – Ho Chi Minh!“ –  dieser rund fünfzig Jahre alte Schlachtruf weckte meine Erinnerungen bei einer Radreise im Spätherbst 2023 nach Vietnam und Kambodscha. Als „Bub vom Land“ habe ich damals die weltweiten Protestmärsche gegen den Vietnamkrieg der Amerikaner zunächst nur aufmerksam verfolgt. Erst zum Schluss habe ich mich getraut mitzudemonstrieren, aber bitte möglichst unauffällig. Als junger „Beamtenanwärter für den gehobenen, nichttechnischen württembergischen Verwaltungsdienst“ wusste oder ahnte ich, dass solche Aktivitäten den allermeisten Chefs – Landräten oder Bürgermeistern (damals fast nur Männer) – gar nicht gefallen würden.

Das alles ging mir auf dem viel zu langen Flug nach Saigon durch den Kopf, pardon: nach Ho-Chi-Minh-City – wie die 9-Milionen-Metropole seit 1976 zu Ehren des 1969 verstorbenen Revolutionärs und Präsidenten von Vietnam heute offiziell heißt. Drei Wochen lagen vor mir, in denen ich überwiegend auf dem Rad durch Südvietnam, durch das riesige Mekongdelta, und schließlich im benachbarten Kambodscha die Hauptstadt Phnom Penh und die unzähligen Tempel in Angkor Wat entdecken würde. Ich wollte mehr, und auch etwas darüber erfahren: Wie haben die Menschen in diesen Ländern den grausamen Vietnamkrieg gegen die Amerikaner und die nicht minder barbarische Schreckensherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha verarbeitet – knapp fünfzig Jahre nach Kriegsende im Jahr 1975?

Das frühere Saigon lächelt

Das frühere Saigon lächelt, als ob nichts gewesen wäre. Man sieht fast nur junge, überwiegend sehr freundliche Menschen auf den Straßen. Das Durchschnittsalter der knapp 100 Millionen Einwohner Vietnams liegt gerade mal bei 32 Jahren – in Deutschland beträgt der Vergleichswert 45 Jahre. Die wenigsten Menschen haben daher unmittelbar mit- und überlebt, wie die USA in einer beispiellosen Material- und Menschenschlacht in Vietnam einen „Stellvertreterkrieg gegen den Weltkommunismus“ (so der Marco-Polo-Reiseführer „Vietnam“) geführt hat. Viele Millionen Tonnen Bomben, chemischen Kampfmitteln („Agent Orange“), einfach alles, was modernste Waffenarsenale damals hergaben, wurde eingesetzt.

Geschätzt 3,5 Millionen Menschen – Soldaten und Zivilisten – wurden getötet, unzählige Menschen verletzt und vertrieben. Es gibt Gedenkstätten, welche die Erinnerung an die Gräueltaten und an den stolzen Sieg wachhalten, z.B. in Cu Chi. Nachzuerleben ist dort, wie die „sehr schmächtigen Vietnamesen“ unter der Erde ein Tunnelsystem, auch mit Schutzräumen und Krankenhäusern, gegraben haben, das für die „beleibten Feinde“ unzugänglich war. Auch ein Museum mit allerlei Kriegsgerätschaften gibt es. Im Alltag dominierend ist die Erinnerung an diese Zeit jedoch nicht. Auf den mit tausenden Mopeds überfüllten Straßen habe ich keinerlei Hass gespürt. Man hat offensichtlich selbst mit Amerika seinen Frieden gefunden – spätestens seit dem Besuch von Bill Clinton im Jahr 2000, berichtet unser kundiger Reiseführer.

Gibt es eine „Verzeihenskultur“?

Kann das stimmen? Mir ist es zu einfach und ich nehme mir deshalb vor, mich zu Hause intensiver mit Konfuzius, Buddha und dem Daoismus zu befassen. Vielleicht finde ich Erklärungen für „eine Friedens- und Verzeihenskultur“, Werte, die beim Aggressor Putin, aber auch bei vielen „Zündlern“ in der NATO derzeit leider überhaupt keine Konjunktur haben.

Der Mekong mündet im zweitgrößten Delta der Welt (nach dem Amazonasdelta) in das Südchinesische Meer. Diese Landschaft auf dem Rad zu entdecken ist überwältigend. Fischfang, große Reisfelder, Handwerksbetriebe, viele Fähren (statt Brücken) und zunehmend -hoffentlich – auch ein bald wieder wachsender Fremdenverkehr, ermöglichen vielen Menschen ein bescheidenes Auskommen. Wir übernachteten überwiegend in sog. Homestays und ließen uns von vietnamesischer Hausmannskost verwöhnen. In allen Variationen gab es Fisch, Fleisch, vielfältiges Gemüse, Reis und tolle Früchte zum Nachtisch. Besondere Gewürze machten den (großen) Unterschied zum „Vietnamesen um die Ecke“ in Deutschland.

Auf kleinen Pfaden fuhren wir von Dorf zu Dorf.  Unser Guide hat es geschafft, uns fünf Tage lang durch das Delta zu lotsen, ohne dass wir einem Touristen begegnet wären, immer und überall begleitet von nur freundlichen Menschen, die uns „Hello“ zujubelten.

Mitten in Phnom Penh: Eine Begegnung auf Deutsch

Mit dem Tuk-Tuk durch Phnom Penh gefahren werden – und dabei kann man viel darüber erfahren, wie es war, als Arbeitskraft in der früheren DDR gelebt zu haben. (Foto: Seiter)

Dann weiter nach Phnom Penh, der Hauptstadt Kambodschas. Die Busfahrt aus dem märchenhaften Mekongdelta und ein langwieriger Grenzübergang – trotz einiger Dollar Bestechungsgeld – waren eine angemessene Einstimmung. Im Reiseführer steht: „Die 600 Jahre alte Hauptstadt (ca. 2 Mio. Einwohner) ist auf einer rasanten Zeitreise ins 21 Jh. und dem bäuerlichen Rest des Landes um Lichtjahre voraus“ (Marco Polo „Kambodscha“). Nicht ganz so viele Mopeds gibt es dort wie in Saigon, dafür aber sehr viele Tuk-Tuks – motorisierte Rikschas. Unglaublich, was auf diesen „Dreirädern“ alles transportiert werden kann! Wir fanden ein Tuk-Tuk mit einem hervorragend Deutsch sprechenden Fahrer. Bis zur Wende war er „auf Arbeit“ bei Zeiss in Jena. Er hatte viel zu erzählen, auch aus seinen Lehr- und Arbeitsjahren in der DDR. „Gönnt euch einen Abend in dem Dachkaffee eines Hochhauses“, empfahl er uns. Wir folgten dieser Empfehlung und genossen einen wunderschönen Sonnenuntergang über den Dächern von Phnom Penh… bei Cocktails zu einem Preis, den sich unser „deutscher“ Tuk-Tuk-Fahrer trotz üppigem Trinkgeld wohl kaum leisten kann.

Segen und Fluch des Tourismus

Bleibt zu hoffen, dass Kambodscha im Aufschwung doch noch erspart bleibt, was sich – leider – anzudeuten scheint: Sextourismus und/oder Raubtierkapitalismus. Je ein Edelkarosse „Maybach mit Chauffeur“ in Saigon und in Phnom Penh werteten wir dafür als nicht unbedingt gute Zeichen.

Nicht mehr zu entscheiden hat man das in Angkor mit seinen unzähligen Tempel- und Klosterruinen im Dschungel. Dort gibt es bereits im benachbarten Siem Reap eine Partyszene. Nicht auszudenken, wenn jetzt – nach Corona – wieder der Massentourismus aus China einsetzt. Die Kehrseite: Über 300 Hotels (2022), und doch sind viele Gaststätten in Siem Reap immer noch geschlossen, viele Reiseführer arbeitslos. Stattdessen verkaufen Kinder im Vergnügungsviertel kleine Souvenirs und tragen so zum kümmerlichen Lebensunterhalt ihrer Familien bei.

Da einfach nur mildtätig kaufen nicht mein Ding ist, versuchte ich mit einigen – meist – VerkäuferInnen ins Gespräch zu kommen. Ein besonders neugieriges und wissbegieriges kleines Mädchen hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Ich bat sie gestenreich, sich zu uns zu setzten. Auf einer Papierserviette löste sie kleine Rechenaufgaben und vergaß dabei einige Minuten völlig ihren „Job“. Die Serviette – und einen Dollar für einen kleinen Anhänger – packte sie in ihr Täschchen. Wir trafen sie auf dem Heimweg nochmals. Freudestrahlend – und ich glaube auch etwas stolz – zeigte sie uns die Serviette aus ihrem Täschchen.  Ich nahm mir vor, zu Hause nach Projekten zu suchen, die Kindern in Kambodscha – immer noch eines der ärmsten Länder weltweit – Schule und damit Zukunft ermöglichen.

Zwei Tage unterwegs, nur einen Bruchteil gesehen

Einen Teil der riesigen Tempelanlagen in Angkor zu entdecken – verteilt auf eine Fläche so groß wie Berlin! – gelingt am besten auf dem Rad. Auf dem Mountainbike, abseits der Massen, geführt von einem kundigen Guide war es ein unbeschreibliches Erlebnis, im Dschungel nicht nur die gängigen Tempel zu finden. Zwei Tage waren wir unterwegs und haben doch nur einen Bruchteil der sehenswerten Ruinen gesehen. Einfach unvorstellbar, was die Hochkultur der Khmer vor eintausend Jahren hier geschaffen hat. Diese Schätze der Vergangenheit zu schützen und zu erhalten, ist eine Herkulesaufgabe – nicht nur für das arme Kambodscha, sondern für die ganze Welt!

Mit dem Fahrrad durch den Dschungel, und dabei die geheimnisvolle Tempelwelt des Angkor Wat entdecken – ein unvergleichliches Erlebnis. (Foto: Seiter)

Auch dafür ist der nagelneue, hochmoderne Flughafen von Siem Reap Segen und Fluch zugleich. Millionen von Touristen werden in den nächsten Jahren erwartet. Sie bringen die dringend notwendigen Devisen in die Region und nach Kambodscha, aber die Touristen sind auch eine Gefahr für die unverfälschte Freundlichkeit dieser liebenswerten Menschen und den Erhalt der unschätzbaren Kunstwerke vor Ort.

Auf dem Rückflug: Träumen ist erlaubt

So war für mich während des 13-stündigen Fluges zurück von einer nachhaltig- beeindruckenden Reise durch Vietnam und Kambodscha das Träumen angesagt: Bemühen wir uns alle um viel mehr und behutsame Wertschätzung. Reagieren wir wütend auf unmenschliche und unsagbar teure Kriege auf der Welt. Fordern wir Versöhnung statt Revanchismus! Christen, Juden, Buddhisten, Muslime, Atheisten – einfach alle sind gleichermaßen verpflichtet!

 

Dieser Text ist ein Gastbeitrag auf vogtpost.de und gibt ausschließlich die persönliche Meinung von Hubert Seiter wieder.

Wer der Empfehlung von Hubert Seiter folgen und Projekte für Kinder in Kambodscha unterstützen möchte, kann dies an zahlreichen Stellen tun. Hier eine Auswahl: UNICEF-Projekte für Kambodscha, SOS-Kinderdorf in Kambodscha, oder das Projekt „Raise and support the Poor“, das dem Autor persönlich bekannt ist.

 

Mit dem Vietnam-Krieg und wie er in den USA und Deutschland wirkte, setzt sich auch der Text „Vom Frieden träumen, im Krieg aufwachen“ auseinander, veröffentlicht anlässlich eines Musical-Besuchs von „Hair“ in Saarbrücken im Frühjahr 2023.

 

Job ist Job – Weihnachten in Deutschland

Eine Erzählung

(1)

Ahmed friert. Seit zwei Stunden steht er jetzt bereits in der Dunkelheit, um vier Uhr früh hatte seine Schicht begonnen. Kein einziges Auto, kein LKW, einfach gar nichts, hatte seither Interesse an seiner Wachtätigkeit gezeigt. Dunkelheit, Stille, Kälte – das war alles gewesen, was dieser Morgen bisher für ihn bereitgehalten hatte. „Mach Dir einen gemütlichen Tag“, hatte der Chef gesagt. Lächerlich, meint Ahmed. Das, was die Deutschen mit „gemütlich“ meinen, ist hier nicht herzustellen. Wahrscheinlich ist „gemütlich“ auch sowas aus ihrer Leitkultur. Hat er gehört im Radio, dass es jetzt eine Leitkultur geben soll in Deutschland. Ahmed ist stolz auf seine Deutschkenntnisse nach acht Jahren in diesem dunklen, kalten Land. „Gemütlich“ hatte er gelernt, und auch „Leitkultur“, das hatte er neulich aber extra nachschlagen müssen.

Foto: Stefan Schweihofer lizenzfrei auf Pixabay

Hier auf der Baustelle ist es jedenfalls kalt und schmutzig, nicht gemütlich. Er blickt auf das Handy. Zwei Grad zeigt es an, sechs Uhr, sieben Minuten. Als Wettersymbol langweilt eine kleine graue Wolke.  Ahmed blickt nach oben, aber es ist noch alles dunkel. Keine Sterne, keine Dämmerung. Noch einmal geht Ahmed seinen nächtlichen Rundgang, vorbei am dunklen Bauteil A, der schon fast fertig ist, dann hinüber zu den Gerüsten von B und C. Harter Matsch am Boden, Schalungsbretter, Kabeltrommeln, Baumaterial. Wieder zurück, vorbei am Container der Bauaufsicht, auch stockdunkel. Danach die graue Kiste der Baustellen-Video-Überwachung. „Hier wache ich“, behauptet die Aufschrift neben der Kamera.

Nein, denkt sich Ahmed, hier wache ich.

Ein LKW näherte sich. Die erste Baustellenanlieferung. Ahmed schiebt das Gatter zur Seite, das die Baustellenzufahrt eher symbolisch versperrt, hebt die Hand zum Gruß für — ah, für Sergio. Nie gesehen, den Sergio, denkt sich Ahmed, aber das Schild hinter der Windschutzscheibe macht ja klar, mit wem er es zu tun hat. Die Schrift flackert im bunten Licht eines blinkenden Mini-Weihnachtsbaums, den sich Sergio ins Fahrerhaus gebastelt hat. Wuchtig und blubbernd rollt der Sattelschlepper auf Ahmed zu. Sergio lehnt sich aus dem Seitenfenster. „Wohin …?“, fragt er, wedelt mit einem weißen Blatt Papier, blickt drauf – „C …? Bauteil C?“

Ahmed weist ihm den Weg: Rechts, dann geradeaus, um das erste Haus herum und dort in den Hof zwischen die eingerüsteten Häuser. Das tonnenschwere Gefährt setzt sich in Bewegung, das irrlichternde Weihnachtsbäumchen spiegelt sich in den dunklen Scheiben von Bauteil A. Sergio dankt mit einem lässigen Wink. Auch Ahmed hebt die Hand. Zwischen den Leuten auf dem Bau herrscht freundliche, männliche Klarheit. Ahmed liebt diese Nüchternheit im Umgang miteinander. Er tritt zur Seite, das schwere Gefährt muss ausholen, um in die Kurve zu kommen.

Ahmed schiebt den Zaun zurück in den Eingang. Sein Auftrag ist, hier unter Kontrolle zu halten, wer rein- und rausfährt. Bei Wind und Wetter, Schnee und Regen. Job ist Job, denkt er. Es ist Freitag, noch eine Woche, dann feiern die Deutschen ihr Weihnachten. Das sind Feiertage, keine Arbeit, darauf freut sich Ahmed. Mit den Weihnachtsbäumen überall, dem ganzen Lichtergeglitzer, dem Rummel und der Aufregung, den eiskalten Jahrmärkten, die sie da veranstalten, kann er nichts anfangen. Ihre Leitkultur eben. Schon ok, aber nicht seine Welt. Manche seiner Freunde machen da sogar mit, obwohl sie Muslime sind und Allah doch kein Weihnachten kennt. Ahmed lehnt das ab. Seiner Familie hat er strikt untersagt, sich diesem christliche Wahnsinn irgendwie anzuschließen. Traurig geguckt haben die Kinder, das hatte er schon bemerkt, aber sie hatten nicht zu widersprechen gewagt.

Weihnachten, das ist das Fest der Deutschen, und Ahmed ist kein Deutscher. Ob er jemals zurückkehren wird nach Syrien? Keine Ahnung, jetzt jedenfalls lebt er hier und bewacht ihre Baustellen, aber wirklich dazu gehört er nicht. Das haben die Deutschen ihm oft genug klargemacht, auf den Behörden, in den Kneipen, beim Fußball. Sie nehmen ihn hin, sie „dulden“ ihn und seine Familie, und sie nutzen seine Arbeitskraft, seine Muskeln, für ihre Sicherheit. Auch Selda, seine Frau, brauchen die Deutschen, denn sie lassen sie ihre Behördenräume putzen. Was sollte er sich also um Weihnachten scheren? Die Deutschen kümmern sich ja auch nicht um das Fastenbrechen, wenn der Ramadan zu Ende ist.

Ein schwarzer SUV nähert sich, die Lichthupe flackert auf. Der Chef. Ahmed räumt das Gatter zur Seite, und Pablo rollt über die ruinierte Asphaltschicht auf das Gelände, schlägt scharf rechts ein und kommt direkt neben ihm zu stehen. Pablo ist ein guter Chef, Ahmed hat an ihm nichts auszusetzen. Er ist klar und meistens freundlich. Spanier, vermutet Ahmed, jedenfalls kein Deutscher. Aber EU-Bürger, und das macht einen großen Unterschied. So an die fünfzig Leute kommandiert er herum, teilt sie dort ein, wo die Deutschen sich ihre Sicherheit erkaufen wollen.

„Morgen!“, ruft Pablo beim Aussteigen, „ganz schön ungemütliches Wetter!“ Pablo hat nur einen Pulli über seinem Hemd, hat sich so aus dem geheizten Sitz gewuchtet, kein Wunder, findet Ahmed, dass er es kalt findet. Ahmed hebt die Hand, die in einem Handschuh steckt. Der wattierte Anorak raschelt.

„Alles klar?“, fragt Pablo, erwartet aber offenbar keine Antwort, denn er redet sofort weiter. „Du stehst doch jetzt schon seit – “, Pablo stockt und überlegt – „seit wie vielen? Tagen? Hier draußen?“

„Die ganze Woche. Heute der fünfte Tag,“ antwortet Ahmed, „immer die Frühschicht ab vier. Job ist Job.“

„Ich habe zwei gute Nachrichten für Dich“, strahlt Pablo gutgelaunt und grinst Ahmed an, holt sich eine Zigarette aus der Tasche, steckt sie in den Mund, zündet sie aber nicht an. Rauchen ist verboten auf der Baustelle, fällt ihm wohl gerade ein. Ahmed blickt ihn an. Es dämmert.

„Wenn Du willst, kannst Du ab Montag eine Innenschicht machen. Security im Theater, jeden Abend ab 18 Uhr, bis Schluss ist. Lässiger Job, warm und gemütlich.“

Schon wieder gemütlich, denkt sich Ahmed.

„Warst jetzt lange genug hier draußen in der Kälte“, gibt sich Pablo gönnerhaft. „Innendienst heißt aber auch: Musst Dich benehmen, keine Baustelle. Lauter noble Leute im Theater. Bekommst Du das hin?“

„Wenn Du meinst.“ Was soll diese Frage, ärgert sich Ahmed. Wenn Du mir den Job gibst, bist du ja wohl der Meinung, dass ich mich benehmen kann. Warum auch nicht? „Und die zweite Nachricht?“

„Hast du Lust an Weihnachten zu arbeiten? Ihr feiert doch sowieso nicht? Es gibt Zuschlag.“

Ahmed kann jeden zusätzlichen Euro gebrauchen. Er nickt.

Pablo rupft die kalte Zigarette wieder von seinen Lippen und steckte sie in seine Jackentasche. „Da sind mir zwei Leute ausgefallen, Flüchtlingsunterkunft im Norden. Nachtschicht ab 22 Uhr. Bist Du dabei?“

„Klar, mache ich“, sagt Ahmed.

 

(2)

„Ah, Sie sind der Mann von der Security!“

Ein schlaksiger blonder Hüne, so spindeldürr, dass der Anzug an ihm herunterhängt wie eine Fahne ohne Wind, empfängt Ahmed am Montag im leeren Foyer des Theaters. Ahmed war schon ein paar Mal im Kino, aber noch nie in einem Theater. Der Dünne streckt ihm die Hand entgegen. „Herzlich willkommen!“, sagt er, „am besten zeige ich Ihnen hier schon mal alles.“

Ahmed hat sich für den Inneneinsatz im Theater seine Innen-Dienstkleidung angezogen. Schwarze Hose, schwarzes Hemd, Dienstjacke mit dem Logo der Firma. Im Foyer ist es bullig warm, Ahmed schwitzt, während er dem Schlaksigen mit seinen langen Schritten über die schallschluckende Teppichbodenwüste des weiträumigen Theaterfoyers folgt.

„Also, hier sind die Zugänge, da gehen unsere Besucher dann rein. Dort die Notausgänge. Da die Garderoben und Toiletten, da entsteht immer ganz schönes Gedränge. Dort ist die Bar, die umlagern dann unsere Besucher in der Pause. Schön hier, nicht wahr?“

Der Theatermann blickt ihn an, und Ahmed nickt unbestimmt.

„Aber damit und auch mit dem ganzen Saaleinlass haben Sie nichts zu tun, das machen alles meine Leute.“

„Und was habe ich zu tun?“, fragt Ahmed.

„Ihrem Vorgesetzten haben wir das ja schon erklärt. Wie haben hier diese Woche ein jüdisches Orchester zu Gast, und es ist nicht wahrscheinlich, aber auch nicht auszuschließen, dass es in diesem Zusammenhang zu Protestaktionen kommt.“

Ahmed legt sich im Kopf die Worte zurecht: Nicht wahrscheinlich, aber auch nicht auszuschließen? Es dauert einige Sekunden, bis er verstanden hat: nicht wahrscheinlich, aber auch nicht auszuschließen, ah ja, könnte also sein.

Der Mann vom Theater schaut ihn an, mustert ihn, schaut ihm beim Verstehen zu. Er ist mindestens einen Kopf größer als Ahmed, allerdings sichtbar frei von jeglicher Muskulatur.

„Wegen Gaza und so, Sie wissen schon.“

Während er das Wort „Gaza“ aussprach, hatte er den Blickkontakt gelöst und über ihn hinweg geblickt, fällt Ahmed jetzt auf, als richte der Mann vom Theater seine Worte nicht an ihn, sondern an irgendwen, der hinter ihm stand.  Gaza. Natürlich weiß Ahmed. Im arabischen Sender gibt es kaum ein anderes Thema. Grausige Bilder: rauchende Trümmer, blutende Körper auf dem nackten Boden, angeblich in einem Krankenhaus. Explodierende Bomben. Verzweifelte Frauen. Verdreckte Kinder. Soldaten. Ahmed kannte das alles aus seiner Heimat. In Syrien hatten Muslime gegen Muslime gewütet, denkt sich Ahmed, in Gaza wüten Juden gegen Muslime. Seit Jahren schon, immer das gleiche. Hoffnungslos.

Ich mag keine Juden, denkt sich Ahmed.

„Sie müssen also bitte einen Blick auf das Geschehen haben,“ redet der Dünne jetzt wieder, „Sie müssen unterbinden, dass Angriffe im Foyer stattfinden oder Unbefugte auf die Bühne springen, herumschreien oder so.“

Ahmed nickt, fühlt sich aber unwohl. Juden auf der Bühne, denkt er sich, das hatte mir Pablo nicht gesagt. Aber Job ist Job.

„In solchen Fällen üben Sie bitte unser Hausrecht aus,“ hört Ahmed den Mann vom Theater, „dann sorgen Sie bitte für Ordnung, begleiten solche Personen heraus. Vor und nach der Vorstellung behalten Sie das Foyer im Auge, während der Vorstellung haben Sie einen Platz im Saal.“

Der Dünne blickt zu Ahmed herab. „Notfalls müssen wir die Polizei rufen. Die weiß Bescheid und ist in drei Minuten hier.“ Ahmed will nichts zu tun haben mit der Polizei. Er ist nur geduldet.

„Aber wenn nichts passiert, was wir natürlich hoffen, dann haben Sie auch nichts zu tun“, sagt der Dünne.

 

Hier passiert gar nichts, das ist ja hier absolutes Nichtstun, grübelt Ahmed, während er mit langen Schritten durch das Theaterfoyer wandert, immer hin und her von einem Ende zum anderen. Sich benehmen. Nicht auffallen. Job ist Job. Ahmed blickt aufs Handy. Noch eine halbe Stunde bis Vorstellungsbeginn, und ihm ist jetzt schon langweilig. In den dicken Sesselgruppen versinken wohlgekleidete Menschen. Alles Deutsche. Meist alt. Manche balancierten ein Sektglas in der Hand, andere blättern in den Heften, die überall herumliegen. Gedämpftes Geplauder. Ihre Leitkultur, denkt Ahmed. Gemüüütlich. Leitkultur, Leit … Kultur, Leitkultuuur“, murmelt Ahmed vor sich hin. Wenn er sonst nichts zu tun hat, übt er deutsche Worte. „Gemüüütlich, üüü, gemüüütlich, …“

Dann ertönt ein sanfter dreitöniger Glockenschlag – ding, dang, dong -, und die in einer dunkelblauen Uniform gekleideten Damen an den Türen öffnen die Zugänge. Sehr diszipliniert strömen die deutschen Grauköpfe dem dunklen Saal entgegen.

Wofür bin ich hier? Hier passiert doch rein gar nichts, denkt sich Ahmed.

„Ich zeige Ihnen Ihren Platz!“, hört er da die Stimme des Langen vom Theater hinter sich. Ahmed spürt einen kurzen Griff an den Oberarm, und ohne Nachzudenken spannt er seinen trainierten Bizeps an. Der Lange lässt sofort los. Ahmed folgt ihm zur vordersten Tür, ignoriert das Lächeln der blauuniformierten Einlassdame und bekommt einen Randplatz in der dritten Reihe zugewiesen. „Und das Handy bitte ausmachen!“, raunt der Dünne ihm noch zu.

Das Theater ist höchstens halb voll, stellt Ahmed fest. Viele Deutsche sind das wohl nicht, die den Juden zuhören wollen. Ahmed behält das Geschehen im Blick und nimmt sich vor, auch während der Vorstellung mehr in den Saal zu blicken als zur Bühne. Wenn hier einer stören will, dann sitzt er ja wohl jetzt hier irgendwo in diesen Reihen, denkt sich Ahmed. Die Juden auf der Bühne mag er ohne hin nicht. Aber Job ist Job.

Die Blaufrauen schließen lautlos die Türen. Ersterbendes Gemurmel. Das Licht dimmt herab und Ahmed setzt sich.

 

(3)

„Das glaubst Du nicht, was die Juden da im Theater spielen“, sagt Ahmed am nächsten Morgen zu Selda. „Das ist kein Theater. Das ist eigentlich Musik, aber die ist ganz schrecklich. Katzengejaule. Ich habe mich zu Tode gelangweilt. Dazwischen tritt eine Frau auf, die redet mittenrein in die Musik, ruft und schreit irgendwas von Tod und Vernichtung und Schuld, keine Ahnung was das bedeuten soll.“

Selda füllt die Brotzeitboxen für die Kinder. „Gab´s denn Stress?“, fragt sie.

„Nein, überhaupt nicht. Gar nichts. Total langweilig. Alles alte Leute. Das gehörte wohl so, das mit dem Dazwischenreden in die scheußliche Musik. Totenstill war es am Ende, weil die Frau da auf der Bühne was erzählt hat von Gewalt. Stell Dir vor, die hat erzählt, dass es in Deutschland mal Leute gegeben hat, die haben die Kinder ihrer Nachbarn ermordet, einfach so, grundlos, und dann sind sie nach Hause gegangen und haben mit ihren eigenen Kindern zusammengehockt und ihr Weihnachten gefeiert. Als wäre nichts gewesen.“

Ahmed schüttelt den Kopf. „Und wenn ich es richtig verstanden habe, dann hat die Frau den Leuten im Theater vorgeworfen, dass diese Kinder jetzt groß sind, also Erwachsene, und die sollen jetzt deshalb irgendwie ein schlechtes Gewissen haben oder so.“

„Verstehe ich nicht“, sagt Selda.

„Ich auch nicht. Was da auf der Bühne los war, das fand ich jedenfalls total langweilig. Diese Musiker, angeblich Juden, sehen aber ganz normal aus, und dann die böse Frau mit ihren Geschichten. Muss ich mir diese Woche noch viermal anhören. Aber Job ist Job. War auf der Baustelle einfacher.“

Selda schließt die Brotzeitboxen und ruft ihre Kinder.

 

(4)

Ahmed friert wieder. Totenstille auf der Straße. Die Deutschen feiern Weihnachten heute Abend, niemand unterwegs. Sollen sie feiern.

„Kannst Du die Schicht auch allein machen?“, hatte Pablo ihn am Handy gefragt. „Janni hat sich krankgemeldet, und ich bekomme so schnell keinen Ersatz, nicht heute an Weihnachten.“

Klar konnte er die Schicht auch allein machen. Ist halt langweilig. Und gefährlicher, wenn wirklich etwas passiert. Aber was hätte er schon antworten sollen? „Ok“, hatte er gesagt.

„Dafür hole ich Dich morgen früh ab, wenn ich die Ablösung bringe,“ hatte Pablo angeboten. Ahmed hatte durch das Telefon gehört, wie Pablo an seiner Zigarette zog, er konnte den Rauch geradezu riechen, wenn sein Chef ausatmete und die Wolke ins Handy pustete.

„Übrigens,“ hatte er dann ergänzt, „die im Theater waren sehr zufrieden mit Dir. Kannst Dich offenbar benehmen. Vielleicht brauchen sie uns öfter. Wird ja immer mehr gestritten in Deutschland.“

Jetzt also die Unterkunft für Geflüchtete bewachen. Als er ankam aus Syrien, gab´s keine Container. In einer großen Messehalle musste er hausen, stickig und laut war es, aber Ahmed war glücklich, er war im Paradies. Tausendmal besser als die Bomben von Aleppo, tausendmal besser als die Angst, die Erschöpfung in den nassen Nächten auf der endlosen Wanderung durch den Balkan.

Trotzdem arme Kerle, denkt Ahmed, die hier darauf warten, ob sie geduldet werden. In ihrer Leitkultuuuuur. Gar nicht gemüüütlich. Er blickt aufs Handy: Minus zwei Grad, Schneeregen. Sekunden später sickert das Nass der ersten Flocken durch seine Haare auf die Kopfhaut. Job ist Job, bringt Extrageld, da muss ich durch. Er zieht seine Kapuze über und macht sich auf die Runde. Drei Minuten benötigt er dafür, die eingezäunte Containersiedlung zu umrunden. Jede Stunde sollte er es viermal machen, alle fünfzehn Minuten.

Der Schnee schmilzt sofort, wenn er auf den Boden fällt. Seit Tagen reden die Deutschen davon, ob es „weiße Weihnachten“ geben könnte. Auch sowas von ihrer Leitkultur. Ihm ist das egal, für Ahmed gibt es nur nasses oder trockenes, kaltes oder warmes Wetter. Jetzt war nasses, kaltes Wetter, und das ist die schlechteste Kombination, wenn man draußen herumstehen muss. Ahmed blickt zu den Containern hinüber. Überall Licht, zu hören ist aber nichts. Gut so, denkt sich Ahmed. Security bei Flüchtlingsunterkünften ist nicht beliebt. Immer wieder streiten die Leute untereinander, oder es kommen Deutsche, die Ärger machen wollen. Heute hoffentlich nicht, denkt Ahmed. Die Deutschen sind beschäftigt mit ihrem Weihnachten.

Da entdeckt Ahmed eine offene Containertür, das Fester daneben ist dunkel. Er tritt heran, klopft, ruft, leuchtet mit seiner Stablampe herein: Ein Stockbett, ein Tisch, zwei Stühle. Ein Schrank mit offenstehenden Türen. Alles leer. Nicht belegt. Offenbar hat jemand vergessen, den Container abzuschließen. Ahmed zieht die Tür zu und setzt seine Runde fort.

Foto: Nile lizenzfrei auf Pixabay

 

Zwei Stunden später hat es aufgehört zu schneien. Jetzt ist der Himmel klar, einige helle Sterne funkeln herab, aber viele von ihnen sind nicht zu sehen, weil eine Straßenlampe den Eingang zur Containersiedlung hell ausleuchtet, ein greller Lichtkegel. Ahmet tritt in das Licht, als er von seiner zehnten Runde zurückkehrt.

„Da, da, da ist jemand!“, hört Ahmed die Stimme einer Frau, von irgendwoher im Dunkel um ihn herum. Ahmed blickt sich um, sieht nichts, tastet in einem Reflex nach seinem Elektroschocker. Es ist mitten in der Nacht, was war das für eine Stimme?

„Da, schau doch!“, hört Ahmed. Aus dem völligen Dunkel tritt eine schwangere Frau in den Lichtkegel.

„Hallo“, ruft Ahmed, „Wer sind Sie? Was wollen Sie?“

Jetzt wird auch ein Mann sichtbar, der hinter der Frau hertappt, schwarze Haare, ein Bart, lange Locken, ein kleines tellerförmiges Hütchen auf dem Kopf. Er hat ein Handy in der Hand, das Display leuchtet.

„Sei vorsichtig“, sagt der Mann. „Wir sind hier nicht erwünscht, denk immer dran.“

Ahmed geht auf das seltsame Paar zu. „Was wollen Sie hier?“

Die beiden weichen zurück. „Wir sind auf Herbergssuche. Wir brauchen einen Platz für die Nacht,“ stammelt die Frau. „Und bald wird mein Kind kommen. Wir können nicht mehr weiterlaufen.“

„Dieser Mann wird uns töten,“ sagt der Mann.

„Nein“, ruft Ahmed. „Ich töte niemanden. Ich bin von der Security. Ich sorge für Sicherheit. Das ist mein Job hier in Deutschland.“

Zögernd nähern sich die beiden wieder. Die Schwangere weint. „Ich kann nicht mehr,“ jammert sie, „immer auf der Flucht. Es geht nicht mehr.“ Sie lehnt sich an ihren Mann und reibt sich die Augen. Der Fremde nestelt an seinen seltsamen Locken herum und hält Ahmed sein Handy unter die Nase. „refugee accomodation“ steht dort. Der blaue Punkt daneben blinkt. Ziel erreicht.

Schweigend stehen sie sich gegenüber, ein paar Sekunden vielleicht. Dann umfasst der Gelockte mit dem Hütchen die Schultern seiner Frau, und wendet sie herum. „Komm, wir gehen weiter“, sagt er.

„Für eine Nacht,“ ruft Ahmed dem rätselhaften Pärchen hinterher und winkt. „Ist ja schließlich Weihnachten.“ Er geht voraus, öffnet die Tür zu dem leeren Container und weist die beiden mit einer Kopfdrehung hinein.

 

(5)

Sechs Uhr, Feiertag. Es ist noch stockdunkel, und dazu klirrend kalt. Ahmed steigt in den SUV, während sich die beiden Kollegen, die ihn ablösen, auf ihre erste Runde machen. Pablo hatte sie mitgebracht und angeboten, Ahmed zur Bahn zu bringen.

„Gab´s was Besonderes?“, fragt Pablo.

Die Straßen sind leer. Dünne Nebelschwaden wabern in der Dunkelheit. Beim Vorbeifahren erfasst ein Bewegungsmelder den SUV und löst eine bunte Lichterkette aus, die sich plötzlich blinkend um ein Supermarktschild schlingt. „Merry Christmas“, blinkt es.

„Nein,“ sagt Ahmed. „nichts Besonderes. Job ist Job.“

 

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Der Abschnitt über die Theateraufführung war inspiriert von einem Erlebnis, das ich im Schauspiel Stuttgart hatte: Konzert und Lesung „Kofflers Schicksal“ mit dem Jewish Chamber Orchestra Munich und der Schauspielerin Jelena Kuljic von den Münchner Kammerspielen (am 3. Dezember 2023). Weitere Konzerte dieser Art finden u.a. am 24. Januar 2024 in Deggendorf, am 1. März in Dresden und am 14. April in Düsseldorf statt, siehe Konzertkalender.

„Der Paradiesbaum“ – meine Weihnachtsgeschichte vom letzten Jahr finden Sie hier. 

 

 

 

 

Winternachtstraum – Ein Kulturspaziergang

In schweren Zeiten unterwegs zu einer barocken Feier des Lebens

Tausendfach berühren weiße Tupfer den Asphalt, ein steter Strom nimmermüder Zwecklosigkeit, denn sogleich schmilzt das Weiß dahin, wenn es den Boden erreicht hat. Im Dämmerlicht bedarf es der Straßenlampen, denn erst deren Lichtkegel macht das endlos herabsinkende Raster des Schnees sichtbar. Was waren das für Zeiten, denkt der vorweihnachtliche Flaneur, als es noch galt, jeden Regentropfen herbeizusehnen in der sommerlichen Hitze und Trockenheit! Jetzt ist es nasskalt. Es ist Winter.

Alles schwebt, alles dreht, alles fliegt – Oper als „barockes Fest des Lebens“ verspricht der Abend „La Fest“ von und mit Eric Gautier in der Stuttgarter Oper. Und jedes Wort davon ist wahr. (hier: Diana Haller) Foto: Matthias Baus, bereitgestellt von Oper Stuttgart

Fahl glitzert und blinkt es im nassen Licht. Im dahinschmelzenden Schnee triefen die Buden des Weihnachtsmarktes vor sich hin. Glühweinfreunde ducken sich unter die zu schmalen Vordächer, von denen es auf die Kapuzenköpfe tropft. Die tausend Lichter der Adventszeit schimmern wieder sorglos ins das Schneegestöber. Noch vor einem Jahr wurde gebangt, wie lange der Strom für Notwendigeres reichen wird. Noch immer ist es eine Welt voller Besorgnis, in die hinein die Lämpchen und Lichterketten nun ihre Eitelkeit verschwenden. Menschen überfallen einander, massakrieren ihre Nachbarn aus religiösem Eifer oder nationalistischem Hass. Die Antwort ist legitime Notwehr, eine Tat der Not. Glück entsteht so nicht, auch der wehrhafte Überfallene muss Leid zufügen.

Soviel Solidarität ist noch

Fünf Euro für einen Glühwein! Die Inflation!, wägt der Budenbesitzer das Haupt, kein Personal, die Energiekosten! Unter einem Trauf sucht der Flaneur Schutz, damit das teure Gebräu nicht auch noch vom steten Strom der nassen Flocken verdünnt wird. Immerhin: So viel Solidarität ist noch, dass die anderen Glühweintrinker willig zusammenrücken, um Platz zu machen am klebrigen Stehtisch. Das gemeinsam erduldete Nass verdrängt den vorschnellen Hass, der als unstillbarer Strom herausquillt aus dem Handy, sobald man die populären Netzwerke des Bösen aufsucht. Auf dem Weihnachtsmarkt gibt es keine Häme und keinen Spott für das notleidende Gemeinwesen, das eingeklemmt ist zwischen den Regeln des Staates und den Krisen der Welt. Höchstens für das Selfie wird das wasserempfindliche Gerät gezückt, sonst ist die winterliche  Tändelei ein wohltuend digitalfreier Schonraum.

Ein Klang bricht sich seinen Weg

In ein paar Stunden wird der Weihnachtsmarkt schließen. Dann versiegt der Strom des teuren Glühweins, die letzte wärmende Bratwurst wird verspeist sein, die bunte Bude mit dem Zuckerzeug verbarrikadiert. Was bleibt, ist der Missmut: Das Milliardenloch im Haushalt, die Ratlosigkeit der ruhelos Regierenden, die Sprachlosigkeit des stocksteifen Kanzlers. Noch rieselt der nasse Schnee, noch dudelt die Musik aus dem quäkenden Lautsprecher über den Glühweinfreunden.

Was für Töne sind denn das?, grübelt der Flaneur, keine Weihnachtsklänge, sondern tastender Barock, breite Akkorde, kaum hörbar zwischen den Rufen der Kinder, dem Gequietsche des Karussells? Dann bricht sich der Klang seinen Weg, jubelnd, triumphierend. Eine Musik, die das Unbeschreibliche beschreibt, dem Aufglühen der Raketen Töne verleiht, ihrem Hinaufsteigen in den Himmel, ihrem kurzen Triumph, ihrem Verglühen in einer strahlenden Explosion der Farben, zweckfrei wie ein prächtiger Blumenstrauß, der verblühen wird. Ein Trost in Leben und Schönheit. Jetzt jubelt die Musik in ihrem Feuerwerk, das sie beschreibt.

Wie wäre es mit einem Fest?

Ein Feuerwerk als Musik! Ja, wie wäre es denn, statt der ganzen schweren Gedanken einfach ein Fest zu feiern? Um alles hinter sich zu lassen, was belastet, wenigstens für ein paar Stunden? Ein nächtlicher Traum wäre das, wirbelnd in einem Rausch aus Musik, Tanz, Gesang. Ein paar Stunden nur wie von Sinnen, albern, sinnlich, mit berstender Leidenschaft auf den Lippen, mit ungeahnter, noch niemals entdeckter Energie in den Gelenken, voller verrückter Ideen im Kopf? Wie wäre es, alle Last hineinzuschieben in Momente des heiteren Spiels, über sie hinwegzulachen, wie es Kinder können?  Mit Topfschlagen und Flaschendrehen, mit der schnellen Suche nach einem freien Platz auf der Reise nach Jerusalem, ja genau jetzt: Nach Jerusalem!

Heillos verliebt dahinschweben, auch das dürfte einmal wieder sein für ein paar Stunden. Sich willenlos dem Glück des Lebens hingeben, hinaus aus der eigenen Routine der langweiligen Pflichten, hinein in die Hoffnungen von Leidenschaft und Fantasie. Bunt flattern wie die Schmetterlinge, vielarmig umarmen wie eine Krake, laut feiern, in der Musik versinken, knallig, schmissig – wie wäre es damit? Bei so einem Fest müsste sich gewiss auch die ganze Fragilität unseres menschlichen Daseins hineindrängen: Die eigene Dummheit und das Lernen daraus, die zwischenmenschlichen Abgründe, der Streit, die Eifersucht. Und unsere Sterblichkeit gar, die uns umklammert? Alles das würde dazugehören, weil es uns ausmacht, weil es der lauernde Ernst ist, der menschlicher Sinnlichkeit heiteren Sinn verleiht.

Die Fantasie muss fliegen, die Gedanken torkeln

Noch immer nasskaltes Schneetreiben. Der Flaneur fröstelt. Die Gespräche unter dem dürftigen Wasserschutz sind belanglos. Der teure Glühwein glüht schon längst nicht mehr. Die Bratwurst liegt schwer im Magen. Ein Fest, so ein Fest, in dem alles möglich ist, das die Fantasie fliegen, die Gedanken torkeln lässt, das wäre jetzt richtig. Ein Fest, das die Schwere des Lebens nicht ausblendet, sondern für ein paar wunderbare Stunden leicht werden lässt wie eine Traube silberner Luftballons.

Das ist mein Winternachtstraum, denkt sich der Flaneur, und lenkt seine Schritte unter dem schneedurchstöberten Nachthimmel, vorbei am träge in seinem Rund gefesselten Riesenrad, hinüber ins Stuttgarter Opernhaus. Dort gibt´s jetzt so ein Fest.

 

 

 

Die Barock-Revue im Stuttgarter Opernhaus mit dem Titel „La Fest“, gestaltet und inszeniert und auch selbst präsentiert von Eric Gautier, entzieht sich einer regulären Schilderung. Sie ist als gesamtsinnliches Erlebnis der Extraklasse jeden Weg Wert, nicht nur den hier geschilderten kurzen vom Stuttgarter Weihnachtsmarkt hinüber zum Opernhaus. Wer noch dabei sein will bei diesem ebenso klugen, fantasievollen, leichtfüßigen, wie auch nachdenklich stimmenden Fest, muss sich allerdings auf das Glück an der Abendkasse verlassen. Schon jetzt sind alle derzeit geplanten neun Vorstellungen im Dezember 23 und Januar 24 ausverkauft.

(Premiere am 3.12.2023; gesehen habe ich die Generalprobe am 30. November).

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

Ideale Fehlbesetzung für das große Glück

Wolf Biermann erzählt vom ewigen Kampf für die Freiheit

Natürlich steht am Anfang die Gitarre. Noch bevor Wolf Biermann irgendetwas gesagt hat in einer Podcast-Aufnahme, die erst enden soll, wenn der Gast der Meinung ist, dass „alles gesagt“ sei, greift er zur Gitarre. Er sing eines seiner Lieder, und stellt dann die Gitarre zur Seite, seufzend fast. „Hier geht es ja nicht im Lieder“, sagt er, „heute soll geredet werden.“ Wie ein stiller Gast wird die Gitarre auf dem kleinen Podium verbleiben, geduldig wartend, bis sie mehr als sieben Stunden später wieder erklingen wird. Dazwischen wurde geredet.

Geredet über Deutschland. „Ist Biermann moderierbar?“, hatte sich Co-Moderator Jochen Wegner, Chefredakteur von „Zeit online“ bei einem Kollegen mit Erfahrung im Umgang mit dem 86-jährigen erkundigt, und als lapidare Auskunft ein „Nein“ erhalten. Diebische Freude hat der kleine Wolf daran, jede Regie durcheinanderzubringen, sich jeder Anweisung zu widersetzen. Eine Schar von Biermann-Fans hatte sich dafür im Rahmen des Hamburger Harbour Literatur-Festivals in einem ausverkauften Tonstudio durchaus kuschelig zusammengefunden.

Gezeichnet von vielen Stunden schwerer Last eines Gesprächs über deutsche Geschichte: Wolf Biermann im Gespräch mit Christoph Amend, Editorial Director ZEITmagazin, bei der Podcast-Aufnahme „alles gesagt“ in Hamburg

Biermann moderiert sich selbst

Biermann führt hier das wortwuchtige Kommando, moderiert sich nahezu selbst in diesem mäandernden Gesprächsmarathon. Ein Leben wird da ausgebreitet, das Leben einer deutschen Ikone der Gegenwart. Wie konnte dieser kleine Mann mit dem markanten, heruntergezogenen Schnauzbart dazu werden?

Im Laufe der Gesprächsstunden mangelt es nicht an Selbstbeschreibungen des putzmunteren Gastes, der von seinen Gastgebern als „größter Drachentöter der deutschen Nachkriegsgeschichte“ begrüßt wurde. Immer wieder tadelt er sich selbst als „Idiot“, schlägt sich gegen die eigene Stirn dabei, spart aber mit solcher Bewertung auch nicht gegenüber seinen Mitmenschen. Vor allem sei er ein Glückskind, eine „ideale Fehlbesetzung“, wundert er sich in eigener Sache. Wer ihm folgt über alle diese Stunden, geduldig den Redeschwall aushält, mit ihm seine häufigen Denkpausen durchschweigt, unterwirft sich seiner geschulten Dominanz, die prallvoll ist von einem deutschen Leben.

Eine Biografie, die verstummen lässt

Zuhören ist also angesagt. Aber diese Biografie lässt ohnehin jeden verstummen, der sie nicht durchlebt hat. Gesäugt an der Brust wurde er, während seine Mutter in den Gestapo-Verhörräumen mit klugen Lügen das Schicksal des Vaters zum Guten zu wenden versuchte. Erfolglos, denn der Vater war zu stolz, sich retten zu lassen. Wolf Biermann, der aus einer Hamburger Kommunisten-Familie stammt, war drei Monate alt, als sein Vater von den Nazis (bereits zum zweiten Mal) verhaftet wurde und nicht mehr freikam, bis sie ihn 1943 in Auschwitz ermordeten. Als Jude, wozu sich der Vater ausdrücklich gegenüber den SS-Schergen bekannt hatte, obwohl er als Kommunist ja eigentlich gar keinen Gott kennen wollte.

Als 17-jähriger siedelte der kleine Wolf Biermann im Jahr 1953 auf Veranlassung der Kommunistischen Partei in die gerade erstandene DDR über, ohne seine Mutter, aber mit ihrem Einverständnis. Schon wieder so ein Glücksfall, meint der Sohn heute, da die Mutter sich niemals dem diktatorischen Duktus der DDR-Bonzen untergeordnet hätte: „Die wäre in Bautzen gelandet“.

Aber so blieb die Mutter im Westen, und der Sohn legte sich im Osten mit den Bonzen an. Unbeugsam verfolgte er seinen künstlerischen Weg, der ihn schon bald isolierte in der berühmten Wohnung in der Chausseestraße, wo seine ersten illegalen Plattenaufnahmen entstanden. Nach und nach geriet Wolf Biermann in die Heldenrolle „dieses deutschen Theaterstücks, das wir aufführen“, wie er sagt.  Wer hätte erwarten können, dass dieser in einer kommunistischen Arbeiterfamilie aufgewachsene Hamburger „Jung“, einmal so gefährlich für den Arbeiter- und Bauernstaat werden könnte, dass dieser ihn 1976 in den verhassten Westen entließ, nur um ihm dann eine Rückkehr zu verweigern?

Loswerden wollten sie ihn, aber das Gegenteil haben sie erreicht

Loswerden wollten sie ihn, den Unbequemen, aber das Gegenteil haben sie erreicht. Er wurde zum Kronzeugen für viele, die dreizehn Jahre später mit dem damals noch so mächtigen, unbelasteten Ruf „Wir sind das Volk“ massenhaft den Kollaps des Systems herbeidemonstrierten. 5000 Menschen kamen am 1. Dezember 1989 zu seinem ersten Konzert nach dem Mauerfall nach Leipzig. Sein Auftritt war damals so bedeutend, dass beide deutschen Fernsehanstalten, Ost wie West, ihn live übertrugen.

Nochmal 25 Jahre später saß der Drachentöter im Bundestag, nicht gewählt, sondern eingeladen, mit Gitarre natürlich, und zupfte sein Lied von der „Ermutigung“. Zuvor aber ließ er es sich nicht nehmen, auch nicht vom launigen Hausherren Norbert Lammert, bei dieser Gelegenheit die unmittelbar vor ihm versammelten Linken-Politiker als „Drachenbrut“ zu beschimpfen. Der Präsident ließ ihn damals gewähren, was ihm Kritik einbrachte, aber beide zu Freunden machte. Vor einiger Zeit, erzählt Biermann, sei er dann von Lammert, der inzwischen Vorsitzender der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung ist, in die CDU-Parteizentrale eingeladen worden. Dorthin sei er seinem Freund zuliebe natürlich gerne gekommen. Neben Lammert habe dann da aber auch der Friedrich Merz gesessen, und da habe er zu dem gesagt: Na, wenn Sie mich eingeladen hätten, dann hätte ich natürlich abgesagt.

Unbeugsam, rebellisch, selbstgewiss: Es bedarf viel Disziplin, Wolf Biermanns Erzählungen über mehr als sieben Stunden zu folgen. Wer es tut, blickt staunend und sprachlos auf eine deutsche Biografie der Sonderklasse.

Ein Rebell ist er also geblieben, der Kommunistensohn, unbeugsam jetzt als straffer Antikommunist.  Die Mischung aus Schalk und Haltung lässt im Laufe der Gesprächsstunden in Hamburg die Luft immer nebeliger werden vor lauter gelebtem Leben, sanfter Wut und sprachlicher Fantasie. Biermann schreibt Lieder und Gedichte, die oft nicht gefällig sind, anstrengend, aber auch klug, voller Kraft und Wortwitz, der nichts zu tun hat mit dem billigen, berechneten Humor von Komödianten. Ein ganz einmaliges Amalgam schafft er, ist er selbst, eine Mischung aus Stolz und Trotz, aus Reflexion und Scharfsinn, aus kontrollierter Angst und unbändiger Lebenslust.

Und nun? Biermann ist 86 Jahre alt, kein „verdorbener Greis“ (wie er 1989 die Nomenklatura der versinkenden DDR gegeißelt hatte), sondern ein Institution der deutsche Geschichte. Ruhig könnte er sein, sich in Hamburg-Altona zurückziehen. Oft genug Recht behalten, könnte er sich denken, der schon immer vor Putin gewarnt hatte, der die DDR von innen kritisierte, als dazu noch ein Maß von Mut gehörte, das sich die von einem Rechtsstaat verwöhnten Kritiker deutscher Wirklichkeiten von heute gar nicht mehr vorstellen können.

Resignieren ist keine Option, sagt der alte Kämpfer

Aber der proletarische Kämpfer in ihm lebt noch immer. Wie er auf das heutige Deutschland blicke, auf den Rechtsruck im Osten,  wie man das alles aushalten soll mit AfD, mit Populismus, mit dem von Putin angezettelten Krieg?

Lange muss er nachdenken. Mucksmäuschenstill ist es im Tonstudio, keiner zuckt, keiner räuspert, bis Biermann sich eine Antwort zurechtgelegt hat: Der Krieg in der Ukraine, sagt er dann, und auch die Hinwendung vieler Menschen nach rechts, das seien doch letztlich auch nichts anderes als Teile des großen Freiheitskrieges, den die Menschheit führen muss, schon seit Jahrhunderten. Schon immer eigentlich, setzt er hinzu. Zu resignieren sei keine Option, sagt er,  nirgends, die Freiheit gibt’s nur im Kampf, nicht umsonst.

„Was wird mit meinem Vaterland?“

Schließlich der Griff zur Gitarre. „Was wird mit meinem Vaterland?“, singt er, und bricht doch wieder ab. Es gibt noch etwas loszuwerden, über die DDR, über die Feigheit, über die Stasi und die Uneinlösbarkeit ihrer Vertraulichkeitsversprechen. Dann setzt er neu an und bringt das Lied zu Ende. Es geht um Putin und seine Todesfurcht „vor eine Frau, die Freiheit heißt“.

Damit ist nach seiner Meinung alles gesagt, und nach sieben Stunden und vierzig Minuten trotten erschöpft die verbliebenen Zuhörer hinaus in den Hamburger Nieselregen, hinaus in die „fetten finst´ren Zeiten“, wie der in einer jüdisch-kommunistischen Familie aufgewachsene „Drachentöter“ in seinem Schlusslied noch reimte. Finstere, fette Zeiten – es ist der Abend von Freitag, dem 6. Oktober 2023, und am nächsten Morgen ermorden Hamas-Terroristen in Israel mehr als 1200 wehrlose Menschen.

 

Den ZEIT-Podcast mit Wolf Biermann in voller Länge finden Sie kostenlos unter diesem Link: https://www.zeit.de/politik/2023-11/wolf-biermann-interviewpodcast-alles-gesagt

Von dem in meinen Text angesprochene Konzert in Leipzig gibt es einen Mitschnitt auf Youtube, wie auch von Biermanns Auftritt im Deutschen Bundestag zum 25. Jahrestag des Mauerfalls.  (Klick führt jeweils zu Youtube).

Noch bis 2. Juni 2024 widmet auch das Deutsche Historische Museum in Berlin Wolf Biermann eine Ausstellung: https://www.dhm.de/ausstellungen/wolf-biermann-ein-lyriker-und-liedermacher-in-deutschland/

Weitere Texte als #Kuturflaneur finden Sie hier. 

 

 

 

 

Dem Krieg gebaut, dem Frieden gewidmet (#51)

Ev. Friedenskirche Ludwigsburg, Stuttgarter Str. 42, 71638 Ludwigsburg

Mein Besuch am 29.Oktober 2023

Ihr Turm ist ein markanter Orientierungspunkt für Autofahrer/innen in und nach Ludwigsburg, der barocken Residenzstadt der württembergischen Könige im Norden von Stuttgart. Die Friedenskirche wendet sich der Straße zu; wer den Turm passiert hat, muss sich links halten, um in das Stadtzentrum von Ludwigsburg zu gelangen, oder nach rechts, um zum Residenzschloss und seinem Park zu gelangen.

Ein weiter Raum, luftig, nicht überladen: Die Friedenskirche in Ludwigsburg war einst Garnisionskirche, heute finden hier auch Konzerte statt.

So habe auch ich schon hundertmal oder öfter die Friedenskirche passiert, jetzt erstmals habe ich sie im Rahmen eines Konzertes auch besucht. Das neobarock gestaltete Gotteshaus ist zu Beginn  des 20. Jahrhunderts als Garnisionskirche errichtet worden, also anfangs ausschließlich für Militärgottesdienste. Die neuere Geschichte Ludwigsburg ist mitgeprägt von der Rolle als Standort für militärische Einrichtungen, auch die amerikanische Besatzungsmacht und später die Bundeswehr nutzten entsprechende Infrastruktur.

Die Friedenskirche beeindruckt mit einem gewaltigen Raumprogramm. Ihre umfassenden Ausmaße ermöglichen, dass die Kirchengemeinde ohne Gemeindehaus auskommt – alles kann in der Kirche untergebracht werden. Foto: Ecelan – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3614904

Nach dem 2. Weltkrieg besann man sich neu, was die ehemalige Garnisionskirche anging. Sie wurde in „Friedenskirche“ umbenannt und ist nun ein ganz „normales“ Gotteshaus für die evangelische Kirchengemeinde. Sie empfängt den Besucher mit einem eindrucksvollen Raumprogramm; zusammen mit den Galerien, Logen und diversen weiteren Nebenräumen finden in der Kirche nicht nur problemlos mehr als eintausend Menschen Platz, sondern auch noch alle Begegnungsräume der Gemeinde. Ein zusätzliches Gemeindehaus ist überflüssig. In der Kirche finden regelmäßig Konzerte und Veranstaltungen aller Art statt, sie ist damit auch ein Mittelpunkt im kulturellen Leben der Stadt. Die Friedenskirche hat eine brocke Ausstattung, wirkte auf mich trotzdem luftig und großzügig, an keiner Stelle überladen. Weitgehend in weiß gehalten, dominiert eine vergoldete Christusfigur den Altarraum und ein träumerisch-buntes Deckenfresko das breite Hauptschiff.

Friedenskirche? Nun ja, ein großer Anspruch. Die Kirchengemeinde will ihm gerecht werden, und lädt z.B. einmal monatlich zu einem Friedengebet auf den Ludwigsburger Marktplatz ein.

 

Eine sehr gute Zusammenfassung zu Geschichte und Ausstattung der Friedenskirche findet sich auf der Website der Kirchengemeinde.

In der Friedenskirche habe ich Ende Oktober 2023 das Oratorium „Messiah“ von Georg Friedrich Händel erlebt und dazu als #Kulturflaneur meine aktuellen, politisch gefärbten Gedanken aufgeschrieben: „Aktuell kein Messias in Sicht“. 

Weitere Kirchen finden Sie in meiner Sammlung #1000Kirchen

 

Einladendes Kleinod zwischen Ruinen (#50)

Marienkapelle Kloster Hirsau, Liebenzeller Str. 25, 75365 Calw

Mein Besuch am 3.November 2023

Ein in jeder Hinsicht harmonischer Ort, der Mut macht zum Innehalten: Die Marienkapelle in Kloster Hirsau.

Selten hat mich eine Kirche so warm und einladend empfangen wie diese. Die vergleichsweise kleine Marienkapelle (die aber dennoch eine vollwertige Kirche ist) am Rande des Geländes der Ruine von Kloster Hirsau nimmt es ernst mit der Idee einer offenen Kirche. Ganz im wörtlichen Sinne ist das evangelische Gotteshaus zumindest im Sommer (April bis Oktober) tagsüber geöffnet. Und im Inneren lädt die Aktion „Amen Atmen“ dazu ein, meditative Momente zu verbringen, zum Beispiel sinnbildlich der Auflösung der eigenen Sorgen zuzusehen.

Ein Beispiel der Stationen, die zum Nachdenken einladen: Wer möchte, kann eine Sprudeltablette in das Wasserglas werfen und zusehen, wie sich nach und nach die Sorgen symbolisch auflösen.

Die Marienkapelle von Hirsau ist ein außergewöhnlicher Ort von Harmonie und Stille, an dem zur Ruhe kommen und einen Moment innehalten kann, wer auch auch immer dazu den Bedarf hat am Rande des Schwarzwaldes. Ihre Baugeschichte reicht zum Beginn des 16. Jahrhunderts zurück, ihre heutige Gestalt erhielt die Kirche nach einem Umbau nach 1888. Umgeben ist die Kirche von der Ruine eines ehemaligen Benediktinerklosters aus dem 11. Jahrhundert, so dass schon der Weg vom Parkplatz zur Kapelle ein ganz besonderer Eindruck ist.

Was bezahlen Menschen für einen Moment der Ruhe? Sie besuchen Achtsamkeitstrainings,  buchen Yoga-Kurse, laden sich Meditations-Apps herunter oder reisen zu Klosteraufenthalten ohne Handy. Alles das mag sinnvoll sein. Ein weiteres, ganz günstiges Angebot ist ein besuch in dieser Kirche. Ein kostenloser Ort zum Innehalten, zum Hineinhören in sich selbst – und deshalb eine würdige #50 meiner Sammlung.

Zur Website von Kloster Hirsau mit historischen Daten zur Marienkapelle:  https://www.klosterhirsau.de/erlebnis-kloster/kloster/gebaeude/peter-und-paulskloster/marienkapelle

Die meditative Einladung der ev. Landeskirche zum Innehalten findet man auch auf dieser Website: https://amen-atmen.de/

Weitere Kirchen aus meiner Sammlung #1000Kirchen finden Sie hier. 

 

 

Aktuell kein Messias in Sicht

Eine politische Textarbeit über Händels Oratorium „Messiah“

Herbstregen in Deutschland. Die Tropfen platschen auf die Windschutzscheibe, breiten sich aus, bis der unermüdliche Wischer sie zur Seite schaufelt. Es dämmert ungewohnt früh. Ah, Sommerzeit vorbei, erinnert sich der Kirchgänger. Stimmt, heute Morgen länger geschlafen. Dafür muss man jetzt den Preis bezahlen: Es ist dunkel, wenn es noch hell sein sollte. Finsternis jetzt, Dunkelheit überall.

Ein Windstoß treibt einen Schwall brauner Blätter über die Straße, eines davon verfängt sich im Blech unterhalb der Scheibe, will sich dort festhalten, aber der Fahrtwind zerrt es auf das rutschige Glas, wo es der Wischer zur Seite schiebt. Kein Halt auf dem Glatt, da segelt es fort, zur Seite, irgendwohin, seinem fauligen Tod entgegen.

Wegschauen ist auch keine Lösung

„Die Lage der Zivilbevölkerung im Gazastreifen wird immer schlimmer“, nimmt sich der Nachrichtensender im Autoradio wichtig. Nichts neues also, denkt sich der Kirchgänger, nichts neues nach den Meldungen der letzten Tage. Vielleicht die Bilder gar nicht mehr ansehen? Die Bilder von den blutigen Betten, in denen Menschen ermordet wurden? Keine Kamerafahrten mehr ertragen? Keine Videos voller zerbombter Trümmer, panisch rollender Krankenwagen, blutiger Pritschen mehr zur Kenntnis nehmen?

Andererseits: Wegschauen ist auch keine Lösung.

Der Kirchgänger drückt auf den Knopf, der das Radio abstellt. Mit welchem Recht fahre ich hier herum, satt und sicher, geht ihm durch den Kopf, während er einen Parkplatz sucht. Was soll ich hier, während überall die Menschen sterben, um ihr Überleben kämpfen. In Israel. In Gaza. In der Ukraine. Und an tausend anderen Orten auf der Welt. Im strömenden Regen steigt er aus, fummelt seinen Schirm heraus. Autos zischen vorüber. Da erwischt ihn ein Schwall Wasser von hinten. Zu spät springt er zur Seite. Es gibt keine Sicherheit mehr.

Barocke Klänge füllen die Friedenskirche

Als er die Kirche betritt, die „Friedenskirche“ heißt, wartet kein Gottesdienst. In Gottesdienste geht der Kirchgänger schon lange nicht mehr. Aber in Kirchen geht er gerne, oft sucht er dort die Stille des Raumes, das Glück des Lichts, den Duft der Kerzen. Heute lockt ihn die Musik, die den Raum füllen wird. „Messiah“ heißt das Werk, das zur Aufführung kommt.

Die Friedenskirche füllt sich schnell. Dann erstirbt das Surren der geflüsterten Gespräche und das Rascheln der Jacken und Mäntel um ihn herum. Die barocken Klänge dringen auf den Kirchgänger ein, sie bohren sich in ihrer berechenbaren Gefälligkeit in seine Sinne. 275 Jahre ist es her, dass das gottesfürchtige Oratorium von Georg Friedrich Händel in Dublin erstmals erklang. Zweieinhalb Stunden wird es dauern.

Eigentlich warten Christen wie Juden gleichermaßen

Der Kirchgänger liest mit, was da gesungen wird, und vielleicht ist das ein Fehler in diesen aufgewühlten Zeiten. Wer geht schon wegen des antiquierten Textes in ein Oratorium aus der Barockzeit? Da geht es doch um die Musik, um die schönen Stimmen, um den wuchtigen Chor! Aber er kann nicht anders, er muss auf Deutsch lesen, was in Englisch zu hören ist.

Ein Messias ist wörtlich übersetzt ein „Gesalbter“, hier in einer Darstellung aus dem 3. Jahrhundert n.Chr.: Samuel salbt David; Wandmalerei in der Ruinenstadt Dura Europos, heute Syrien, nahe der irakischen Grenze. Foto: gemeinfrei aus Wikipedia

Die Geschichte, die erzählt wird, ist ein Kirchenstreit der Jahrtausende. Der Kirchgänger kramt in seinem abgespeicherten Halbwissen. Der Messias, das ist doch der, auf den die Juden noch warten? Für die Christen war er schon da, in Gestalt von Jesus Christus. Andererseits: Auch für die Christen soll er nochmal wiederkommen. Also eigentlich warten beide. Unstrittig sollten also in heutigen aufgeklärten Zeiten zwei Dinge sein: Erstens, dass die Idee ursprünglich jüdisch ist, wonach ein Messias, ein „Gesalbter“, die Menschen aus ihrem Zustand erlösen könnte. Und der Zustand ist schlecht, denn da steht es doch im Text: „Denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich, und Dunkel die Völker“.

Und zweitens, dass er auf alle Fälle kommen oder wiederkommen wird: für die Christen erneut, für die Menschen jüdischen Glaubens erstmals. Händels „Messiah“ erzählt aber fromm nur die christliche Version der umstrittenen biblischen Geschichte. Suchend blättert der Kirchgänger vor und zurück im Textheft – kein Hinweis auf die jüdische Sicht. Sicher zu viel verlangt in einer christlichen Kirche, räumt er ein.

Der Kirchgänger schreckt auf: „Halleluja!“ wird gejubelt.

Ganz verloren war der Kirchgänger in der meditativen Folge der Klänge, ganz abgeschweift in seinen Gedanken. Da ruft ihn der Chor lautstark zurück: „Halleluja!“, wird gejubelt. Anschwellend, von den Trompeten und Pauken unterstützt, ansteigend, wuchtig, füllen die Töne des geistlichen Gassenhauers die Kirche, rollen immer wieder neu über die Konzertbesucher hinweg. Halleluja! Halleluja! „Der allmächtige Gott regiert, wird regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit! Halleluja!“

Vielleicht besser nicht, werden sie denken in Tel Aviv, wo sie sich vor den Bomben der Hamas in die Keller flüchten müssen. Oder bei uns, wo Menschen jüdischen Glaubens sich nicht mehr mit Kippa auf deutsche Straße trauen. Oder in der Ukraine und in Gaza, wo Hilfe fehlt für die Kranken und Alten, für alle, die schutzlos die Folgen tragen müssen in Kriegen, die ohne ihr Zutun über sie gekommen sind.

Keine gute Zeit für ein christliches Halleluja, meint der Kirchgänger. Müde folgt er dem weiteren Verlauf des Oratoriums. Die edlen Töne tragen ihn fort, die Auferstehung der Toten wird verhießen, der Sieg des ewigen Lebens über das irdische Sterben. Dann schließlich singt der Chor vielstimmig: „Amen“. Beifall brandet auf, anfangs schüchtern, dann immer stärker. Ermattet klatscht auch der Kirchgänger. Seit Monaten haben die wackeren Sänger, das feinsinnige Orchester, der engagierte Chor das alte fromme Werk eingeübt, Note um Note, Ton um Ton. Nichts haben sie mit seinen Textzweifeln zu tun.

Noch immer herrscht Finsternis und Dunkel

Noch immer Finsternis und Dunkelheit rund um die Friedenskirche. Autos brausen vorbei, Konzertbesucher strömen auseinander in ihre verwöhnte Welt, in der Frieden herrscht und Freiheit dazu. Es hat aufgehört zu regnen. „Heute wieder antisemitische Demonstrationen in deutschen Innenstädten“, meldet das Autoradio. „Die Polizei griff ein und beschlagnahmte verbotene Flaggen und Spruchbänder, die das Existenzrecht Israels in Frage stellten.“

Der Kirchgänger schaltet das Radio ab. Kein Messias in Sicht. Und wir singen hier Halleluja? Nein, nein, denkt er sich. Das passt nicht.

 

Erlebt habe ich die Aufführung des „Messiah“ von Georg Friedrich Händel (Link führt zu weiteren Informationen auf Wikipedia) durch die Kantorei der Karlshöhe in der Friedenskirche Ludwigsburg am 29. Oktober 2023. Mehr über das Konzert, die Mitwirkenden und Bilder davon auf der Webseite der Kantorei Karlshöhe. 

Die Friedenskirche in Ludwigsburg ist auch Teil meiner Sammlung der #1000Kirchen, nämlich als #51.

 

 

Hamilton? Seibold? Ideen zu einer Parallele

Über das Politik-Musical „Hamilton“ und was man in Deutschland daraus lernen könnte

Vielleicht könnte es „Seibold“ heißen? Eignet sich der Name für Rap-Reime? Der Vorname wäre schon mal vielversprechend: Kaspar. Kaspar Seibold könnte der Held sein, um den alle herumtanzen und wirbeln, zu dessen Schicksal sie mitfiebern, mitsingen, schließlich trauern, bis der Schlussakkord sie von den Sitzen reißt.

Ja, vielleicht könnte es „Seibold“ heißen, das Musical über die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Auf keinen Fall „Adenauer“ oder „Schumacher“.

So schmissig kann Geschichte vermittelt werden: Das Musical „Hamilton“ erzählt einen Ausschnitt der Gründungsgeschichte der USA. Foto: Stage Entertainment

Jeder historische Vergleich ist falsch. Das gilt auch hier, aber um das Wagnis zu ermessen, das die Macher des US-amerikanischen Erfolgsmusicals „Hamilton“ eingegangen sind, darf man der Phantasie freien Lauf lassen. „Seibold“ also. Als Kaspar Seibold beträte ein Rapsänger, Tänzer, Schauspieler die Bühne, vom begeisterten Johlen des Publikums begrüßt, schmissig von der elektronisch verstärkten Musik untermalt, und würde erzählen, was er schon erlebt hat:

Die Geschichte von Kaspar Seibold

Kaspar Seibold aus Oberbayern war der jüngste Delegierte im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz verabschiedete. Er zählt zu den Mitunterzeichnern, obwohl er in der Schlussabstimmung gegen den Text des GG gestimmt hatte. Damit bekannte er sich zu dem demokratischen Prozess, auch wenn er inhaltlich unterlegen gewesen war. Foto: Bestand Erna Wagner-Hehmke, Stiftung Haus der Geschichte

Als er geboren wurde, war der erste Krieg des letzten Jahrhunderts gerade begonnen worden von Deutschland. Dann kamen die wilden Jahre der 20er, von denen er als Kind auf dem Land nicht viel mitbekam, dann die braunen Zeiten der Nazis. Auf dem Bauernhof seiner Eltern waren alle beschäftigt von früh bis spät, hatten keine Zeit, sich viel mit Politik zu befassen. Vermutlich bestellten bedauernswerte Zwangsarbeiter die elterlichen Felder, während sich der junge Kaspar in der Wehrmacht dem Zusammenbruch entgegenstellen musste. Als Gebirgsjäger wurde er schwer verletzt. Kaspar Seibold überlebte, und nach dem Ende de Krieges suchten auch in seiner Heimat, im oberbayerischen Lenggries, zerlumpten Flüchtlinge aus dem Osten Deutschlands und aus den zerbombten Städten kraftlos und erschöpft nach Essbarem.

Da entschied Kaspar Seibold: So konnte es nicht weitergehen. Er engagierte sich in der staatlichen Landwirtschaftsverwaltung. 1948 trat er in die neu gegründete CSU ein, und schon im Herbst des gleichen Jahres fand er sich als jüngster Abgeordneter im Parlamentarischen Rat wieder, jenem Vorab-Parlament, das nach der Katastrophe des Nazireichs ein neues, demokratisches Deutschland schaffen sollte. Und es schuf. Kaspar Seibold war einer der Gründerväter des neuen demokratischen Deutschlands.

Auch Alexander Hamilton schrieb an der Verfassung der USA mit

Alexander Hamilton lebte gut 150 Jahre früher und half mit, die USA zu gründen. Am Anfang seines Weges stand eine uneheliche Herkunft in der Karibik, aber blitzgescheit war er wohl, ehrgeizig dazu. So stieg er im Militär des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges zum wichtigsten Unterstützter für George Washington auf, der später erster amerikanischer Präsident wurde. Die britischen Kolonialherren gaben auf, und die Siedler machten sich daran, einen neuen demokratischen Staat zu schaffen. Weiße Männer waren es, die den Ton angaben, die Frauen, die Ureinwohner ihres Landes, gar die gewaltsam aus Afrika herbeigeschleppten Sklaven, durften nicht mitreden bei ihren Überlegungen.

Seibolds Einfluss war gering im Gründungsparlament der Bundesrepublik (61 Männer, vier Frauen) zwischen Konrad Adenauer, Theodor Heuss und Carlo Schmid, die allesamt den Terror der Nazi-Schergen mit mehr oder weniger tiefen Wunden überstanden hatten. Seibold war jung und politisch unerfahren, während die alten Wortführer schon in der Weimarer Republik politisch aktiv gewesen waren. So musste sich der junge bayerische Landwirtssohn mit einer Statistenrolle unter den Gründervätern des demokratischen Deutschland abfinden.

Statistenrolle für Seibold, aber Hamilton wollte hoch hinaus

Alexander Hamilton aber wollte hoch hinaus. Er wurde 1787 Mitglied im Verfassungskonvent der Vereinigten Staaten, spielte bald mit in der ersten Garde der amerikanischen Politik. Als Minister schuf er das bis heute wirksame Finanzsystem der USA, das mit einer Stärkung der Zentralgewalt in den USA einherging. Seine Gegner bekämpften ihn deshalb, weil sie lieber einen lockeren Staatenbund anstrebten.

Von seinem stürmischen Gemüt angetrieben ließ er sich in einen undurchsichtigen Ehrenhändel verstricken, ruderte im Morgennebel über den Hudson River zu einem Duell nach New Jersey (weil der schießwütige Unsinn in New York bereits verboten war). Vielleicht glaubte er, dass auch sein Widersacher Aaron Burr, immerhin der amtierende Vizepräsident der USA, nur zum Schein auf ihn anlegen würde, aber Hamilton irrte sich. Er wurde getroffen und erlag am nächsten Tag 49-jährig seinen Verletzungen.

So schlimm meinte es das Schicksal nicht mit Kaspar Seibold. Der junge Mann aus Bayern musste sich nur in einem politischen Duell schlagen und unterlag. Typisch bayrisch wollte er das neue Deutschland eher als einen lockeren Staatenbund etablieren, aber es setzte sich doch die Idee einer deutlichen Machtkonzentration auf Bundesebene durch. Seibold verweigerte deshalb in der Schlussabstimmung am 8. Mai 1949 seine Zustimmung zum Grundgesetz.

59 Männer und vier Frauen unterschrieben das Grundgesetz

Trotz seiner Ablehnung in der Abstimmung unterzeichnete er in der feierlichen Zeremonie am 23. Mai 1949 in Bonn neben den Ministerpräsidenten der Länder, den Parlamentspräsidenten der Landtage und den 59 weiteren Männern und vier Frauen aus dem Parlamentarischen Rat (nur die beiden Kommunisten verweigerten die Signatur) die Urfassung des deutschen Grundgesetzes. Der jüngste Gründervater der Bundesrepublik war zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt.

Dr. Kaspar Seibold: Das jüngste Mitglied de Parlamentarischen Ragtes unterschieb 1949 die Urfassung des deutschen Grundgesetzes, obwohl er dagegen gestimmt hatte.

Wer kennt heute noch Kaspar Seibold? Schnell findet man seinen Namen in den allwissenden Suchmaschinen. Seibold ist nicht vergessen, aber zurückgesetzt gegenüber den großen Figuren seiner Zeit. So erging es auch Alexander Hamilton. Im Central Park von New York steht er als Statue herum und die Zehn-Dollarnote zeigt sein Gesicht. Trotzdem müssen wohl auch die meisten Amerikaner den Namen erst einmal googeln, wenn sie ihn einordnen wollen zwischen die großen Helden seiner Zeit: George Washington, Thomas Jefferson, John Adams.

Politik als Bühnenshow: Ein kühner Plan, …

Es war also ein kühner Plan, diese weitgehend vergessene Figur in den Mittelpunkt eines Stücks Musiktheater zu stellen, das noch dazu ohne öffentliche Subventionen auskommen muss. In New York und London wurde „Hamilton“ zum hochdekorierten Kassenschlager. Der Cast ist zeitgeistig divers besetzt, ein subtiler Hinweis darauf, dass die Hamiltons und ihre Zeitgenossen ganz sicher ausschließlich weiß waren. Die Musik kommt schmissig-modern daher, der Rap ist auch für Silverager erträglich und nachvollziehbar, und für das Auge wird ohnehin jede Menge geboten. Eine schwungvolle Bühnenshow, in der noch dazu die tragisch endende Lebensgeschichte dieses unterschätzten Gründervaters publikumsgerecht mit einer romantischen Liebe verflochten wurde.

… aber die Handlung zeigt Politik, wie sie ist.

Aber die Handlung zeigt eben Politik, so wie sie ist. Sie erzählt von komplizierten Fragen, die sich dem mehrheitlich auf fröhlich-gefühlige Unterhaltung  eingestimmten Publikum nicht schnell erschließen. Bis vor wenigen Tagen war „Hamilton“ auf Deutsch in Hamburg zu besuchen, jetzt muss man wieder nach London oder New York reisen. Noch im September 2023 erhielt die Hamburger Produktion den Deutschen Musical-Theaterpreis. Trotzdem war nun nach gerade mal einem Jahr Schluss. Die amerikanische Gründungsgeschichte füllte offenbar nicht so wie „Cats“, „König der Löwen“ oder „Das Phantom der Oper“ jeden Abend das privat betriebene Musical-Theater ausreichend.

Hätte eine deutsche Bühne den Mut, die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik so zu erzählen, halbwegs realistisch, niemals langweilig, überhaupt nicht belehrend? Musik und Rap als tragendes Element für bunte Bilder aus einer grauen Zeit? Der Parlamentarische Rat als divers besetztes Tanzballett? Die Debatten über die Stellung der Grundrechte, ob Bundesstaat oder Staatenbund, als Pop-Duette im Gesang? Und das alles vielleicht mit Kaspar Seibold mittendrin?

 

 

Der nicht in die USA reisen möchte, kann sich „Hamilton“ in London ansehen, täglich, an vielen Tagen sogar zweimal am Tag: https://hamiltonmusical.com/london/#/

Wer nicht verreisen möchte, kann sich auf Youtube Ausschnitte der Hamburger Produktion (auf Deutsch) ansehen (Klick führt zu Youtube).

Über die Beratungen des Parlamentarischen Rates zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland informiert sehr anschaulich eine eigene Website des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik in Bonn, auch mit weiteren Informationen über Dr. Kaspar Seibold, den jüngsten Abgeordneten des Parlamentarischen Rates.

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.