Unbeugsam-weiblich gegen den „Ökozid“ (27. September 2021)

Am Tag nach der Wahl steht nicht viel fest. Aber vermutlich wird es ein Mann sein, der Angela Merkel im Kanzleramt folgen wird. Er wird einlösen müssen, was die heutige Kanzlerin einmal für sich in Anspruch nahm: ein Klima-Kanzler sein.

In „Ökozid“ am Schauspiel Stuttgart muss Angela Merkel (hier die Schauspielerin Nicole Heesters) als Zeugin vor Gericht aussagen. Foto: Björn Klein

Diese Vorrede lenkt den Blick auf ein aktuelles Kultur-Ereignis am Schauspiel Stuttgart. Dort sind es Frauen, die zu Gericht sitzen, und es sind Frauen, die sich verteidigen. Wir befinden uns gedanklich im Jahr 2034, und eine dann stolz-ergraute Angela Merkel, seit 13 Jahres aus dem Amt geschieden, wird als Zeugin befragt. Sie wird gespielt von Nicole Heesters als noch immer hoch kontrolliert in ihren Bewegungen, ihren Aussagen, ihrem Auftritt. Hätte sie die Klimakatastrophe abwenden können, wenn sie gemäß dem gehandelt hätte, was bereits bekannt war?

Vorwurf: Untätigkeit gegen die Katastrophe

Die Rede ist von dem Schauspiel „Ökozid“ (Premiere war am 24. September). Den Vorsitz in einem Internationalen Gerichtshof führt eine strenge, verständige Richterin, die Anklage wird von zwei Frauen vertreten: einer stimmgewaltigen Sprecherin des Verbundes der 31 klagenden Staaten „des globalen Südens“ und ihrer Anwältin. In dieser Besetzung unterscheidet sich das Theaterstück, das in Stuttgart uraufgeführt wird, von dem gleichnamigen Film, der im November letzten Jahres bei der ARD zu sehen war. Auch sonst hält der Theaterabend zahlreiche künstlerische Überraschungen und Ergänzungen parat, der den Besuch lohnen lässt, auch wenn man den Film bereits gesehen hat.

Zur Sprache kommt alles, was uns in den zurückliegenden Wochen des Bundestagswahlkampfs täglich beschäftigt hat, und es in den kommenden noch viel dringlicher tun wird. Hätten die deutschen Regierungen seit Gerhard Schröder es hätten besser wissen können? Hat Deutschland im internationalen Zusammenspiel der klimafeindlichen Kräfte überhaupt relevantes Gewicht? Verletzt die Untätigkeit des Nordens gegenüber den erkennbaren Folgen einer Klimakatastrophe vor allem im Süden der Weltkugel grundlegende Menschenrechte, wie sie die UN-Charta allen Menschen gleichermaßen verspricht? Oder ist alles ganz anders, war davon nichts erkennbar, ist irgendwas davon noch strittig oder nicht?

Empörende Erfahrungen im Wahlkampf

Männer spielen während dieses nachdenklich machenden und trotzdem unterhaltsamen Theaterabends allenfalls kauzige Nebenrollen. Sie plustern sich auf in oft substanzloser Rechthaberei, womit eine Brücke gebaut wäre zu einem geschlechterspezifischen Blick auf den Wahlkampf und auf das, was nun folgen wird in den Verhandlungen über eine neue Regierung. Der Blick zurück macht fassungslos. Wie selbstgerecht und rechthaberisch mit einigen Spitzenfrauen in diesem Wahlkampf umgegangen worden ist – oft, aber nicht nur, von Männern – ist für jeden sensiblen Geist eine empörende Erfahrung.

Frauen in der Politik können ganz generell darüber viel berichten. Daher hier nur einziges, aber besonders prominentes Beispiel aus den letzten Wochen: Die Republik zu „warnen“ vor einer Machtübernahme durch die SPD-Co-Vorsitzende Saskia Esken, der unterstellt wurde, dass sie wie eine strippenziehende Mephista den SPD-Kanzlerkandidaten Olaf Scholz marionettenartig über die politische Bühne zappeln lassen würde – das adressierte zumindest zum größeren Teil nicht deren inhaltliche Aussagen. Sondern es appellierte an dumpfe Assoziationen, die sich gegen ihr selbstbewusstes Auftreten und ihre von manchen vielleicht als ruppig empfundene Sprechweise richteten.

Engagierte Frauen waren nicht willkommen, …

Also raus aus dem Theater, wenige Häuser weiter, rein ins Kino! In fast zwei Stunden breiten dort im aktuellen Film „Die Unbeugsamen“ politisch erfahrene Frauen aus, welche Mühen, Gemeinheiten, Niederlagen, Zurücksetzungen und Zumutungen aller Art sie aushalten mussten, bis sie in der Männerwelt der deutschen Nachkriegspolitik angekommen waren. Der Film lässt keine Zweifel offen, dass engagierte Frauen alles andere als willkommen waren, und auch, dass die Männer sich kaum Mühe gaben, ihre ehrverletzende Überheblichkeit wenigstens höflich zu verbergen. Um sich in diesem Umfeld durchzusetzen, mussten Frauen Männern so ähnlich wie möglich werden. Für einen ersten Einblick genügt schon der Trailer des Films (Link siehe unten). Die Verhältnisse sind zweifellos besser geworden – aber gut sind sie noch nicht, wenn im neu gewählten Bundestag der Frauenanteil von 31 auf gerade mal 35 Prozent gestiegen ist.

… sind jetzt aber Mehrheit und Stimme der Klimaaktiven

Beim Stuttgarter „Ökozid“ fehlt es den Frauen nicht an Macht. Trotzdem haben sie in der Diktion des Theaterstücks vollständig männlich versagt. Ihr Scheitern bei der rechtzeitigen Rettung der Welt ist im Schauspiel ein Generationenproblem, keines der Geschlechter. Daher die Frage: Vielleicht können Frauen doch die besseren Klimaretter sein? Weil sie sich als Mütter eben doch noch immer stärker mit dem Schicksal ihrer Kinder identifizieren, als dies Väter tun? Warum sonst hat Annalena Baerbock im Wahlkampf dauernd von ihren Kindern geredet, Olaf Scholz (keine Kinder) und Armin Laschet aber nicht? In der „Fridays for Future“-Bewegung dominieren nach einer Studie des Berliner Instituts für Protest- und Bewegungsforschung die jungen Frauen mit 60%. Alle wesentlichen Repräsentantinnen der Bewegung sind weiblich.

Vielleicht ist das nun die neue Generation unbeugsamer Frauen, die nach Kriegsende in der deutschen Politik fehlten. In der neuesten Folge des „unendlichen Podcast“ der ZEIT (Link unten) formuliert die Schauspielerin Nora Tschirner einen weiteren Aspekt. Für Frauen und für unsere Gesellschaft kann es nicht nur darum gehen, Männer an  ihren Machtpositionen gleichwertig zu ersetzen.  Als „Seitenprodukt“ des jahrhundertealten Patriarchats sei ein „Privileg auf Frauenseite entstanden, eine Weisheit in Beziehungen, Kommunikation, Gefühle und zwischenmenschlichen Geschichten“. Dieses Potenzial sei bisher gesellschaftlich noch nicht ausreichend hochgewertet.

Die Klimakrise fordert neue Kompetenzen

Mehr Weiblichkeit in diesem Sinne hätte der Politik in den letzten 50 Jahren vielleicht weniger Orientierung am Automobil ermöglicht, mehr Naturschutz durchgesetzt, vielleicht auch insgesamt weniger Wachstum und  weniger Reichtum in Kauf genommen, aber dafür eine andere Balance aus Arbeit und sozialem Leben ermöglicht, ein anderes Geben und Nehmen, weniger Raffen, mehr Fürsorge.

Für eine Abwendung der drohenden Klimakatastrophe benötigen wir genau all das. Schade, dass dieser Aspekt im Stuttgarter „Ökozid“-Prozess keine Rolle spielt. Er endet jedoch mit einer eindrücklich sinnlichen Inszenierung, die den Theaterbesucher hinunterzieht in die Flut der steigenden Meeresspiegel. Und wenig überraschend: Es ist eine junge Frau, deren Stimme uns dort hineinführt und uns darin ertrinken lässt.

 

„Ökozid“ ist am Schauspiel Stuttgart noch mehrfach bis November auf dem Spielplan, jeweils verbunden mit einer Rede von Klima-Aktiven: https://www.schauspiel-stuttgart.de/spielplan/a-z/oekozid-2021/

Der Trailer zu „Die Unbeugsamen“ ist hier zu finden, der Film läuft (noch) in den Kinos: https://www.youtube.com/watch?v=yLjAayYEgOQ

Der Podcast und die Videoaufzeichnung von „Alles gesagt“ mit Nora Tschirner dauert fast vier Stunden. Die hier zitierte Passage (und mehr zu ihrer Sicht auf modernen Feminismus) ist etwa zehn Minuten vor dem Ende zu finden: https://www.zeit.de/video/2021-09/6271162956001/lange-nacht-der-zeit-2021-alles-gesagt-mit-nora-tschirner-christoph-amend-und-jochen-wegner?utm_referrer=https%3A%2F%2Fverlag.zeit.de%2F

 

 

Zwei Männer und eine Madonna (10. August 2021)

Dies ist eine Geschichte über die Zeit, über Kunst und über Geld. Es ist auch die Geschichte vom Lebensweg der Männer Jakob und Reinhold, die sich nach 500 Jahren auf unwahrscheinlichste Art begegnet sind.

Jakob

Jakob ist ein wacher Bub. Er wächst in einer Händlerfamilie auf, beobachtet seinen Vater genau beim Geschäfte-Machen und entscheidet sich früh, als Erwachsener sein Glück als Geldwechsler zu suchen. In seiner Zeit wächst der internationale Handel, und wer dort erfolgreich sein will, braucht vertrauenswürdige Menschen, die fremde Währungen in solche umtauschen, die gerade benötigt werden. Jakob ist es, der wechselt, und er vergibt die ersten Kredite. Jakob ist ganz vorne dabei, als ein neuer Geschäftszweig entsteht: Das Kredit- und Bankenwesen. Jakob wird schnell zum gestandenen Kaufmann, ein kluger, wacher, selbstbewusster Mensch. Bald macht er sich auf, seine Berufskollegen zu organisieren; die Zunftbrüder der Geldwechsler vertrauen ihm, und er vertritt ihre gemeinsamen Interessen im Rat seiner Stadt.

Reinhold

Auch Reinhold ist ein kluger Junge. Reinhold erlebt als Kind, was Krieg bedeutet. Er ist dabei, wie die Menschen seiner Heimat zuerst in den diktatorischen Wahnsinn und dann in die selbstverschuldete Verwüstung straucheln. Die Häuser seiner Kindheit fallen in Schutt und Asche. Reinhold erlebt Armut und existenzielle Not. Zehn Jahre ist er alt, als sein Vater auf dem Tiefpunkt chaotischer Nachkriegswirren den Schritt in die Selbstständigkeit wagt. Er vertraut auf eine Marktlücke seiner Zeit und eröffnet ein eigenes kleines Geschäft. Vier Jahre später wird Reinhold sein erster Angestellter. Der Sohn beginnt eine Kaufmannslehre bei seinem Vater, absolviert sie als „harte Schule“, wie er später sagt, aber mit Bravour. Gemeinsam mit seinem Vater klappert er die Handler, Handwerker und Bauunternehmer ab, um für Umsatz zu sorgen. Das Geschäft floriert.

Jakob

Jakob wird schon früh wohlhabend. Seine Geschäfte laufen glänzend. Sein Ansehen in seiner Heimatstadt ist so groß, dass er zum Bürgermeister gewählt wird, obwohl er nicht dem Adel angehört – was zu seiner Zeit für dieses Amt zumindest ungewöhnlich ist. Aber Jakob lässt sich nicht verdrängen. Bestens knüpft er die Netzwerke, macht sich mit seinem Geld und den damit gedungenen Söldnern im ganzen Reich unentbehrlich. Auch als Bürgermeister ist er erfolgreich und sorgt für wachsenden Wohlstand seiner Stadt. Seinem Reichtum gibt er Ausdruck: Schon früh fördert Jakob einen der wichtigsten Maler seiner Zeit, noch lange bevor ihn alle für seine Kunst bewundern werden. Von ihm lässt er sich zusammen mit seiner Frau im edlen Ornat portraitieren, stolz prangen Schmuck und Goldmünzen.

Reinhold

Es ist kurz vor Weihnachten, als den inzwischen 19-jährigen Reinhold die Nachricht erreicht, dass soeben sein Vater an einem Herzinfarkt gestorben ist. Er ist der älteste in der Familie; ihm bleibt keine Wahl: zusammen mit seiner Mutter führt er das kleine Handelsgeschäft weiter. Von seinem Vater hatte er gelernt, was man mit Fleiß, Durchsetzungswille und Disziplin erreichen kann. Reinhold macht sich also auf den Weg. Aus dem Vater-Sohn-Betrieb baut er eine Firma auf, die bald fünfzig, bald hundert, dann Tausenden Mitarbeitern Lohn und Brot gibt. Er sorgt buchstäblich dafür, dass aus den Trümmern nach einem Krieg beim Wiederaufbau die Balken fest zusammengefügt werden können, dass die vielen neuen Autos nicht auseinanderfliegen. Reinhold schraubt den Wirtschaftsaufschwung zusammen. Schrauben, Millionen von Schrauben, sind sein Markt. Seine Produkte sind klein, aber unverzichtbar, und der Bedarf ist unermesslich. Kein neuer Krieg stört sein wirtschaftliches Lebenswerk. Reinhold verdient viel Geld mit Schrauben, und jeden Tag wird es mehr. Was soll er mit seinem ganzen Geld eigentlich Sinnvolles anstellen? Reinhold entscheidet sich für die Kunst.

Jakob

Jakob ist tiefgläubig. Als er selbst auf dem Höhepunkt seines Einflusses steht, erschüttert ein junger Mönch aus Deutschland die Fundamente seiner Religion, ihre unumstößlichen Wahrheiten und Grundregeln. Jakob kann mit diesen Ideen wenig anfangen, aber immer mehr Menschen und auch einflussreiche Freunde und Ratsverantwortliche seiner Stadt entscheiden sich für die neuen Zeiten, für die neue Sicht auf die religiösen Dinge. Jakob lehnt einen Übertritt zur neuen Mode ab, was ihn das Amt und vieles von seinem Ansehen kostet. Als Bürgermeister wird er gestürzt, aber er bleibt wohlhabend genug, ein weiteres Gemälde bei seinem Lieblingsmaler in Auftrag zu geben. Jakob will, dass dieses Bild ein bewusstes, störrisches Statement ist, ein Ausruf der religiösen Standhaftigkeit. Es soll eine Madonna zeigen, wie sie ihn, Jakob, und seine Familie schützt vor den Veränderungen der Zeit.

Reinhold

Auch wenn der Firmenpatriarch im Scherz schon mal „Zeus“ genannt wird, ist Reinhold praktizierender Christ. Er entstammt einer Familie, die sich zum neuapostolischen Glauben bekennt. Soweit man davon weiß, unterstützt er mit seinem im Schraubenhandel erworbenen Vermögen auch seine Religionsgemeinschaft. Generell engagiert er sich sozial und gesellschaftlich, fördert Bildung, Literatur und Musik. Reinhold ist ein leistungsorientierter, aber auch liberaler Geist, der Freude hat an der unkontrollierbaren Kreativität der Künstler. So ist er zu einem der bedeutendsten Kunstsammler Europas geworden; gewaltige Summen steckt er in Gemälde und Skulpturen, vor allem zeitgenössischer Kunstschaffender und der „klassischen Moderne“. Heute gehören zu seiner Sammlung rund 18.500 Kunstwerke. Als Unternehmer weiß er, dass klug gesammelte Kunst auch eine gute Kapitalanlage ist. Unschätzbare Werte stecken in den Gemälden und Skulpturen, die Reinhold, beraten von Experten, über Jahrzehnte zusammengetragen hat. Reinhold möchte, dass diese Schätze nicht in Magazinen verstauben. Also baut er Museen für sie. Kunst soll bei freiem Eintritt zu besichtigen sein, für seine Mitarbeitenden, aber auch für jeden anderen.

Jakob

Die „Schutzmantelmadonna“ von Hans Holbein d.J. © Philipp Schönborn, bereitgestellt durch Sammlung Würth

Das Madonnen-Gemälde sei fertig, wird gemeldet. In Anspannung empfängt Jakob den Künstler. Schon beim ersten Blick ist er erleichtert: Jakob findet sich bestens getroffen. Da kniet er, der gestürzte, aber stolze katholische Bürgermeister, fromm und voll aufschauender Demut zum Gebet. Ja, er beugt sich, aber nicht dem Trend der Zeit, sondern der alten Göttlichkeit. Und die heilige Gottesmutter nimmt als Dank für seine unerschütterliche Loyalität ihn und seine Familie unter ihren Schutzmantel. Jakob ist zufrieden. Das Bild kommt auf seinen Hausaltar.

Reinhold

Reinhold gilt in seiner Heimat als ein lebendes Beispiel für erfolgreiches Unternehmertum, er zählt zu den reichsten Menschen der Welt, seine Firmen machen Milliardenumsätze. Jetzt ist Reinhold schon im hohen Alter, und er könnte alles haben, was man sich auf dieser Welt kaufen kann. Als Mäzen und Sammler hat er die wirtschaftliche Existenz zahlreicher Künstler gefördert und ihrem Lebenswerk in Museen dauerhafte Geltung verschafft. Dann hört er von einem Bild, über dessen Geschichte viel gestritten worden war, und das nun zum Verkauf steht. Im Jahr 2011 bezahlt er dafür den höchsten Preis, der jemals für ein Bild innerhalb Deutschlands entrichtet wurde: Man weiß nicht genau, wieviel, aber es sind mehr als 40 Millionen Euro.

Die Madonna lädt ein

Die Johanniterkirche in Schwäbisch-Hall, Standort „Alte Meister“ in der Sammlung Würth

In die württembergische Provinz muss man pilgern, nach Schwäbisch Hall, um den Geist dieser zwei Männer kennenzulernen: Den selbstbewussten Geldhändler Jakob Meyer („zum Hasen“) aus Basel, der zum Bürgermeister aufstieg, und der sich seine Religion nicht von den Moden der Zeit austreiben lassen wollte. Und den Schraubenhändler Reinhold Würth aus Künzelsau, dessen mit Disziplin und Beharrungsvermögen erarbeitetes Vermögen gemeinsam mit seinem Kunstverstand bewirkte, dass eines der teuersten Bilder der Welt nicht in New York, Paris oder London, sondern in Schwäbisch Hall zu erleben ist. Es ist jene „Schutzmantelmadonna“ von Hans Holbein d.J., die 1526 entstand und heute, gesichert hinter Panzerglas wie die Mona Lisa im Louvre, den Höhepunkt einer kleinen, aber sehr feinen Sammlung süddeutscher Sakralkunst des ausgehenden Mittelalters bildet. Im gotischen Gewölbe einer früheren Kirche – jetzt eines der Museen der Sammlung Würth – blickt sie auf uns herab und lädt uns ein zum Nachdenken darüber, was bleibt, und was vergeht. Eintritt frei.

 

 

Mehr über die Sammlung Würth und ihre Museen: https://kunst.wuerth.com/de/portal/startseite.php – und speziell zur Sammlung alter Meister in Schwäbisch Hall: https://kunst.wuerth.com/de/johanniterkirche/austellungen/aktuelle_ausstellungen_1/aktuelle-ausstellungen.php

Eine Zusammenfassung der außergewöhnlichen Geschichte der „Darmstädter Madonna“ bei Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Darmst%C3%A4dter_Madonna

Dieser Text bemüht sich um eine Einordnung der beiden beschriebenen Persönlichkeiten auf der Basis zugänglicher Quellen, enthält aber auch einzelne frei assoziierte Details, um den Erzählfluss zu fördern.  Das Essay ist Teil einer Serie über außergewöhnliche kulturelle Ereignisse und Strukturen im ländlichen Raum. Siehe dazu auch das Essay „Tonleiter des Glücks“

Die Tonleiter des Glücks – Kultur und Provinz (29. Juli 2021)

Die junge Frau sitzt im Regionalzug. Der Schaffner pfeift, und der Zug setzt sich in Bewegung. Sie blickt aus dem Fenster und beginnt zu summen. Im Zug herrscht Unsicherheit. Was ist denn das für ein Verhalten? Kinder kichern, Erwachsene drehen sich um. Aber die Melodie steckt an und überwindet die anonyme Stille der zufälligen Fahrgemeinschaft. „Wir machen Musik“, nehmen die ersten das Summen auf – „da geht Euch der Hut hoch, da geht Euch der Bart ab!“ Bald gesellen sich immer mehr mutige Singende dazu. „Do – re – mi – -fa – so …“, der ganze Zug füllt sich mit der geträllerten Tonleiter. Als die singende Reisegesellschaft ankommt und aussteigt, gesellen sich Blechbläser dazu, die Rolltreppe im Bahnhof rollt plötzlich wie im Rhythmus des Ohrwurms, noch mehr Menschen schließen sich an, umstellen ein plötzlich auftauchendes Schlagzeug. Junges Volk nimmt Videos auf und verschickt Fotos, Bürovolk schwingt die Aktentaschen und Shopping-Aktive singen mit, es wird getanzt im Takt des Liedchens. Schließlich marschiert ein ganzer Spielmannszug herbei und trötet ohrenbetäubend das Lied von der Musik. Ein ganzer Bahnhof voller Klänge! Dann ist es vorbei – und die zufällig zusammengewürfelte Menge spürt das Glück des gemeinsam erlebten Moments, das Lächeln, das Aufatmen des Gelingens. Es wird geklatscht, und dann zerstreut sich die Musikgemeinde so unvermittelt, wie sie sich gefunden hatte.

Der Flashmob wurde 62000-mal geklickt

Was hier erlebt wurde, war jener Wimpernschlag, in dem wir den Ball im Tor liegen sehen; diese Sekunde, in der wir erkennen, dass ein sehnlich erwarteter Mensch aus dem Zug steigt. Oder eben jener Augenblick, in dem eine gemeinsam erlebte musikalische Anstrengung im Schlusston ausklingt und wir wissen, dass dieses eine Glück von Musik unwiederbringlich vorbei ist. Wir gehen wieder den Weg unseres Alltags, aber wir sind für eine wertvolle, schwebende Lebenssekunde verändert, beglückt, bereichert. Und wir wissen: Es könnte wieder so sein, wieder ein Tor fallen, wieder ein Mensch kommen, wieder Musik entstehen.

Man kann sich diese Szene in einem kurzen Film auf Youtube ansehen. Ganz so zufällig, wie es wirkt und klingt, entstand der Flashmob natürlich nicht. Es gehört viel Organisation und Mut dazu, so ein Ereignis zu ermöglichen und festzuhalten. Mehr als 62.000-mal wurde das das Filmchen schon angeklickt, Menschen haben vielleicht gelächelt, mitgesummt, und sind dann wieder zu ihrem Alltagsleben zurückgekehrt.

Das Glück der Musik ist täglich milliardenfach mitzuerleben auf dieser Welt, im Internet, im Konzertsaal, auf Festivals, in der Oper, in jedem Wohnzimmer. Warum also diese Zeilen über dieses eine Video?

Wie entsteht kulturelle Attraktivität im ländlichen Raum?

Schloss Kapfenburg bei Lauchheim, Ostalbkreis (Copyright Ralf Baumgarten, zur Verfügung gestellt durch die Stiftung Schloss Kapfenburg)

Der Anstoß für den Flashmob am Stuttgarter Hautbahnhof kam aus tiefster Provinz, wurde hineingetragen in das Zentrum einer Großstadt, die sich selbst als Kulturmetropole versteht, die Straßenmusiker und Bandkultur ihr Eigen nennt, stolz ist auf mehrere Orchester und eine zwar renovierungsbedürftige, aber geliebte und künstlerisch anerkannte Oper. Es fehlt nicht an Musik in Stuttgart. „Do-re-mi-fa-so …“ – die Idee zu einem Flashmob am Hauptbahnhof kam trotzdem von außen, nämlich aus dem äußersten Osten Baden-Württembergs, von der Kapfenburg. Das mittelalterliche Schlossgemäuer oberhalb des Ortes Lauchheim im Ostalbkreis hat schon Kreuzritter, Bauernkriege und Plünderungen erlebt, war nationalsozialistisches Schulungszentrum, beherbergte Vertriebene und amerikanische Soldaten. Seit zwanzig Jahren ist die Kapfenburg nun Musikschul-Akademie und Kulturzentrum, und hält in der Provinz, fernab von München, Stuttgart oder Nürnberg, die Kultur hoch. Die Burg ist Gastgeber für Musikerinnen und Musiker aller Art und aus aller Welt, kümmert sich um deren Gesundheit und sorgt für attraktive Konzerte.

Wie kulturelle Attraktivität entsteht im ländlichen Raum, das ist hier zu besichtigen. Sie entsteht nicht durch ständiges Jammern und Wehklagen, und auch nicht dadurch, sich mit eitlem Mittelmaß zufrieden zu geben. Sie entsteht, wenn engagierte Menschen ein Netzwerk knüpfen, mit größter Disziplin einen Betrieb am Laufen halten, dessen Professionalität es mit jedem großstädtischen Kulturbetrieb aufnehmen kann. Sie entsteht, wenn deshalb attraktive Künstler den Weg in die abgelegene Kapfenburg finden. Kultur auf dem Land kann wachsen, wenn politisch Verantwortliche den Mut haben, musikalische Experimente wie ein Konzert für hupende Autos oder den Guinness-Eintrag der Burg als größtes Saiteninstrument der Welt zu unterstützen, und alle Verantwortlichen dabei doch immer nach künstlerischer Ernsthaftigkeit suchen.

Hinter jedem Fenster wird geübt und gespielt

Wer durch die Innenhöfe hinaufsteigt auf die Kapfenburg, spürt genau das: Aus allen Räumen kommen Klänge der heiteren Ernsthaftigkeit, – do-re-mi-fa-so … – hinter jedem Fenster wird geübt und gespielt, gelacht und verzweifelt. Hier wurde ein vom Verfall bedrohtes Schloss nicht nur für ein Festival einmal im Jahr aufgehübscht, sondern wurde etabliert als begehrtes Ziel von Musikfreunden, Laienmusikern, Musikschülern und ihren Unterrichtenden das ganze Jahr über. Ein ständiger Flashmob! Wer einmal dort war, nimmt diese Klangwolken des musikalischen Glücks für immer mit – … la-se-do. Sie lassen uns davon träumen, auf einer Tonleiter in den Zug des Alltags zu steigen, und mit allen anderen ganz einfach Musik zu machen.

 

Der Film zum Flashmob am Stuttgarter Hauptbahnhof auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=vtpRUfEge3U

Die Website der Musikakademie Schloss Kapfenburg: https://www.schloss-kapfenburg.de/

 

Werther liebt und stalkt

Zur Oper „Werther“ von Jules Massenet

Zwei Menschen begegnen sich, und manchmal entsteht Liebe zwischen ihnen. „Ein Tropfen Liebe“, sagte der französische Literat Blaise Pascal, „ist mehr als ein Ozean Verstand“. Schaltet Liebe den Verstand aus? Sie sollte das Gefühl unbedingter Zusammenhörigkeit sein, des Hingezogen-Seins, das Gefühl von Leere und Sinnlosigkeit, wenn der oder die andere nicht da ist, vielleicht sogar für immer verloren ist. Liebe geht „über den Zweck oder den Nutzen einer zwischenmenschlichen Beziehung“ in der Regel hinaus, schreibt Wikipedia. Sie zeige sich üblicherweise „in tätiger Zuwendung zum anderen“. Das Gefühl der Liebe könne auch unabhängig davon entstehen, „ob es erwidert wird oder nicht“.

Ist gegen die Liebe also kein Kraut gewachsen, wie es der römische Dichter Ovid einst schrieb? Ist es noch Liebe, wenn sie für die Geliebte, die nicht lieben will oder darf, zum quälenden Übergriff wird? Rund 20.000 Stalking-Fälle werden jährlich in Deutschland aktenkundig, vermutlich gibt es viel mehr davon. Im Jahr 2007 handelte deshalb die deutsche Politik; im Strafgesetzbuch gibt es seither einen Paragrafen, der verbietet, einen verschmähenden Liebespartner „andauernd und wiederholt zu belästigen“, sich ihm also gegen seinen erklärten Willen zu nähern, ihm nachzustellen mit telefonisch oder persönlich oder schriftlich gestammelten Liebesschwüren, mit Drohungen, mit unerwünschtem Klingeln an der Haustür. Aktuell wird die Regelung auch auf alle Formen der viralen Nachstellungen erweitert. Der Schutz, den der Staat Betroffenen – in den weit überwiegenden Fällen sind es Frauen – gewährt, kann bis zur Bereitstellung einer neuen Identität reichen, um für den ungewünscht Liebenden unauffindbar zu werden.

Anna Sutter hätte leben können

Die Schicksalsgöttin vor dem Stuttgarter Opernhaus

Der Stuttgarter Opernsängerin Anna Sutter hätte 1910 ein solches Gesetz geholfen, vielleicht wäre sie dann älter als 39 Jahre geworden, jedenfalls wäre sie vermutlich nicht erschossen worden von ihrem verschmähten Liebhaber Alois Obryst, der sich anschließend selbst das Leben nahm. Anna Sutter hatte sich wiederholt die Nachstellungen ihres Liebhabers verbeten; genutzt hatte es ihr nichts. Heute erinnert ein Brunnendenkmal vor der Stuttgarter Oper an ihr trauriges Schicksal. Die dort dargestellte Schicksalsgöttin trägt angeblich ihre Gesichtszüge.

„Werther“ ist die Geschichte einer Rebellion, …

Um die Qualen verschmähter Liebe geht es auch im Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ von Johann Wolfgang von Goethe. Als im Jahr 1774 der Welthit des „Sturm und Drang“ (auch so eine problematische Kategorisierung, wenn man sie in Sachen Liebe mal aus der Sicht der möglichen Opfer betrachtet) veröffentlicht wurde, war das die spannend-mitreißende Schilderung eines verzweifelten Liebesabenteuers, aber vor allem ein rebellischer Stoff gegen das Establishment. Der Held macht alles, was damals nicht vorgesehen war. Werther verliebt sich in eine standesgemäß unpassende Frau und hadert mit deren Verlobungsversprechen an einen anderen. Schließlich ignoriert er es, stürzt in einen Liebeswahn und damit sich selbst und seine Angebetete ins Verderben. Er begeht Selbstmord, was aus damaliger kirchlicher Sicht eine Sünde darstellte. Besondere Wucht erwächst diesem Stoff unter anderem daraus, dass der liebende Held sich selbst umbringt, und nicht etwa seine Geliebte (oder beide, wie im Fall der unglücklich geliebten Anna Sutter – und Tausenden anderen Fällen, von denen zu hören und zu lesen wir uns gewöhnt haben). Werther lässt Charlotte zwar am Leben, als eine verzweifelte und an ihren Gefühlen zweifelnde Frau, gezeichnet für ihr Leben – wir würden heute sagen: traumatisiert.

… aber auch einer neurotischen Liebe

Werther in der Oper Stuttgart (dem Bild Arturo Chacón-Cruz) Foto: Philip Frowein

Jules Massenet hat diesen Stoff 1892 romantisierend mit manchmal schwülstiger, oft rauschhafter Musik durchtränkt und zu einer Oper gemacht. Von Goethes politischem Rebellionsgeist ist bei Massenet nichts mehr übrig. Hier ist das Stück eine wahnhaft-romantische Liebesgeschichte. Der 1856 geborene Sigmund Freud hatte zu Massenets Zeit gerade erst damit begonnen, sich mit Neurosen als Krankheiten zu beschäftigen und der Welt die Zusammenhänge zu eröffnen, die sich aus seelischen Störungen und dem Handeln des Menschen ergeben. Die Librettisten der Oper wussten davon nichts und stellten also die narzisstische Fixierung ihres Werther auf seine eigenen Interessen nicht in Frage. Selbst dann, wenn er sich im Interesse seiner Geliebten zurückzieht, ihr mit seinem Freitod droht und ihn schließlich vollzieht, sieht er sich selbst doch immer noch heldenhaft im Mittelpunkt des Geschehens. Werther fehlt jede Erkenntnis, die wir heute zum zivilisierten Kanon der Mitmenschlichkeit zählen: dass es gleichberechtigte, andere Interessen gibt, die man auszuhalten hat. Wenn ein wacher und sensibler Mensch heute von seinem Freund eine E-Mail erhalten würde, in der über dessen Sehnsucht nach einer Geliebten steht: „Weiß der Gott, wie einem das tut, so viele Liebenswürdigkeit vor einem herumkreuzen zu sehen und nicht zugreifen zu dürfen; und das Zugreifen ist doch der natürlichste Trieb der Menschheit“ (Originaltext Goethe, zitiert nach dem Programmheft) – dann würde hoffentlich sein Alarmsystem sofort anschlagen: Hier ist eine gefährliche, eine verachtende Grenze der Liebe erreicht.

Die Oper Stuttgart hat dieses besonders liebestolle Stück Musiktheater als letzte neue Inszenierung (von Felix Rothenhäusler) an das Ende der Spielzeit 2020/21 gesetzt. Herausgekommen ist große Kunst mit strenger Ästhetik, in der uns Musizierende, Singende, Regie und Bühnenbild in diesen gescheiterten Liebenstaumel hineinziehen.

Warum sollten wir uns das heute anhören?

Das Grab von Anna Sutter auf dem Stuttgarter Pragfriedhof

Warum sollten wir uns das heute ansehen und anhören? Vor allem zum Nachdenken über Gewalt in und wegen der Liebe, über Suizide und Morde, die im Namen der Liebe, in Wahrheit aber von untröstlicher Aussichtslosigkeit betrieben werden. Niemand müsste sich heute noch so quälen wie einst Charlotte und Werther. Anna Sutter und viele andere hätten nicht sterben müssen. Heute kennen wir das Kraut, das gegen solche krankhafte Liebe gewachsen ist.

 

Jules Massenets „Werther“ an der Oper Stuttgart ist wieder zu sehen ab 12. Juni 2022: https://www.staatsoper-stuttgart.de/spielplan/a-z/werther/

Das Schicksal der Stuttgarter Opernsängerin von Anna Sutter wurde zu ihrem 100. Todestag sehr gut aufbereitet bei RONDO: https://www.rondomagazin.de/artikel.php?artikel_id=1494

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