Aktuell kein Messias in Sicht

Eine politische Textarbeit über Händels Oratorium „Messiah“

Herbstregen in Deutschland. Die Tropfen platschen auf die Windschutzscheibe, breiten sich aus, bis der unermüdliche Wischer sie zur Seite schaufelt. Es dämmert ungewohnt früh. Ah, Sommerzeit vorbei, erinnert sich der Kirchgänger. Stimmt, heute Morgen länger geschlafen. Dafür muss man jetzt den Preis bezahlen: Es ist dunkel, wenn es noch hell sein sollte. Finsternis jetzt, Dunkelheit überall.

Ein Windstoß treibt einen Schwall brauner Blätter über die Straße, eines davon verfängt sich im Blech unterhalb der Scheibe, will sich dort festhalten, aber der Fahrtwind zerrt es auf das rutschige Glas, wo es der Wischer zur Seite schiebt. Kein Halt auf dem Glatt, da segelt es fort, zur Seite, irgendwohin, seinem fauligen Tod entgegen.

Wegschauen ist auch keine Lösung

„Die Lage der Zivilbevölkerung im Gazastreifen wird immer schlimmer“, nimmt sich der Nachrichtensender im Autoradio wichtig. Nichts neues also, denkt sich der Kirchgänger, nichts neues nach den Meldungen der letzten Tage. Vielleicht die Bilder gar nicht mehr ansehen? Die Bilder von den blutigen Betten, in denen Menschen ermordet wurden? Keine Kamerafahrten mehr ertragen? Keine Videos voller zerbombter Trümmer, panisch rollender Krankenwagen, blutiger Pritschen mehr zur Kenntnis nehmen?

Andererseits: Wegschauen ist auch keine Lösung.

Der Kirchgänger drückt auf den Knopf, der das Radio abstellt. Mit welchem Recht fahre ich hier herum, satt und sicher, geht ihm durch den Kopf, während er einen Parkplatz sucht. Was soll ich hier, während überall die Menschen sterben, um ihr Überleben kämpfen. In Israel. In Gaza. In der Ukraine. Und an tausend anderen Orten auf der Welt. Im strömenden Regen steigt er aus, fummelt seinen Schirm heraus. Autos zischen vorüber. Da erwischt ihn ein Schwall Wasser von hinten. Zu spät springt er zur Seite. Es gibt keine Sicherheit mehr.

Barocke Klänge füllen die Friedenskirche

Als er die Kirche betritt, die „Friedenskirche“ heißt, wartet kein Gottesdienst. In Gottesdienste geht der Kirchgänger schon lange nicht mehr. Aber in Kirchen geht er gerne, oft sucht er dort die Stille des Raumes, das Glück des Lichts, den Duft der Kerzen. Heute lockt ihn die Musik, die den Raum füllen wird. „Messiah“ heißt das Werk, das zur Aufführung kommt.

Die Friedenskirche füllt sich schnell. Dann erstirbt das Surren der geflüsterten Gespräche und das Rascheln der Jacken und Mäntel um ihn herum. Die barocken Klänge dringen auf den Kirchgänger ein, sie bohren sich in ihrer berechenbaren Gefälligkeit in seine Sinne. 275 Jahre ist es her, dass das gottesfürchtige Oratorium von Georg Friedrich Händel in Dublin erstmals erklang. Zweieinhalb Stunden wird es dauern.

Eigentlich warten Christen wie Juden gleichermaßen

Der Kirchgänger liest mit, was da gesungen wird, und vielleicht ist das ein Fehler in diesen aufgewühlten Zeiten. Wer geht schon wegen des antiquierten Textes in ein Oratorium aus der Barockzeit? Da geht es doch um die Musik, um die schönen Stimmen, um den wuchtigen Chor! Aber er kann nicht anders, er muss auf Deutsch lesen, was in Englisch zu hören ist.

Ein Messias ist wörtlich übersetzt ein „Gesalbter“, hier in einer Darstellung aus dem 3. Jahrhundert n.Chr.: Samuel salbt David; Wandmalerei in der Ruinenstadt Dura Europos, heute Syrien, nahe der irakischen Grenze. Foto: gemeinfrei aus Wikipedia

Die Geschichte, die erzählt wird, ist ein Kirchenstreit der Jahrtausende. Der Kirchgänger kramt in seinem abgespeicherten Halbwissen. Der Messias, das ist doch der, auf den die Juden noch warten? Für die Christen war er schon da, in Gestalt von Jesus Christus. Andererseits: Auch für die Christen soll er nochmal wiederkommen. Also eigentlich warten beide. Unstrittig sollten also in heutigen aufgeklärten Zeiten zwei Dinge sein: Erstens, dass die Idee ursprünglich jüdisch ist, wonach ein Messias, ein „Gesalbter“, die Menschen aus ihrem Zustand erlösen könnte. Und der Zustand ist schlecht, denn da steht es doch im Text: „Denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich, und Dunkel die Völker“.

Und zweitens, dass er auf alle Fälle kommen oder wiederkommen wird: für die Christen erneut, für die Menschen jüdischen Glaubens erstmals. Händels „Messiah“ erzählt aber fromm nur die christliche Version der umstrittenen biblischen Geschichte. Suchend blättert der Kirchgänger vor und zurück im Textheft – kein Hinweis auf die jüdische Sicht. Sicher zu viel verlangt in einer christlichen Kirche, räumt er ein.

Der Kirchgänger schreckt auf: „Halleluja!“ wird gejubelt.

Ganz verloren war der Kirchgänger in der meditativen Folge der Klänge, ganz abgeschweift in seinen Gedanken. Da ruft ihn der Chor lautstark zurück: „Halleluja!“, wird gejubelt. Anschwellend, von den Trompeten und Pauken unterstützt, ansteigend, wuchtig, füllen die Töne des geistlichen Gassenhauers die Kirche, rollen immer wieder neu über die Konzertbesucher hinweg. Halleluja! Halleluja! „Der allmächtige Gott regiert, wird regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit! Halleluja!“

Vielleicht besser nicht, werden sie denken in Tel Aviv, wo sie sich vor den Bomben der Hamas in die Keller flüchten müssen. Oder bei uns, wo Menschen jüdischen Glaubens sich nicht mehr mit Kippa auf deutsche Straße trauen. Oder in der Ukraine und in Gaza, wo Hilfe fehlt für die Kranken und Alten, für alle, die schutzlos die Folgen tragen müssen in Kriegen, die ohne ihr Zutun über sie gekommen sind.

Keine gute Zeit für ein christliches Halleluja, meint der Kirchgänger. Müde folgt er dem weiteren Verlauf des Oratoriums. Die edlen Töne tragen ihn fort, die Auferstehung der Toten wird verhießen, der Sieg des ewigen Lebens über das irdische Sterben. Dann schließlich singt der Chor vielstimmig: „Amen“. Beifall brandet auf, anfangs schüchtern, dann immer stärker. Ermattet klatscht auch der Kirchgänger. Seit Monaten haben die wackeren Sänger, das feinsinnige Orchester, der engagierte Chor das alte fromme Werk eingeübt, Note um Note, Ton um Ton. Nichts haben sie mit seinen Textzweifeln zu tun.

Noch immer herrscht Finsternis und Dunkel

Noch immer Finsternis und Dunkelheit rund um die Friedenskirche. Autos brausen vorbei, Konzertbesucher strömen auseinander in ihre verwöhnte Welt, in der Frieden herrscht und Freiheit dazu. Es hat aufgehört zu regnen. „Heute wieder antisemitische Demonstrationen in deutschen Innenstädten“, meldet das Autoradio. „Die Polizei griff ein und beschlagnahmte verbotene Flaggen und Spruchbänder, die das Existenzrecht Israels in Frage stellten.“

Der Kirchgänger schaltet das Radio ab. Kein Messias in Sicht. Und wir singen hier Halleluja? Nein, nein, denkt er sich. Das passt nicht.

 

Erlebt habe ich die Aufführung des „Messiah“ von Georg Friedrich Händel (Link führt zu weiteren Informationen auf Wikipedia) durch die Kantorei der Karlshöhe in der Friedenskirche Ludwigsburg am 29. Oktober 2023. Mehr über das Konzert, die Mitwirkenden und Bilder davon auf der Webseite der Kantorei Karlshöhe. 

Die Friedenskirche in Ludwigsburg ist auch Teil meiner Sammlung der #1000Kirchen, nämlich als #51.

 

 

Hamilton? Seibold? Ideen zu einer Parallele

Über das Politik-Musical „Hamilton“ und was man in Deutschland daraus lernen könnte

Vielleicht könnte es „Seibold“ heißen? Eignet sich der Name für Rap-Reime? Der Vorname wäre schon mal vielversprechend: Kaspar. Kaspar Seibold könnte der Held sein, um den alle herumtanzen und wirbeln, zu dessen Schicksal sie mitfiebern, mitsingen, schließlich trauern, bis der Schlussakkord sie von den Sitzen reißt.

Ja, vielleicht könnte es „Seibold“ heißen, das Musical über die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Auf keinen Fall „Adenauer“ oder „Schumacher“.

So schmissig kann Geschichte vermittelt werden: Das Musical „Hamilton“ erzählt einen Ausschnitt der Gründungsgeschichte der USA. Foto: Stage Entertainment

Jeder historische Vergleich ist falsch. Das gilt auch hier, aber um das Wagnis zu ermessen, das die Macher des US-amerikanischen Erfolgsmusicals „Hamilton“ eingegangen sind, darf man der Phantasie freien Lauf lassen. „Seibold“ also. Als Kaspar Seibold beträte ein Rapsänger, Tänzer, Schauspieler die Bühne, vom begeisterten Johlen des Publikums begrüßt, schmissig von der elektronisch verstärkten Musik untermalt, und würde erzählen, was er schon erlebt hat:

Die Geschichte von Kaspar Seibold

Kaspar Seibold aus Oberbayern war der jüngste Delegierte im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz verabschiedete. Er zählt zu den Mitunterzeichnern, obwohl er in der Schlussabstimmung gegen den Text des GG gestimmt hatte. Damit bekannte er sich zu dem demokratischen Prozess, auch wenn er inhaltlich unterlegen gewesen war. Foto: Bestand Erna Wagner-Hehmke, Stiftung Haus der Geschichte

Als er geboren wurde, war der erste Krieg des letzten Jahrhunderts gerade begonnen worden von Deutschland. Dann kamen die wilden Jahre der 20er, von denen er als Kind auf dem Land nicht viel mitbekam, dann die braunen Zeiten der Nazis. Auf dem Bauernhof seiner Eltern waren alle beschäftigt von früh bis spät, hatten keine Zeit, sich viel mit Politik zu befassen. Vermutlich bestellten bedauernswerte Zwangsarbeiter die elterlichen Felder, während sich der junge Kaspar in der Wehrmacht dem Zusammenbruch entgegenstellen musste. Als Gebirgsjäger wurde er schwer verletzt. Kaspar Seibold überlebte, und nach dem Ende de Krieges suchten auch in seiner Heimat, im oberbayerischen Lenggries, zerlumpten Flüchtlinge aus dem Osten Deutschlands und aus den zerbombten Städten kraftlos und erschöpft nach Essbarem.

Da entschied Kaspar Seibold: So konnte es nicht weitergehen. Er engagierte sich in der staatlichen Landwirtschaftsverwaltung. 1948 trat er in die neu gegründete CSU ein, und schon im Herbst des gleichen Jahres fand er sich als jüngster Abgeordneter im Parlamentarischen Rat wieder, jenem Vorab-Parlament, das nach der Katastrophe des Nazireichs ein neues, demokratisches Deutschland schaffen sollte. Und es schuf. Kaspar Seibold war einer der Gründerväter des neuen demokratischen Deutschlands.

Auch Alexander Hamilton schrieb an der Verfassung der USA mit

Alexander Hamilton lebte gut 150 Jahre früher und half mit, die USA zu gründen. Am Anfang seines Weges stand eine uneheliche Herkunft in der Karibik, aber blitzgescheit war er wohl, ehrgeizig dazu. So stieg er im Militär des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges zum wichtigsten Unterstützter für George Washington auf, der später erster amerikanischer Präsident wurde. Die britischen Kolonialherren gaben auf, und die Siedler machten sich daran, einen neuen demokratischen Staat zu schaffen. Weiße Männer waren es, die den Ton angaben, die Frauen, die Ureinwohner ihres Landes, gar die gewaltsam aus Afrika herbeigeschleppten Sklaven, durften nicht mitreden bei ihren Überlegungen.

Seibolds Einfluss war gering im Gründungsparlament der Bundesrepublik (61 Männer, vier Frauen) zwischen Konrad Adenauer, Theodor Heuss und Carlo Schmid, die allesamt den Terror der Nazi-Schergen mit mehr oder weniger tiefen Wunden überstanden hatten. Seibold war jung und politisch unerfahren, während die alten Wortführer schon in der Weimarer Republik politisch aktiv gewesen waren. So musste sich der junge bayerische Landwirtssohn mit einer Statistenrolle unter den Gründervätern des demokratischen Deutschland abfinden.

Statistenrolle für Seibold, aber Hamilton wollte hoch hinaus

Alexander Hamilton aber wollte hoch hinaus. Er wurde 1787 Mitglied im Verfassungskonvent der Vereinigten Staaten, spielte bald mit in der ersten Garde der amerikanischen Politik. Als Minister schuf er das bis heute wirksame Finanzsystem der USA, das mit einer Stärkung der Zentralgewalt in den USA einherging. Seine Gegner bekämpften ihn deshalb, weil sie lieber einen lockeren Staatenbund anstrebten.

Von seinem stürmischen Gemüt angetrieben ließ er sich in einen undurchsichtigen Ehrenhändel verstricken, ruderte im Morgennebel über den Hudson River zu einem Duell nach New Jersey (weil der schießwütige Unsinn in New York bereits verboten war). Vielleicht glaubte er, dass auch sein Widersacher Aaron Burr, immerhin der amtierende Vizepräsident der USA, nur zum Schein auf ihn anlegen würde, aber Hamilton irrte sich. Er wurde getroffen und erlag am nächsten Tag 49-jährig seinen Verletzungen.

So schlimm meinte es das Schicksal nicht mit Kaspar Seibold. Der junge Mann aus Bayern musste sich nur in einem politischen Duell schlagen und unterlag. Typisch bayrisch wollte er das neue Deutschland eher als einen lockeren Staatenbund etablieren, aber es setzte sich doch die Idee einer deutlichen Machtkonzentration auf Bundesebene durch. Seibold verweigerte deshalb in der Schlussabstimmung am 8. Mai 1949 seine Zustimmung zum Grundgesetz.

59 Männer und vier Frauen unterschrieben das Grundgesetz

Trotz seiner Ablehnung in der Abstimmung unterzeichnete er in der feierlichen Zeremonie am 23. Mai 1949 in Bonn neben den Ministerpräsidenten der Länder, den Parlamentspräsidenten der Landtage und den 59 weiteren Männern und vier Frauen aus dem Parlamentarischen Rat (nur die beiden Kommunisten verweigerten die Signatur) die Urfassung des deutschen Grundgesetzes. Der jüngste Gründervater der Bundesrepublik war zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt.

Dr. Kaspar Seibold: Das jüngste Mitglied de Parlamentarischen Ragtes unterschieb 1949 die Urfassung des deutschen Grundgesetzes, obwohl er dagegen gestimmt hatte.

Wer kennt heute noch Kaspar Seibold? Schnell findet man seinen Namen in den allwissenden Suchmaschinen. Seibold ist nicht vergessen, aber zurückgesetzt gegenüber den großen Figuren seiner Zeit. So erging es auch Alexander Hamilton. Im Central Park von New York steht er als Statue herum und die Zehn-Dollarnote zeigt sein Gesicht. Trotzdem müssen wohl auch die meisten Amerikaner den Namen erst einmal googeln, wenn sie ihn einordnen wollen zwischen die großen Helden seiner Zeit: George Washington, Thomas Jefferson, John Adams.

Politik als Bühnenshow: Ein kühner Plan, …

Es war also ein kühner Plan, diese weitgehend vergessene Figur in den Mittelpunkt eines Stücks Musiktheater zu stellen, das noch dazu ohne öffentliche Subventionen auskommen muss. In New York und London wurde „Hamilton“ zum hochdekorierten Kassenschlager. Der Cast ist zeitgeistig divers besetzt, ein subtiler Hinweis darauf, dass die Hamiltons und ihre Zeitgenossen ganz sicher ausschließlich weiß waren. Die Musik kommt schmissig-modern daher, der Rap ist auch für Silverager erträglich und nachvollziehbar, und für das Auge wird ohnehin jede Menge geboten. Eine schwungvolle Bühnenshow, in der noch dazu die tragisch endende Lebensgeschichte dieses unterschätzten Gründervaters publikumsgerecht mit einer romantischen Liebe verflochten wurde.

… aber die Handlung zeigt Politik, wie sie ist.

Aber die Handlung zeigt eben Politik, so wie sie ist. Sie erzählt von komplizierten Fragen, die sich dem mehrheitlich auf fröhlich-gefühlige Unterhaltung  eingestimmten Publikum nicht schnell erschließen. Bis vor wenigen Tagen war „Hamilton“ auf Deutsch in Hamburg zu besuchen, jetzt muss man wieder nach London oder New York reisen. Noch im September 2023 erhielt die Hamburger Produktion den Deutschen Musical-Theaterpreis. Trotzdem war nun nach gerade mal einem Jahr Schluss. Die amerikanische Gründungsgeschichte füllte offenbar nicht so wie „Cats“, „König der Löwen“ oder „Das Phantom der Oper“ jeden Abend das privat betriebene Musical-Theater ausreichend.

Hätte eine deutsche Bühne den Mut, die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik so zu erzählen, halbwegs realistisch, niemals langweilig, überhaupt nicht belehrend? Musik und Rap als tragendes Element für bunte Bilder aus einer grauen Zeit? Der Parlamentarische Rat als divers besetztes Tanzballett? Die Debatten über die Stellung der Grundrechte, ob Bundesstaat oder Staatenbund, als Pop-Duette im Gesang? Und das alles vielleicht mit Kaspar Seibold mittendrin?

 

 

Der nicht in die USA reisen möchte, kann sich „Hamilton“ in London ansehen, täglich, an vielen Tagen sogar zweimal am Tag: https://hamiltonmusical.com/london/#/

Wer nicht verreisen möchte, kann sich auf Youtube Ausschnitte der Hamburger Produktion (auf Deutsch) ansehen (Klick führt zu Youtube).

Über die Beratungen des Parlamentarischen Rates zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland informiert sehr anschaulich eine eigene Website des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik in Bonn, auch mit weiteren Informationen über Dr. Kaspar Seibold, den jüngsten Abgeordneten des Parlamentarischen Rates.

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

Die Spur des Steins von Neu-Ulm

Söders Plan und der Steinwurf auf die Grünen

Gleich fliegt der Stein: Ein Besucher der Wahlkampfveranstaltung der Grünen in Neu-Ulm holt aus. (Klick auf das Bild verbindet zu dem Video auf Youtube)

Das Video ist im Internet verfügbar. Es wurde am 17. September dieses Jahres um 19.02 Uhr in Neu-Ulm aufgenommen. Man sieht eine schüttere Menschenmenge, die vor einem Podium herumsitzt. Auf der Bühne stehen die beiden Spitzenkandidaten der Grünen für die Landtagswahl in Bayern: Katharina Schulze und Ludwig Hartmann. „Hol Dir Deine Zukunft zurück!“, steht auf der Wand, vor der sie sprechen. Was sie dazu sagen, ist unwichtig, und zwar wegen der Gegenwart. Der Mann, der den Stein wirft, hört ohnehin nicht zu. 44 Jahre ist er alt und gehört dem „Querdenker-Milieu“ an, wie später zu erfahren war. Er trägt ein weißes T-Shirt, steht auf, zögert, überlegt sich genau, was er macht. Er hat einen Stein in der Hand, holt aus und wirft ihn in Richtung des Podiums.

Es ist eine Sekunde des Entsetzens. Hartmann, der gesprochen hatte, unterbricht. Der Stein schwirrt auf Hüfthöhe zwischen den beiden Rednern hindurch. Katharina Schulze weicht reflexartig aus, dann knallt das Geschoss auf den Boden der Wahlkampfbühne. Menschen springen herbei, stellen den Steinewerfer zur Rede, in Sekundenschnelle eilt die Polizei hinzu und nimmt den Mann fest. Schulze greift sich das Mikrophon und bedankt sich bei der Polizei. „Warum zielt er?“, fragt einer von vielen anonymen Hasskommentatoren auf Youtube – „trifft doch eh immer den richtigen“.

Die Spur des Steins beginnt zwei Jahre früher

Zwei Jahre früher beginnt die Spur des Steins. CDU und CSU haben mit ihrem vom Unglück verfolgten und auch oft unglücklich agierenden Kanzlerkandidaten Armin Laschet die Bundestagswahl vom 25. September 2021 verloren. Schnell war geklärt, dass – wenn man keine weitere große Koalition haben möchte – nur entweder die SPD oder die CDU/CSU gemeinsam mit Grünen und FDP eine Regierung bilden können – „Ampel“ oder „Jamaika“. Die SPD hatte mit 25,7 % der Stimmen gegenüber der Union (23,3%) die Nase vorn. Im weit verbreiteten Irrtum, die Bundestagswahl sei so etwas wie eine heimliche direkte Kanzlerwahl, dominierte bald die öffentliche Erwartung, dass der „Sieger“ Scholz, und nicht der „Verlierer“ Laschet ins Kanzleramt einziehen sollte.

Politisch gesehen hätte es auch anders gehen können. Für „Jamaika“ gab es eine Mehrheit im Bundestag. Und es gab nicht wenige politische Beobachter, die für den inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft vor großen Herausforderungen – insbesondere der unbestreitbar notwendigen, ökologischen Wende unter dem Druck des Klimawandels – eine schwarz-grüne Zusammenarbeit eine versöhnliche Option gewesen wäre für das Land. Aber es kam anders. Scholz und die SPD wollten sich ihren Sieg nicht nehmen lassen, Grüne und FDP fürchteten vielleicht den Zorn der Bürger, wenn sie sich über die diesbezügliche Erwartung in der Bevölkerung hinwegsetzen würden.

Laschets Hoffnungen störten Söders Pläne

Zusätzlich wurden die Bemühungen Laschets, eine Zusammenarbeit der Union mit FDP und Grünen im Gespräch zu halten, absichtsvoll hintertrieben wurden. Und zwar von: Markus Söder und der CSU. Sie waren gewissermaßen ein „Stein des Anstoßes“ (Martin Luther) für Söders Pläne. Die Inhalte der vertraulichen Sondierungsgespräche zwischen Union, FPD und Grünen wurden sekundenschnell durchgestochen, das gegenseitige Vertrauen damit gezielt zerstört.

Auch öffentlich distanzierte sich Söder von Laschets Hoffnungen auf eine Regierungsbildung. Schon zwei Tage nach der Bundestagswahl wurde Söder damit zitiert, dass die Union „keinen Anspruch auf eine Regierungsbildung“ habe (zitiert nach Frankfurter Rundschau, 27.9.2021): Jamaika sei zwar eine Option, könne aber „nicht um jeden Preis erfolgen“. Es gebe für ihn Punkte, die zentrale Bedingungen seien. Dazu zähle, „keine Steuererhöhungen zu beschließen und die Schuldenbremse nicht aufzuheben“ (beides übrigens Inhalte, die später die „Ampel“ ebenfalls so vereinbart hat).

Da lag er also im politischen Feld, der Stein. Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) analysierte am 8. Oktober 2021: „Söder geht es um den eigenen Erfolg. In Bayern wird in zwei Jahren gewählt.“ Ein schwacher CDU-Kanzler Laschet und eine gerupfte Union „würde es Söder zusätzlich erschweren, sich im Landtagswahlkampf als starker Mann der bayerischen Christsozialen zu präsentieren.“ Dagegen ließe sich, so die WAZ vor zwei Jahren, gegen eine „unchristliche“ Ampel-Regierung aus SPD, Grünen und FDP einfacher Wahlkampf führen im konservativen Lager: „Gegen eine Ampel kann Söder stänkern. Im Falle einer Jamaika-Koalition von Union, Grünen und FDP wäre der CSU-Chef hingegen mitverantwortlich.“

Auf den Ministerpräsidenten kommt es an? Markus Söder wollte nicht, dass Steine fliegen gegen die Grünen. Aber er verfolgte seit zwei Jahren einen Plan, der das dafür geeignete Klima schuf. Als der Stein von Neu-Ulm flog, schob er die Schuld auf das Internet.  Foto: Josef A. Preiselbauer auf Pixabay

Söder und die CSU warfen den Stein nicht, aber hoben ihn auf

Söder und die CSU warfen keinen Stein. Aber sie hoben den Stein auf. Seither beschimpft der ruppige „Landesvater“ wie geplant die Politik der „Ampel“ allgemein, und die der Grünen besonders. Die Grünen würden ein Fleischverbot befürworten, behauptet er, es drohe eine Pflicht zur Gendersprache, sogar ein geplantes Verbot von Luftballons unterstellte er ihnen zeitweilig. „Die Grünen stehen letztendlich für diese Kultur: Nein, nein, nein. Verbot, Verbot, Verbot,“ poltert Söder in seiner Wahlkampf-Standardrede in fast jedem bayerischen Bierzelt. „Nur das einzige Mal überhaupt sind sie bei etwas nicht fürs Verbot,“ baut er Spannung auf, und es folgt dann eine polemische Unwahrheit:  „Es gibt nur eine Geschichte, wo die Grünen für eine Erlaubnis sind: Das sind Drogen.“ (so z.B. im Bierzelt Trudering am 12.5.2023).

Nun ist Zuspitzung ist ein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung, auch wenn sie an die Grenze der Wahrheit heranreicht. Und sicherlich gibt es auch gute Gründe für harte Kritik an der Berliner Regierung und den Grünen. Mit Hubert Aiwanger von den Freien Wählern liefert sich Söder einen Wahlkampf als Überbietungswettbewerb der Aggressivität gegenüber einem einzelnen politischen Gegner aus dem demokratischen Spektrum. Was hat es mit Zuspitzung zu tun, wenn in maßloser Übertreibung suggeriert wird, großstädtische Kulturrevolutionäre würden an den Gartenzäunen rütteln, um den Bayern ihre individuelle Lebensgestaltung zu rauben? Manche Gemüter sind so aufgepeitscht von diesen Reden, dass ihnen das Wählen nicht mehr reicht. Sie wollen mit anderen Mitteln ganz sicher gehen, dass es nicht zur gefürchteten grünen Unterjochung kommt.

Bald liegen Steine vor den Bierzelten

Und so liegen schon bald Steine vor den sommerheißen Bierzelten. Die Stimmung heizt sich auf den Siedepunkt. Viele CSU-Anhänger empfänden es inzwischen als „kulturelle Aneignung“, wenn Katharina Schulze im Bierzelt ein Dirndl trage, sagt Andreas Glas von der Süddeutschen Zeitung. Die von Söder und Aiwanger angestachelte Wut gegen die Grünen bricht sich unkontrolliert Bahn. Vor einem Bierzelt in Chieming werden am 1. August Eier und Tomaten als potenzielle Wurfgeschosse verkauft, als Schulze und Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir auftreten wollen. Und auch große Steine werden dabei „zur Schau gestellt, a bissl in die lustige Richtung“ (aber nicht verkauft, wie der Standbetreiber der Süddeutschen Zeitung versicherte). Die Reden der beiden Grünen gehen in einem organisierten Pfeifkonzert unter. Özdemir kann nur unter massivem Polizeischutz sprechen.

Aber noch fliegt kein Stein in Chieming. Was hier tobt, ist der Mob, den ein Ministerpräsident und sein Stellvertreter und deren Helfershelfer angestachelt haben. In Sorge um die eigene Macht hatte Söder vor zwei Jahren eine Strategie ersonnen, die politische Verantwortung missachtete: Lieber nicht in Berlin regieren, damit man in Bayern Stimmung machen kann.

Und dann fliegt der Stein. Wer blutet?

Und dann, am 17. September, fliegt der Stein von Neu-Ulm. Es ist fast genau zwei Jahre, nachdem Söder den Stein des Anstoßes aufgenommen hatte. Söder hat den Vorfall verurteilt. Besorgt äußerte er sich über eine „zunehmend destruktive Demokratie“. In der „Augsburger Allgemeinen“ sieht er als Ursache „digitale Blasen“, in denen nur noch Platz für die jeweils eigenen Standpunkte sei. Das führe zu einem immer raueren Ton und der Unfähigkeit zu Kompromissen.

Zehn Tage später droht ein Mann, der nach Erkenntnissen der Polizei eine Schreckschusswaffe besitzt, dem Schweinfurter Grünen-Landtagsabgeordneten Paul Knoblach einen „Kopfschuss“ an.

Am Sonntag wird gewählt. Bisher wurde niemand verletzt. Aber der Anstand blutet.

 

 

Inspiriert zu dem Text hat mich die mehrteilige Podcast-Serie der Süddeutschen Zeitung „Söders Endspiel“. Einzelne Informationen habe ich daraus entnommen.

Zur Flugblatt-Affäre rund um Hubert Aiwanger habe ich Neue Fragen an Hubert Aiwanger formuliert.

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier. 

 

Zerrissenes Geburtstagskind (#49)

Evangelische Stiftskirche, Stiftstraße 12, 70173 Stuttgart

Mein Besuch am 13. September 2023

Ein Sammelsurium der Baustile und Ausstattungselemente erwartet den Besuch der Stiftskirche in Stuttgart, der Hauptkirche im Zentrum der Stadt.

Es ist schwer, über diese Kirche zu schreiben, und vielleicht deshalb habe ich es lange nicht getan. Die Evangelische Stiftskirche im Zentrum Stuttgarts ist in der tief-protestantischen Stadt so etwas wie die Hauptkirche, aber man muss sie suchen; kein prächtiger Platz gruppiert sich um sie, kein dominanter Turm prägt das Stadtbild. Immerhin ist sie im Regelfall täglich von 10 bis 16 Uhr geöffnet und lädt zu einem Besuch ein, eine meditative Insel im materialistischen Umfeld schicker Markenshops.

Es ist auch schwer, über diese Kirche zu schreiben, weil sie so geschunden ist. Seit 1000 Jahren wird am Platz dieser Kirche gebetet, schreibt die lesenswerte und einladend gestaltete Webseite der Kirchengemeinde. Anfang Oktober feiert die Kirche ihr 700-jähriges Jubiläum, und bezieht sich dabei auf die Errichtung des frühgotischen Chorbaus, der im Wesentlichen bis heute an dieser Stelle steht.

Seither ist die Kirche mehrfach erweitert, zerstört, umgebaut, ausgebombt, niedergebrannt, eingestürzt – und anders als in anderen Städten hat man nicht den alten Bau immer und und immer wieder neu errichtet, oder sich zu einer vollständigen Neuerrichtung entschlossen.  Jedes Mal haben sich die Herrscher und Bürger den dann gerade aktuellen Gegebenheiten und Bedürfnissen angepasst, das Vorgefundene  ergänzt und erweitert. Jede Generation, die an dieser Kirche herumbastelte, hatte für sich gesehen, dafür sicherlich gute Gründe.

Als Besucher heute ging es mir aber so, dass dabei ein Sammelsurium herausgekommen ist, ein zerrissenes Gebäude, dessen Türme nicht zueinanderpassen und dessen Raumwirkung unter den vielen Kompromissen leidet. Beispielswiese ist schon seit Jahrhunderten der Chorraum seitlich gegenüber dem Hauptschiff verschoben, vermutlich deshalb, weil die engstehende Umgebungsbebauung nichts anderes zuließ. Zugangstore wurden verändert und verschoben, die im Krieg zerstörten Fenster in verschiedensten Stilen ersetzt. Die Harmonie der Raumwirkung leidet unter diesen Spannungen, und auch die vor 20 Jahren eingebauten Akustiksegel stellen ein weiteres, fremdartiges Element in diesem komplexen Bau dar, auch wenn sie für die Kirchenmusik ganz sicher unverzichtbar sind.

Für mich ist diese Kirche ein Sinnbild für gesellschaftliche Pragmatik: Die württembergische Seele hat hier klug, engagiert und immer auf den bewussten Einsatz der Mittel achtend eine Kirche über Jahrhunderte erhalten und immer wieder neu gestaltet. Das ist ehrenwert und auf gewisse Weise auch sympathisch, vielleicht sogar vorbildlich. Ein großer Wurf, ein kühner Plan, eine gestalterische Vision freilich, die ist dabei nicht herausgekommen.

 

Mehr über die Baugeschichte der Stiftskirche bei Wikipedia.

Die Website der Kirchengemeinde ist neu und sehr informativ und ansprechend gestaltet. Dort findet sich auch das Jubiläumsprogramm zum 700. „Geburtstag“ der Kirche vom 6. bis 8. Oktober 2023.

Weitere Kirchen aus meiner Sammlung #1000Kirchen finden  Sie hier. 

 

Die eingestürzte Welt des Händedrucks

Eine Geschwistergeschichte

Nun war es schon wieder ein warmer Sommer gewesen, und die Sonne flirrte auch heute vom wolkenlos blauen Himmel. Nur Schattenplätze stellten Schweißfreiheit in Aussicht. Und wer sich unter Menschen begab, so hatte es sich eingegraben in seinen Lebensüberzeugungen, der sollte möglichst nicht schwitzen; Umarmungen von Schweißleibern waren ihm eine besondere Herausforderung. Also stand er im dichten Schatten der Weide, deren Blätterdach sich üppig-girlandenhaft auf die stille Wasserfläche des kleinen Sees herabsenkte. Besser kühl bleiben, dachte er sich, obwohl gar kein Anlass für eine klebrige Umarmung in Sichtweite war.

„An körperlicher Nähe hatte er das Sitzen auf dem weichen Schoß seiner Mutter in Erinnerung, auch das Raufen mit seinen Brüdern, später das Händeschütteln der Erwachsenen, in das er sachte hineinwuchs.“  Foto: Lizenzfrei von HeungSoon auf Pixabay

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Daran, dass sich alle ständig umarmten, hatte er sich erst mühsam gewöhnen müssen. Aufgewachsen war er ohne Umarmungen. An körperlicher Nähe hatte er das Sitzen auf dem weichen Schoß seiner Mutter in Erinnerung, auch das Raufen mit seinen Brüdern, später das Händeschütteln der Erwachsenen, in das er sachte hineinwuchs. Wenn es sein musste, fasste man sich an, aber man umarmte sich nicht. Die feuchten Küsse seiner Tanten auf die Backe hatte er ekelverzerrt ertragen wie alle Kinder, und war dankbar gewesen, dass seine Eltern ihn nicht küssten.

Dann hatte er die Welt außerhalb seiner Familiengewohnheiten kennengelernt, und die Umarmung hatte sich in sein Leben geschlichen. Anfangs noch als besonderes Ereignis, fand er sich bald schon sinnenberauscht in den Armen seiner ersten schüchternen Frauenbekanntschaften wieder. Er sog den Duft ihrer Haare ein, spürte den sanften Druck begehrter Körperstellen, fühlte eine unerhörte, nie erlebte, ganz singulär empfundene Nähe, und verwechselte sie verwirrt mit Liebe. Enttäuscht schreckte er zurück, wenn ihm der Irrtum bewusst gemacht wurde. Eine Umarmung war neu für ihn, sie war intensiv, aber was bedeutete sie?

„Wir geben uns zur Begrüßung die Hand“, hatte ein deutscher Bundesinnenminister noch im Jahr 2017 als Teil einer deutschen „Leitkultur“ vorgeschlagen. 2017! Da hatte die Umarmung für ihn längst den geschützten Raum des Intimen verlassen. Seine festgefügte Welt des Händedrucks als Regelfall war schon viel früher eingestürzt. Sommer um Sommer hatte sich die Umarmung immer fester an seine anwachsende Lebenserfahrung geklammert. Wie eine Epidemie, so schien es ihm, griff das Umarmen um sich. Eingerissen wurde die wohlvertraute Mauer zwischen Liebe und Bekanntschaft, die in seiner erwachsenen Welt anfangs noch sauber sortiert hatte, wen es zu umarmen gilt und wen nicht. Irritiert beobachtete er, wie seine halbwüchsigen Kinder bei jedem nichtig erscheinenden Anlass ihre Freundinnen und Freunde umarmten, und seine Frau wusste sowieso nichts von seiner Mauer. Fasziniert beobachtete er, wie Männer sich gegenseitig in den Arm nahmen, undenkbar in seiner Welt, und staunte über Frauen, die sich mit Umarmungen begrüßten, die das Ziel hatten, zur Schonung von Makeup und Frisur sich möglichst wenig zu berühren. Was für ein absurdes Ritual gespielter Nähe, dachte er sich.

Sogar seine Arbeitskolleginnen -kollegen, die er doch jahrelang mit geübtem Händedruck routiniert begrüßt hatte, begannen zu seinem Erstaunen damit, sich gegenseitig zu umarmen. Eifersüchtig schielte er auf die emotionale Nähe, die manche damit auszudrücken schienen, wo doch professionell ermittelte Distanz angebracht gewesen wäre. Er fühlte sich ausgeschlossen. Neid und Misstrauen wucherten in ihm, und deshalb überwand er sich schließlich in geeigneten Momenten. Er übte das Umarmen ein, wie andere eine Sprache oder ein Musikinstrument erlernen. Rechts oder links? Mit oder ohne Küsschen? Einmal oder zweimal?

Er lernte es also, zu umarmen, aber eine körperliche Muttersprache war es ihm nicht. Für sich selbst entschied er sich schließlich für die distanziert trockene Variante als Regelfall. Entschlossen wich er Küsschen-Überfällen aus, und verweigerte den Lippeneinsatz.

(2)

War da schon der Herbst in den Blättern? Er prüfte die Farbe des satten Grüns über sich, ließ auch den Blick schweifen über den See, auf die im Wasser dahintreibende Entenfamilie, die dahinterliegenden Bäume, musterte das Laub: Alles noch lebendig und saftig grün. Der Herbst wird kommen, überlegte er, das prächtige Sterben der Blätter wird sich ereignen, wie immer, und der unerbittliche Wind wird es herunterzerren und nur kahles Geäst zurücklassen. Es wird sich Eis bilden auf dem See. Aber noch war es nicht so weit, noch war Sommer.

Er war schon tief in der zweiten Lebenshälfte, im goldenen Spätsommer des Lebens gewissermaßen, von der Arbeit befreit, aber auskömmlich wohlhabend, halbwegs gesund und voller Tatendrang. Aus Sicht seiner Kinder war er alt, aber doch der ewig jüngste von insgesamt vier Geschwistern: eine Schwester, die in diesem Jahr einen runden Geburtstag feierte, zwei Brüder.

Der kleine See war ein Urlaubsort. Ein Fest hatte seine Schwester gegeben, eine fröhliche Geburtstagssause mit launigen Ansprachen und musikalischen Einlagen, und sogar sein ältester Bruder, der seit Jahrzehnten in Südamerika lebte, deutlich über achtzig, hatte zu diesem Zweck die weite Reise in die gemeinsame Heimat auf sich genommen. Damit sich dieser Aufwand auch lohnt, hatten sich die vier Geschwister aus Anlass der seltenen Zusammenkunft zu einer gemeinsamen Woche am See verabredet.

Wer glücklich alt werden wolle, der müsse auf gelungene, menschliche Kontakte setzen. Das sei Ergebnis einer großen amerikanischen Langzeitstudie. Ein Interview dazu hatte er auf der Autofahrt an den See mit der Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates gehört. „Der eine Faktor, der alles übertrumpft, der am stabilsten ist als Prädiktor dafür, dass man mit achtzig sagt: Ich habe ein gutes Leben gelebt, ein sinnvolles Leben,“ so hatte die kluge Frau die Studie wiedergegeben, „sind gute Beziehungen zu Geschwistern.“ Natürlich sei das auch nur ein Faktor, nicht der einzige, aber eben der stärkste. Wer ein gutes Verhältnis zu seinen Geschwistern habe, der könne mit guten Chancen darauf hoffen, lang und zufrieden zu leben. Geschwister würden verlässlich dem eigenen Leben einen Rahmen geben.

Seine Geschwister waren fast immer fort gewesen, ihm uneinholbar weit voraus im Leben. Sie führten alle ihre eigenen Leben, ungezählte Kilometer und noch viel mehr Erfahrungen entfernt voneinander. Jahre war es her, dass sie sich zu viert getroffen hatten, monatelang sahen und hörten sie zweitweise nichts voneinander.

Ein großes Hallo war es gewesen, als sie beim Fest aufeinandertrafen. Schon seit einiger Zeit hatte er sich angewöhnt, seine Geschwister nicht mehr wie einst mit Handschlag, sondern mittels einer Umarmung zu begrüßen. Wenn ich schon meine Arbeitskollegen umarme, hatte er sich gedacht, dann kann ich doch bei meinen Geschwistern nicht zur ausgestreckten Hand greifen. Ungefragt nötigte er ihnen also seither Umarmungen auf, auch wenn er regelmäßig das Gefühl hatte, dass sie ihm als linkisch-peinliche Momente herbeigezwungener Körpernähe misslangen. Ganz besonders empfand er es so, als er dem fernen Ältesten, dem es abstandsbedingt an Routine im neuen Begrüßungsritual fehlen musste, der auch gerade erst übernächtigt aus dem Flugzeug gestiegen war, die brüderliche Umarmung aufzwang. Und doch: Alles andere wäre ihm noch unpassender erschienen.

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„Da bist Du ja“, rief er jetzt aus seinem Weidenversteck heraus genau diesem ältesten Bruder entgegen. Er hatte ihn auf dem Rundweg um den See entdeckt. Vorsichtig schritt der alte Mann behutsam auf dem Kiesweg dahin, in seiner typischen Haltung: Die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Blick fest auf den Weg geheftet. Hatte er den Zuruf überhaupt gehört?

Es war eine vorhersehbare Zufallsbegegnung. Er hatte die Absicht gehabt, den See allein zu umrunden. Das war sein täglicher Spaziergang hier in der Spätsommerfrische, seine persönliche Rückzugszeit vom Familien-Intensivprogramm. Die letzte Woche war vor allem damit vergangen, dass sich die Geschwister tagelang Geschichten aus ihrer Kindheit erzählt hatten, ihre Erinnerungen abgeglichen hatten, endlos, immer wieder und wieder sich ihrer selbst versichernd. Alte Fotos hatten sie durchsucht, alte Geschichten aufgewärmt, gelacht über Dinge, über die nur sie lachen konnten. Es war ihm eine warme Lust gewesen, sich in diesem Gefühl wohliger Gemeinsamkeit zu suhlen, aber es war auch ein sumpfiger Morast, und die Pampe ihrer verklärten Erinnerungen klumpte an ihnen fest wie das aufgeweichte Erdreich eines regengeplagten Festivalgeländes.

Heute, im flirrenden Licht der hochstehenden Spätsommersonne, hatte er den Weg noch bewusster als sonst abschreiten wollen, meditativ, still, ganz für sich allein. Der gemeinsame Urlaub der Geschwister war vorbei. Würde es noch einmal für alle ein Wiedersehen geben?

„Ah, wie geht´s?“, hörte er den Gruß seines Bruders, der seinen Blick nur wenige Sekunden vom Weg nach oben gehoben und ihn erkannt hatte, nachdem er aus seinem Weidenversteck herausgetreten war. Er reagierte mit belanglosem Gemurmel – „gut, gut, alles Ordnung“ -, begrüßte den Bruder mit einer sanften Berührung der gebeugten Schulter, ganz bewusst die Umarmung vermeidend, aber auch den anachronistischen Handschlag.

Dann passte er sich dem behutsamen Schritt des Älteren an. „Sag mal“, hob der Bruder unvermittelt zu einer Frage an, „erinnerst du Dich, dass wir mit unseren Eltern auch immer am Sonntag spazieren gegangen sind?“

Wie Schluckauf stieg Überdruss an „Erinnerst Du Dich noch“-Gesprächen in ihm auf, zu viele davon hatte er in den letzten Tagen geführt, zu jung fühlte er sich trotz seines fortgeschrittenen Alters für die Fokussierung auf das Erinnern an Vergangenes. Dann aber antwortete er artig zustimmend. Dabei stellte er entsetzt fest, dass er die gleiche Laufhaltung wie sein Bruder angenommen hatte: Blick auf den Weg, die Hände nach hinten, verschränkt auf dem Rücken. Es war die Gehhaltung ihres gemeinsamen Vaters gewesen. Erschrocken löste er die Hände hinter sich voneinander, ließ sie zunächst unentschlossen neben seinen Hüften schlackern, fühlte sich damit aber unwohl und räumte sie schließlich in seine Hosentaschen auf.

„Ich erinnere mich vor allem,“ hörte er jetzt seinen Bruder, „wie langweilig es war, wenn die Eltern dann Bekannte getroffen haben. Ewig haben die sich dann unterhalten über uninteressantes Zeug, und ich musste mir die Beine in den Bauch stehen.“

Nickend stimmte er dem Älteren zu, etwas unkonzentriert, ihm erschien diese Erinnerung belanglos, und seine Gedanken eilten ihm voraus zur kurz bevorstehenden Abschiedsszene. Wie würde die wohl verlaufen, überlegte er.

„Weißt Du eigentlich noch, wie man sich damals begrüßt und verabschiedet hat?“, fragte er.

Schritt für Schritt setzen sie ihren Gang fort, und er hatte schon den Eindruck, der ältere Bruder habe die Frage nicht gehört oder nicht verstanden. Aber dann, während er feststellte, dass seine ungehorsamen Hände sich schon wieder auf seinen Rücken geflüchtet hatten, hörte er ihn doch:

„Na, ganz normal. Mit Handschlag. Immer mit Handschlag. Und unser Vater ging ja nie ohne Hut aus dem Haus. Ich glaube, der hat ihn dann immer gelüftet, so wie sich das damals gehörte.“ Ein Lächeln huschte über das blasse Gesicht des Älteren.

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„Er hatte es gelernt, zu umarmen, aber eine Muttersprache war es ihm nicht geworden.“ Foto: Lizenzfrei von erge auf Pixabay

Der Abschied stand an. Eine ganze Woche waren sie zusammen gewesen. Wann hatte es das zuletzt gegeben? Vielleicht als Kinder, in den letzten gemeinsamen Urlauben mit den Eltern.  Ewig her, sicher mehr als fünfzig Jahre, überschlug er. Nun standen die Autos bereits gepackt vor der Tür des Urlaubsquartiers, die Angeheirateten warteten ungeduldig auf den Aufbruch. Nervös zögerte er den Moment noch heraus, prüfte, ob die Sonnenbrille im Auto bereitlag, stellte die Wasserflasche griffbereit in die dafür vorgesehene Ausbuchung. Hinter ihm hatte bereits seine Frau mit der Verabschiedung begonnen, keine weitere Verzögerung mehr duldend, den Schwager herzhaft umarmend, so wie es ihre Art war.

Dann war er an der Reihe. Noch einmal blickte er in das von einem schütteren grauen Bart umstandene Gesicht des ältesten Bruders, in die vertrauten Augen, in sein faltenumspieltes Lächeln. Eine warme Welle schwappte über ihn hinweg, überspülte ihn mit der Empfindung für das Unwiederbringliche, vielleicht sogar Unwiederholbare dieses Augenblicks. Dann breitete er seine Arme aus. Da bemerkte er, dass der Bruder ihm seine rechte Hand entgegenstreckte. Bereit zum Handschlag.

 

 

Der Vorschlag von Lothar de Maiziere, damals Bundesinnenminister, aus dem Jahr 2017 zu den Merkmalen einer deutschen „Leitkultur“ – „Wir geben uns die Hand“ – finden Sie hier.

Die von Alena Buyx, der Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates, zitierte Studie ist die Grant-/Glueck-Studie der Universität Harvard. Über die Ergebnisse kann man sich u.a. in diesem Video, einem übersetzten Vortragsmitschnitt, informieren.   (Klick leitet weiter auf Youtube) 

Das Gespräch mit Alena Buyx aus der ZEIT-Podcast-Reihe „alles gesagt?“ dauert mehr als fünf Stunden. Wer sich nicht alles anhören möchte (was aber durchaus lohnend ist), findet die von mir zitierte Stelle genau 30 Minuten vor Schluss: https://www.zeit.de/gesellschaft/2023-08/alena-buyx-ethikrat-interviewpodcast-alles-gesagt

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

 

 

Neue Fragen an Hubert Aiwanger

Vom „Scheiß in der Jugend“ und was seither geschah – Ein Brief

Hallo Herr Aiwanger,

ich hätte da noch ein paar Fragen! Sie brauchen zwar meine Stimme nicht, ich darf in Bayern nicht wählen. Sie brauchen auch mein Verständnis nicht.

Aber Sie reden ja auch von mir. „Jawohl, auch ich hab´ in meiner Jugend Scheiß gemacht“, haben sie bekenntnismutig gerufen vor ein paar Tagen beim Karpfhamer Volksfest in Niederbayern. „Auch ich“ haben Sie gesagt, und damit haben sich in eine Reihe gestellt mit uns allen, mit Menschen wie auch mich.

Meine Jugend liegt noch fünfzehn Jahre weiter zurück als die Ihre, aber einen Scheiß habe ich da auch schon gemacht. Möglicherweise kann ich mich besser als Sie daran erinnern. Mancher Scheiß war einmalig und lehrreich: Nie wieder wollte ich so ein ertapptes Häufchen Elend sein wie damals, als ich meinen Eltern gestehen musste, dass ich das Geld für den Ausflugsbus der Schülermitverwaltung zwar eingesammelt, aber dann für meine ersten Kneipenbesuche ausgegeben hatte. Und die stümperhaft gefälschte Unterschrift meines Vaters unter die Fünf in der Latein-Schulaufgabe büßte ich mit einer saftigen Ohrfeige, die ich nie vergessen werde, vor allem deshalb, weil mein Vater so gelitten hat an seiner vermeintlichen Pflicht zur Züchtigung.

Erinnern kann ich mich auch ganz genau …

…. an dumme Sprüche darüber, dass nicht alles falsch gewesen sei beim Hitler. Manchmal redeten meine Eltern so daher. Dazu kam, dass wir im Geschichtsunterricht gar nicht bis zum mörderischen „Dritten Reich“ gekommen sind. Immer war das Schuljahr zu Ende, und wir steckten immer noch im langweiligen Mittelalter fest. Auch an unappetitliche Witze über das Schicksal von Juden erinnere ich mich, die wir uns in dem Alter erzählt haben, in dem bei Ihnen ein Flugblatt im Schulranzen gefunden wurde.

Bei mir war es so: Ich habe mitgelacht, auch dümmlich weitererzählt, ahnungslos, denn ich kannte keine Juden. Es waren keine mehr da in unserer kleinen bayerischen Stadt, oder wenn doch, dann gaben sie sich nicht zu erkennen.

Jawohl, auch ich habe in meiner Jugend Scheiß gemacht.

Nun sind Sie in Bayern in einem hohen Staatsamt, und der Scheiß aus Ihrer Jugend wird Ihnen vorgehalten. Sie sind der Meinung, dass das unfair ist, weil es so lange zurückliegt, und halt ein Scheiß aus Ihrer Jugend sei. Damit ich beurteilen kann, ob das wirklich so ist, müsste ich schon ein wenig mehr wissen.

Deshalb kommen hier ein paar Fragen, …

… für die ich mich an meinen eigenen Erinnerungen orientiere, die ich aus den letzten fünfzig Jahren habe:

Waren Sie denn seit Ihrer Strafarbeit von 1987 und – wohlgemerkt! – vor der aktuellen Diskussion um Ihren „Scheiß in der Jugend“, also irgendwann einmal in den letzten 36 Jahren,  zu Besuch in Dachau oder Buchenwald? Oder gar in Auschwitz? Treblinka? In Dachau war ich zweimal, und jedes Mal hat mich das dort gezeigte Grauen so tief erschüttert, dass ich schließlich zu feige war, mir das Unbeschreibliche in Buchenwald noch einmal anzusehen. Und das, obwohl ich mehrere Jahre ganz in der Nähe von Weimar gelebt und gearbeitet habe. Es ist diese eigene Feigheit, die mich beschämt, und die ich noch überwinden will. Vor einem Besuch in Auschwitz fürchte ich mich noch mehr. Und auch vor der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Kennen Sie diese Furcht? Diese beiden Orte der Erinnerung habe ich noch nicht besucht. Waren Sie schon dort?

Herr Aiwanger, waren Sie in den letzten 36 Jahren schon einmal in der KZ-Gedenkstätte Dachau … (Foto: KZ-Gedenkstätte)

Sind Sie an einem dieser Orte auch stumm geworden …

… angesichts der Leichenberge, der Kisten mit herausgebrochenem Zahngold, der herausgeschmuggelten Fotos nackter Todgeweihter auf dem Weg in die Gaskammern?

Haben Sie es gespürt, das unermessliche, tödliche Grauen, das die sogenannten rechtschaffenen deutschen Bürger dort und an Millionen anderen Stellen angerichtet haben, viele aus fester innerer Überzeugung, vielleicht sogar als schweigende große Mehrheit?

Haben Sie den Film „Schindlers Liste“ gesehen?

Haben Sie sich auch, so wie ich, gequält herumgewälzt im Kinosessel, um der gewissenlosen, brutalen Unerbittlichkeit der Nazi-Schergen nicht weiter zusehen zu müssen?

Haben Sie „Mein Leben“ von Marcel Reich-Ranicki gelesen? Haben Sie mit ihm und mir gebangt und gelitten, als er von seiner Flucht erzählte, vom unfassbaren Glück, das ihn und seine Frau Tosia beschützte, als er seine letzte und einzige Chance nutzte, den sicher todbringenden Verfolgern im  Warschauer Ghetto doch noch zu entkommen?

Haben Sie einmal das Haus der Wannseekonferenz in Berlin besucht?

Haben Sie die eiskalte Sprache des gebeugten Rechtes gelesen, die zynischen Berechnungen nachvollzogen? Oder den Film gesehen, der die Konferenz der Nazimörder vom 20. Januar 1942 in Echtzeit nachstellt? Haben Sie die geschäftsmäßige Normalität dieses Behördentermins nacherlebt, die bleiern-bürokratische Atmosphäre einer lästigen Besprechung wahrgenommen, das dröge Vorbringen von Einzelinteressen ertragen, die niederträchtige Routine eines Verwaltungsalltags mit-durchlitten, in dem es um den Tod von Millionen ging?

… oder im Haus der Wannseekonferenz in Berlin?

Sind Sie schon einmal ganz allein, nur für sich, …

…. durch das Stelenfeld in Berlin gewandert? Haben Sie sich verirrt in diesem steinernen Labyrinth der Sprachlosigkeit, konnten Sie einen Moment innehalten, nachdenken, was es bedeutet, sechs Millionen Menschen auf dem deutschen, historischen, wenn auch nicht eigenen, Gewissen zu haben?

Haben Sie schon einmal innegehalten, ganz allein für sich, inmitten des Stelenfeldes am Brandenburger Tor? Oder …

Waren Sie schon einmal im NS-Dokumentationszentrum in München, um zu verstehen, dass das Grauen überall war, an jeder Straßenecke? Ich bin von Stuttgart dorthin gefahren – für Sie sind es von Ihren Ministerium aus nur wenige Schritte.

Waren Sie schon einmal in einem jüdischen Museum?

Mir wurde erst beim Besuch des Jüdischen Museums in Berlin so wirklich bewusst, dass unsere Großväter und Väter mit dem systematischen Töten der Menschen auch eine große Kultur zu zerstören versucht haben. Wann haben Sie das verstanden und auch so empfunden?

… kennen Sie den jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee?

Und waren Sie schon einmal auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee? Sind Sie schon einmal dort zwischen den mehr als 100.000 Gräbern herumgewandert, haben die vergessenen Namen gelesen, vor den verfallenden Familiengräbern verharrt, auf deren stolzem Marmor noch viel Platz gewesen wäre, aber nach 1933 niemand mehr bestattet wurde?

 

Alles das, Herr Aiwanger, liegt hinter mir.

Nichts davon ist ungewöhnlich. Millionen Menschen, die nach 1945 in Deutschland geboren wurden, mussten lernen, dass mancher Scheiß in der Jugend nicht nur irgendein dummer Unsinn war, nicht nur ein Bier zu viel am prallvollen Schanktresen des Lebens. Sondern eine Schuld, die man sich aufgeladen hat.

Nun sagen Sie in Ihren Antworten an Ihren Ministerpräsidenten, man solle Ihnen nach dem Scheiß in der Jugend doch einen „Entwicklungs- und Reifeprozess zugestehen“. Mache ich gerne, Herr Aiwanger, aber dafür bräuchte ich Ihre Antworten. Ich warte!

 

Der Film „Die Wannseekonferenz“ ist noch bis 17. Januar 2024 in der ZDF-Mediathek verfügbar.

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Hockneys bunter Blick durch die Glaswand

Über zwei Bilder zum Entlanglaufen, und was sie uns sagen

Eine Frau findet sich plötzlich allein auf der Welt wieder. Was als Wochenendausflug in eine idyllisch im Wald gelegene Berghütte begonnen hatte, endet jäh in einem Alptraum. Für einen schnellen Einkauf in den nächsten Ort entschwinden die Freunde und kehren nicht zurück. Bei dem Versuch, sie zu finden, stößt die Frau gegen eine glasklare, unsichtbare, aber auch unüberwindbare und unzerstörbare Wand. Durch die blickt sie nun auf die Rest-Welt außerhalb ihres Gefängnisses. Was sie sieht, ist prächtige Natur, blühende Wiesen, ländliche Idylle am sprudelnden Bachlauf unter strahlend blauem Himmel. Aber nichts lebt dort: kein Schmetterling, kein Vogel, kein Mensch. Irgendetwas Katastrophales muss dort geschehen sein, denn alles ist tot, übrig ist eine schöne Welt der Flora ohne jedes sonstige Leben.

Über 90 Meter erstreckt sich raumumgreifend das Panorama-Werk „A Year in Normandie“ von David Hockney, zur Zeit zu sehen im Museum Würth 2 in Künzelsau. Foto: Würth/Ufuk Arslan © David Hockney

 

Die Szene stammt aus der großartigen Verfilmung des Romans „Die Wand“ von Marlen Haushofer. Es ist der Blick auf unsere Welt, den die Kunst eröffnet. Es ist ein Blick wie durch ein Fenster oder eben durch die unüberwindliche Glaswand. Wer davor steht, hinausblickt, kann sich fragen, wie die Welt ist oder sein sollte.

Fast 1000 Jahre liegen zwischen den Werken und ihren Welten

Fast 1000 Jahre liegen zwischen den beiden Kunstwerken, um die es hier gehen soll. Es sind beides monumentale Werke, die zu einem Blick auf die jeweils aktuelle Wirklichkeit einladen und doch ihre Betrachter genau dorthin zurückwerfen, wo sie stehen: Wie soll es weitergehen?

Auf den ersten Blick haben die beiden Werke vor allem eines gemeinsam: ihre enorme Länge. Das ist ein ungewöhnliches Merkmal für Kunst. Für das ältere der beiden wurde sogar ein eigenes Museum in der französischen Stadt Bayeux gebaut, durch das sich nun die Touristen enggedrängt an einer langgestreckten, hinter einer Glaswand gesicherten Sehenswürdigkeit entlangschieben. Der Besuch in dem abgedunkelten Raum, in dem der „Teppich von Bayeux“ gezeigt wird, bleibt unvergesslich, obwohl ein gelassenes Studieren der zahlreichen Bilder mithilfe eines übereifrigen Audioguides sabotiert wird. Der ungeduldige Apparat erläutert die kriegerische Bildfolge in einem Tempo, das dazu zwingt, zügig Platz zu machen für die nachdrängenden Gleichgesinnten. Um die 50 Zentimeter hoch und fast 70 Meter lang ist diese textile Einmaligkeit, ein mittelalterlicher Wandbehang. In ungezählten Stichen haben fleißige Hände darauf 623 Männer (und nur 3 Frauen), 202 Pferde und Maultiere, 50 Hunde und weitere Tiere, 41 Schiffe und 37 Festungsbauten verewigt. Das Wort passt, wenn man es als ein Antippen an der Ewigkeit akzeptiert, eine zusammengenähte Stoffbahn fast eintausend Jahre zu erhalten.

Wie in einem Film wandelt der Betrachter vorbei

Der britische Künstler, insbesondere Landschaftsmaler, David Hockney hat sich von diesem in der Normandie ausgestellten Werk inspirieren lassen, selbst ein Panorama zu schaffen, das zum Wandeln entlang der Wand einlädt. In seiner Länge und Höhe übertrifft Hockney sein Vorbild von Bayeux sogar: 90 Meter lang ist es, und einen Meter hoch, und es trägt die Bezeichnung „iPad-Gemälde“, was noch zu erläutern ist. Das Werk heißt „A Year in Normandie“ und ist derzeit noch bis 3. September 2023 im Museum Würth 2 (bei stets freiem Eintritt!) in der schwäbischen Provinzstadt Künzelsau zu besichtigen. Dort kann man sich Zeit lassen, gedrängelt wird nicht.

Wie in einem Film schreitet man bei beiden Kunstwerken einen Ablauf entlang. Bei Hockney ist es der Jahresverlauf rund um sein ländliches Anwesen in der Normandie. Schritt für Schritt ist der Wechsel der Jahreszeiten zu erleben, beginnend mit kahlen Baumgerippen vor kaltblauem Himmel, vorbei an sprießender Blütenpracht und saftigem Grün. Schließlich fallen im lautlosen Rausch die bunten Blätter, und der Gang endet in einer Schneelandschaft. Kein einziger Mensch, kein einziges Tier ist zu entdecken auf den langen Metern seiner Bild-Dokumentation. Die Pflanzen leben und funktionieren – der Rest ist tot. Hockneys Welt gleicht dem Blick aus der Glaswand im Film.

Menschen, Schlachten, Schiffe – Der Teppich von Bayeux ist ein Mittelalter-Comic über Macht und Krieg.

Unendliche Mühsal steckt im einen Werk …

Dagegen wimmelt es von Menschen und Tieren auf dem gestickten Teppich von Bayeux, der um das Jahr 1070 entstanden ist. Vier Jahre vorher gelang es den normannischen Herrschern in der Schlacht von Hastings, einen Teil Englands zu erobern. Mit diesem Sieg begann die Integration Englands in die politischen und kulturellen Geschehnisse des Kontinents, an der auch ein Brexit nichts ändern wird. Vom Weg zu diesem Sieg erzählt der spektakuläre Mittelalter-Comic. Erbfolgestreitigkeiten spielen eine Rolle, und auch die Machtverteilung zwischen Kirche und Adel. Erzählt wird von den Vorbereitungen und Gesprächen um die Thronfolge und das Schlachtengeschehen. Geschildert werden die Lebensumstände der Zeit, die Ernährung der Soldaten, der Bau der Schiffe, sogar der vorbeiziehende Komet Halley ist eingestickt. Hunderte, vielleicht Tausende kunstfertige Menschen waren mit der Herstellung des Textils beschäftigt, ungezählte Stiche in die Fingerkuppen mussten verheilen, ehe das Werk fertig war, das von einem Sieg erzählen sollte.

… und digitale Kreativität im anderen

Hockneys Panorama (Ausschnitt aus „A Year in Normandie“) ist eine menschenleere Idylle …

David Hockney schuf sein langgestrecktes Werk fast ganz allein mit einem Tablet. Der heute 86-jährige eignete sich die Technik des digitalen Zeichenprogramms an und malte die Landschaft vor ihm in zahlreichen elektronisch erstellten Bildern, die er dann zum Jahreszeiten-Panorama zusammenfügte. Entstanden ist ein knallig bunter Kontrapunkt, ein Triumpf der unberührten Natur über eine von Machtkämpfen und Kriegen zerfressene Welt der Menschen. Zu sehen, nein, zu erleben, sind Szenen in saftiger Natur, die Pracht der Bäume, ländliche Idyllen, knuffige Landhäuser mit Fachwerk. Man kann Hockneys gefällig bunte Pracht als Traum einer heilen Welt deuten, und viele im Würth-Museum gönnen sich genau diese Illusion. Die Motive aus dem Panorama eignen sich bestens zur kommerziellen Vermarkung, und so quillt der Museumsshop in Künzelsau über von Postkarten, Kühlschrankmagneten und anderem Merchandising. Als Vorwurf eignet sich das allerdings nicht, denn auch in Bayeux sind die Motive der als Weltdokumentenerbe geadelten Riesenstickerei in jeder beliebigen Form erwerbbar.

Nicht nur die Länge verbindet beide Werke

… in der es nicht einmal Tiere gibt. Nur die Pflanzen funktionieren. (Ausschnitt aus „A Year in Normandie“)

Es ist nicht nur die Länge, die beide Kunstwerke gemeinsam haben. Verloschen sind die Dynastien, die einst untereinander über England stritten. Vergessen sind die Menschen, die ihre Kämpfe ausfechten mussten und deren Abbild hier mühsam gestickt wurde, tot die Pferde ihrer Schlachten, verrostet die Schilde, vermodert die stolzen Schiffe. Alles vorbei. Und Hockneys Blick durch die Glaswand sagt uns voraus: Wenig von dem, was uns wichtig ist, wird bleiben, wenn wir so weitermachen.

 

 

Mehr über die Ausstellung „A Year in Normandie“ im Museum Würth 2 in Künzelsau finden Sie hier. Die Ausstellung wurde verlängert und ist noch bis 3. September 2023 bei freiem Eintritt zu sehen.

Ein Einblick in die Art, wie David Hockney Bilder mit dem iPad malt, ist hier zu finden: (Klick bedeutet Einwilligung zu Youtube)

Der Wandteppich von Bayeux ist zu besuchen im Museum in Bayeux. Mehr Informationen dazu auch auf Wikipedia.

Mehr Informationen über den Film „Die Wand“ nach dem Roman von Marlen Haushofer u.a. hier: https://www.filmstarts.de/kritiken/190949.html

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Die Fünfe gerade kleben lassen?

Über Gelassenheit und den Sand im Getriebe

So eine Spielstraße hat ein wechselvolles Leben. Vor vielen Jahren waren alle Häuser neu und die Straße war voller Kinder, tobend, tanzend, seilhüpfend beherrschten sie den damals noch frisch getrockneten Asphalt. Wenn ein Paket gebracht wurde, war das ein seltenes Ereignis, und es kam in einem gelben Postauto, das vorsichtig zwischen den spielenden Kindern hindurch schlich. Ist ja eine Spielstraße.

Kein Rechtsbruch: Diese fünf Finger kleben nicht auf dem Asphalt, und sie sind gerade – ein Signal für friedliches Miteinander.
Ein Rechtsbruch: Es ist verboten, Zigarettenkippen auf die Straße zu werfen. Trotzdem geschieht es täglich. Ein Fall für „Fünfe gerade sein lassen“?

Dann wuchsen die Kinder wie auch die Büsche und Bäume. Bald waren sie groß genug, um den Jugendlichen, die hier mal als Kinder herumsprangen, Schatten zu spenden für ihre Treffen, für die ersten heimlichen Zigaretten, den billigen Fusel und die Chipstüten aus dem Supermarkt. Dann zerstreuten sich die Jugendlichen in alle Welt und niemand spielte mehr auf der Spielstraße. Die Autos eroberten sie sich zurück, darunter auch die verschiedenen bunten, nicht mehr nur gelben Transporter.

Inzwischen sind neue Familien eingezogen und warten auf ihre vielen Pakete. Hurtig brettern die getriebenen Fahrer durch die Spielstraße. Nun sind da aber auch wieder Kinder, die Fangen spielen oder Fußball und Seiltanzen. Hier nur Schrittgeschwindigkeit!, mahnen besorgte Eltern. Da staunt der Lieferant: Ach, sagt er, wissen Sie, wie viele Pakete ich noch zu liefern habe? Man muss auch mal fünfe gerade sein lassen. Ist ja noch nichts passiert.

Ist ja noch nichts passiert

An der Ecke, neben seiner Stammkneipe, steht der rauchende Rentner, der da immer steht. Früher, sagt er, früher hab´ ich da nicht so drauf geachtet. Wenn die Zigarette zu Ende war, dann hab´ ich die Kippen einfach auf den Boden geworfen. Kennt jeder: Kippen auf der Straße. Oder vor einem fährt ein Auto, und aus dem Fenster fliegt der noch glühende Zigarettenstummel.

Streng genommen wär´s verboten

Streng genommen, ergibt die Internet-Recherche, ist das eigentlich verboten. Rücksichtslos und gefährlich ist es auch, Kippen sind umweltschädlich, giftig, gefährden die Gesundheit vor allem von Kindern, und können Brände auslösen. Trotzdem liegen Milliarden Zigarettenstummel auf unseren Straßen und Wegen.

Früher hab´ ich gedacht, sagt der rauchende Rentner, was kümmert mich das? Muss man mal fünfe gerade sein lassen. Aber jetzt, sagt er, mach ich das nicht mehr. Er zieht eine kleine Metallschachtel aus der Hosentasche.

Bringt Gelassenheit Deutschland nach vorne?

So ein Döschen hat Bundeskanzler Olaf Scholz sinnbildlich den Deutschen verordnet, als er im Rahmen seiner Sommerpressekonferenz vor wenigen Tagen mehr Gelassenheit empfohlen hat. Es brauche mehr Kompromisse, in der Politik und auch in unserem gesellschaftlichen Diskurs. „Kompromisse finden und Fünfe gerade sein lassen, das bringt Deutschland nach vorne.“

Der Redewendung von den geraden Fünfen ist nicht etwa ein Plädoyer für weniger Genauigkeit in der Mathematik, sondern stammt aus dem Mittelalter und bedeutete: Wer „die Fünfe gerade sein lässt“, der ballt die fünf Finger seiner Hand nicht zur Faust. Dies konnte als Friedenssignal gedeutet werden, denn wenn es anders war, drohte Gewalt.

Also kein Faustschlag in das Gesicht der Raucher, die ihre Kippen einfach fallen lassen, keine Handgreiflichkeiten gegen den eiligen Paketboten. Der Kompromiss lautet: Dein Verhalten ist ist grenzwertig, aber ich toleriere es, es ist keiner Gewalt würdig.

Der Sand im Getriebe fordert Gelassenheit

Solche Gelassenheit könnte auch das Motto sein im Umgang mit denjenigen, die ihre Fünfe auf den Asphalt kleben, um auf einen unbestreitbaren Missstand hinzuweisen. Immerhin ist diese Aktionsform ein Musterbeispiel für gewaltfreien Widerstand im Sinne der Redewendung: Wenn die Finger mal kleben, dann wird es ganz sicher erstmal nichts mit einer Faust.

Der Kanzler hat die Klimakleber bei anderem Anlass einmal als „bekloppt“ bezeichnet. Das darf man so sehen, wenn man möchte, aber sein Motto von der Gelassenheit und dem „Fünfe gerade sein lassen“ passt doch gut auch auf viele Situation, die von den festgeklebten Blockaden verursacht werden. Schon blöd, dass viele dann nicht weiterfahren können, manche Pakete die Spielstraße nicht pünktlich erreichen, der Tagesplan durcheinandergerät. Auch die Straßenreinigung bleibt stecken, die sich um die Kippen kümmert. Es ist der Sand im Getriebe des Alltags, der Gelassenheit erfordert. Der Ärger darüber ist gut zu verstehen, so wie Ärger über einen Bahnstreik, oder den Selbstmörder, der den Zug aufhält, oder die Kita-Schließung wegen Personalausfällen.

Nein, nein, wird da nun schnell jemand rufen, das ist ja ganz etwas anderes! Der Streik ist legitim, und der Krankenstand der Erzieher auch, aber den Verkehr behindern, das ist doch ein Rechtsbruch! Das ist kein Fall für Gelassenheit, sondern für die ganze Unerbittlichkeit des Rechtsstaates!

Mag sein, nur gilt das auch für die weggeworfenen Zigarettenkippen und das flinke Tempo in der Spielstraße. Die Faust zu ballen, wird in allen diesen Situationen wenig helfen.

 

Über die Entstehung der Redewendung „Die Fünfe gerade sein lassen“ kann man z.B. hier mehr erfahren: https://www.abendblatt.de/region/stormarn/article205497179/Warum-kann-man-fuenf-gerade-sein-lassen.html

Die Sommerpressekonferenz von Bundeskanzler Olaf Scholz gibt’s nachzuerleben bei Phoenix via YouTube:  https://www.youtube.com/live/ft4HZittxKk?feature=share

 

 

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Deutschland. Aber zum Abgewöhnen.

Fünf Szenen aus einem Sommer der politischen Unkultur

Die erste: Ein Kind im Bundestag

Das könnte Deutschland sein, aber normal: Eine erwachsene Frau, gut vierzig Jahre alt, engagiert im Beruf und in der Familie, ein Kind, freut sich auf den bevorstehenden Sommerurlaub. Zum letzten Arbeitstag hat sie ihr Kind, das gerade so laufen kann, mit an den Arbeitsplatz gebracht, warum auch immer. Niemand hat ein Problem damit.

Ein Kleinkind läuft durch die Lobby des Bundestages. Die Mutter muss zur Abstimmung, kurz vor dem Sommerurlaub. So normal ist Deutschland. Aber der Mob regt sich auf. Foto: Katharina Beck via Twitter

Weil sie Bundestagsabgeordnete ist, läuft der letzte Arbeitstag vor dem Sommerurlaub anders als geplant. Auch das ist normal, könnte in jeder anderen Arbeit auch so sein. Die AfD, die in ihrem Claim „Deutschland, aber normal“ verspricht, hat an diesem späten Freitagnachmittag eine sogenannte „Hammelsprung“-Abstimmung erzwungen. Die Rechtspopulisten wollen feststellen lassen, ob das Parlament in den letzten Stunden der parlamentarischen Arbeit vor der Sommerpause noch beschlussfähig ist. Ein wichtiges Gesetz wird damit aufgehalten, kann erst im September verabschiedet werden. Aber darum geht es der AfD nicht. Sie will die demokratische Mehrheit vorführen: Die AfD-Abgeordneten vermuten, dass viele ihrer Parlamentskolleg/innen aus den anderen Parteien bereits in den Sommerurlaub gestartet sind. Damit die Abstimmung auch das von der AfD erhoffte Ergebnis erbringt (zu wenige anwesend, also keine Beschlussfähigkeit), nehmen viele AfD-Abgeordnete selbst nicht an dem von ihr beantragten „Hammelsprung“ (also dem Zählen an unterschiedlichen Eingangstüren) teil, obwohl sie eigentlich anwesend wären.

Die Abgeordnete mit dem Kind ist im Gegensatz dazu anwesend und nimmt teil. Zur Abstimmung nimmt sie ihr kleines Kind mit. Und sie veröffentlicht dazu ein Foto auf Twitter. Zu sehen ist ein Kleinkind, das durch die Lobby des Reichstagsgebäudes wackelt. Die Abgeordnete schreibt dazu: „Zu einem Hammelsprung am späten Nachmittag gehört für manche auch, die Pläne mit den Kleinen anzupassen.“

Wenige Minuten nach Veröffentlichung des Bildes bricht ein Shitstorm über die Abgeordnete und Mutter Katharina Beck aus Hamburg herein: Sie solle sich nicht so leidtun! Das sei der Arbeitsalltag ganz vieler Mütter, dass sie auch mal Pläne mit Kindern umschmeißen müssen! Die Alleinerziehende, die um 21 Uhr beim Lidl sitzt, habe sicherlich geweint bei diesem Foto! Sie werde vom Steuerzahler hoch alimentiert als Abgeordnete!

Katharina Beck wehrt sich: Sie habe sich weder beklagt noch etwas über andere Mütter gesagt. Sie habe nur ihren Alltag geteilt, wie es Millionen tun. Es nutzt wenig. Die virtuelle Diskussion ufert aus, es gibt Parteinahmen für und gegen das Foto, schließlich ebbt der Disput ab, eine neue Geschichte zieht die Aufmerksamkeit auf sich.

Ist das Deutschland? Ja, aber zum Abgewöhnen.

Die zweite: Arme Frauen werden „zur Kasse gebeten“

Wofür sind Wissenschaftler/innen da? Sie sollen forschen, nachdenken, anregen. Eine Wirtschaftsprofessorin regt also in einem Interview an, über die Abschaffung der Witwer/-Witwenrente nachzudenken. Dass Menschen eine Rente bekommen, für die sie selbst niemals eingezahlt haben, sei ungerecht. Es führe zum Beispiel dazu, dass alleinerziehende Mütter mit ihren Beiträgen Renten von wohlhabenden Hinterbliebenen mitfinanzieren.

Man kann diesen Vorschlag kritisieren. Aber sofort macht sich die Meute auf den Weg: ein sozialpolitischer Kahlschlag drohe, die Lebensleistung der älteren Menschen werde zerstört, das Ganze sei ein „Angriff auf Familien“. Hört noch jemand zu? Hat noch jemand die Argumentation der „Wirtschaftsweisen“ Monika Schnitzler überhaupt gelesen und abgewogen? Hat jemand vernommen, dass sie in ihrem Denkanstoß – und nichts mehr war ihre Äußerung – bestehende Witwen- und Witwer-Renten garantieren möchte? Dass der Vorschlag ohnehin nur Teil einer grundlegenden Rentenreform sein könnte?

Nein, niemand hört zu. „Viele Frauen, die heute Witwenrente beziehen, hatten früher nicht die Möglichkeiten, Familie und Beruf so zu vereinen, wie das heute möglich ist. Sie haben eine kleine Rente. Diese Frauen jetzt zur Kasse zu bitten, um die Rente zu sanieren, ist zynisch“, schreibt der Bundestagsabgeordnete Kai Whittaker (CDU) auf Twitter (zitiert nach FAZ).

Geht es Frau Schnitzler darum, „diese Frauen jetzt zur Kasse zu bitten“? Nein. Aber die Angst zu schüren, dass nun bald den armen Witwen von heute ihre kleinen Renten gestrichen werden – das kommt der Meute der Denkfaulen und Erregungsfanatiker gerade Recht.

Ist das Deutschland? Ja, aber zum Abgewöhnen.

Die dritte: Süßigkeiten sollen verboten werden

Der eine Enkel mag gar keine Schokolade, die andere Enkelin schon, aber sie bekommt sie nur selten. Seit ihrer Geburt wachen die Eltern akribisch darüber, dass Oma und Opa nicht mit zu vielen Süßigkeiten die Geschmackssinne ihrer Kinder verderben. Und sie haben Recht: Jeder Schwimmbadbesuch zeigt, dass Übergewicht bei vielen Kindern ein Problem ist. Die Gesundheitsgefahren von zu hohem Gewicht schon im Kindesalter sind ohnehin fachlich unbestritten.

In dieser Lage macht ein Verbraucherschutzminister einen Vorschlag: Man solle gesetzlich untersagen, für ungesunde, überzuckerte Lebensmittel im Umkreis von Kindertagesstätten und Schulen werben zu dürfen. Oder entsprechende Fernsehwerbung in Sendungen zu platzieren, die sich an Kinder richten.

Aber der Mob der Populisten interessiert sich nicht für die Gesundheit der Kinder. Den Mob kümmert auch nicht die Chancengleichheit, er ignoriert die evident festgestellten sozialen Unterschiede, in denen Kinder aufwachsen. Es sind Unterschiede zwischen bildungsstarken und bildungsschwachen Elternhäusern und den damit verbundenen Gesundheitschancen.

Warum nachdenken oder abwägen, wenn man auch Krawall machen kann: „Ob Kinder Süßigkeiten bekommen, sollten die Eltern und nicht ein grüner Minister entscheiden“, erklärte der CSU-Ministerpräsident Markus Söder zum Vorschlag des grünen Ministers Cem Özdemir. Geht es überhaupt um ein Verbot des Konsums? Nein, es geht um Stimmungsmache: nicht zuhören wollen, nichts verstehen wollen, aber verantwortungslos draufschlagen.

Ist das Deutschland? Ja, aber zum Abgewöhnen.

Die vierte: Die Ersteigung des „Gipfels der Doppelmoral“

Ein Land ringt um seine Freiheit. Es benötigt Waffen für seinen Kampf, und es benötigt für diese Waffen Munition. Eine Weltmacht ist bereit, dem angegriffenen Land auch eine besonders hinterhältig tödliche Art von Munition zu liefern. Viele Länder auf der Welt, auch Deutschland, haben genau diese Art von Munition als so inhuman bezeichnet, dass sie sich vertraglich verpflichtet haben, sie weder zu besitze, noch weiter zu verbreiten. Die Ukraine ist einem solchen völkerrechtlich vereinbarten Verbot der grausamen Streumunition nie beigetreten, die USA auch nicht. Das macht sie nicht besser, aber formal völkerrechtlich spricht also nichts gegen eine solche Lieferung. Moralisch wohl schon. Obwohl andererseits, nach allem, was Experten berichten, die Ukraine von Russland bereits mit genau dieser grausam-tödlichen Munition angegriffen wurde.

Was immer eine deutsche Regierung tut, ist falsch. Verurteilt oder blockiert sie die Lieferung durch die USA (falls das überhaupt möglich wäre), schwächt sie die Ukraine. Tut sie es nicht, widerspricht sie ihren eigenen Prinzipien.

Wie ist eine solche Situation üblicherweise zu nennen? Ein Dilemma. Wie nennt die Linken-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen den Vorgang? „Gipfel der Doppelmoral“, eine „Bankrotterklärung“ für die deutsche Politik sei es, die USA nicht von der Lieferung der Streumunition abzuhalten. Keine Mühe ist spürbar, den unentrinnbaren Zwiespalt zu verstehen, anzuerkennen, dass alles falsch sein könnte, was immer man tut. Keine Differenzierung, kein Nachdenken, kein Innehalten.

Ist das Deutschland? Ja, aber zum Abgewöhnen.

Die fünfte: Der Verlust deutscher „Energie-Souveränität“

Der europäische Strommarkt ist komplex, und alle profitieren davon, dass er eng vernetzt ist. Deutschland exportiert dabei mehr Strom, als es importiert. Soweit die Fakten. Was macht der Mob daraus? Grafik: https://energy-charts.info/charts/import_export/chart.htm?l=de&c=DE&interval=year

„Die Ampel hat mit dem Abschalten der nationalen Kernkraftwerke die Energie-Souveränität Deutschlands ins Wanken gebracht. Statt ausreichend Strom in Deutschland zu produzieren, sind wir jetzt auf Atomstrom aus Frankreich angewiesen.“ Zitat des CSU-Politikers Stefan Müller gegenüber der Bild-Zeitung. Die Grünen hätten aus ideologischen Gründen die letzten deutschen Atomkraftwerke abgeschaltet, „um am Ende den Atomstrom von Frankreich zu importieren“, plappert auch Markus Söder bei Sandra Maischberger hinterher.

Was davon stimmt? Nichts. Eine deutsche „Energie Souveränität“ hat es nie gegeben und ist in der Idee eines europäischen Strommarktes weder angelegt noch wünschenswert. Deutschland exportiert deutlich mehr Strom als es importiert. Das gilt auch für den Im- und Expert zu und von Frankreich.

Unbegründete Panik schürt Missmut. Und was folgt danach?

Interessiert das irgendjemanden, der gegenteilige Behauptungen aufstellt? Bemühen sich Medien und Politik, die Diskussion der Öffentlichkeit durch redliche Diskussionen zu bereichern? Manche schon, in allen demokratischen Parteien. Und viele Qualitätsmedien auch. Aber oft wird nur noch der Ausschnitt der Wahrnehmung mitgeteilt, der ins eigene Bild passt. Die Medienmacht der Bild-Zeitung verfolgt dabei offenkundig eine eigene Agenda: Panik zu schüren fördert Verkaufszahlen und Klicks, beide steigern die Werbeeinnahmen. Und Teile der Politik hoffen zu profitieren, wenn verunsicherte Wahlbürger irgendwann mal zur Urne gerufen werden. „Es denen da oben mal zeigen“, raunen einzelne der so Umworbenen dann missmutig in die Kameras und Mikrofone.

Ist das Deutschland? Ja, aber zum Abgewöhnen. Es ist Zeit zum Innehalten.

 

 

Hier ein paar Quellen für eine differenzierte Wahrnehmung der Tatsachen:

Der Tweet von Katharina Beck und die Kommentare dazu: https://twitter.com/kathabeck/status/1677331518350303237

Zur Witwenrente: https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/witwenrente-rente-sachverstaendigenrat-1.6012742

Das plant Cem Özdemier wirklich in Sachen Werbeverbot für Süßigkeiten: https://www.bmel.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2023/024-lebensmittelwerbung-kinder.html

Zu den Streubomben: https://www.streubomben.de/streubomben/laender/streubomben-in-der-ukraine/#c21982

Zur angeblichen „Energie-Souveränität“, die Deutschland verloren habe:https://www.energy-charts.info/index.html?l=de&c=DE und ein Artikel aus dem SPIEGEL, der die Daten einordnet: https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/energieversorgung-bild-union-und-afd-vereint-in-prepperfantasien-kolumne-a-ac81cfe7-5c7a-4fe6-adda-430d869fe9a4

 

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier. 

 

 

 

Das romanische Chamäleon (#47)

Kaiser- und Mariendom zu Speyer, Domplatz, 67346 Speyer

Mein Besuch am 26. Juni 2023

Die Last der Jahrhunderte – Detailausschnitt aus der Krypta des Doms von Speyer (Grabplatte von Rudolf v. Habsburg, gest. 1291)

Ein weiter, freier, schattenloser Platz liegt vor dem Dom von Speyer, und an diesem hochsommerlichen Junitag glüht schon am Vormittag das Pflaster. Der Dom verspricht Abkühlung, und das in seinen Ursprüngen fast 1000 Jahre alte Bauwerk hält, was der erhitzte Besucher erhofft. Schon die Vorhalle mit gewaltigen, goldbesetzten Mosaiken bereitet vor auf ein Bauwerk, das mehr stummer Zeitzeuge ist als lebendige Kirche, was dieser gewaltige Raum schon aufgrund seiner schieren Größe gar nicht sein kann. (Womit kein Urteil gesprochen sein will über die Kirchengemeinde selbst, die diesen Dom nutzt; es ist eine Besucherperspektive, die ich hier einnehme).

Zur Stadt hin liegt vor dem Dom einer weiter, schattenloser Platz – auf den anderen drei Seiten umgibt das Bauwerk ein grüner Stadtpark.

Der Dom zu Speyer ist die größte erhaltene romanische Kirche der Welt. Der Bau begann um 1025, erstmals als vollständige Kirche geweiht wurde die Kirche 1061. Seither hat sie alle Schicksale durchlebt, welche die europäische Geschichte bereithält: Machtkämpfe und Besitzerwechsel, Brände und Kriege, Plünderungen, bauliche Veränderungen und Wiederherstellungen. Der Dom wurde als Viehstall benutzt und in seiner Gruft wurden Kaiser bestattet.

Wer die Kirche heute betritt, findet sich in einer romanischer Illusion vor – himmelstrebend wuchtig, demutspendend hoch, glattgeputzt und scheinbar unverfälscht, so findet sich romanischer Baustil selten. Die allermeisten Elemente aus anderen Epochen wurden entfernt, die Kirche wurde „re-romanisiert“, was Kunsthistoriker durchaus auch kritisieren. Mir ist diese Kritik egal, der Besuch dieses weitgehend schmucklosen Mammutbaus ist mir wie eine Meditation: Nur Stein und Zeit ist hier zu spüren, kaum Schmuck und Tand.

Wo Schmucklosigkeit zum Konzept gehört, wird das Licht zum zentralen Gestaltungsmoment.

Eine Stunde war ich in dieser Kirche, habe das Licht auf mich wirken lassen, die Weite und Höhe gespürt, die Schattenwürfe bewundert und bin herabgestiegen in die Krypta, die hier ein Ausmaß hat, um das manche Dorfkirche beneidet würde. Die Kaiser-Särge liegen dort grau und stumm, längst vergangen, zu Staub geworden ist ihr Inneres.

Dort unten, tief unter der Kirche, ist so so kühl, dass den andächtig Staunenden beim Heraufsteigen in den großen alten Kirchenraum das relative Gefühl von angenehmer Wärme empfängt, wo es doch das Versprechen der Kühle war, das dort hinein gelockt hatte. Genau in dieser chamäleonhaften Vielschichtigkeit  habe ich den Dom erlebt: Ein aufgeräumter Ort des zeitlosen Willkommens, eine Einladung zur Annäherung an die Illusion von Dauerhaftigkeit. Ein Ort, der spüren lässt, dass vieles, das mich umgibt, so viel größer ist als mein eigenes, so begrenztes Dasein.

 

Der Dom zu Speyer ist Weltkulturerbe und es gibt über ihn Literatur ohne Ende. Ich empfehle für einen Überblick die Website der Kirchengemeinde, die auch einen virtuellen Rundgang anbietet: https://www.dom-zu-speyer.de/

Die drei deutschen Kaiserdome sind Mainz. Worms und Speyer. Dem Dom in Main habe ich vor einem Jahr besucht: https://vogtpost.de/dom-mainz/31/07/2022/

Weitere Kirchen meiner Sammlung #1000Kirchen finden Sie hier.