Respekt für Dich (13. September 2021)

Ein Essay über den Wahlkampf-Claim der SPD – aus meiner Mini-Serie als #PolitikFlaneur über die Wahlkampf-Slogans der drei Kanzlerkandidaten-Parteien

Diesen Beitrag können Sie auch hören statt zu lesen:

Drei Szenen aus einer Welt der Respektlosigkeit

Später Nachmittag. Lang reiht sich die Schlange der müden Arbeitsmenschen, der ermatteten Väter und Mütter mit quengelnden Kindern zwischen den Regalen. Ungeduldig wird gerufen: „Zweite Kasse aufmachen!“. Ein genervtes Stöhnen geht durch die Reihe, als die zweite Kassenkraft ihre Schranke aufklappt. Manche, die dran sind mit beim Bezahlen, halten den Betrieb auf, weil sie telefonieren, während sie missmutig und unkonzentriert Scheine und Münzen herauskramen. Kaum jemand nimmt den Menschen wahr, der an der Kasse sitzt und ihnen damit gerade dabei hilft, dass abends etwas zu essen auf dem Tisch steht.

Im letzten Moment hat sie hingesehen, die ältere Dame in der Großstadt, die sich mit müden Beinen zum Einkauf in den Laden geschleppt hat. Nun geht es zurück nach Hause, schwer trägt sie an den zwei Tüten, die ihr das Leben für den Rest der Woche sichern werden. Im letzten Moment hat sie erkannt, dass da ein Hindernis quer auf dem Gehweg liegt. Eine ideale Stolperfalle in idealer Höhe: der e-Roller, achtlos stehengelassen, vielleicht dann umgekippt, versperrt den Weg. Viele sind schon über ihn hinweggestiegen, ohne einzugreifen. Im letzten Moment erkannt, nochmal gut gegangen, aber es hätte übel enden können: Ein Schritt später, ein Sturz weiter, ein Krankenhauaufenthalt mehr … weil andere nicht nachdachten.

Die Praktikantin hatte sich Mühe gegeben. All ihr Wissen hatte sie gezeigt und ihren ganzen Einsatz herausgekramt, bis tief in die Nacht hatte sie recherchiert und getippt und korrigiert und wieder getippt und nochmal nachgesehen. Denn es war ja so eilig. „Spätestens heute Abend!“ hatte es geheißen. Aber jetzt ist es schon Mittag und ihre Chefin meldet sich nicht. Seit Stunden liegt der Konzeptvermerk in ihrem E-Mail-Briefkasten. Schließlich will es die Praktikantin wissen und ruft an: „War das ok? Soll ich noch etwas daran ändern?“, fragt sie die Vorgesetzte. „Was, worum geht es?“, schnappt diese zurück, hörbar genervt. „Ach Dein Vermerk, ja den schaue ich mir mal an, wenn ich Zeit habe. Hab´ jetzt Wichtigeres zu tun. Und so eilig ist es ja nicht.“

„Schmierstoff“ des gesellschaftlichen Miteinanders

Dies sind Szenen aus einer Welt der Respektlosigkeit. Der Wunsch nach Respekt im Arbeitsleben zwischen den Kolleg/innen und von oder gegenüber Führungspersonen ist nach Umfragen größer als der Wunsch nach einem besseren Gehalt. Die Idee der Scholz-/SPD-Kampagne, den Begriff „Respekt“ und das Versprechen „Respekt für Dich“ zu zentralen Ankern im Bundestagswahlkampf zu machen, ist daher klug und nachvollziehbar. Wir alle wünschen uns Respekt, wir sind verletzt, wenn es im Umgang mit uns an Respekt mangelt. Das Fehlen von Respekt nimmt uns gegenseitig die Lebensfreude, macht den Alltag trübe und kühl. Respekt ist der „Schmierstoff im gesellschaftlichen Miteinander“, sagt in einem sehr klugen Podcast des Bayerischen Rundfunks (Link siehe unten) Nils van Quaquebeke, ein Hamburger Professor für Psychologie, der sich seit Jahren mit dem Thema Respekt beschäftigt hat.

Kann ein Respekt-Versprechen politisches Programm sein? „Aus Respekt vor Deiner Zukunft“, lauten die ersten Zeilen des SPD-Wahlprogramms. Und gleich danach verspricht es Einsatz für eine „Gesellschaft des Respekts“. Auch listet es gleich eine Reihe von Maßnahmen auf, die je nach politischem Standort als geeignet bewertet werden mögen, für mehr gegenseitigen Respekt in unserer Gesellschaft zu sorgen. Aber im engeren Sinne können nur wir selbst dafür sorgen, den Blick für ein Lächeln an der Supermarktkasse zu heben; nur wir können den liegengebliebenen Roller aufheben und zur Seite stellen, anstatt darüber hinwegzusteigen. Oder Wertschätzung für die Arbeit zu zeigen, die für uns erledigt wird, im Job, aber auch gegenüber dem Paketboten in der zweiten Reihe, gegenüber der Müllabfuhr, den Arbeitern auf der Straßenbaustelle, auch wenn sie uns gerade aufhalten.

Respekt ist politische Kultur, kein Programm

Dass Politiker/innen Respekt haben und zeigen sollten gegenüber den Wählenden, ist Grundlage der demokratischen Ordnung (was übrigens auch umgekehrt gilt: Das Ausmaß an Respektlosigkeit, das relevante Teile der Öffentlichkeit gegenüber Politiker/innen zeigen, ist bodenlos.). Der einzelne Bürger mag die eine politische Entscheidung mehr oder weniger „respektvoll“ für sein Alltagsleben und gegenüber seinen eigenen Interessen empfinden als die andere – von der Grundidee des „respektvollen Dienens“ der Politik gegenüber den Bürgern sollte im Idealfall jede davon getragen sein. Unsere Interessen sind unterschiedlich, und wir sollten ihnen im politischen Prozess allesamt voller Respekt begegnen – aber keine Politik wird alle Interessen befriedigen können. Man kann es noch so eilig haben – jede Ampel muss einmal rot haben und uns aufhalten, damit andere vorankommen können. Dann ist der Respekt vor den Interessen des anderen gefordert. Respekt ist ein wichtiger Baustein der politischen Kultur – aber kein politisches Programm.

„Wie hältst Du es mit dem Klima, Olaf?“

Und wie ist das mit dem „für Dich“ in dem Claim der SPD? Olaf Scholz bietet dem Bürger auf seinen Plakaten einfach mal so locker das „Du“ an. Nach den auch heute noch gültigen Knigge-Regeln ist das in mehrfacher Hinsicht problematisch.  Die Dame hat Vortritt, und unter Männern der Ältere. Und er müsste eigentlich fragen, und das nicht einfach verordnen. Eine Respektlosigkeit? Vielleicht, wenn auch eine zeitgemäße. Immer mehr Unternehmen reden alle ihre Kunden mit „Du“ an, und auch im Arbeitsalltag breitet sich die lockere Anrede immer weiter aus. In der SPD duzen sich die Genossen  untereinander ohnehin. Auch die Grünen haben in ihrem Claim „Bereit, weil Ihr es seid“, den Du-Plural gegenüber den Bürgern gewählt (übrigens im Süddeutschen durchaus üblich, auch wenn man sich sonst siezt – zum Beispiel in einer Gruppe: „Seid´s Ihr noch im Biergarten oder sind Sie schon wieder im Büro?“).

Ob Olaf Scholz so locker ist, wie der Spruch vermuten lässt, wäre zu beobachten, wenn ein Nicht-SPD-Mitglied in der nächsten TV-Talkrunde den Bundesfinanzminister und Vizekanzler auch einfach mal duzen würde: „Wie hältst Du es mit dem Klima, Olaf?“ Bei der ARD-Wahlarena hat sich das niemand getraut. Scholz wäre vermutlich professionell genug, das auszuhalten, ohne mit der Mine zu zucken. Die Öffentlichkeit würde es aber als unhöfliche Respektlosigkeit einordnen, vielleicht sogar als fragwürdige Vertrautheit. Insofern gilt: „Respekt für Dich“ gilt auch gegenüber dem Kanzlerkandidaten.

 

Eine gute und ausführliche Definition des Begriffs „Respekt“ ist hier zu finden: https://www.respectresearchgroup.org/respekt/definition/

Der hörenswerte Podcast von BR-Wissen zum Thema Respekt ist hier zu finden: https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/respekt-grundpfeiler-des-miteinander/33176

Das Wahlprogramm der SPD ist hier zu finden: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Beschluesse/Programm/SPD-Zukunftsprogramm.pdf

Dieser Beitrag gehört zu einer dreiteiligen Serie, die sich mit den zentralen Wahlkampf-Claims der drei Parteien beschäftigt, die einen Kanzlerkandidaten aufgestellt haben. Hier die Links zu den anderen Beiträgen: 

Bereit, weil Ihr es seid (Grüne)

Deutschland gemeinsam machen (CDU)

Bereit, weil Ihr es seid (13. September 2021)

Ein Essay über den Wahlkampf-Claim der Grünen – aus meiner Mini-Serie als #PolitikFlaneur über die Wahlkampf-Slogans der drei Kanzlerkandidaten-Parteien

Diesen Beitrag können Sie auch hören statt zu lesen:

Über die Bereitschaft

Der Augenblick, in dem alles bereit ist, ist ein ganz besonderes Momentum in unserem Leben. Wenn alle Geschenke bereitliegen, die Ungeduld ein Ende hat und die lichterglänzende Einbescherung endlich beginnen kann. Wenn das Orchester bereit ist, alle Töne gestimmt sind, das Publikum im Dunkel versinkt, und der Dirigent das Podium betritt. Wenn sich der Vorhang hebt und endlich das Schauspiel beginnt – weil jetzt alle dazu bereit sind.

Aber Bereitschaft ist auch eine Last: Jeden Tag sitzen Tausende Polizeibeamte in Deutschland in Wartesälen und Schlafräumen, und sind bereit dafür, einzugreifen, wenn es nötig ist. Ärztinnen und Ärzten, Pflegekräfte, Notfalltechniker und viele andere Berufe geben uns mit ihrer Bereitschaft die Sicherheit, dass notfalls jemand da ist, wenn wir sie oder ihn brauchen. Wir hoffen, dass wir das nicht brauchen, und die Soldatin in Friedenszeiten, die Polizistin oder der Krankenpfleger im Bereitschaftsdienst hoffen ebenfalls, dass es bei der Bereitschaft bleibt und ihr kein Einsatz folgen möge. Am schönsten ist für alle, wenn die Nacht ruhig bleibt.

Ein Slogan von ausdrucksstarker Sperrigkeit

Es lohnt sich also darüber nachzudenken, was die Grünen eigentlich meinen, wenn sie über ihre eigene und unser aller Bereitschaft sprechen. Ihr zentraler Wahlkampfslogan „Bereit, weil Ihr es seid“ brennt sich mit seiner ausdrucksstarken Sperrigkeit ein in den Kopf. Das spricht zunächst einmal für die Werbeagentur, die ihn erfunden hat. Keine andere Partei, die im aktuellen Bundestagswahlkampf einen Kanzlerkandidaten stellt, hat ihren Claim so konsequent auf jedem Plakat, in jeder Werbung verwendet. Aus gutem Grund: „Bereit, weil Ihr es seid“ ist kein Motto, das in Beliebigkeit untergeht, kein Wiederholen des immer gleichen Geredes von „Zukunft“ und „Gestalten“. „Bereit, weil Ihr es seid“ ist eine Überraschung, hat sprachliche Widerhaken, ist mindestens im gleichen Umfang ein Appell wie ein Versprechen: Wer ist denn hier bereit? Und wofür?

„Ihr“, das sind ja wohl wir Deutschen. Ob wir bereit sind für die erforderliche, grundlegende Änderung unserer Gewohnheiten, damit wir die galoppierende Erderhitzung aufhalten, wird sich erst noch herausstellen. Schon verblassen die Bilder von den Folgen der Flutkatastrophe in unserem eigenen Land, von den Waldbränden, von den Hitzerekorden in den USA und Südeuropa. Ob es ausreichend Bereitschaft in unserer Wohlstandsgesellschaft gibt, etwas abzugeben vom eigenen Reichtum – das ist vorerst ungeklärt. Die sinkenden Umfragezahlen für die Grünen lassen eher wenig Optimismus zu. Aber nur so wird sich das Klima retten und damit verbunden die immer weiter auseinandergehende Schere zwischen Arm und Reich schließen lassen.

Sind wir bereit, dass die Einbescherung beginnt?

Am Anfang jeder Bereitschaft steht die Einwilligung in den möglichen Verzicht. Wer Bereitschaftsdienst hat, muss erreichbar bleiben, um einzugreifen, zu helfen, zu löschen, zu retten, auch wenn der Grill glüht oder die Fernsehserie spannend ist. Wer bei der Einbescherung das Geschenk aufpackt, kann sich nicht mehr auf etwas freuen, was er dann vielleicht gar nicht bekommt. Mit „Bereit, weil Ihr es seid“ unterstellen die Grünen unser aller Bereitschaft, endlich mit der Einbescherung zu beginnen. Vielleicht packen wir die entscheidenden Chancen für die Zukunft unseres Planeten aus, aber wir werden bereit sein müssen, dafür Opfer zu bringen.

Wer sonst könnte uns für den Verzicht gewinnen?

Auch ob die Grünen selbst dazu bereit, bleibt offen. In den ersten Wochen ihres Wahlkampfes hatten sie zunächst mit Fehlern zu kämpfen, die daran zweifeln lassen, ob sie bereit sind für viel größere Aufgaben. Schließlich geht es künftig nicht um Lebensläufe und Buchquellen, sondern darum, unsere Gesellschaft in eine Politik des notwendigen Verzichts hineinzuführen, damit wir die drohende Klimakatastrophe bei sozialer Gerechtigkeit in einer globalisierten Welt noch abwenden. Andererseits ist auch nicht erkennbar, wer sonst als die Grünen die selbstzufriedenen Wohlstandsbürger in Stuttgart-West, Schwabing, Eppendorf oder am Prenzlauer Berg für die notwendige Hinwendung zum Verzicht gewinnen könnte.

Es ist nicht leicht, mit Ankündigungen von notwendigen Einschnitten erfolgreich Wahlkampf zu führen. Die Grünen spüren das und dürften es auch gewusst haben. „Bereit, weil Ihr es seid“ ist daher eine reichlich optimistische Analyse, aber auch ein eleganter Versuch, uns alle in den notwendigen Bereitschaftsmodus zu versetzen. Denn: Die Nacht wird nicht ruhig bleiben.

Hier geht es zum Wahlprogramm der Grünen: https://www.gruene.de/artikel/wahlprogramm-zur-bundestagswahl-2021

Dieser Beitrag gehört zu einer dreiteiligen Serie, die sich mit den zentralen Wahlkampf-Claims der drei Parteien beschäftigt, die einen Kanzlerkandidaten aufgestellt haben. Hier die Links zu den anderen Beiträgen: 

Respekt für Dich (SPD)

Deutschland gemeinsam machen (CDU)

 

Die Tonleiter des Glücks – Kultur und Provinz (29. Juli 2021)

Die junge Frau sitzt im Regionalzug. Der Schaffner pfeift, und der Zug setzt sich in Bewegung. Sie blickt aus dem Fenster und beginnt zu summen. Im Zug herrscht Unsicherheit. Was ist denn das für ein Verhalten? Kinder kichern, Erwachsene drehen sich um. Aber die Melodie steckt an und überwindet die anonyme Stille der zufälligen Fahrgemeinschaft. „Wir machen Musik“, nehmen die ersten das Summen auf – „da geht Euch der Hut hoch, da geht Euch der Bart ab!“ Bald gesellen sich immer mehr mutige Singende dazu. „Do – re – mi – -fa – so …“, der ganze Zug füllt sich mit der geträllerten Tonleiter. Als die singende Reisegesellschaft ankommt und aussteigt, gesellen sich Blechbläser dazu, die Rolltreppe im Bahnhof rollt plötzlich wie im Rhythmus des Ohrwurms, noch mehr Menschen schließen sich an, umstellen ein plötzlich auftauchendes Schlagzeug. Junges Volk nimmt Videos auf und verschickt Fotos, Bürovolk schwingt die Aktentaschen und Shopping-Aktive singen mit, es wird getanzt im Takt des Liedchens. Schließlich marschiert ein ganzer Spielmannszug herbei und trötet ohrenbetäubend das Lied von der Musik. Ein ganzer Bahnhof voller Klänge! Dann ist es vorbei – und die zufällig zusammengewürfelte Menge spürt das Glück des gemeinsam erlebten Moments, das Lächeln, das Aufatmen des Gelingens. Es wird geklatscht, und dann zerstreut sich die Musikgemeinde so unvermittelt, wie sie sich gefunden hatte.

Der Flashmob wurde 62000-mal geklickt

Was hier erlebt wurde, war jener Wimpernschlag, in dem wir den Ball im Tor liegen sehen; diese Sekunde, in der wir erkennen, dass ein sehnlich erwarteter Mensch aus dem Zug steigt. Oder eben jener Augenblick, in dem eine gemeinsam erlebte musikalische Anstrengung im Schlusston ausklingt und wir wissen, dass dieses eine Glück von Musik unwiederbringlich vorbei ist. Wir gehen wieder den Weg unseres Alltags, aber wir sind für eine wertvolle, schwebende Lebenssekunde verändert, beglückt, bereichert. Und wir wissen: Es könnte wieder so sein, wieder ein Tor fallen, wieder ein Mensch kommen, wieder Musik entstehen.

Man kann sich diese Szene in einem kurzen Film auf Youtube ansehen. Ganz so zufällig, wie es wirkt und klingt, entstand der Flashmob natürlich nicht. Es gehört viel Organisation und Mut dazu, so ein Ereignis zu ermöglichen und festzuhalten. Mehr als 62.000-mal wurde das das Filmchen schon angeklickt, Menschen haben vielleicht gelächelt, mitgesummt, und sind dann wieder zu ihrem Alltagsleben zurückgekehrt.

Das Glück der Musik ist täglich milliardenfach mitzuerleben auf dieser Welt, im Internet, im Konzertsaal, auf Festivals, in der Oper, in jedem Wohnzimmer. Warum also diese Zeilen über dieses eine Video?

Wie entsteht kulturelle Attraktivität im ländlichen Raum?

Schloss Kapfenburg bei Lauchheim, Ostalbkreis (Copyright Ralf Baumgarten, zur Verfügung gestellt durch die Stiftung Schloss Kapfenburg)

Der Anstoß für den Flashmob am Stuttgarter Hautbahnhof kam aus tiefster Provinz, wurde hineingetragen in das Zentrum einer Großstadt, die sich selbst als Kulturmetropole versteht, die Straßenmusiker und Bandkultur ihr Eigen nennt, stolz ist auf mehrere Orchester und eine zwar renovierungsbedürftige, aber geliebte und künstlerisch anerkannte Oper. Es fehlt nicht an Musik in Stuttgart. „Do-re-mi-fa-so …“ – die Idee zu einem Flashmob am Hauptbahnhof kam trotzdem von außen, nämlich aus dem äußersten Osten Baden-Württembergs, von der Kapfenburg. Das mittelalterliche Schlossgemäuer oberhalb des Ortes Lauchheim im Ostalbkreis hat schon Kreuzritter, Bauernkriege und Plünderungen erlebt, war nationalsozialistisches Schulungszentrum, beherbergte Vertriebene und amerikanische Soldaten. Seit zwanzig Jahren ist die Kapfenburg nun Musikschul-Akademie und Kulturzentrum, und hält in der Provinz, fernab von München, Stuttgart oder Nürnberg, die Kultur hoch. Die Burg ist Gastgeber für Musikerinnen und Musiker aller Art und aus aller Welt, kümmert sich um deren Gesundheit und sorgt für attraktive Konzerte.

Wie kulturelle Attraktivität entsteht im ländlichen Raum, das ist hier zu besichtigen. Sie entsteht nicht durch ständiges Jammern und Wehklagen, und auch nicht dadurch, sich mit eitlem Mittelmaß zufrieden zu geben. Sie entsteht, wenn engagierte Menschen ein Netzwerk knüpfen, mit größter Disziplin einen Betrieb am Laufen halten, dessen Professionalität es mit jedem großstädtischen Kulturbetrieb aufnehmen kann. Sie entsteht, wenn deshalb attraktive Künstler den Weg in die abgelegene Kapfenburg finden. Kultur auf dem Land kann wachsen, wenn politisch Verantwortliche den Mut haben, musikalische Experimente wie ein Konzert für hupende Autos oder den Guinness-Eintrag der Burg als größtes Saiteninstrument der Welt zu unterstützen, und alle Verantwortlichen dabei doch immer nach künstlerischer Ernsthaftigkeit suchen.

Hinter jedem Fenster wird geübt und gespielt

Wer durch die Innenhöfe hinaufsteigt auf die Kapfenburg, spürt genau das: Aus allen Räumen kommen Klänge der heiteren Ernsthaftigkeit, – do-re-mi-fa-so … – hinter jedem Fenster wird geübt und gespielt, gelacht und verzweifelt. Hier wurde ein vom Verfall bedrohtes Schloss nicht nur für ein Festival einmal im Jahr aufgehübscht, sondern wurde etabliert als begehrtes Ziel von Musikfreunden, Laienmusikern, Musikschülern und ihren Unterrichtenden das ganze Jahr über. Ein ständiger Flashmob! Wer einmal dort war, nimmt diese Klangwolken des musikalischen Glücks für immer mit – … la-se-do. Sie lassen uns davon träumen, auf einer Tonleiter in den Zug des Alltags zu steigen, und mit allen anderen ganz einfach Musik zu machen.

 

Der Film zum Flashmob am Stuttgarter Hauptbahnhof auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v=vtpRUfEge3U

Die Website der Musikakademie Schloss Kapfenburg: https://www.schloss-kapfenburg.de/

 

Werther liebt und stalkt

Zur Oper „Werther“ von Jules Massenet

Zwei Menschen begegnen sich, und manchmal entsteht Liebe zwischen ihnen. „Ein Tropfen Liebe“, sagte der französische Literat Blaise Pascal, „ist mehr als ein Ozean Verstand“. Schaltet Liebe den Verstand aus? Sie sollte das Gefühl unbedingter Zusammenhörigkeit sein, des Hingezogen-Seins, das Gefühl von Leere und Sinnlosigkeit, wenn der oder die andere nicht da ist, vielleicht sogar für immer verloren ist. Liebe geht „über den Zweck oder den Nutzen einer zwischenmenschlichen Beziehung“ in der Regel hinaus, schreibt Wikipedia. Sie zeige sich üblicherweise „in tätiger Zuwendung zum anderen“. Das Gefühl der Liebe könne auch unabhängig davon entstehen, „ob es erwidert wird oder nicht“.

Ist gegen die Liebe also kein Kraut gewachsen, wie es der römische Dichter Ovid einst schrieb? Ist es noch Liebe, wenn sie für die Geliebte, die nicht lieben will oder darf, zum quälenden Übergriff wird? Rund 20.000 Stalking-Fälle werden jährlich in Deutschland aktenkundig, vermutlich gibt es viel mehr davon. Im Jahr 2007 handelte deshalb die deutsche Politik; im Strafgesetzbuch gibt es seither einen Paragrafen, der verbietet, einen verschmähenden Liebespartner „andauernd und wiederholt zu belästigen“, sich ihm also gegen seinen erklärten Willen zu nähern, ihm nachzustellen mit telefonisch oder persönlich oder schriftlich gestammelten Liebesschwüren, mit Drohungen, mit unerwünschtem Klingeln an der Haustür. Aktuell wird die Regelung auch auf alle Formen der viralen Nachstellungen erweitert. Der Schutz, den der Staat Betroffenen – in den weit überwiegenden Fällen sind es Frauen – gewährt, kann bis zur Bereitstellung einer neuen Identität reichen, um für den ungewünscht Liebenden unauffindbar zu werden.

Anna Sutter hätte leben können

Die Schicksalsgöttin vor dem Stuttgarter Opernhaus

Der Stuttgarter Opernsängerin Anna Sutter hätte 1910 ein solches Gesetz geholfen, vielleicht wäre sie dann älter als 39 Jahre geworden, jedenfalls wäre sie vermutlich nicht erschossen worden von ihrem verschmähten Liebhaber Alois Obryst, der sich anschließend selbst das Leben nahm. Anna Sutter hatte sich wiederholt die Nachstellungen ihres Liebhabers verbeten; genutzt hatte es ihr nichts. Heute erinnert ein Brunnendenkmal vor der Stuttgarter Oper an ihr trauriges Schicksal. Die dort dargestellte Schicksalsgöttin trägt angeblich ihre Gesichtszüge.

„Werther“ ist die Geschichte einer Rebellion, …

Um die Qualen verschmähter Liebe geht es auch im Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ von Johann Wolfgang von Goethe. Als im Jahr 1774 der Welthit des „Sturm und Drang“ (auch so eine problematische Kategorisierung, wenn man sie in Sachen Liebe mal aus der Sicht der möglichen Opfer betrachtet) veröffentlicht wurde, war das die spannend-mitreißende Schilderung eines verzweifelten Liebesabenteuers, aber vor allem ein rebellischer Stoff gegen das Establishment. Der Held macht alles, was damals nicht vorgesehen war. Werther verliebt sich in eine standesgemäß unpassende Frau und hadert mit deren Verlobungsversprechen an einen anderen. Schließlich ignoriert er es, stürzt in einen Liebeswahn und damit sich selbst und seine Angebetete ins Verderben. Er begeht Selbstmord, was aus damaliger kirchlicher Sicht eine Sünde darstellte. Besondere Wucht erwächst diesem Stoff unter anderem daraus, dass der liebende Held sich selbst umbringt, und nicht etwa seine Geliebte (oder beide, wie im Fall der unglücklich geliebten Anna Sutter – und Tausenden anderen Fällen, von denen zu hören und zu lesen wir uns gewöhnt haben). Werther lässt Charlotte zwar am Leben, als eine verzweifelte und an ihren Gefühlen zweifelnde Frau, gezeichnet für ihr Leben – wir würden heute sagen: traumatisiert.

… aber auch einer neurotischen Liebe

Werther in der Oper Stuttgart (dem Bild Arturo Chacón-Cruz) Foto: Philip Frowein

Jules Massenet hat diesen Stoff 1892 romantisierend mit manchmal schwülstiger, oft rauschhafter Musik durchtränkt und zu einer Oper gemacht. Von Goethes politischem Rebellionsgeist ist bei Massenet nichts mehr übrig. Hier ist das Stück eine wahnhaft-romantische Liebesgeschichte. Der 1856 geborene Sigmund Freud hatte zu Massenets Zeit gerade erst damit begonnen, sich mit Neurosen als Krankheiten zu beschäftigen und der Welt die Zusammenhänge zu eröffnen, die sich aus seelischen Störungen und dem Handeln des Menschen ergeben. Die Librettisten der Oper wussten davon nichts und stellten also die narzisstische Fixierung ihres Werther auf seine eigenen Interessen nicht in Frage. Selbst dann, wenn er sich im Interesse seiner Geliebten zurückzieht, ihr mit seinem Freitod droht und ihn schließlich vollzieht, sieht er sich selbst doch immer noch heldenhaft im Mittelpunkt des Geschehens. Werther fehlt jede Erkenntnis, die wir heute zum zivilisierten Kanon der Mitmenschlichkeit zählen: dass es gleichberechtigte, andere Interessen gibt, die man auszuhalten hat. Wenn ein wacher und sensibler Mensch heute von seinem Freund eine E-Mail erhalten würde, in der über dessen Sehnsucht nach einer Geliebten steht: „Weiß der Gott, wie einem das tut, so viele Liebenswürdigkeit vor einem herumkreuzen zu sehen und nicht zugreifen zu dürfen; und das Zugreifen ist doch der natürlichste Trieb der Menschheit“ (Originaltext Goethe, zitiert nach dem Programmheft) – dann würde hoffentlich sein Alarmsystem sofort anschlagen: Hier ist eine gefährliche, eine verachtende Grenze der Liebe erreicht.

Die Oper Stuttgart hat dieses besonders liebestolle Stück Musiktheater als letzte neue Inszenierung (von Felix Rothenhäusler) an das Ende der Spielzeit 2020/21 gesetzt. Herausgekommen ist große Kunst mit strenger Ästhetik, in der uns Musizierende, Singende, Regie und Bühnenbild in diesen gescheiterten Liebenstaumel hineinziehen.

Warum sollten wir uns das heute anhören?

Das Grab von Anna Sutter auf dem Stuttgarter Pragfriedhof

Warum sollten wir uns das heute ansehen und anhören? Vor allem zum Nachdenken über Gewalt in und wegen der Liebe, über Suizide und Morde, die im Namen der Liebe, in Wahrheit aber von untröstlicher Aussichtslosigkeit betrieben werden. Niemand müsste sich heute noch so quälen wie einst Charlotte und Werther. Anna Sutter und viele andere hätten nicht sterben müssen. Heute kennen wir das Kraut, das gegen solche krankhafte Liebe gewachsen ist.

 

Jules Massenets „Werther“ an der Oper Stuttgart ist wieder zu sehen ab 12. Juni 2022: https://www.staatsoper-stuttgart.de/spielplan/a-z/werther/

Das Schicksal der Stuttgarter Opernsängerin von Anna Sutter wurde zu ihrem 100. Todestag sehr gut aufbereitet bei RONDO: https://www.rondomagazin.de/artikel.php?artikel_id=1494

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier. 

 

 

Die Politische (#0012)

Gethsemanekirche, Prenzlauer Berg, Stargarder Str. 77, 10437 Berlin

Mein Besuch am 17. Juni 2021

Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg

Das Pflaster glüht. 36 Grad zeigt das Thermometer, gefühlt sind es über vierzig. Im hochsommerlich aufgeheizten Prenzlauer Berg ducken sich die Straßencafés in den staubigen Schatten unter kümmerliche Sonnenschirme. Blanke Haut dominiert das Straßenbild, überhitzte Kinder, Eis-kaufende Eltern, sich matt dahinquälende Senioren versuchen ein nebeneinander im Kiez. Und inmitten dieser aufgeheizten Lebendigkeit steht stolz und thronend eine neo-romanische Kirche aus rotem Backstein. „Homophobie ist Sünde“ prangt als Transparent über dem Eingang der 1893 errichteten Gethsemanekirche.

Selten bekommt man eine so klar politisch orientierte Kirche zu sehen. Hier ist das Engagement für Menschenrechte nicht Nebensache, sondern steht mindestens gleichberechtigt neben der Verkündung der christlichen Botschaft. Am Zaum hängen Biografien politische Verfolgter, in der Kirche liegen Unterschriftenblätter für Solidaritätsbekundungen aus – gegen politische Verfolgung in China, der Türkei oder Belarus, für das Volksbegehren zur Enteignung der Deutschen Wohnen, für eine Schließung der menschenunwürdigen Lager an den EU-Außengrenzen. Jeden Tag um sechs finden sich in der Kirche Gläubige zu einer „Politischen Andacht“ zusammen. Diese Kirche ist ein unbequemer Ort, ein lauter Schrei für mehr Engagement gegen das Unrecht auf dieser Welt. Und das war sie auch in der Zeit des Nationalsozialismus, als die Pfarrersfrau hier Juden versteckte, und in den letzten Monaten der DDR, als sich im Schutz dieser Kirche die friedliche Umwälzung formierte. In einer kleinen Ausstellung sind die Bilder von 1989 zu sehen, dichtgedrängt saßen die Menschen im schönen, weiten, damals prall gefüllten Kirchenraum, hören dem Pfarrer zu, der Staat und Demonstranten auffordert: „Keine Gewalt!“. Von vollgefüllten Bänken kann jetzt keine Rede mehr sein bei der politischen Andacht. Wird Kirche von heute noch einmal so relevant werden für die Gesellschaft wie in diesen Zeiten? Die Gethsemanekirche ist der richtige Ort, genau darüber nachzudenken.

Hell und weit wie eine Arena: Der Innenraum der Gethsemanekirche

Und sie ist auch ein schöner Ort. Das weite Kirchenschaff entfaltet im Inneren eine fast runde, arena-artige Raumwirkung, eine einladende Halle für Stille, für Andacht, für Musik. Außen kann man um die Kirche herum gehen; was einmal ein Friedhof war, ist jetzt ein kleiner grüner Ort der Regeneration, mit Kunst unter großen Bäumen, mit schattigen Bänken.

Website der Kirchengemeinde: https://ekpn.de/vier-kirchen/gethsemane/

Die Gethsemanekirche ist auch Teil meines Textes als #Berliner Flaneur über politische Kirchen in Berlin unter dem Titel Kirchen-Politik.

12 Berliner Lektionen (30. Juni 2021)

Drei Monate in der Hauptstadt, und kein Ende der Chancen in Sicht. Der Flaneur ist nicht fertig mit dieser Stadt, aber seine Berliner Zeit ist erst einmal vorbei. Was lernt ein Stuttgarter nach drei Monaten in Berlin?

Rechne mit allem

Ein halbnackter Indianer mit Federschmuck auf dem Gehweg neben Dir? Nur kein Aufsehen deshalb. Ein Häufchen Demonstrierender quert mit dröhnendem Sound Deinen Weg und Du verstehst nicht einmal, worum es geht? Einfach abwarten und vorbeiziehen lassen. Berlin ist ein brodelnder Kessel, steckt voller Überraschungen, die aus ihm aufsteigen. Jederzeit können Menschen, Fahrzeuge, Tiere, Gerüche, Ideen, Chancen, Absurdes und Geniales, auftauchen, mit denen ein naiver Besucher zuallerletzt rechnet. Lass Dich überraschen!

Scheitere lustvoll an der Unendlichkeit der Möglichkeiten

Berlin überrascht …

Berlin zu erkunden, gleicht dem Versuch, die Unendlichkeit zu vermessen. Was diese Stadt hoch- und subkulturell vorhält, anbietet an Orten des Lernens und Gedenkens, des Spürens und Lesens und Hörens, des Grau und Grün und Bunt, des Laut und Leise – das wird man niemals alles erfassen können. Denn es entsteht täglich Neues, mehr und schneller, als der Besucher erleben kann.

Spüre Deine Wunden

Berlin mahnt …

Berlin lehrt jeder und jedem Deutschen, dass wir mehr sind als eine Nation der Auto-Erfinder und manchmal erfolgreichen Fußballer. Man muss nur hinsehen, nicht achtlos vorbei oder darüber hinweg latschen: Berlin erinnert auf fast jedem Schritt an die Brüche deutscher Geschichte. Es sind die Wunden der Nation und ihrer Entstehung, die wir in Berlin spüren, wenn wir es zulassen. Es ist Berlin, das oft stellvertretend für uns alle am Kreuz unserer Geschichte leidet.

Sei Dir Deiner Privilegien bewusst

Armut begleitet den Alltag auf vielen Straßen in dieser Stadt, sicherlich nicht nur, aber stärker wahrnehmbar in Berlin als in anderen deutschen Großstädten. Menschen, die sich mit dem Sammeln von Flaschen ihre Rente aufbessern, oder Migranten, die auf der Straße während der roten Ampelphasen das Fenster putzen oder Jonglierkunststücke vorführen, tun das auch hier nicht, weil es ihnen Spaß macht, sondern weil sie Geld brauchen für ein Leben in der großen, manchmal teuren, immer gnadenlosen Stadt.

Überprüfe Deine Vorurteile

Berlin funktioniert …

Es ist leicht, über Berlin zu lästern. Aber gemessen an den Klischeebildern, die der Rest der Republik auf die Hauptstadt klebt, funktioniert Berlin prächtig. Ja, so manches ist unzulänglich. Manchmal quellen die Mülleimer über, und nicht immer und überall fühlt man sich wohl in dieser Stadt. Die endlose Bauphase des Flughafens war geeignet für Hohn und Spott. Manchmal trifft man auf Menschen, deren „Berliner Schnauze“ sich mit sprödem Charme zu einer äußerst gewöhnungsbedürftigen Form von Kundenorientierung mischt. Aber auch das Gegenteil ist zu erleben: Humor und Engagement helfen über viele Hürden.

Bleibe gelassen

Nach dreihundert Metern rechts abbiegen, rät das Navi? Noch kein Grund, auf die rechte Spur zu wechseln. Vermutlich steht dort auch auf den verbleibenden Metern noch jemand in zweiter Reihe, diskutiert jemand sein Familienleben an der offenen Autotür, parkt ein Lastenfahrrad. Abends um acht und nichts mehr zu essen daheim? Kein Grund zur Panik, viele Läden haben noch offen, die Spätis sowieso. Notfalls liefert ein Fahrradkurier den Einkauf innerhalb garantierter zehn Minuten nach Hause. Es ist nie zu spät, es gibt immer noch eine andere Option.

Lerne Sprachen

Die Wahrscheinlichkeit, im Berliner Straßencafé das Gespräch am Nebentisch verfolgen zu können, steigt mit der Sprachkompetenz. Dass es in Deutsch stattfindet, ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Rechne damit, dass auch der Ober, der Kioskbetreiber, der Fahrradkurier Dich gar nicht versteht, wenn Du es nicht auf Englisch versuchst. Oder, je nach Kiez: Auf arabisch, türkisch, russisch, polnisch …

Steig um aufs Fahrrad

Das Fahrzeug der Wahl in dieser Stadt ist das Fahrrad, und die Berliner wissen es. Unfassbar viele Fahrräder sind unterwegs – und ihnen wird von der Stadtpolitik Vorfahrt eingeräumt. Das Ergebnis einer konsequent Radfahrer-orientierten Verkehrspolitik ist eindrucksvoll: weniger Autoverkehr auf den Straßen der Innenstadt, als man erwarten würde. Und ein Konsens der Stadtgesellschaft: Fahre nicht mir dem Auto, wenn Du es vermeiden kannst. Manchen Radfahrern genügt das noch immer nicht; als Autofahrer lebt man in der ständigen Sorge, regelwidrig abbiegende, gegen die Fahrtrichtung dahinsausende, oder nächtens gänzlich unbeleuchtete Radfahrer zu übersehen. Dabei sei gerne eingeräumt: Rücksichtslose Autofahrer bedrohen regelkonform fahrende Radler mehr als umgekehrt.

Schau hin, wer alles für Dich arbeitet

Natürlich ist das auch in Stuttgart, München, Rio oder New York so: Ein großes komplexes Gemeinwesen hält zusammen, weil viele dafür arbeiten. Es ist vielleicht der externe Blick, der dem Flaneur die Augen dafür in dieser Stadt geschärft hat. Wie viele Menschen frühmorgens aufstehen oder spätnachts heimkehren, sich müde in einen Bus oder eine U-Bahn setzen, damit der Dreck wegkommt, der im Müllraum des Hochhauses stinkend vor sich hin gärt. Damit der Verkehr geregelt wird, wenn die nächste der zahllosen Demonstrationen oder Staatskarossen sich ihren Weg bahnen kann. Damit der Drogenkranke versorgt wird, der auf dem U-Bahnsteig leblos herumliegt. Damit das ungeduldig und hungrig bestellte Lieferessen pünktlich ankommt. Damit die alte Dame von nebenan gepflegt wird. Heerscharen von Knechten und Mägden der Wohlstandgesellschaft halten diese am Laufen, rund um die Uhr, jeden Tag, bei Hitze und Kälte und Regen und Schnee.

Achte Dein Handy

Das Berliner Leben im Hier und Jetzt ist ohne ein leistungsfähiges Smartphone eine schaurige Herausforderung. Also achte das Handy, denn es ermöglicht Dir alles: Orientierung in den Straßenschluchten, Fahrkartenkauf im Nahverkehr ohne Kleingeldstress, das Auffinden der nächsten öffentlichen Toilette, das Freischalten von Fahrrädern und Fahrzeugen jeder anderen Art. Und das Nachschlagen aller Namen, Orte und Ereignisse im online verfügbaren Weltwissen. Es unterhält Dich mit Musik Deiner Wahl oder gelehrigen Podcasts, falls Dich die Reize und Herausforderungen des urbanen Flanierens noch nicht auslasten. Es stellt die Verbindung zur Welt her, jederzeit und überall. Kinderwagen-schiebend Sprachnachrichten aufnehmen ist Jungfamilien-Alltag. In die U-Bahn einsteigen und mit Knopf im Ohr telefonieren – allgemein üblich. Es wurden auch schon Radfahrer gesichtet, die freihändig dahinsausend und kopfhörer-bewaffnet das Handy vor sich haltend an Videokonferenzen teilgenommen haben.

Kümmere Dich um das Grün

Berlin im Hochsommer ist ein glühender Moloch. Himmelstürmende Betonwände, endlose Steinpflaster, graue Asphaltwüsten speichern tagsüber die Hitze der glühenden Sonne und heizen nach Sonnenuntergang die Stadt in den besonders urbanen Ecken zu einem kollektiven Saunaerlebnis auf. Die Berliner reagieren mit einer Sinfonie luftiger Kleidung, mit attraktiven Eisdielen und viel Grün. In Berlin wird gepflanzt und gegärtnert ohne Unterlass, Straßenbäume werden von Gieß-Paten mit Wasser versorgt, eifrige Anwohner legen kleine Ziergärtchen rund um die Bäume herum an und verteidigen diese hartnäckig gegen den alltäglichen Straub und Dreck der Großstadt. Urban-Gardening-Areale boomen. Und die Berliner achten und stürmen ihre Seen, ihre Wasserflächen, ihre Parks. Jedes Pflänzchen, jeder Blumenkasten, jeder Baum, jeder Park hilft gegen die Hitze der Stadt.

Lass einen Koffer zurück

„Ich hab‘ noch einen Koffer in Berlin, deswegen muss ich nächstens wieder hin“, sang in den sechziger Jahren Marlene Dietrich (und einige nach ihr). Der Text war für ein nüchternes Gemüt schon immer rätselhaft mystisch: Wo sollte denn bitte dieser Koffer sein? Zurückgelassen im Hotel? Bei Verwandten auf dem Dachboden? Durfte man sich einfach so einen Koffer vorstellen, unklaren Inhalts, verstaubt, ungeöffnet, verlockend? Und wie konnte man sich sicher sein, den Koffer auch wieder vorzufinden, wenn man nach Berlin zurückkehren würde?

„Die Seligkeiten vergangener Zeiten, sind alle noch in meinem Koffer drin“, beantwortet der melancholische Schlager diese Fragen. Ja, genauso darf man sich das wohl vorstellen.

 

 

„Ich hab´noch einen Koffer in Berlin in der Fassung von Marlene Dietrich auf Youtube:

 

 

Kirchen-Politik (20. Juni 2021)

Rund 400 christliche Kirchengebäude gibt es in Berlin, fast drei Viertel davon evangelisch, der Rest meist katholisch, einige orthodoxe Gotteshäuser sind auch dabei. Und natürlich gibt es Synagogen, Moscheen, Tempel. Ist Berlin eine Stadt der Kirchen? Jedenfalls nicht eine Stadt voller Christen. Von den 3,5 Millionen Einwohnern Berlins bekennen sich nur etwa 15 Prozent als evangelisch und etwa acht Prozent sind katholisch, genauso viele wie es Muslime in Berlin gibt. Zwei Drittel aller Berliner gelten als konfessionslos.

Es ist also kein Wunder, dass man viele Gotteshäuser in Berlin geschlossen antrifft, manche wirken abweisend oder wie aufgegeben. Jede Auswahl bleibt Willkür. Dies ist ein willkürlicher, aber politischer Rundgang durch einige Kirchen in (und eine bei) Berlin:

Die Auferstandene: Nikolaikirche

Der rekonstruierte Altar im Museum Nikolaikirche

Die älteste Kirche Berlins hat Fundamente aus dem 13. Jahrhundert, und ist keine Kirche mehr. Wir schreiben das Jahr 1980: Die DDR-Führung hatte alle Energie in die Linderung der Wohnungsnot und in die Schaffung modernen Wohnraums gesteckt. Aber sie erkannte auch: Heimat entsteht nicht, wenn man Plattenbauen aneinanderreiht. Also entschied sie sich für eine etwas eigenwillige Rekonstruktion des Nikolaiviertes, der alten Mitte Berlins – ganz nah an der Plattenwüste Alexanderplatz. Entstanden ist eine Mischung aus Neuem und rekonstruiertem Altem, über deren geschmackliche Treffsicherheit man streiten kann. Ein bisschen gemütlich ist es schon rund um die Nikolaikirche, auch sehr touristisch. Aber man kann sich schon auch wohlfühlen in dieser kleinteiligen Oase aus Cafés, Souvenirläden und Bierkneipen. In ihrer Mitte steht die Nikolaikirche mit ihren zwei himmelstürmenden, spitzen Turmdächern, die sie markant macht und von vielen Orten der Stadt aus sofort erkennbar. Die Kirche wurde zum Stadtjubiläum 1987 fast völlig neu erbaut – nach den Bomben des 2. Weltkriegs und Jahrzehnten weitgehend ungehemmter Verwahrlosung waren nur Ruinen übriggeblieben. Als Kirche war sie schon 1939 aufgegeben worden, heute ist sie ein kluges Museum über ihre eigene wechselhafte Geschichte. Der Alter wurde als eindrucksvolle Installation zusammengesetzt aus Bruchstücken, die man gerettet hatte oder in den Trümmern fand. Eine Tafel fordert die Besucher auf, fehlende Bruchstücke, die möglicherweise in den Jahrzehnten der unbeachteten Verlotterung aufgefunden oder entwendet wurden, zurückzugeben, damit man sie in dieses 3-D-Kirchenpuzzle einfügen kann. (Link zum Museum Nikolaikirche: https://www.stadtmuseum.de/nikolaikirche)

Die Verschwundene: Versöhnungskirche Bernauer Straße

Das herabgestürzte Turmkreuz der Versöhnungskirche

Die Bilder aus der Zeit nach dem Mauerbau machen still: Ein prächtiges, ausladendes, neugotisches Gotteshaus ist da zu sehen, unbenutzt, mitten im Grenzstreifen der Inner-Berliner Grenze an der Bernauer Straße. Gestiftet hatte die Kirche 1892 einst eine Kaiserin, nach dem Krieg wurde sie schnell in Stand gesetzt und war bis 1961 Heimat einer Kirchengemeinde, die sich sowohl über Ost- wie Westberliner Gebiet erstreckte. Beim Mauerbau wurde der Westzugang zugemauert, später alle anderen Gebäude auf der Ostseite abgeräumt und plattgewalzt für die Sicherheit des jungen Staates. Aber die Kirche stand wie ein mahnender Solitär alleine im Schussfeld der Grenzsoldaten. 1982 entschloss sich die DDR-Führung – letztlich mit Zustimmung der Kirchenleitung – das Gotteshaus zu sprengen, um freie Sicht zu schaffen für die Kontrolle der Grenze. Gottesdienste gab es dort ohnehin schon lange nicht mehr. Den Sprengungsbeschluss unterzeichnete damals der Vater von Gregor Gysi. Heute erinnert eine kleine moderne Kapelle an die große Kirche, die dem Weltgeschehen im Weg stand. Verbogen mahnt das bei der Sprengung herabgestürzte und später wieder aufgefundene Turmkreuz an eine Zeit, die vorbei ist und nicht wiederkommen wird, wenn wir uns bemühen. (Wikipedia zur Geschichte der Versöhnungskirche: https://de.wikipedia.org/wiki/Vers%C3%B6hnungskirche_(Berlin-Mitte))

Die Schöne: Heilandskirche Sacrow

… aus einer anderen Welt: Heilandskirche Sacrow

„Auch ich war in Arkadien“ – Irgendwoher kennt man diesen Spruch. Aber woher und was soll er eigentlich bedeuten? Na der Heilandskirche von Sacrow drängte sich die Assoziation an den traumhaft schönen Landstrich auf dem Peloponnes auf, und so musste der Flaneur erst einmal googeln: Die Phrase steht dafür, sich im Moment größten ästhetischen (oder wohl auch sonstigen) Glücks daran zu erinnern, dass trotz dieses perfekten Momentes doch alles im Tod endet. Der Mensch stirbt, selbst wenn er am schönsten Ort der Welt – in Arkadien – gewesen ist. Die Berliner kennen dieses Arkadien auf Potsdamer Gebiet vor allem vom gegenüberliegenden Ufer, der Berliner Seite der Havel, aus. Das Kirchlein wurde 1844 vor allem aus ästhetischen Gründen gebaut. König Friedrich Wilhelm IV. ging es darum, eine Traumlandschaft noch schöner, geradezu perfekt zu machen. Den Schlössern von Babelsberg und Glienicke, den Parks und Bäumen, den glitzernden Wasserflächen, den dahingestreuten, grün überquellenden Inselchen fügte er noch etwas mehr von unwirklicher Schönheit hinzu: Eine Kirche im italienischen Renaissance-Stil. Wer sich auf den weiten Weg zur Kirche aufmacht (und sich nicht mit dem Blick auf sie über das Wasser zufriedengibt), wird belohnt mit einem Ort, in dem blauglänzendes Wasser, grünbunt-prächtige Natur und der die Kirche umgebende Arkadengang aus schlanken Säulen eine sinnliche Symbiose eingehen – willkommen in Arkadien! Einen solchen ästhetischen Blick hatten die Grenzverantwortlichen der DDR nicht, als sie die Kirche zwischen 1961 und 1989 als Teil ihrer Mauer integrierten und das Kircheninnere für sehr weltliche Zwecke missbrauchten. Alte Fotos zeigen, wie das kleine Kirchenschiff gleich einer Wucherung in das dem Havelwasser zugewandte Niemandsland jenseits der Mauer Richtung Westen herausragte. Immerhin überstand die Kirche diese Jahre und strahlt heute im alten Glanz als Teil des landschaftlichen Weltkulturerbes an der Havel rund um Potsdam und Berlin. (Geschichte der Heilandskirche u.a. bei den Preußischen Schlössern und Gärten: https://www.spsg.de/schloesser-gaerten/objekt/park-sacrow/)

Die Engagierte: Gethsemanekirche am Prenzlauer Berg

Gethsemanekirche im Prenzlauer Berg

„Homophobie ist Sünde“ prangt als Transparent über dem Eingang der 1893 errichteten Gethsemanekirche. Davor steht eine segnende Christusfigur, die aus der gesprengten Versöhnungskirche hierher verbracht wurde. Selten bekommt man eine so klar politisch orientierte Kirche zu sehen! Hier ist das Engagement für Menschenrechte nicht Nebensache, sondern steht mindestens gleichberechtigt neben der Verkündung der christlichen Botschaft. Am Zaum hängen Biografien politische Verfolgter, in der Kirche liegen Unterschriftenblätter für Solidaritätsbekundungen aus – gegen politische Verfolgung in China, der Türkei oder Belarus, für das Volksbegehren zur Enteignung der Deutschen Wohnen, für eine Schließung der menschenunwürdigen Lager an den EU-Außengrenzen. Jeden Tag um sechs finden sich in der Kirche Gläubige zu einer „Politischen Andacht“ zusammen. Diese Kirche ist ein unbequemer Ort, ein lauter Schrei für mehr Engagement gegen das Unrecht auf dieser Welt. Und das war sie auch in der Zeit des Nationalsozialismus, als die Pfarrersfrau hier Juden versteckte, und in den letzten Monaten der DDR, als sich im Schutz dieser Kirche die friedliche Umwälzung formierte. In einer kleinen Ausstellung sind die Bilder von 1989 zu sehen, dichtgedrängt saßen die Menschen im schönen, weiten, damals prall gefüllten Kirchenraum, hören dem Pfarrer zu, der Staat und Demonstranten auffordert: „Keine Gewalt!“. Von vollgefüllten Bänken kann jetzt keine Rede mehr sein bei der politischen Andacht. Wird Kirche von heute noch einmal so relevant werden für die Gesellschaft wie in diesen Zeiten? Die Gethsemanekirche ist der richtige Ort, genau darüber nachzudenken. (Website der Kirchengemeinde: https://ekpn.de/vier-kirchen/gethsemane/)

Die Mahnende: Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche

Draußen tobt das Leben. Junge Menschen sitzen, lachen, lärmen, versammeln sich um Pizzakartons und Getränkedosen. Autos umkurven lautstark die Verkehrsinsel, die sich „Breitscheitplatz“‘ nennt. Busse schnurren heran, Polizeisirenen jaulen. Mit dicken Taschen bepackt schleppen sich Konsumfreudige in die Außengastronomie. Wenige von all diesen Menschen haben Blick für das Ensemble aus Alt und Neu, an dem sie vorbeiziehen. Der Kirchenbau aus den Jahren 1891 bis 1895, errichtet im Auftrag von Kaiser Wilhelm II. im Gedächtnis an seinen Vater – was für eine absurde Gründungsgeschichte aus heutiger Sicht für eine Kirche! – hatte einmal den höchsten Kirchturm Berlins, und ist jetzt nur noch eine Ruine. Daneben steht die 1961 fertiggestellte, achteckige neue Kirche. Wer dort hineingeht in diesen blau überfluteten Raum, beamt sich schlagartig eine andere Welt. Still ist es hier, nachdenklich und andächtig. Ein paar Kerzen züngeln goldgelb im schimmernden Blau, das durch 20.000 Glasbausteine glüht und dieser Kirche ihr ganz besonderes Licht gibt. Die alte Gedächtniskirche war ein Opfer der Bomben geworden und mahnt nun als Ruine an die Zerstörbarkeit unserer Existenz. Die neue mit ihrer blauen Stille mahnt vor allem daran, dass es in allem Trubel immer auch einen Ort geben darf, in dem die Zeit stillsteht. An wen oder was gedenken wir hier? Eher daran, als an einen Kaiser. (siehe auch #1000Kirchen) 

Die Mutige: Verklärungskirche in Marzahn

Darf ein Christus so offenkundig leiden? – Kath. Kirche Verklärung d. H. in Marzahn

In diesen Zeilen klang immer wieder Kritik am Umgang der sozialistischen DDR mit ihren Kirchen an. Aber wie so oft ist das Bild nicht so eindeutig. Es waren Kommunisten, die die Wiedererrichtung der Nikolaikirche – wenn auch aus Museum – beschlossen. Und wollen wir es verurteilen, dass dieser chronisch devisenknappe, atheistische Arbeiter- und Bauernstaat seit 1972 es den Kirchengemeinden ermöglichte, für Renovierungen und Neubauten Geld aus dem Westen anzunehmen? Der Grundstein für die katholische Kirche „Verklärung des Herrn“ in Berlin-Marzahn wurde 1984 gelegt, das Geld für den Bau kam größtenteils aus dem Westen. Eröffnet wurde sie 1987. Der Berliner Stadtteil Marzahn steht bis heute wegen der unfassbaren Ansammlung von Plattenbauwohnungen vor allem bei Westberlinern und Westdeutschen in äußerst zweifelhaftem Ruf. Mehr als 100.000 Menschen leben da heute – die allermeisten davon in renovierten Hochhäusern – für eine katholische Kirche echte Diaspora. Die Kirche „Von der Verklärung des Herrn“ thront unmittelbar über der vierspurigen Landsberger Allee. Ein nüchterner, moderner Kirchenraum ohne architektonischen Schnickschnack steht da, daneben ein alleinstehender moderner, ebenso schlichter Kirchturm. Mutig war die Gemeinde von der „Verklärung des Herren“ in der Ausstattung. Eine vier Meter hohe Figur von Christus am Kreuz (aber ohne Kreuz) dominiert den Raum, und sagt ohne ein Wort alles über das Leid am Kreuz, idealisiert nichts und redet nichts schön am Tod. Die Figur stammt aus dem Jahr 1930 und wurde vom Tiroler Künstler Hans Perathoner geschaffen, der sie aus einem einzigen Eichenstamm herausschlug. Seither wandert sie wie ein Untoter durch verschiedene Depots und Kirchen Berlins, da sie „nicht den üblichen Kirchenvorstellungen“ entsprach (wie ein diplomatisch formulierender Autor auf Wikipedia schreibt) und ist jetzt als Leihgabe in dieser modernen Kirche gelandet. Kirchenasyl für einen leidenden Christus in Marzahn. (Wikipedia zur Kirche Verklärung des Herrn: https://de.wikipedia.org/wiki/Kirche_von_der_Verkl%C3%A4rung_des_Herrn)

 

Streitgespräch der Prachtstraßen (15. Juni 2021)

Dies ist die Aufzeichnung eines unwahrscheinlichen Streitgesprächs. Es findet statt – so stellt sich das der Flaneur vor – am Brandenburger Tor in Berlin, und es treffen sich die beiden Prachtstraßen dieser Stadt: Der Kurfürstendamm, hier kurz der „Damm“ genannt, und die Karl-Marx-Allee, also die „Allee“. Natürlich kommt die Allee von Osten und der Damm von Westen.

Allee: Freundschaft, Kurfürstendamm! Finde ich gut, dass wir uns auf meinem früheren Staatsgebiet treffen.

Damm: Hallo, alte Sozialistin, ich bin Dir gerne entgegengekommen. Eigentlich hatte ich die Straße des 17. Juni als Treffpunkt vorgeschlagen …

Allee: … eine Provokation!

Damm: … aber es hätte dafür gute historische Bezüge gegeben. Und geografisch wäre der Tiergarten die Mitte zwischen uns gewesen, habe ich extra auf Google Maps nachgeguckt. Aber von mir aus lassen wir das, alles alter Tobak, Du aus der Zeit gekommene Kollegin.

Der Strausberger Platz eröffnet das Ensemble der Karl-Marx-Allee

Allee: Da höre ich sie schon wieder, die westliche Arroganz. Spare Dir unbegründeten Hochmut. Als erstes sollten wir festhalten, dass ich unbestreitbar die Schönere von uns beiden bin. „Karl-Marx-Allee“ – schon der Name! Und diese wunderbare Monumentalarchitektur, eine geschlossene, prächtige, verkachelte Häuserfront auf beiden Seiten fast zwei Kilometer lang, Säulen und Kapitele, dazwischen Grünflächen und Bäume. Da kannst Du nur neidisch sein, bei Deinem Wirrwarr von Konsumtempeln.

Damm: Ich gebe überhaupt nichts zu. Etwas zugeben, das war noch nie meine Stärke. Und ich habe die Geschichte auf meiner Seite. Du musstest erst mühsam errichtet werden, viele alte Häuser …

Allee: … also das waren genauso wie bei Dir alles Ruinen …

Damm: …ja, ok, aber sie mussten dafür weichen, damit man für Deine Breite Platz schaffen konnte: Für die Paraden, für die Panzer und Raketen, für die Tribünen Deiner kommunistischen Autokraten. Und soll ich Dich daran erinnern, wie Du eigentlich ursprünglich geheißen hast? Soll ich …?

Allee: Lass doch den alten Kram …

Damm: Jedenfalls war Dein Karl Marx als Namensgeber erst zweite Wahl. Ursprünglich war das ein gewisser…

Allee: Still jetzt!

Damm: … ein gewisser Stalin, den ihr mit Deinen Arbeiterpalästen ehren wolltet. Ein Massenmörder! Ich dagegen war schon immer da, früher als Weg zur Jagd unseres Kurfürsten, später hat sich Otto von Bismarck für mich eingesetzt. Auf mir fuhr die erste dampfgetriebene Straßenbahn, und ich war die wichtigste Amüsiermeile Berlins in einer Zeit, die heute alle an Babylon erinnert.

Allee: Ha! Erst der Kurfürst und dann Bismarck! Und da spottest Du über Ulbricht und Honecker als Autokraten! Das waren wenigstens Repräsentanten der Werktätigen, der einfachen Leute, der Arbeiter und Bauern, die dort die Paraden unserer Armee abgenommen haben, …

Damm: Repräsentanten? Von Demokratie kann da aber keine Rede sein!

Allee: Beim Kurfürst und  bei Bismarck noch weniger.

Damm: Von mir aus, lassen wir die Herrscher von damals aus dem Spiel. Aber nachdem Ihr Eure Mauer gebaut hattet, war die Welt doch wohl klar geordnet: Auf meiner Seite gab es nur noch lupenreine Demokraten, die über mein Pflaster flanierten.

Allee: So, so – „lupenreine“ Demokraten seid Ihr gewesen? An Deinem Pflaster klebt das Blut von Rudi Dutschke, vergiss das nicht. Und mit Polizeiknüppeln habt Ihr auf die Demonstranten gegen den Vietnam-Krieg eingeprügelt.

Damm: Das war schon eine schwierige Zeit. Muss ich zugeben. Aber geschunden wurde ich dabei, die schönen Schaukästen haben sie damals eingeschlagen, meine Schaufenster demoliert. Mir tut es heute noch, wenn ich daran denke.

Allee: Mein Beileid. Solche Streitereien auf meinem Rücken hatten wir nicht, dafür haben Walter und Erich gesorgt. Aber weißt Du eigentlich, wie schwer die Panzer und die Raketen-Laster eigentlich sind, die ich aushalten musste?

Damm: Nee, mit Militärparaden habe ich bis heute nichts zu schaffen. Da bin ich zu eng für. Das hast Du jetzt von Deiner Breite und Pracht.

Allee: Ich bin eben schöner als Du.

Damm: Warum kommen dann alle Menschen zu mir, und nicht zu Dir? Täglich muss ich mich mit Millionen Menschen herumschlagen, die auf mir rumtrampeln, tütenschleppend sich von einem Markenladen zum nächsten durchschlagen. Dabei gibt es diese Läden in jeder größeren Stadt immer gleich. Ich sag Dir, das ist eine Plage, dauernd das Getrappel, und manchmal stehen sie ewig lang auf mir herum, nur um in den Apple-Shop reinzukommen.

Allee: Deine Probleme hätte ich gerne! Ich erinnere mich gut, als das auch bei mir noch so war. Jeder, der in unserem sozialistischen Land etwas Besonderes gesucht hat, kam in die Karl-Marx-Allee – die erste Einkaufsadresse im ganzen Land! Edle Tuche, die wenigen aus dem Westen importierten Jeans, gute Leckereien, manchmal sogar Orangen und Bananen – alles das gab´s in der Karl-Marx-Allee. Und dazu das schöne Restaurant Moskau, das schicke Hotel Berolina, die großen Kinos und die Mokka-Eisbar – ach war das schön! Bei mir war richtig was, los, sag ich Dir. Weißt Du was, Du Wessi-Jammer-Damm: Ich habe mich inzwischen von den Militärparaden erholt. Gib mir was ab von Deinen Markenshops, ein paar Leute mehr auf meinem panzergeprüften Pflaster machen mir nichts aus.

Damm: Da musst Du erstmal Deinen Denkmalschutz loswerden. Da darf ja kein Gucci oder Prada sein Logo fett vorne hin montieren!

Denkmalschutz Ost: Wein drin, Briefmarken obendrauf

Allee: Kann ich das ändern? Stimmt schon, hier wird eben auf Geschichte und Schönheit geachtet, bei Euch geht es immer nur um Kommerz. Sogar meine alten sozialistischen Leuchtreklamen stehen unter Denkmalschutz. Deshalb muss einer meiner Geschäftsleute sein Weinlokal unter der Leuchtschrift „Briefmarken“ betreiben.

Denkmalschutz West: Eine Verkehrskanzel am Kurfürstendamm

Damm: Ich fasse es nicht, wer kommt denn auf so eine Schnapsidee? Sowas fiele mir nicht ein. Wir haben nur eine Verkehrskanzel aus den 50ern, die unter Denkmalschutz steht.

Allee: Ihr wollt mich eben als nostalgisches DDR-Museum erhalten. Sogar die schöne Karl-Marx-Buchhandlung steht leer. In dieser Lage, bei diesem Namen! Schon traurig, aber dafür bin ich eben auch die Schönere von uns beiden.

Damm: Fang nicht schon wieder damit an! In Deinen Prachthäusern macht schon deshalb kein toller Laden auf, weil es in Deinen Seitenstraßen keine so reichen Leute gibt wie bei mir, die da einkaufen könnten.

Allee: So ein Blödsinn! Ja, wir sanieren eben aus unseren sozialistischen Plattenbauten, die hinter meinen schönen Kachelfassaden stehen, nicht die Leute heraus. An Deiner Seite, mein lieber geldgieriger Kurfürstenkollege, kann man sich das Leben eben gar nicht mehr leisten, so ist das. Bei mir schon.

Damm: Und warum sieht man dann auch bei Dir so viel Armut auf der Straße, Menschen ohne Wohnung, Alkoholkranke, flaschensammelnde Rentner?

Allee: Das ist gemein! Die gibt es alle bei Dir auch, und zwar ganz üppig. Man muss nur genauer hinschauen, weil Dein ganzer Glitterglanz und Deine Leuchtreklamen so blenden. „Und man sieht die im Licht, die im Dunkeln sieht man nicht“, hat schon Bertolt Brecht geschrieben. Recht hat er.

Damm: Anderes Thema, schöne Allee! Kannst Du mir nicht etwas von Deinen Grünflächen abgeben, zum Beispiel die Weberwiese?

Allee: Das könnte Dir so passen. Ihr Wessis glaubt immer, Ihr könnt alles kaufen. Du bekommst gar nichts von mir: keine Kachel, keine Säulenarchitektur, keinen meiner Fontänenbrunnen, kein Grün. Ich will alles behalten, was mich so schön macht.

Damm: Dann wirst Du in Schönheit sterben.

Allee: … und Du an Deinem Geld ersticken.

 

 

Wer sich die Geschichte der beiden Prachtstraßen Berlins näher zu Gemüte führen will, kann dies z.B. auf Wikipedia tun:

Kurfürstendamm: https://de.wikipedia.org/wiki/Kurf%C3%BCrstendamm

Karl-Marx-Allee: https://de.wikipedia.org/wiki/Karl-Marx-Allee

 

 

 

Farbfilm (7. Juni 2021)

„Du hast den Farbfilm vergessen!“ schimpfte 1974 die 19jährige Sängerin der Gruppe „Automobil“, Nina Hagen, ihren Reisebegleiter Micha. „Automobil“ landete damit in der Schlagerparade der DDR.

„Alles grau“, urteilte das Westkind

Brauchte man in der DDR einen Farbfilm? „Nun glaubt uns kein Mensch, wie schön ’s hier war“, ging der Text des Liedes weiter, „alles Blau und Weiß und Grün – und später nicht mehr wahr!“ Es gab eine Zeit, in der westdeutsches Vorurteil dem Osten unseres Landes attestierte, dort sei „alles grau“. Und tatsächlich kann sich der Flaneur gut an seine erste Reise in die gerade ganz neu und frei zugänglich gewordene Noch-DDR erinnern. Die damals sechsjährige Tochter schaute nach dem Überwinden der nicht mehr gesicherten innerdeutschen Grenze lange und fasziniert aus dem Fenster, die ersten Dörfer kamen ins vorbeiziehende Bild, und was sagte das unvoreingenommene Westkind? „Alles grau!“

Alles grau: Die Topografie des Terrors und das Bundesfinanzministerium hinter dem Mauer-Reststück

Wer heute durch Berlin wandert oder fährt, kann West und Ost nicht mehr an der Farbigkeit unterscheiden. Aber farbig bunt ist deshalb noch längst nicht alles. Von einem Ort, der „Topografie des Terrors“ heißt, erwarten wir vielleicht auch aus gutem Grund nicht gerade Farbigkeit. Hier wird kein Farbfilm benötigt. Der Ort fordert den Besucher als graue Steinwüste, ein eingezäuntes Areal, ein modernes graues Gebäude in seiner Mitte, ein abgesenkter Graben, ein langes Stück DDR-Mauer an seiner Seite – alles grau. Es bedarf einiger Mühe, sich bewusst zu machen, was das hier eigentlich für ein leeres Straßenkarree ist. Häuser standen her bis zum Kriegsende, Paläste, prächtige Bauten, ein nobles Hotel, aber es gab auch Hinterhöfe, Garagen, Gärten, Lauben. Wenig davon ist übrig, alles ist platt und grau. Die „Topografie des Terrors“ wurde 1987 nach langer Diskussion zu einer begehbare Gedenkstätte, die erinnern soll an das Grauen, das in nationalsozialistischer Zeit dort geschah. Denn hier standen die Zentralen des Terrorregimes, das Hauptquartier von SS und SA, von Gestapo und Polizei, alle auf diesem Fleck, vereint zwischen vier Straßen.

Bomben der Alliierten zerstörten das Zentrum des Grauens, Ruinen blieben übrig von der brutal-rechtlosen Machtausübung. In den 60er Jahren wurde entschieden, das unwirtliche Gelände unmittelbar an der Mauer abzuräumen – und nichts von den Palästen zu erhalten, in denen die Mörder residierten, folterten, quälten – Betriebsfeste feierten, zu Geburtstagen anstießen, Siege bejubelten und Niederlagen schönredeten. Was man heute noch dort findet ist ein modernes Dokumentationszentrum über die Nazidiktatur und eine informative Freiluftausstellung über Deutschlands Irrweg von der Weimarer Republik hin zur totalen Niederlage im selbst angezettelten „totalen Krieg“. Alles wichtig und sehenswert, vieles davon schon hundertmal gesehen.

Moderne Archäologie

Was diesen Ort besonders macht ist so etwas wie moderne Archäologie. Unter dem Schutt der abgeräumten Nazi-Paläste wurden bei der Neugestaltung als Gedenkort die immer noch vorhandenen Pflastersteine der Einfahrten gefunden, über welche die Opfer der Gestapo in die Folterkammern gekarrt wurden. Die eingestürzten Eingangstore der Gestapo-Zentrale, kantige Ruinen, mahnen, einst unbeachtet liegengelassen, jetzt an die Todesangst der Menschen, die das Osttor einst passierten. Unterirdische Gefängniszellen der Gestapo wurden ausgegraben und pietätvoll wieder zugeschüttet, aber markiert. Die graue Topografie deutet die angelegten bombensichern Kellergänge an, zeigt die unterirdisch angelegten Räume einer Cafeteria der Folterknechte.

Die Westdeutschen der Nachkriegsjahre vergaßen sicher keinen Farbfilm, wenn sie in den Urlaub fuhren. Aber die Orte ihrer eigenen grauen Vergangenheit wollten sie gerne aus den Augen und damit aus dem Sinn haben. Alle möglichen Verwendungszwecke für die leere Brache direkt an der Mauer wurden diskutiert. In den 70er Jahren richtete Westberlin schließlich auf dem Gelände ein „Autodrom“ ein, einen Freizeitpark, auf dem man das Autofahren üben konnte – ohne Führerschein hinweg über die Folterkammern des Führers.

Heute denken wir anders. Der Gang über das weite Gelände wird zur Zeitreise vom Grauen ins Grüne. Der Besucher kann das ganze Gelände abschreiten, einige der alten Trassen des Autodroms nutzend, und findet sich bald in einem idyllischen Robinienwäldchen wieder, in dem die Blumen blühen und die Bienen summen. Zurück führt der Weg zur Betonrohr-bewehrten grauen Mauer, das von Mauerspechten durchlöcherte, angenagte, jetzt unter Denkmalschutz stehende Monument der deutschen Teilung. Die Geschichte erlaubt uns, heute ohne Schmerz über sie hinweg zu sehen, hinauf zum Gebäude des heutigen Bundesfinanzministeriums, das so grau und abweisend dasteht, als wollte es allen Klischees von der grauen DDR und dem öden Grau jedes Bürokratenapparates gerecht werden.

Olaf Scholz ist am Aussehen seines Dienstsitzes unschuldig. Das „Detlef-Rohwedder-Haus“ wurde als Monumentalbau von den Nazis errichtet, beherbergte das Reichswehrministerium, später in der DDR das „Haus der Ministerien“ und gab so vielen grauen Bürokraten der DDR einen Arbeitsplatz. Nach dem Fall der Mauer war der graue Kasten dann Sitz der Treuhandanstalt (nach dessen ermordeten Präsidenten er später benannt wurde) und seit 1999 ist dort der Sitz des Bundesfinanzministers. Vermutlich würde der Minister schon am Denkmalschutz scheitern, wenn er den Versuch unternähme, sein Haus bunt anmalen zu lassen.

Das Bunte muss von woanders her kommen

Alles Bunt: Die roten Bäume von Yayoi Kusama beim Gropius-Bau

Das Graue gehört zu diesem Gebäude, wie das Grauen zur Topografie des Terrors gehört. Also muss das Bunte von anderswo kommen. Und siehe da, Blick zurück, keine hundert Meter, außerhalb der Einzäunung, da wartet es schon, das überraschende Bunt. Stehen da tatsächlich knallrote Baumstämme mit leuchtend weißen Punkten? Wie bitte – rote Baumstämme mit weißen Punkten? Kann das sein und wenn ja – wie und warum? Der Anblick ist unglaublich und macht so hoffnungstrunken wie das Licht am Ende eines zu langen Tunnels, so glücklich wie das Durchbrechen eines neuen, strahlenden Motivs in der Musik, wie die erste Blüte im Schnee.

Rote Bäume mit weißen Punkten? Gewachsen können sie so nicht sein, also nochmal hingeguckt: Die bunten Bäume sind eingewickelt und sie sind ein Kunstwerk, Teil einer Ausstellung der japanischen Künstlerin Yayoi Kusama im benachbarten (von außen übrigens auch ziemlich grauen) Gropius-Museumsbau. Gelockt von den roten Bäumen, schnell online einen Timeslot gebucht, den Corona-Test gezückt, und raus aus der grauen „Topografie“ rein in den Ausstellungpalast. Durstig nach Buntheit, nach Farbenpracht und Vielfalt. Im Foyer räkeln sich die roten Punkte im dichten Gewirr dicker Tentakel über-mannshoch bis ins Obergeschoss der Halle, bilden einen Dschungel der Farbenpracht, laden ein zu weiteren farbigen Abenteuern der Kunst. Man muss nicht alles verstehen, was sich die Künstlerin aus dem fernen Osten dabei gedacht hat, aber dem bunten Zauber der manchmal durch Spiegel ins Unendliche gesteigerten Farbigkeit ihrer Werke wird sich niemand entziehen, der sensiblen Sinnes ist.

Noch mehr Farbe in der Ausstellung der japanischen Künstlerin

Übersatt erfüllt von Farben tritt der Besucher wieder heraus in das reale Berlin, das jeden Tag so bunt gepunktet sein kann, wie der Stamm dieser Bäume, zwischen denen er jetzt steht. Bunt wie das frische Grün an den Zweigen der rotgepunkteten Bäume, oder so gelb wie die vorbeirauschenden DHL-Autos, oder so leuchtend blau wie der sommerliche Himmel. Oder so grau wie das Finanzministerium.

 

 

„Du hast den Farbfilm vergessen“ mit Nina Hagen auf youtube (hier in einer Live-Aufnahme von 2018):

Die Website der Topografie des Terrors: https://www.topographie.de/topographie-des-terrors/

Die Website der Ausstellung von Yayoi Kusama (noch bis 15.8.2021): https://www.berlinerfestspiele.de/de/berliner-festspiele/programm/bfs-gesamtprogramm/programmdetail_299677.html

Hier blickte Fontane vom Turm (#0008)

St. Nikolai, Berlin-Spandau, Reformationsplatz 1, 13597 Berlin

Mein Besuch am 30. Mai 2021

St. Nikolai, Innenraum und gotischer Altar

Eine große klare Kirche, hell und doch streng. Das gotische Gewölbe weist in den Himmel, der Kirchenraum ist breit gegliedert und lädt zum stillen Rundgang ein. Die Kirche ist sehr alt; im Rohbau um 1370 erstmals fertiggestellt, ein 1398 gestiftetes gotisches Taufbecken ist bis heute erhalten. Später wurde die Kirche neugotisch von Karl Friedrich Schinkel restauriert, der Turm brannte mehrfach aus und trägt eine barocke Spitze mit einer Aussichtskanzel, die schon Theodor Fontane in seinen „Wanderungen“ für einen ersten Rundblick auf das Havelland nutzte (siehe auch „Im Brieselang“ unter #BerlinerFlaneur).

Wer das Glück hatte, wie ich die Kirche geöffnet zu erleben, und das auch noch bereichert durch  Klavierspiel einer Kirchenmusikerin, findet sein stilles Glück in diesem Raum.

Barocke Kanzel, um 1700, Holz

Während des Nationalsozialismus war hier Superintendent Martin Albertz tätig, ein mutiger Mann aus dem kirchlichen Widerstand gegen das Hitler-Regime. Diesen Widerstand musste er nicht nur gegenüber dem Staat durchsetzen, sondern auch gegenüber der Mehrheit seiner eigenen Amtsbrüder und seines Kirchengemeinderates. Er war Mitbegründer und eine der führenden Vertreter der „Bekennenden Kirche“, die sich gegen die Gleichschaltung durch das NS-Regime wehrte.

Mehr über Martin Albertz: https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Albertz

und über St. Nikolai auf der Website der Pfarrgemeinde: https://nikolai-spandau.de/page/2062/st-nikolai-kirche

und der Text von Fontane im Original: https://www.textlog.de/41235.html