Pfarrkirche Maria Krönung, Matthias-Grünewald-Straße 45, 97980 Bad Mergentheim (Ortsteil Stuppach)
Mein Besuch am 5. August 2021
Maria Krönung in Stuppach bei Bad Mergentheim
Der Zufall hatte mich in die Landschaft zwischen Mainfranken und Hohenlohe getrieben, und auf dem Weg zur „Schutzmantelmadonna“ von Hans Holbeim d.J. in Schwäbisch Hall (siehe dazu meinen Essay als #Kulturflaneur unter dem Titel „Zwei Männer und eine Madonna“) führte der Weg vorbei am Hinweisschild „Stupppacher Madonna“. Also schnell einmal abgebogen, den Berg hinaufgefahren und angehalten an der kleinen Pfarrkirche Maria Krönung, die über das Dorf wacht, das der Madonna ihren Namen gab.
Die Kirche selbst ist eher unspektakulär, ein klarer, gotischer Kirchenraum, lichtdurchflutet und streng. Eine sehr stimmige Raumwirkung, symmetrischer Aufbau. Ich war alleine dort und habe den Raum als einladend und intim empfunden.
Das farbenfrohe Madonnenbildnis von Matthias Grünewald in einer eigens dafür errichteten Seitenkapelle
Die schon an der Straße ausgeschilderte Madonna hängt in einer Seitenkapelle. Es handelt sich um das über 500 Jahre alte Madonnengemälde von Matthias Grünewald (ca. 1480 bis ca. 1530) , das sich seit 1812 in Stuppach befindet. Die Geschichte des Bildes ist ein Nachlesen Wert, es wurde wiederholt auch inhaltlich verändert. Bis Ende des 19. Jahrhunderts galt der weltberühmte Meister Rubens als sein Schöpfer, und Zuschreibung durch Kunstexperten auf Matthias Grünewald kam bei den Stuppachern als „Herabstufung“ gar nicht gut an. Aus heutiger Sicht ging man über viele Jahre mit dem Bild wohl auch konservatorisch recht ruppig um, schnitt es auf passende Größe zu und nahm nicht sachgemäße Ausbesserungen und Konservierungen vor.
Das Bild ist leuchtend bunt, und insofern schon eine Überraschung. Ich habe lange versucht, einen Zauber zu finden in dieser farbigen Mariendarstellung; mich hat sie nicht erreicht. Also weiter nach Schwäbisch Hall, zu einer anderen Madonna!
Meine eigene Kindheitskirche! Hier wurde ich getauft, habe ich gebeichtet und Kommunion gefeiert, diese Kirche hat mein eigenes Kirchenbild geprägt durch Hunderte von Sonntagsbesuchen, gemeinsam mit meinen Eltern.
Wenn ich mich heute St. Salvator nähere, erlebe ich außen vieles verändert; es gibt einen einladenden Vorplatz mit Baum und Rundbank, wo in meiner Kindheit nur Autos standen; eine neue Rampe erlaubt auch Kinderwägen und Rollstühlen das Betreten der Kirche. Aber im Inneren finde ich auf den ersten Blick die Kirche fast unverändert vor, als sei die Zeit stehen geblieben. Das hohe gotische Kirchenschiff strebt noch immer wie seit Jahrhunderten zum Himmel, innen wirkt die Kirche viel weiträumiger als von außen, wo sie sich eher unauffällig in das mittelalterliche Stadtbild der Fachwerk-Kleinstadt einfügt. Nicht einmal einen Turm hat sie, nur einen Dachreiter, was mich als Kind geradezu gekränkt hat.
Die Zeit ist aber nicht stehen geblieben. Vor zehn Jahren wurde die Kirche komplett saniert, dabei drei Fenster im Chor erneuert und mit modernem Farbspiel versehen, welche die Kirche in warmes Licht tauchen. Die Deckenbögen im Chorraum sind jetzt farbig bemalt, die Wände weißer als ich sie in Erinnerung hatte.
Seit Jahrhunderten unverändert, wie auch das, was dahinter warte – Das Kirchenportal von St. Salvator
Aber sonst erinnert mich die Kirche vor allem an die Beharrlichkeit der Zeit: Die Schriften liegen noch im gleichen Schriftenstand wie vor fünfzig Jahren, es riecht noch wie in meiner Kindheit, und wahrscheinlich knarzen auch die Holzstufen zur Empore noch immer so wie damals, aber die Tür dorthin ist jetzt abgeschlossen – das ist neu. Und dass die Kirche ihre Gründung im 14. Jahrhundert einem sogenannten „Hostienwunder“ zu verdanken haben soll, hatte ich bestimmt im Heimatkundeunterricht gelernt, aber längst vergessen. Das Wunder bestand darin, dass in einem brennenden Haus alles Weltliche vernichtet wurde, aber die Hostie für einen dort Sterbenden alle Verwüstungen des Feuers unbeschädigt überstanden haben soll. Auch wenn man Probleme hat, solche Geschichten zu glauben, ist diese doch eine schöne Parabel für Beständigkeit im Wandel.
Die junge Frau sitzt im Regionalzug. Der Schaffner pfeift, und der Zug setzt sich in Bewegung. Sie blickt aus dem Fenster und beginnt zu summen. Im Zug herrscht Unsicherheit. Was ist denn das für ein Verhalten? Kinder kichern, Erwachsene drehen sich um. Aber die Melodie steckt an und überwindet die anonyme Stille der zufälligen Fahrgemeinschaft. „Wir machen Musik“, nehmen die ersten das Summen auf – „da geht Euch der Hut hoch, da geht Euch der Bart ab!“ Bald gesellen sich immer mehr mutige Singende dazu. „Do – re – mi – -fa – so …“, der ganze Zug füllt sich mit der geträllerten Tonleiter. Als die singende Reisegesellschaft ankommt und aussteigt, gesellen sich Blechbläser dazu, die Rolltreppe im Bahnhof rollt plötzlich wie im Rhythmus des Ohrwurms, noch mehr Menschen schließen sich an, umstellen ein plötzlich auftauchendes Schlagzeug. Junges Volk nimmt Videos auf und verschickt Fotos, Bürovolk schwingt die Aktentaschen und Shopping-Aktive singen mit, es wird getanzt im Takt des Liedchens. Schließlich marschiert ein ganzer Spielmannszug herbei und trötet ohrenbetäubend das Lied von der Musik. Ein ganzer Bahnhof voller Klänge! Dann ist es vorbei – und die zufällig zusammengewürfelte Menge spürt das Glück des gemeinsam erlebten Moments, das Lächeln, das Aufatmen des Gelingens. Es wird geklatscht, und dann zerstreut sich die Musikgemeinde so unvermittelt, wie sie sich gefunden hatte.
Der Flashmob wurde 62000-mal geklickt
Was hier erlebt wurde, war jener Wimpernschlag, in dem wir den Ball im Tor liegen sehen; diese Sekunde, in der wir erkennen, dass ein sehnlich erwarteter Mensch aus dem Zug steigt. Oder eben jener Augenblick, in dem eine gemeinsam erlebte musikalische Anstrengung im Schlusston ausklingt und wir wissen, dass dieses eine Glück von Musik unwiederbringlich vorbei ist. Wir gehen wieder den Weg unseres Alltags, aber wir sind für eine wertvolle, schwebende Lebenssekunde verändert, beglückt, bereichert. Und wir wissen: Es könnte wieder so sein, wieder ein Tor fallen, wieder ein Mensch kommen, wieder Musik entstehen.
Man kann sich diese Szene in einem kurzen Film auf Youtube ansehen. Ganz so zufällig, wie es wirkt und klingt, entstand der Flashmob natürlich nicht. Es gehört viel Organisation und Mut dazu, so ein Ereignis zu ermöglichen und festzuhalten. Mehr als 62.000-mal wurde das das Filmchen schon angeklickt, Menschen haben vielleicht gelächelt, mitgesummt, und sind dann wieder zu ihrem Alltagsleben zurückgekehrt.
Das Glück der Musik ist täglich milliardenfach mitzuerleben auf dieser Welt, im Internet, im Konzertsaal, auf Festivals, in der Oper, in jedem Wohnzimmer. Warum also diese Zeilen über dieses eine Video?
Wie entsteht kulturelle Attraktivität im ländlichen Raum?
Schloss Kapfenburg bei Lauchheim, Ostalbkreis (Copyright Ralf Baumgarten, zur Verfügung gestellt durch die Stiftung Schloss Kapfenburg)
Der Anstoß für den Flashmob am Stuttgarter Hautbahnhof kam aus tiefster Provinz, wurde hineingetragen in das Zentrum einer Großstadt, die sich selbst als Kulturmetropole versteht, die Straßenmusiker und Bandkultur ihr Eigen nennt, stolz ist auf mehrere Orchester und eine zwar renovierungsbedürftige, aber geliebte und künstlerisch anerkannte Oper. Es fehlt nicht an Musik in Stuttgart. „Do-re-mi-fa-so …“ – die Idee zu einem Flashmob am Hauptbahnhof kam trotzdem von außen, nämlich aus dem äußersten Osten Baden-Württembergs, von der Kapfenburg. Das mittelalterliche Schlossgemäuer oberhalb des Ortes Lauchheim im Ostalbkreis hat schon Kreuzritter, Bauernkriege und Plünderungen erlebt, war nationalsozialistisches Schulungszentrum, beherbergte Vertriebene und amerikanische Soldaten. Seit zwanzig Jahren ist die Kapfenburg nun Musikschul-Akademie und Kulturzentrum, und hält in der Provinz, fernab von München, Stuttgart oder Nürnberg, die Kultur hoch. Die Burg ist Gastgeber für Musikerinnen und Musiker aller Art und aus aller Welt, kümmert sich um deren Gesundheit und sorgt für attraktive Konzerte.
Wie kulturelle Attraktivität entsteht im ländlichen Raum, das ist hier zu besichtigen. Sie entsteht nicht durch ständiges Jammern und Wehklagen, und auch nicht dadurch, sich mit eitlem Mittelmaß zufrieden zu geben. Sie entsteht, wenn engagierte Menschen ein Netzwerk knüpfen, mit größter Disziplin einen Betrieb am Laufen halten, dessen Professionalität es mit jedem großstädtischen Kulturbetrieb aufnehmen kann. Sie entsteht, wenn deshalb attraktive Künstler den Weg in die abgelegene Kapfenburg finden. Kultur auf dem Land kann wachsen, wenn politisch Verantwortliche den Mut haben, musikalische Experimente wie ein Konzert für hupende Autos oder den Guinness-Eintrag der Burg als größtes Saiteninstrument der Welt zu unterstützen, und alle Verantwortlichen dabei doch immer nach künstlerischer Ernsthaftigkeit suchen.
Hinter jedem Fenster wird geübt und gespielt
Wer durch die Innenhöfe hinaufsteigt auf die Kapfenburg, spürt genau das: Aus allen Räumen kommen Klänge der heiteren Ernsthaftigkeit, – do-re-mi-fa-so … – hinter jedem Fenster wird geübt und gespielt, gelacht und verzweifelt. Hier wurde ein vom Verfall bedrohtes Schloss nicht nur für ein Festival einmal im Jahr aufgehübscht, sondern wurde etabliert als begehrtes Ziel von Musikfreunden, Laienmusikern, Musikschülern und ihren Unterrichtenden das ganze Jahr über. Ein ständiger Flashmob! Wer einmal dort war, nimmt diese Klangwolken des musikalischen Glücks für immer mit – … la-se-do. Sie lassen uns davon träumen, auf einer Tonleiter in den Zug des Alltags zu steigen, und mit allen anderen ganz einfach Musik zu machen.
Stadtkirche Marbach, Niklastorstr. 5, 71672 Marbach a. N.
Mein Besuch am 25. Juli 2021
Eng geht es zu rund um die Stadtkirche von Marbach a. N.
Eng winden sich die Gässchen um die Kirche, es ist schwierig, genug Abstand zu gewinnen, um sie in ihrer Gänze erfassen zu können. Ein kleines Fachwerk-Türmchen für eine Wendeltreppe schmiegt sich an ihre verbaute Fassade, ein barocker Glockenturm thront auf ihrem Dach.
In diesem Kirchlein wurde am 11. November 1959 Friedrich Schiller getauft, der nur wenige Schritte entfernt geboren wurde. Der damals genutzte Taufstein ist noch heute in Gebrauch. Schiller wird ihm nicht mehr viel Beachtung geschenkt haben, da seine Familie schon bald von Marbach fort ziehen musste. Der rebellische Geist, der ihn bald in Konflikt mit dem württembergischen Herrscherhaus brachte, macht es eher unwahrscheinlich, dass Schiller als Erwachsener nochmals nach Marbach zurückkehrte. Und so steht der berühmte Taufstein ziemlich verloren in dieser sonst wie ausgeweidet wirkenden Kirche. Kein Altar ziert den Chor, die Orgel steht praktisch, aber nicht organisch, seitlich im Hauptschiff, und die Empore ist daher gähnend leer.
Diese Kirche hat manches mitgemacht, und es nimmt kein Ende. Beim Stadtbrand war sie 1693 ausgebrannt, wurde dann wieder aufgebaut. Seither hat sie den Aufstieg Württembergs zum Königreich, die Revolution 1918, den Nationalsozialismus er- und überlebt. Im Oktober 2020 wurde ihre Haupteingangstür zum Ziel eines Brandanschlages eines Marbachers, der sich selbst der „Reichsbürger“-Szene zuordnet.
Die Orgel neben dem Altar ist sicher praktisch, aber is sie da auch schön? Und links daneben die Taufurkunde von Friedrich Schiller
Ich hatte bereits in der mächtigen Stiftskirche von Herrenberg beklagt, dass manche Kirchen ihrer Seele beraubt werden. So geht es mir auch hier: Dieses alte Gemäuer hätte so viel zu erzählen, viel mehr als der Taufstein eines berühmten Marbachers. Aber sie erzählt leider wenig.
Kirche zur Heiligsten Dreieinigkeit, Marktplatz, 71634 Ludwigsburg
Mein Besuch am 22. Juli 2021
Der modernisierte Innenraum der Dreieinigkeitskirche in Ludwigsburg
Ganz in Weiß begrüßt den Besucher das 2006 grundlegend modernisierte Innere der katholischen Dreieinigkeitskirche am Marktplatz von Ludwigsburg. Dies ist eine Überraschung, denn außen trägt das Gebäude das barocke Kleid, das man in der Garnisionsstadt vor dem Barockschloss erwartet. Die Kirche ist das etwas bescheidenere Pendant der viel größeren evangelischen Stadtkirche am gleichen Platz genau gegenüber. Zusammen mit den anderen barocken Fassaden bilden die beiden Kirchen die einladende Kulisse für diesen südlich anmutenden, weiten Platz. Die Machtverhältnisse zwischen den christlichen Konfessionen in Württemberg sind damit klar nach außen dokumentiert. Im Inneren aber hat die kleinere katholische Kirche viel Mut bewiesen. Eine strenge Holzgliederung hat das Kirchenschiff neu unterteilt und damit eine flexible Nutzung ermöglicht. Ein paar wenige historische Bezüge und Kunstwerke sind erhalten geblieben, aber es dominiert das Zeitlos-moderne.
Vielleicht drücken Ludwigsburgs Katholiken damit genau das aus, was ihre Geschichte prägt: Beharrungswille und Veränderungsbereitschaft. Von den Gnaden der jeweils regierenden Herzöge und Könige und deren politischen Überlegungen zu wechselnden Konfessionsbekenntnissen abhängig, durften Katholiken in Ludwigsburg mal ihren Glauben ausüben – mal nicht. Da ist es vielleicht ein stiller Triumph, dass jetzt sogar die prächtige barocke (aber nicht beheizbare und daher im Winter geschlossene) Schlosskirche zu dieser kleinen katholischen Kirchengemeinde zählt.
Ich hatte das Glück, bei meinem Besuch am Markttag sogar eine ehrenamtlich tätige Kirchenaufseherin in dem innen modernen Kirchlein anzutreffen, die mir trefflich Auskunft über Baugeschichte und historische Hintergründe geben konnte. Wie schön, dass sich Menschen für einen einladenden Sozialraum Kirche engagieren!
Zwei Menschen begegnen sich, und manchmal entsteht Liebe zwischen ihnen. „Ein Tropfen Liebe“, sagte der französische Literat Blaise Pascal, „ist mehr als ein Ozean Verstand“. Schaltet Liebe den Verstand aus? Sie sollte das Gefühl unbedingter Zusammenhörigkeit sein, des Hingezogen-Seins, das Gefühl von Leere und Sinnlosigkeit, wenn der oder die andere nicht da ist, vielleicht sogar für immer verloren ist. Liebe geht „über den Zweck oder den Nutzen einer zwischenmenschlichen Beziehung“ in der Regel hinaus, schreibt Wikipedia. Sie zeige sich üblicherweise „in tätiger Zuwendung zum anderen“. Das Gefühl der Liebe könne auch unabhängig davon entstehen, „ob es erwidert wird oder nicht“.
Ist gegen die Liebe also kein Kraut gewachsen, wie es der römische Dichter Ovid einst schrieb? Ist es noch Liebe, wenn sie für die Geliebte, die nicht lieben will oder darf, zum quälenden Übergriff wird? Rund 20.000 Stalking-Fälle werden jährlich in Deutschland aktenkundig, vermutlich gibt es viel mehr davon. Im Jahr 2007 handelte deshalb die deutsche Politik; im Strafgesetzbuch gibt es seither einen Paragrafen, der verbietet, einen verschmähenden Liebespartner „andauernd und wiederholt zu belästigen“, sich ihm also gegen seinen erklärten Willen zu nähern, ihm nachzustellen mit telefonisch oder persönlich oder schriftlich gestammelten Liebesschwüren, mit Drohungen, mit unerwünschtem Klingeln an der Haustür. Aktuell wird die Regelung auch auf alle Formen der viralen Nachstellungen erweitert. Der Schutz, den der Staat Betroffenen – in den weit überwiegenden Fällen sind es Frauen – gewährt, kann bis zur Bereitstellung einer neuen Identität reichen, um für den ungewünscht Liebenden unauffindbar zu werden.
Anna Sutter hätte leben können
Die Schicksalsgöttin vor dem Stuttgarter Opernhaus
Der Stuttgarter Opernsängerin Anna Sutter hätte 1910 ein solches Gesetz geholfen, vielleicht wäre sie dann älter als 39 Jahre geworden, jedenfalls wäre sie vermutlich nicht erschossen worden von ihrem verschmähten Liebhaber Alois Obryst, der sich anschließend selbst das Leben nahm. Anna Sutter hatte sich wiederholt die Nachstellungen ihres Liebhabers verbeten; genutzt hatte es ihr nichts. Heute erinnert ein Brunnendenkmal vor der Stuttgarter Oper an ihr trauriges Schicksal. Die dort dargestellte Schicksalsgöttin trägt angeblich ihre Gesichtszüge.
„Werther“ ist die Geschichte einer Rebellion, …
Um die Qualen verschmähter Liebe geht es auch im Briefroman „Die Leiden des jungen Werther“ von Johann Wolfgang von Goethe. Als im Jahr 1774 der Welthit des „Sturm und Drang“ (auch so eine problematische Kategorisierung, wenn man sie in Sachen Liebe mal aus der Sicht der möglichen Opfer betrachtet) veröffentlicht wurde, war das die spannend-mitreißende Schilderung eines verzweifelten Liebesabenteuers, aber vor allem ein rebellischer Stoff gegen das Establishment. Der Held macht alles, was damals nicht vorgesehen war. Werther verliebt sich in eine standesgemäß unpassende Frau und hadert mit deren Verlobungsversprechen an einen anderen. Schließlich ignoriert er es, stürzt in einen Liebeswahn und damit sich selbst und seine Angebetete ins Verderben. Er begeht Selbstmord, was aus damaliger kirchlicher Sicht eine Sünde darstellte. Besondere Wucht erwächst diesem Stoff unter anderem daraus, dass der liebende Held sich selbst umbringt, und nicht etwa seine Geliebte (oder beide, wie im Fall der unglücklich geliebten Anna Sutter – und Tausenden anderen Fällen, von denen zu hören und zu lesen wir uns gewöhnt haben). Werther lässt Charlotte zwar am Leben, als eine verzweifelte und an ihren Gefühlen zweifelnde Frau, gezeichnet für ihr Leben – wir würden heute sagen: traumatisiert.
… aber auch einer neurotischen Liebe
Werther in der Oper Stuttgart (dem Bild Arturo Chacón-Cruz) Foto: Philip Frowein
Jules Massenet hat diesen Stoff 1892 romantisierend mit manchmal schwülstiger, oft rauschhafter Musik durchtränkt und zu einer Oper gemacht. Von Goethes politischem Rebellionsgeist ist bei Massenet nichts mehr übrig. Hier ist das Stück eine wahnhaft-romantische Liebesgeschichte. Der 1856 geborene Sigmund Freud hatte zu Massenets Zeit gerade erst damit begonnen, sich mit Neurosen als Krankheiten zu beschäftigen und der Welt die Zusammenhänge zu eröffnen, die sich aus seelischen Störungen und dem Handeln des Menschen ergeben. Die Librettisten der Oper wussten davon nichts und stellten also die narzisstische Fixierung ihres Werther auf seine eigenen Interessen nicht in Frage. Selbst dann, wenn er sich im Interesse seiner Geliebten zurückzieht, ihr mit seinem Freitod droht und ihn schließlich vollzieht, sieht er sich selbst doch immer noch heldenhaft im Mittelpunkt des Geschehens. Werther fehlt jede Erkenntnis, die wir heute zum zivilisierten Kanon der Mitmenschlichkeit zählen: dass es gleichberechtigte, andere Interessen gibt, die man auszuhalten hat. Wenn ein wacher und sensibler Mensch heute von seinem Freund eine E-Mail erhalten würde, in der über dessen Sehnsucht nach einer Geliebten steht: „Weiß der Gott, wie einem das tut, so viele Liebenswürdigkeit vor einem herumkreuzen zu sehen und nicht zugreifen zu dürfen; und das Zugreifen ist doch der natürlichste Trieb der Menschheit“ (Originaltext Goethe, zitiert nach dem Programmheft) – dann würde hoffentlich sein Alarmsystem sofort anschlagen: Hier ist eine gefährliche, eine verachtende Grenze der Liebe erreicht.
Die Oper Stuttgart hat dieses besonders liebestolle Stück Musiktheater als letzte neue Inszenierung (von Felix Rothenhäusler) an das Ende der Spielzeit 2020/21 gesetzt. Herausgekommen ist große Kunst mit strenger Ästhetik, in der uns Musizierende, Singende, Regie und Bühnenbild in diesen gescheiterten Liebenstaumel hineinziehen.
Warum sollten wir uns das heute anhören?
Das Grab von Anna Sutter auf dem Stuttgarter Pragfriedhof
Warum sollten wir uns das heute ansehen und anhören? Vor allem zum Nachdenken über Gewalt in und wegen der Liebe, über Suizide und Morde, die im Namen der Liebe, in Wahrheit aber von untröstlicher Aussichtslosigkeit betrieben werden. Niemand müsste sich heute noch so quälen wie einst Charlotte und Werther. Anna Sutter und viele andere hätten nicht sterben müssen. Heute kennen wir das Kraut, das gegen solche krankhafte Liebe gewachsen ist.
Gethsemanekirche, Prenzlauer Berg, Stargarder Str. 77, 10437 Berlin
Mein Besuch am 17. Juni 2021
Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg
Das Pflaster glüht. 36 Grad zeigt das Thermometer, gefühlt sind es über vierzig. Im hochsommerlich aufgeheizten Prenzlauer Berg ducken sich die Straßencafés in den staubigen Schatten unter kümmerliche Sonnenschirme. Blanke Haut dominiert das Straßenbild, überhitzte Kinder, Eis-kaufende Eltern, sich matt dahinquälende Senioren versuchen ein nebeneinander im Kiez. Und inmitten dieser aufgeheizten Lebendigkeit steht stolz und thronend eine neo-romanische Kirche aus rotem Backstein. „Homophobie ist Sünde“ prangt als Transparent über dem Eingang der 1893 errichteten Gethsemanekirche.
Selten bekommt man eine so klar politisch orientierte Kirche zu sehen. Hier ist das Engagement für Menschenrechte nicht Nebensache, sondern steht mindestens gleichberechtigt neben der Verkündung der christlichen Botschaft. Am Zaum hängen Biografien politische Verfolgter, in der Kirche liegen Unterschriftenblätter für Solidaritätsbekundungen aus – gegen politische Verfolgung in China, der Türkei oder Belarus, für das Volksbegehren zur Enteignung der Deutschen Wohnen, für eine Schließung der menschenunwürdigen Lager an den EU-Außengrenzen. Jeden Tag um sechs finden sich in der Kirche Gläubige zu einer „Politischen Andacht“ zusammen. Diese Kirche ist ein unbequemer Ort, ein lauter Schrei für mehr Engagement gegen das Unrecht auf dieser Welt. Und das war sie auch in der Zeit des Nationalsozialismus, als die Pfarrersfrau hier Juden versteckte, und in den letzten Monaten der DDR, als sich im Schutz dieser Kirche die friedliche Umwälzung formierte. In einer kleinen Ausstellung sind die Bilder von 1989 zu sehen, dichtgedrängt saßen die Menschen im schönen, weiten, damals prall gefüllten Kirchenraum, hören dem Pfarrer zu, der Staat und Demonstranten auffordert: „Keine Gewalt!“. Von vollgefüllten Bänken kann jetzt keine Rede mehr sein bei der politischen Andacht. Wird Kirche von heute noch einmal so relevant werden für die Gesellschaft wie in diesen Zeiten? Die Gethsemanekirche ist der richtige Ort, genau darüber nachzudenken.
Hell und weit wie eine Arena: Der Innenraum der Gethsemanekirche
Und sie ist auch ein schöner Ort. Das weite Kirchenschaff entfaltet im Inneren eine fast runde, arena-artige Raumwirkung, eine einladende Halle für Stille, für Andacht, für Musik. Außen kann man um die Kirche herum gehen; was einmal ein Friedhof war, ist jetzt ein kleiner grüner Ort der Regeneration, mit Kunst unter großen Bäumen, mit schattigen Bänken.
Eine alte, mit ihrer langen Geschichte ehrfürchtig machende, stille Kirche. Ihre Gründungsgeschichte reicht in das 13. Jahrhundert zurück, und zuletzt in den Jahren des Sozialismus kämpfte die Kirchengemeinde gegen den Verfall ihres Gotteshauses an. Jetzt erstrahlt sie in renoviertem Glanz: ein weites, strenges Kirchenschiff unter einer hölzernen Decke, davor ein Altarraum hinter gotischem Spitzbogen.
Mich hat vor allem das ungewöhnliche Äußere dieser Kirche beeindruckt: ein wuchtiger, sich an das Kirchenschiff heranduckender Turmbau, der die ganze Breite des Kirchenschiffs einnimmt, und durch den man die Kirche betritt. Im Vorraum findet sich eine Gedenktafel an das erste Friedensgebet in Eisenberg in dieser Kirche am 25. Oktober 1989.
Vor der Stadtkirche: der „Mohrenbrunnen“
Vor der Kirche steht ein ungewöhnlicher Brunnen, der einen „Mohren“ zeigt, der sich aus einem Trinkgefäß labt. Die Figur stammt immerhin von 1727 und soll an eine Sage erinnern: Danach wurde in Eisenberg zur Zeit der Kreuzzüge ein versklavter Diener des Diebstahls aus dem Schmuckbestand einer Gräfin bezichtigt, zum Tode verurteilt, aber kurz vor der Hinrichtung begnadigt, da die Gräfin das verlegte Schmuckstück wieder gefunden hatte. Zur Entschädigung sei der Diener in Freiheit entlassen und in das Eisenberger Stadtwappen aufgenommen worden. Wollen wir das glauben?
Drei Monate in der Hauptstadt, und kein Ende der Chancen in Sicht. Der Flaneur ist nicht fertig mit dieser Stadt, aber seine Berliner Zeit ist erst einmal vorbei. Was lernt ein Stuttgarter nach drei Monaten in Berlin?
Rechne mit allem
Ein halbnackter Indianer mit Federschmuck auf dem Gehweg neben Dir? Nur kein Aufsehen deshalb. Ein Häufchen Demonstrierender quert mit dröhnendem Sound Deinen Weg und Du verstehst nicht einmal, worum es geht? Einfach abwarten und vorbeiziehen lassen. Berlin ist ein brodelnder Kessel, steckt voller Überraschungen, die aus ihm aufsteigen. Jederzeit können Menschen, Fahrzeuge, Tiere, Gerüche, Ideen, Chancen, Absurdes und Geniales, auftauchen, mit denen ein naiver Besucher zuallerletzt rechnet. Lass Dich überraschen!
Scheitere lustvoll an der Unendlichkeit der Möglichkeiten
Berlin überrascht …
Berlin zu erkunden, gleicht dem Versuch, die Unendlichkeit zu vermessen. Was diese Stadt hoch- und subkulturell vorhält, anbietet an Orten des Lernens und Gedenkens, des Spürens und Lesens und Hörens, des Grau und Grün und Bunt, des Laut und Leise – das wird man niemals alles erfassen können. Denn es entsteht täglich Neues, mehr und schneller, als der Besucher erleben kann.
Spüre Deine Wunden
Berlin mahnt …
Berlin lehrt jeder und jedem Deutschen, dass wir mehr sind als eine Nation der Auto-Erfinder und manchmal erfolgreichen Fußballer. Man muss nur hinsehen, nicht achtlos vorbei oder darüber hinweg latschen: Berlin erinnert auf fast jedem Schritt an die Brüche deutscher Geschichte. Es sind die Wunden der Nation und ihrer Entstehung, die wir in Berlin spüren, wenn wir es zulassen. Es ist Berlin, das oft stellvertretend für uns alle am Kreuz unserer Geschichte leidet.
Sei Dir Deiner Privilegien bewusst
Armut begleitet den Alltag auf vielen Straßen in dieser Stadt, sicherlich nicht nur, aber stärker wahrnehmbar in Berlin als in anderen deutschen Großstädten. Menschen, die sich mit dem Sammeln von Flaschen ihre Rente aufbessern, oder Migranten, die auf der Straße während der roten Ampelphasen das Fenster putzen oder Jonglierkunststücke vorführen, tun das auch hier nicht, weil es ihnen Spaß macht, sondern weil sie Geld brauchen für ein Leben in der großen, manchmal teuren, immer gnadenlosen Stadt.
Überprüfe Deine Vorurteile
Berlin funktioniert …
Es ist leicht, über Berlin zu lästern. Aber gemessen an den Klischeebildern, die der Rest der Republik auf die Hauptstadt klebt, funktioniert Berlin prächtig. Ja, so manches ist unzulänglich. Manchmal quellen die Mülleimer über, und nicht immer und überall fühlt man sich wohl in dieser Stadt. Die endlose Bauphase des Flughafens war geeignet für Hohn und Spott. Manchmal trifft man auf Menschen, deren „Berliner Schnauze“ sich mit sprödem Charme zu einer äußerst gewöhnungsbedürftigen Form von Kundenorientierung mischt. Aber auch das Gegenteil ist zu erleben: Humor und Engagement helfen über viele Hürden.
Bleibe gelassen
Nach dreihundert Metern rechts abbiegen, rät das Navi? Noch kein Grund, auf die rechte Spur zu wechseln. Vermutlich steht dort auch auf den verbleibenden Metern noch jemand in zweiter Reihe, diskutiert jemand sein Familienleben an der offenen Autotür, parkt ein Lastenfahrrad. Abends um acht und nichts mehr zu essen daheim? Kein Grund zur Panik, viele Läden haben noch offen, die Spätis sowieso. Notfalls liefert ein Fahrradkurier den Einkauf innerhalb garantierter zehn Minuten nach Hause. Es ist nie zu spät, es gibt immer noch eine andere Option.
Lerne Sprachen
Die Wahrscheinlichkeit, im Berliner Straßencafé das Gespräch am Nebentisch verfolgen zu können, steigt mit der Sprachkompetenz. Dass es in Deutsch stattfindet, ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Rechne damit, dass auch der Ober, der Kioskbetreiber, der Fahrradkurier Dich gar nicht versteht, wenn Du es nicht auf Englisch versuchst. Oder, je nach Kiez: Auf arabisch, türkisch, russisch, polnisch …
Steig um aufs Fahrrad
Das Fahrzeug der Wahl in dieser Stadt ist das Fahrrad, und die Berliner wissen es. Unfassbar viele Fahrräder sind unterwegs – und ihnen wird von der Stadtpolitik Vorfahrt eingeräumt. Das Ergebnis einer konsequent Radfahrer-orientierten Verkehrspolitik ist eindrucksvoll: weniger Autoverkehr auf den Straßen der Innenstadt, als man erwarten würde. Und ein Konsens der Stadtgesellschaft: Fahre nicht mir dem Auto, wenn Du es vermeiden kannst. Manchen Radfahrern genügt das noch immer nicht; als Autofahrer lebt man in der ständigen Sorge, regelwidrig abbiegende, gegen die Fahrtrichtung dahinsausende, oder nächtens gänzlich unbeleuchtete Radfahrer zu übersehen. Dabei sei gerne eingeräumt: Rücksichtslose Autofahrer bedrohen regelkonform fahrende Radler mehr als umgekehrt.
Schau hin, wer alles für Dich arbeitet
Natürlich ist das auch in Stuttgart, München, Rio oder New York so: Ein großes komplexes Gemeinwesen hält zusammen, weil viele dafür arbeiten. Es ist vielleicht der externe Blick, der dem Flaneur die Augen dafür in dieser Stadt geschärft hat. Wie viele Menschen frühmorgens aufstehen oder spätnachts heimkehren, sich müde in einen Bus oder eine U-Bahn setzen, damit der Dreck wegkommt, der im Müllraum des Hochhauses stinkend vor sich hin gärt. Damit der Verkehr geregelt wird, wenn die nächste der zahllosen Demonstrationen oder Staatskarossen sich ihren Weg bahnen kann. Damit der Drogenkranke versorgt wird, der auf dem U-Bahnsteig leblos herumliegt. Damit das ungeduldig und hungrig bestellte Lieferessen pünktlich ankommt. Damit die alte Dame von nebenan gepflegt wird. Heerscharen von Knechten und Mägden der Wohlstandgesellschaft halten diese am Laufen, rund um die Uhr, jeden Tag, bei Hitze und Kälte und Regen und Schnee.
Achte Dein Handy
Das Berliner Leben im Hier und Jetzt ist ohne ein leistungsfähiges Smartphone eine schaurige Herausforderung. Also achte das Handy, denn es ermöglicht Dir alles: Orientierung in den Straßenschluchten, Fahrkartenkauf im Nahverkehr ohne Kleingeldstress, das Auffinden der nächsten öffentlichen Toilette, das Freischalten von Fahrrädern und Fahrzeugen jeder anderen Art. Und das Nachschlagen aller Namen, Orte und Ereignisse im online verfügbaren Weltwissen. Es unterhält Dich mit Musik Deiner Wahl oder gelehrigen Podcasts, falls Dich die Reize und Herausforderungen des urbanen Flanierens noch nicht auslasten. Es stellt die Verbindung zur Welt her, jederzeit und überall. Kinderwagen-schiebend Sprachnachrichten aufnehmen ist Jungfamilien-Alltag. In die U-Bahn einsteigen und mit Knopf im Ohr telefonieren – allgemein üblich. Es wurden auch schon Radfahrer gesichtet, die freihändig dahinsausend und kopfhörer-bewaffnet das Handy vor sich haltend an Videokonferenzen teilgenommen haben.
Kümmere Dich um das Grün
Berlin im Hochsommer ist ein glühender Moloch. Himmelstürmende Betonwände, endlose Steinpflaster, graue Asphaltwüsten speichern tagsüber die Hitze der glühenden Sonne und heizen nach Sonnenuntergang die Stadt in den besonders urbanen Ecken zu einem kollektiven Saunaerlebnis auf. Die Berliner reagieren mit einer Sinfonie luftiger Kleidung, mit attraktiven Eisdielen und viel Grün. In Berlin wird gepflanzt und gegärtnert ohne Unterlass, Straßenbäume werden von Gieß-Paten mit Wasser versorgt, eifrige Anwohner legen kleine Ziergärtchen rund um die Bäume herum an und verteidigen diese hartnäckig gegen den alltäglichen Straub und Dreck der Großstadt. Urban-Gardening-Areale boomen. Und die Berliner achten und stürmen ihre Seen, ihre Wasserflächen, ihre Parks. Jedes Pflänzchen, jeder Blumenkasten, jeder Baum, jeder Park hilft gegen die Hitze der Stadt.
Lass einen Koffer zurück
„Ich hab‘ noch einen Koffer in Berlin, deswegen muss ich nächstens wieder hin“, sang in den sechziger Jahren Marlene Dietrich (und einige nach ihr). Der Text war für ein nüchternes Gemüt schon immer rätselhaft mystisch: Wo sollte denn bitte dieser Koffer sein? Zurückgelassen im Hotel? Bei Verwandten auf dem Dachboden? Durfte man sich einfach so einen Koffer vorstellen, unklaren Inhalts, verstaubt, ungeöffnet, verlockend? Und wie konnte man sich sicher sein, den Koffer auch wieder vorzufinden, wenn man nach Berlin zurückkehren würde?
„Die Seligkeiten vergangener Zeiten, sind alle noch in meinem Koffer drin“, beantwortet der melancholische Schlager diese Fragen. Ja, genauso darf man sich das wohl vorstellen.
„Ich hab´noch einen Koffer in Berlin in der Fassung von Marlene Dietrich auf Youtube:
Fanny liebte die Musik. Ihre Mutter, selbst aus einer Pianistenfamilie stammend, hatte ihr das Klavierspiel nahegebracht, sie hatte gute Lehrer gehabt, sie hatte bereits erste Kompositionen gefertigt und mit Erfolg vorgetragen. Jetzt war Fanny 15 Jahre alt, und voller banger Gefühle betrachtete sie den noch geschlossenen Umschlag. Es war ein Brief ihres Vaters. Der Vater war wie immer in Geschäften unterwegs, eine Autoritätsperson, weit weg vom Leben seiner Kinder. Ein schwerreicher Geschäftsmann, heute würde man vielleicht sagen: der CEO eines Familienunternehmens, Patriarch einer Bank, die auch ein Beteiligungsunternehmen mit Geschäften bis ins ferne Ausland war. Der geschäftstüchtige Vater hatte zusammen mit seiner Familie, auch der sechsjährigen Fanny, 1811 Hamburg verlassen müssen, weil die französischen Besatzer der Hansestadt Handel mit England verboten – was aber für seine Geschäfts von existentieller Bedeutung war. In Berlin hatte die jüdische Familie eine neue sichere Heimat gefunden, der Vater bestimmte sogar, dass sie alle zum evangelischen Glauben übergetreten waren. Hier konnte er ein angesehenes Leben inmitten der höheren Gesellschaft führen. Der Reichtum des Vaters hatte Fanny und ihren drei Geschwistern ein gehobenes Leben in Berlin möglich gemacht, und Fanny wusste, welche Privilegien sie genießen durfte.
„Stets nur Zierde“?
Fanny Hensel, Büste vor der Mendelssohn-Remise in Berlin, Jägerstraße
Was also konnte dieser Brief des Vaters bedeuten? Musste sie heiraten? Hatte der Vater über ihr Schicksal bestimmt? Fanny saß am Fenster des dunkelgetäfelten Wohnzimmers, ein Flügel inmitten des großen Raums, in edlem Leder gebundene Bücher in den Regalen und auf dem Tisch, dunkelmatt glänzende Gemälde an der Wand. Vielleicht war es so, dass gerade Fannys jüngerer Bruder auf dem Klavier klimperte, während Fanny den Umschlag öffnete. „Die Musik wird für ihn vielleicht Beruf”, schrieb der Vater da, “während sie für Dich stets nur Zierde, niemals Grundbass Deines Seins und Tuns werden kann und soll.“ Nur Zierde? Fanny spürte Empörung, Trauer, Wut in sich aufsteigen. Darum also ging es, so war über ihr Schicksal entschieden worden. Ja, der Vater hatte es durchaus gehört, wie sie schon als 13-jährige ihm in diesem schönen Wohnraum im Zentrum Berlins Teile des Bach´schen “Wohltemperierten Klavier” vorgespielt hatte. Ja, der Vater wusste um ihr Talent und ihre Begeisterung für das Komponieren. Aber es hatte nichts genutzt, in ihrem Fall war beides “nur Zierde”. Der für sie bestimmte Weg war Heirat, Ehe, Kinder bekommen, ein großes Haus führen. Ihr Talent sollte dem Ruhm des ebenfalls talentierten Bruders Felix nicht im Wege stehen.
Die Geschichte der talentierten Fanny, die nicht berühmt werden durfte, damit ihr Bruder Felix Mendelssohn-Bartholdy es sein konnte, wurde schon tausendfach erzählt. Fanny fügte sich in ihr Schicksal. Wir wissen es nicht, aber nichts deutet darauf hin, dass Vater Mendelssohn diese seine harte Entscheidung je bedauert hätte. Fanny Mendelssohn-Bartholdy heiratete den klugen Kunstmaler Wilhelm Hensel, der ihre musikalische Leidenschaft würdigte und ihr ermöglichte, Hauskonzerte (übrigens an der Stelle, an der heute das Bundesrats-Gebäude in der Leipziger Straße steht) zu veranstalten, die in ganz Berlin einen legendären Ruf hatten und Fanny Hensel zu einer wichtigen Figur der Musikszene ihrer Zeit in der großen Stadt machte. Komponiert hat sie weiterhin, weniges davon erschien sogar unter dem Namen ihres Bruders, vieles blieb im Schatten, überstrahlt vom öffentlichen Glanz des Bruders. Kurz vor ihrem Tod ignorierte sie das Verbot des inzwischen verstorbenen Vaters und veröffentlichte einige ihrer Kompositionen. Fanny Hensel starb wenige Monate vor ihrem Bruder Felix, erst 42-jährig, im Jahr 1847.
Bitte einsteigen in die Zeitmaschine
Berlin ist eine Zeitmaschine, also bitte einsteigen! Und schnell mal gut fünfzig Jahre vorspulen: Stellen wir uns für das Jahr 1875 ein Gespräch im preußischen Königsberg vor. Käthe Schmidt hieß das Mädchen, acht Jahre war sie alt, und der Vater hatte sie zu sich gerufen. Käthes Vater schrieb keine Briefe. Ihr Vater arbeitete als Maurermeister, nachdem er wegen zu liberaler Ansichten mit seinem Jurastudium auf politische Schwierigkeiten in Preußen gestoßen war. Wir stellen uns es daher einmal so vor: Der Vater war müde und gezeichnet von einem harten Arbeitstag, und das Gespräch könnte am Küchentisch der Familie stattgefunden haben. Käthes Geschwister tobten herum, der Bruder versuchte am gleichen Tisch seine Aufgaben aus der Schule zu lösen, während die Mutter noch das Abendessen zubereitete. „Schöne Zeichnungen machst du da“, sagte der Vater, dem sie am Tag zuvor eines ihrer Bilder gezeigt hatte. „Mach weiter! Das könnte etwas Großes werden, wenn Du Dich anstrengst.“
Käthe Kollwitz, Selbstportrait
Ein solches Gespräch ist Fantasie. Aber nach allem, was wir wissen, hat Vater Schmidt genauso wie Vater Mendelssohn-Bartholdy das Talent seiner Tochter früh erkannt. Er förderte Käthe, gab ihr Rückhalt, machte sie nicht klein, sondern groß, stellte Kontakte her. Er ließ Käthe, als sie eine junge Frau geworden war, nach Berlin auf die „Damenakademie des Vereins Berliner Künstlerinnen“ ziehen. Käthe arbeitete hart an ihrer Kunst, suchte ihren spezifischen Weg nach künstlerischem Ausdruck und setzte sich früh mit den harten sozialen Realitäten ihrer Zeit auseinander. Käthe Schmidt lernte ihren späteren Mann, den Arzt Karl Kollwitz, kennen und heiratete ihn 1891. Gemeinsam zogen sie nach Berlin an den Prenzlauer Berg. Das Paar hatte zwei Söhne; der ältere davon fiel im 1. Weltkrieg, was Käthe Kollwitz´ künstlerisches Werk über Jahre prägte, ihr peinigende Schuldgefühle auflud, und sie zu einer überzeugten Pazifistin werden ließ. Käthe Kollwitz musste für niemanden zurückstecken, nicht für ihre Geschwister, nicht für die gesellschaftliche Erwartung, nicht für ihren Mann. Käthe Kollwitz konnte während der Nazi-Herrschaft zwar nur eingeschränkt arbeiten, wurde aber toleriert. Sie starb 78-jährig kurz vor Kriegsende.
Zwei Väter, zwei Lebenswege?
Zwei Väter, zwei Lebenswege? Das ist eine gewagte, nicht angemessene Verkürzung. Aber es ist eine Tatsache, dass für die Würdigung des Werkes von Fanny Hensel noch immer engagierte Künstlerinnen (ja, es sind in der Regel die Frauen) kämpfen müssen. Denn die Musik von Fanny Hensel ist von größtem Zauber, ihre Klavierlieder perlen mit betörender Sinnlichkeit dahin, ihre wenigen Orchesterwerke strahlen und jubeln mit den denen ihres Bruders um die Wette. Aber hören wollen viele immer nur den berühmten Felix.
Wie anders bei Käthe Kollwitz: Ihre Grafiken sind von getragener Schwere, alles andere als gefällig, thematisieren komplexe gesellschaftliche Nöte – Armut, Widerstand, Krieg. „Nie wieder Krieg“ ist die Plakat-Ikone aus der Feder von Käthe Kollwitz, die wir alle im Kopf präsent haben. Um Käthe Kollwitz´ Berühmtheit aber muss niemand kämpfen. Für sie gibt es in Berlin (und anderswo) ein eigenes Museum, Schulen und Bibliotheken sind nach ihr benannt, Plätze und Straßen sowieso. Als überlebensgroßes Denkmal sitzt Käthe Kollwitz am Prenzlauer Berg auf dem nach ihr benannten Platz. Streng, mit Kohlestift in der Hand, schaut sie dort in die Ferne, während die Prenzlberg-Kinder auf ihr herumklettern. Ganz im Zentrum des geeinten Deutschland ist sie angekommen. Der Konservative Helmut Kohl persönlich entschied, dass eine von der bekennenden Sozialistin Käthe Kollwitz inspirierte Skulptur in der Neuen Wache unter den Linden uns alle an die Opfer von Krieg oder Gewaltherrschaft mahnen soll. Es ist eine Pieta, die dort in diesem ernsten Raum, im Innersten unserer Republik, unseren Blick auf die Trauer einer Mutter um ihren gestorbenen Sohn lenkt.
Es ist auch der Blick auf die Trauer von Käthe Kollwitz um ihren eigenen Sohn, vielleicht sogar ihre Reue, ihn nicht zurückgehalten zu haben, als er euphorisch in den Krieg zog.
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