Hamilton? Seibold? Ideen zu einer Parallele

Über das Politik-Musical „Hamilton“ und was man in Deutschland daraus lernen könnte

Vielleicht könnte es „Seibold“ heißen? Eignet sich der Name für Rap-Reime? Der Vorname wäre schon mal vielversprechend: Kaspar. Kaspar Seibold könnte der Held sein, um den alle herumtanzen und wirbeln, zu dessen Schicksal sie mitfiebern, mitsingen, schließlich trauern, bis der Schlussakkord sie von den Sitzen reißt.

Ja, vielleicht könnte es „Seibold“ heißen, das Musical über die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Auf keinen Fall „Adenauer“ oder „Schumacher“.

So schmissig kann Geschichte vermittelt werden: Das Musical „Hamilton“ erzählt einen Ausschnitt der Gründungsgeschichte der USA. Foto: Stage Entertainment

Jeder historische Vergleich ist falsch. Das gilt auch hier, aber um das Wagnis zu ermessen, das die Macher des US-amerikanischen Erfolgsmusicals „Hamilton“ eingegangen sind, darf man der Phantasie freien Lauf lassen. „Seibold“ also. Als Kaspar Seibold beträte ein Rapsänger, Tänzer, Schauspieler die Bühne, vom begeisterten Johlen des Publikums begrüßt, schmissig von der elektronisch verstärkten Musik untermalt, und würde erzählen, was er schon erlebt hat:

Die Geschichte von Kaspar Seibold

Kaspar Seibold aus Oberbayern war der jüngste Delegierte im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz verabschiedete. Er zählt zu den Mitunterzeichnern, obwohl er in der Schlussabstimmung gegen den Text des GG gestimmt hatte. Damit bekannte er sich zu dem demokratischen Prozess, auch wenn er inhaltlich unterlegen gewesen war. Foto: Bestand Erna Wagner-Hehmke, Stiftung Haus der Geschichte

Als er geboren wurde, war der erste Krieg des letzten Jahrhunderts gerade begonnen worden von Deutschland. Dann kamen die wilden Jahre der 20er, von denen er als Kind auf dem Land nicht viel mitbekam, dann die braunen Zeiten der Nazis. Auf dem Bauernhof seiner Eltern waren alle beschäftigt von früh bis spät, hatten keine Zeit, sich viel mit Politik zu befassen. Vermutlich bestellten bedauernswerte Zwangsarbeiter die elterlichen Felder, während sich der junge Kaspar in der Wehrmacht dem Zusammenbruch entgegenstellen musste. Als Gebirgsjäger wurde er schwer verletzt. Kaspar Seibold überlebte, und nach dem Ende de Krieges suchten auch in seiner Heimat, im oberbayerischen Lenggries, zerlumpten Flüchtlinge aus dem Osten Deutschlands und aus den zerbombten Städten kraftlos und erschöpft nach Essbarem.

Da entschied Kaspar Seibold: So konnte es nicht weitergehen. Er engagierte sich in der staatlichen Landwirtschaftsverwaltung. 1948 trat er in die neu gegründete CSU ein, und schon im Herbst des gleichen Jahres fand er sich als jüngster Abgeordneter im Parlamentarischen Rat wieder, jenem Vorab-Parlament, das nach der Katastrophe des Nazireichs ein neues, demokratisches Deutschland schaffen sollte. Und es schuf. Kaspar Seibold war einer der Gründerväter des neuen demokratischen Deutschlands.

Auch Alexander Hamilton schrieb an der Verfassung der USA mit

Alexander Hamilton lebte gut 150 Jahre früher und half mit, die USA zu gründen. Am Anfang seines Weges stand eine uneheliche Herkunft in der Karibik, aber blitzgescheit war er wohl, ehrgeizig dazu. So stieg er im Militär des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges zum wichtigsten Unterstützter für George Washington auf, der später erster amerikanischer Präsident wurde. Die britischen Kolonialherren gaben auf, und die Siedler machten sich daran, einen neuen demokratischen Staat zu schaffen. Weiße Männer waren es, die den Ton angaben, die Frauen, die Ureinwohner ihres Landes, gar die gewaltsam aus Afrika herbeigeschleppten Sklaven, durften nicht mitreden bei ihren Überlegungen.

Seibolds Einfluss war gering im Gründungsparlament der Bundesrepublik (61 Männer, vier Frauen) zwischen Konrad Adenauer, Theodor Heuss und Carlo Schmid, die allesamt den Terror der Nazi-Schergen mit mehr oder weniger tiefen Wunden überstanden hatten. Seibold war jung und politisch unerfahren, während die alten Wortführer schon in der Weimarer Republik politisch aktiv gewesen waren. So musste sich der junge bayerische Landwirtssohn mit einer Statistenrolle unter den Gründervätern des demokratischen Deutschland abfinden.

Statistenrolle für Seibold, aber Hamilton wollte hoch hinaus

Alexander Hamilton aber wollte hoch hinaus. Er wurde 1787 Mitglied im Verfassungskonvent der Vereinigten Staaten, spielte bald mit in der ersten Garde der amerikanischen Politik. Als Minister schuf er das bis heute wirksame Finanzsystem der USA, das mit einer Stärkung der Zentralgewalt in den USA einherging. Seine Gegner bekämpften ihn deshalb, weil sie lieber einen lockeren Staatenbund anstrebten.

Von seinem stürmischen Gemüt angetrieben ließ er sich in einen undurchsichtigen Ehrenhändel verstricken, ruderte im Morgennebel über den Hudson River zu einem Duell nach New Jersey (weil der schießwütige Unsinn in New York bereits verboten war). Vielleicht glaubte er, dass auch sein Widersacher Aaron Burr, immerhin der amtierende Vizepräsident der USA, nur zum Schein auf ihn anlegen würde, aber Hamilton irrte sich. Er wurde getroffen und erlag am nächsten Tag 49-jährig seinen Verletzungen.

So schlimm meinte es das Schicksal nicht mit Kaspar Seibold. Der junge Mann aus Bayern musste sich nur in einem politischen Duell schlagen und unterlag. Typisch bayrisch wollte er das neue Deutschland eher als einen lockeren Staatenbund etablieren, aber es setzte sich doch die Idee einer deutlichen Machtkonzentration auf Bundesebene durch. Seibold verweigerte deshalb in der Schlussabstimmung am 8. Mai 1949 seine Zustimmung zum Grundgesetz.

59 Männer und vier Frauen unterschrieben das Grundgesetz

Trotz seiner Ablehnung in der Abstimmung unterzeichnete er in der feierlichen Zeremonie am 23. Mai 1949 in Bonn neben den Ministerpräsidenten der Länder, den Parlamentspräsidenten der Landtage und den 59 weiteren Männern und vier Frauen aus dem Parlamentarischen Rat (nur die beiden Kommunisten verweigerten die Signatur) die Urfassung des deutschen Grundgesetzes. Der jüngste Gründervater der Bundesrepublik war zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt.

Dr. Kaspar Seibold: Das jüngste Mitglied de Parlamentarischen Ragtes unterschieb 1949 die Urfassung des deutschen Grundgesetzes, obwohl er dagegen gestimmt hatte.

Wer kennt heute noch Kaspar Seibold? Schnell findet man seinen Namen in den allwissenden Suchmaschinen. Seibold ist nicht vergessen, aber zurückgesetzt gegenüber den großen Figuren seiner Zeit. So erging es auch Alexander Hamilton. Im Central Park von New York steht er als Statue herum und die Zehn-Dollarnote zeigt sein Gesicht. Trotzdem müssen wohl auch die meisten Amerikaner den Namen erst einmal googeln, wenn sie ihn einordnen wollen zwischen die großen Helden seiner Zeit: George Washington, Thomas Jefferson, John Adams.

Politik als Bühnenshow: Ein kühner Plan, …

Es war also ein kühner Plan, diese weitgehend vergessene Figur in den Mittelpunkt eines Stücks Musiktheater zu stellen, das noch dazu ohne öffentliche Subventionen auskommen muss. In New York und London wurde „Hamilton“ zum hochdekorierten Kassenschlager. Der Cast ist zeitgeistig divers besetzt, ein subtiler Hinweis darauf, dass die Hamiltons und ihre Zeitgenossen ganz sicher ausschließlich weiß waren. Die Musik kommt schmissig-modern daher, der Rap ist auch für Silverager erträglich und nachvollziehbar, und für das Auge wird ohnehin jede Menge geboten. Eine schwungvolle Bühnenshow, in der noch dazu die tragisch endende Lebensgeschichte dieses unterschätzten Gründervaters publikumsgerecht mit einer romantischen Liebe verflochten wurde.

… aber die Handlung zeigt Politik, wie sie ist.

Aber die Handlung zeigt eben Politik, so wie sie ist. Sie erzählt von komplizierten Fragen, die sich dem mehrheitlich auf fröhlich-gefühlige Unterhaltung  eingestimmten Publikum nicht schnell erschließen. Bis vor wenigen Tagen war „Hamilton“ auf Deutsch in Hamburg zu besuchen, jetzt muss man wieder nach London oder New York reisen. Noch im September 2023 erhielt die Hamburger Produktion den Deutschen Musical-Theaterpreis. Trotzdem war nun nach gerade mal einem Jahr Schluss. Die amerikanische Gründungsgeschichte füllte offenbar nicht so wie „Cats“, „König der Löwen“ oder „Das Phantom der Oper“ jeden Abend das privat betriebene Musical-Theater ausreichend.

Hätte eine deutsche Bühne den Mut, die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik so zu erzählen, halbwegs realistisch, niemals langweilig, überhaupt nicht belehrend? Musik und Rap als tragendes Element für bunte Bilder aus einer grauen Zeit? Der Parlamentarische Rat als divers besetztes Tanzballett? Die Debatten über die Stellung der Grundrechte, ob Bundesstaat oder Staatenbund, als Pop-Duette im Gesang? Und das alles vielleicht mit Kaspar Seibold mittendrin?

 

 

Der nicht in die USA reisen möchte, kann sich „Hamilton“ in London ansehen, täglich, an vielen Tagen sogar zweimal am Tag: https://hamiltonmusical.com/london/#/

Wer nicht verreisen möchte, kann sich auf Youtube Ausschnitte der Hamburger Produktion (auf Deutsch) ansehen (Klick führt zu Youtube).

Über die Beratungen des Parlamentarischen Rates zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland informiert sehr anschaulich eine eigene Website des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik in Bonn, auch mit weiteren Informationen über Dr. Kaspar Seibold, den jüngsten Abgeordneten des Parlamentarischen Rates.

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

Die eingestürzte Welt des Händedrucks

Eine Geschwistergeschichte

Nun war es schon wieder ein warmer Sommer gewesen, und die Sonne flirrte auch heute vom wolkenlos blauen Himmel. Nur Schattenplätze stellten Schweißfreiheit in Aussicht. Und wer sich unter Menschen begab, so hatte es sich eingegraben in seinen Lebensüberzeugungen, der sollte möglichst nicht schwitzen; Umarmungen von Schweißleibern waren ihm eine besondere Herausforderung. Also stand er im dichten Schatten der Weide, deren Blätterdach sich üppig-girlandenhaft auf die stille Wasserfläche des kleinen Sees herabsenkte. Besser kühl bleiben, dachte er sich, obwohl gar kein Anlass für eine klebrige Umarmung in Sichtweite war.

„An körperlicher Nähe hatte er das Sitzen auf dem weichen Schoß seiner Mutter in Erinnerung, auch das Raufen mit seinen Brüdern, später das Händeschütteln der Erwachsenen, in das er sachte hineinwuchs.“  Foto: Lizenzfrei von HeungSoon auf Pixabay

(1)

Daran, dass sich alle ständig umarmten, hatte er sich erst mühsam gewöhnen müssen. Aufgewachsen war er ohne Umarmungen. An körperlicher Nähe hatte er das Sitzen auf dem weichen Schoß seiner Mutter in Erinnerung, auch das Raufen mit seinen Brüdern, später das Händeschütteln der Erwachsenen, in das er sachte hineinwuchs. Wenn es sein musste, fasste man sich an, aber man umarmte sich nicht. Die feuchten Küsse seiner Tanten auf die Backe hatte er ekelverzerrt ertragen wie alle Kinder, und war dankbar gewesen, dass seine Eltern ihn nicht küssten.

Dann hatte er die Welt außerhalb seiner Familiengewohnheiten kennengelernt, und die Umarmung hatte sich in sein Leben geschlichen. Anfangs noch als besonderes Ereignis, fand er sich bald schon sinnenberauscht in den Armen seiner ersten schüchternen Frauenbekanntschaften wieder. Er sog den Duft ihrer Haare ein, spürte den sanften Druck begehrter Körperstellen, fühlte eine unerhörte, nie erlebte, ganz singulär empfundene Nähe, und verwechselte sie verwirrt mit Liebe. Enttäuscht schreckte er zurück, wenn ihm der Irrtum bewusst gemacht wurde. Eine Umarmung war neu für ihn, sie war intensiv, aber was bedeutete sie?

„Wir geben uns zur Begrüßung die Hand“, hatte ein deutscher Bundesinnenminister noch im Jahr 2017 als Teil einer deutschen „Leitkultur“ vorgeschlagen. 2017! Da hatte die Umarmung für ihn längst den geschützten Raum des Intimen verlassen. Seine festgefügte Welt des Händedrucks als Regelfall war schon viel früher eingestürzt. Sommer um Sommer hatte sich die Umarmung immer fester an seine anwachsende Lebenserfahrung geklammert. Wie eine Epidemie, so schien es ihm, griff das Umarmen um sich. Eingerissen wurde die wohlvertraute Mauer zwischen Liebe und Bekanntschaft, die in seiner erwachsenen Welt anfangs noch sauber sortiert hatte, wen es zu umarmen gilt und wen nicht. Irritiert beobachtete er, wie seine halbwüchsigen Kinder bei jedem nichtig erscheinenden Anlass ihre Freundinnen und Freunde umarmten, und seine Frau wusste sowieso nichts von seiner Mauer. Fasziniert beobachtete er, wie Männer sich gegenseitig in den Arm nahmen, undenkbar in seiner Welt, und staunte über Frauen, die sich mit Umarmungen begrüßten, die das Ziel hatten, zur Schonung von Makeup und Frisur sich möglichst wenig zu berühren. Was für ein absurdes Ritual gespielter Nähe, dachte er sich.

Sogar seine Arbeitskolleginnen -kollegen, die er doch jahrelang mit geübtem Händedruck routiniert begrüßt hatte, begannen zu seinem Erstaunen damit, sich gegenseitig zu umarmen. Eifersüchtig schielte er auf die emotionale Nähe, die manche damit auszudrücken schienen, wo doch professionell ermittelte Distanz angebracht gewesen wäre. Er fühlte sich ausgeschlossen. Neid und Misstrauen wucherten in ihm, und deshalb überwand er sich schließlich in geeigneten Momenten. Er übte das Umarmen ein, wie andere eine Sprache oder ein Musikinstrument erlernen. Rechts oder links? Mit oder ohne Küsschen? Einmal oder zweimal?

Er lernte es also, zu umarmen, aber eine körperliche Muttersprache war es ihm nicht. Für sich selbst entschied er sich schließlich für die distanziert trockene Variante als Regelfall. Entschlossen wich er Küsschen-Überfällen aus, und verweigerte den Lippeneinsatz.

(2)

War da schon der Herbst in den Blättern? Er prüfte die Farbe des satten Grüns über sich, ließ auch den Blick schweifen über den See, auf die im Wasser dahintreibende Entenfamilie, die dahinterliegenden Bäume, musterte das Laub: Alles noch lebendig und saftig grün. Der Herbst wird kommen, überlegte er, das prächtige Sterben der Blätter wird sich ereignen, wie immer, und der unerbittliche Wind wird es herunterzerren und nur kahles Geäst zurücklassen. Es wird sich Eis bilden auf dem See. Aber noch war es nicht so weit, noch war Sommer.

Er war schon tief in der zweiten Lebenshälfte, im goldenen Spätsommer des Lebens gewissermaßen, von der Arbeit befreit, aber auskömmlich wohlhabend, halbwegs gesund und voller Tatendrang. Aus Sicht seiner Kinder war er alt, aber doch der ewig jüngste von insgesamt vier Geschwistern: eine Schwester, die in diesem Jahr einen runden Geburtstag feierte, zwei Brüder.

Der kleine See war ein Urlaubsort. Ein Fest hatte seine Schwester gegeben, eine fröhliche Geburtstagssause mit launigen Ansprachen und musikalischen Einlagen, und sogar sein ältester Bruder, der seit Jahrzehnten in Südamerika lebte, deutlich über achtzig, hatte zu diesem Zweck die weite Reise in die gemeinsame Heimat auf sich genommen. Damit sich dieser Aufwand auch lohnt, hatten sich die vier Geschwister aus Anlass der seltenen Zusammenkunft zu einer gemeinsamen Woche am See verabredet.

Wer glücklich alt werden wolle, der müsse auf gelungene, menschliche Kontakte setzen. Das sei Ergebnis einer großen amerikanischen Langzeitstudie. Ein Interview dazu hatte er auf der Autofahrt an den See mit der Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates gehört. „Der eine Faktor, der alles übertrumpft, der am stabilsten ist als Prädiktor dafür, dass man mit achtzig sagt: Ich habe ein gutes Leben gelebt, ein sinnvolles Leben,“ so hatte die kluge Frau die Studie wiedergegeben, „sind gute Beziehungen zu Geschwistern.“ Natürlich sei das auch nur ein Faktor, nicht der einzige, aber eben der stärkste. Wer ein gutes Verhältnis zu seinen Geschwistern habe, der könne mit guten Chancen darauf hoffen, lang und zufrieden zu leben. Geschwister würden verlässlich dem eigenen Leben einen Rahmen geben.

Seine Geschwister waren fast immer fort gewesen, ihm uneinholbar weit voraus im Leben. Sie führten alle ihre eigenen Leben, ungezählte Kilometer und noch viel mehr Erfahrungen entfernt voneinander. Jahre war es her, dass sie sich zu viert getroffen hatten, monatelang sahen und hörten sie zweitweise nichts voneinander.

Ein großes Hallo war es gewesen, als sie beim Fest aufeinandertrafen. Schon seit einiger Zeit hatte er sich angewöhnt, seine Geschwister nicht mehr wie einst mit Handschlag, sondern mittels einer Umarmung zu begrüßen. Wenn ich schon meine Arbeitskollegen umarme, hatte er sich gedacht, dann kann ich doch bei meinen Geschwistern nicht zur ausgestreckten Hand greifen. Ungefragt nötigte er ihnen also seither Umarmungen auf, auch wenn er regelmäßig das Gefühl hatte, dass sie ihm als linkisch-peinliche Momente herbeigezwungener Körpernähe misslangen. Ganz besonders empfand er es so, als er dem fernen Ältesten, dem es abstandsbedingt an Routine im neuen Begrüßungsritual fehlen musste, der auch gerade erst übernächtigt aus dem Flugzeug gestiegen war, die brüderliche Umarmung aufzwang. Und doch: Alles andere wäre ihm noch unpassender erschienen.

(3)

„Da bist Du ja“, rief er jetzt aus seinem Weidenversteck heraus genau diesem ältesten Bruder entgegen. Er hatte ihn auf dem Rundweg um den See entdeckt. Vorsichtig schritt der alte Mann behutsam auf dem Kiesweg dahin, in seiner typischen Haltung: Die Hände auf dem Rücken verschränkt, den Blick fest auf den Weg geheftet. Hatte er den Zuruf überhaupt gehört?

Es war eine vorhersehbare Zufallsbegegnung. Er hatte die Absicht gehabt, den See allein zu umrunden. Das war sein täglicher Spaziergang hier in der Spätsommerfrische, seine persönliche Rückzugszeit vom Familien-Intensivprogramm. Die letzte Woche war vor allem damit vergangen, dass sich die Geschwister tagelang Geschichten aus ihrer Kindheit erzählt hatten, ihre Erinnerungen abgeglichen hatten, endlos, immer wieder und wieder sich ihrer selbst versichernd. Alte Fotos hatten sie durchsucht, alte Geschichten aufgewärmt, gelacht über Dinge, über die nur sie lachen konnten. Es war ihm eine warme Lust gewesen, sich in diesem Gefühl wohliger Gemeinsamkeit zu suhlen, aber es war auch ein sumpfiger Morast, und die Pampe ihrer verklärten Erinnerungen klumpte an ihnen fest wie das aufgeweichte Erdreich eines regengeplagten Festivalgeländes.

Heute, im flirrenden Licht der hochstehenden Spätsommersonne, hatte er den Weg noch bewusster als sonst abschreiten wollen, meditativ, still, ganz für sich allein. Der gemeinsame Urlaub der Geschwister war vorbei. Würde es noch einmal für alle ein Wiedersehen geben?

„Ah, wie geht´s?“, hörte er den Gruß seines Bruders, der seinen Blick nur wenige Sekunden vom Weg nach oben gehoben und ihn erkannt hatte, nachdem er aus seinem Weidenversteck herausgetreten war. Er reagierte mit belanglosem Gemurmel – „gut, gut, alles Ordnung“ -, begrüßte den Bruder mit einer sanften Berührung der gebeugten Schulter, ganz bewusst die Umarmung vermeidend, aber auch den anachronistischen Handschlag.

Dann passte er sich dem behutsamen Schritt des Älteren an. „Sag mal“, hob der Bruder unvermittelt zu einer Frage an, „erinnerst du Dich, dass wir mit unseren Eltern auch immer am Sonntag spazieren gegangen sind?“

Wie Schluckauf stieg Überdruss an „Erinnerst Du Dich noch“-Gesprächen in ihm auf, zu viele davon hatte er in den letzten Tagen geführt, zu jung fühlte er sich trotz seines fortgeschrittenen Alters für die Fokussierung auf das Erinnern an Vergangenes. Dann aber antwortete er artig zustimmend. Dabei stellte er entsetzt fest, dass er die gleiche Laufhaltung wie sein Bruder angenommen hatte: Blick auf den Weg, die Hände nach hinten, verschränkt auf dem Rücken. Es war die Gehhaltung ihres gemeinsamen Vaters gewesen. Erschrocken löste er die Hände hinter sich voneinander, ließ sie zunächst unentschlossen neben seinen Hüften schlackern, fühlte sich damit aber unwohl und räumte sie schließlich in seine Hosentaschen auf.

„Ich erinnere mich vor allem,“ hörte er jetzt seinen Bruder, „wie langweilig es war, wenn die Eltern dann Bekannte getroffen haben. Ewig haben die sich dann unterhalten über uninteressantes Zeug, und ich musste mir die Beine in den Bauch stehen.“

Nickend stimmte er dem Älteren zu, etwas unkonzentriert, ihm erschien diese Erinnerung belanglos, und seine Gedanken eilten ihm voraus zur kurz bevorstehenden Abschiedsszene. Wie würde die wohl verlaufen, überlegte er.

„Weißt Du eigentlich noch, wie man sich damals begrüßt und verabschiedet hat?“, fragte er.

Schritt für Schritt setzen sie ihren Gang fort, und er hatte schon den Eindruck, der ältere Bruder habe die Frage nicht gehört oder nicht verstanden. Aber dann, während er feststellte, dass seine ungehorsamen Hände sich schon wieder auf seinen Rücken geflüchtet hatten, hörte er ihn doch:

„Na, ganz normal. Mit Handschlag. Immer mit Handschlag. Und unser Vater ging ja nie ohne Hut aus dem Haus. Ich glaube, der hat ihn dann immer gelüftet, so wie sich das damals gehörte.“ Ein Lächeln huschte über das blasse Gesicht des Älteren.

(4)

„Er hatte es gelernt, zu umarmen, aber eine Muttersprache war es ihm nicht geworden.“ Foto: Lizenzfrei von erge auf Pixabay

Der Abschied stand an. Eine ganze Woche waren sie zusammen gewesen. Wann hatte es das zuletzt gegeben? Vielleicht als Kinder, in den letzten gemeinsamen Urlauben mit den Eltern.  Ewig her, sicher mehr als fünfzig Jahre, überschlug er. Nun standen die Autos bereits gepackt vor der Tür des Urlaubsquartiers, die Angeheirateten warteten ungeduldig auf den Aufbruch. Nervös zögerte er den Moment noch heraus, prüfte, ob die Sonnenbrille im Auto bereitlag, stellte die Wasserflasche griffbereit in die dafür vorgesehene Ausbuchung. Hinter ihm hatte bereits seine Frau mit der Verabschiedung begonnen, keine weitere Verzögerung mehr duldend, den Schwager herzhaft umarmend, so wie es ihre Art war.

Dann war er an der Reihe. Noch einmal blickte er in das von einem schütteren grauen Bart umstandene Gesicht des ältesten Bruders, in die vertrauten Augen, in sein faltenumspieltes Lächeln. Eine warme Welle schwappte über ihn hinweg, überspülte ihn mit der Empfindung für das Unwiederbringliche, vielleicht sogar Unwiederholbare dieses Augenblicks. Dann breitete er seine Arme aus. Da bemerkte er, dass der Bruder ihm seine rechte Hand entgegenstreckte. Bereit zum Handschlag.

 

 

Der Vorschlag von Lothar de Maiziere, damals Bundesinnenminister, aus dem Jahr 2017 zu den Merkmalen einer deutschen „Leitkultur“ – „Wir geben uns die Hand“ – finden Sie hier.

Die von Alena Buyx, der Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates, zitierte Studie ist die Grant-/Glueck-Studie der Universität Harvard. Über die Ergebnisse kann man sich u.a. in diesem Video, einem übersetzten Vortragsmitschnitt, informieren.   (Klick leitet weiter auf Youtube) 

Das Gespräch mit Alena Buyx aus der ZEIT-Podcast-Reihe „alles gesagt?“ dauert mehr als fünf Stunden. Wer sich nicht alles anhören möchte (was aber durchaus lohnend ist), findet die von mir zitierte Stelle genau 30 Minuten vor Schluss: https://www.zeit.de/gesellschaft/2023-08/alena-buyx-ethikrat-interviewpodcast-alles-gesagt

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

 

 

Hockneys bunter Blick durch die Glaswand

Über zwei Bilder zum Entlanglaufen, und was sie uns sagen

Eine Frau findet sich plötzlich allein auf der Welt wieder. Was als Wochenendausflug in eine idyllisch im Wald gelegene Berghütte begonnen hatte, endet jäh in einem Alptraum. Für einen schnellen Einkauf in den nächsten Ort entschwinden die Freunde und kehren nicht zurück. Bei dem Versuch, sie zu finden, stößt die Frau gegen eine glasklare, unsichtbare, aber auch unüberwindbare und unzerstörbare Wand. Durch die blickt sie nun auf die Rest-Welt außerhalb ihres Gefängnisses. Was sie sieht, ist prächtige Natur, blühende Wiesen, ländliche Idylle am sprudelnden Bachlauf unter strahlend blauem Himmel. Aber nichts lebt dort: kein Schmetterling, kein Vogel, kein Mensch. Irgendetwas Katastrophales muss dort geschehen sein, denn alles ist tot, übrig ist eine schöne Welt der Flora ohne jedes sonstige Leben.

Über 90 Meter erstreckt sich raumumgreifend das Panorama-Werk „A Year in Normandie“ von David Hockney, zur Zeit zu sehen im Museum Würth 2 in Künzelsau. Foto: Würth/Ufuk Arslan © David Hockney

 

Die Szene stammt aus der großartigen Verfilmung des Romans „Die Wand“ von Marlen Haushofer. Es ist der Blick auf unsere Welt, den die Kunst eröffnet. Es ist ein Blick wie durch ein Fenster oder eben durch die unüberwindliche Glaswand. Wer davor steht, hinausblickt, kann sich fragen, wie die Welt ist oder sein sollte.

Fast 1000 Jahre liegen zwischen den Werken und ihren Welten

Fast 1000 Jahre liegen zwischen den beiden Kunstwerken, um die es hier gehen soll. Es sind beides monumentale Werke, die zu einem Blick auf die jeweils aktuelle Wirklichkeit einladen und doch ihre Betrachter genau dorthin zurückwerfen, wo sie stehen: Wie soll es weitergehen?

Auf den ersten Blick haben die beiden Werke vor allem eines gemeinsam: ihre enorme Länge. Das ist ein ungewöhnliches Merkmal für Kunst. Für das ältere der beiden wurde sogar ein eigenes Museum in der französischen Stadt Bayeux gebaut, durch das sich nun die Touristen enggedrängt an einer langgestreckten, hinter einer Glaswand gesicherten Sehenswürdigkeit entlangschieben. Der Besuch in dem abgedunkelten Raum, in dem der „Teppich von Bayeux“ gezeigt wird, bleibt unvergesslich, obwohl ein gelassenes Studieren der zahlreichen Bilder mithilfe eines übereifrigen Audioguides sabotiert wird. Der ungeduldige Apparat erläutert die kriegerische Bildfolge in einem Tempo, das dazu zwingt, zügig Platz zu machen für die nachdrängenden Gleichgesinnten. Um die 50 Zentimeter hoch und fast 70 Meter lang ist diese textile Einmaligkeit, ein mittelalterlicher Wandbehang. In ungezählten Stichen haben fleißige Hände darauf 623 Männer (und nur 3 Frauen), 202 Pferde und Maultiere, 50 Hunde und weitere Tiere, 41 Schiffe und 37 Festungsbauten verewigt. Das Wort passt, wenn man es als ein Antippen an der Ewigkeit akzeptiert, eine zusammengenähte Stoffbahn fast eintausend Jahre zu erhalten.

Wie in einem Film wandelt der Betrachter vorbei

Der britische Künstler, insbesondere Landschaftsmaler, David Hockney hat sich von diesem in der Normandie ausgestellten Werk inspirieren lassen, selbst ein Panorama zu schaffen, das zum Wandeln entlang der Wand einlädt. In seiner Länge und Höhe übertrifft Hockney sein Vorbild von Bayeux sogar: 90 Meter lang ist es, und einen Meter hoch, und es trägt die Bezeichnung „iPad-Gemälde“, was noch zu erläutern ist. Das Werk heißt „A Year in Normandie“ und ist derzeit noch bis 3. September 2023 im Museum Würth 2 (bei stets freiem Eintritt!) in der schwäbischen Provinzstadt Künzelsau zu besichtigen. Dort kann man sich Zeit lassen, gedrängelt wird nicht.

Wie in einem Film schreitet man bei beiden Kunstwerken einen Ablauf entlang. Bei Hockney ist es der Jahresverlauf rund um sein ländliches Anwesen in der Normandie. Schritt für Schritt ist der Wechsel der Jahreszeiten zu erleben, beginnend mit kahlen Baumgerippen vor kaltblauem Himmel, vorbei an sprießender Blütenpracht und saftigem Grün. Schließlich fallen im lautlosen Rausch die bunten Blätter, und der Gang endet in einer Schneelandschaft. Kein einziger Mensch, kein einziges Tier ist zu entdecken auf den langen Metern seiner Bild-Dokumentation. Die Pflanzen leben und funktionieren – der Rest ist tot. Hockneys Welt gleicht dem Blick aus der Glaswand im Film.

Menschen, Schlachten, Schiffe – Der Teppich von Bayeux ist ein Mittelalter-Comic über Macht und Krieg.

Unendliche Mühsal steckt im einen Werk …

Dagegen wimmelt es von Menschen und Tieren auf dem gestickten Teppich von Bayeux, der um das Jahr 1070 entstanden ist. Vier Jahre vorher gelang es den normannischen Herrschern in der Schlacht von Hastings, einen Teil Englands zu erobern. Mit diesem Sieg begann die Integration Englands in die politischen und kulturellen Geschehnisse des Kontinents, an der auch ein Brexit nichts ändern wird. Vom Weg zu diesem Sieg erzählt der spektakuläre Mittelalter-Comic. Erbfolgestreitigkeiten spielen eine Rolle, und auch die Machtverteilung zwischen Kirche und Adel. Erzählt wird von den Vorbereitungen und Gesprächen um die Thronfolge und das Schlachtengeschehen. Geschildert werden die Lebensumstände der Zeit, die Ernährung der Soldaten, der Bau der Schiffe, sogar der vorbeiziehende Komet Halley ist eingestickt. Hunderte, vielleicht Tausende kunstfertige Menschen waren mit der Herstellung des Textils beschäftigt, ungezählte Stiche in die Fingerkuppen mussten verheilen, ehe das Werk fertig war, das von einem Sieg erzählen sollte.

… und digitale Kreativität im anderen

Hockneys Panorama (Ausschnitt aus „A Year in Normandie“) ist eine menschenleere Idylle …

David Hockney schuf sein langgestrecktes Werk fast ganz allein mit einem Tablet. Der heute 86-jährige eignete sich die Technik des digitalen Zeichenprogramms an und malte die Landschaft vor ihm in zahlreichen elektronisch erstellten Bildern, die er dann zum Jahreszeiten-Panorama zusammenfügte. Entstanden ist ein knallig bunter Kontrapunkt, ein Triumpf der unberührten Natur über eine von Machtkämpfen und Kriegen zerfressene Welt der Menschen. Zu sehen, nein, zu erleben, sind Szenen in saftiger Natur, die Pracht der Bäume, ländliche Idyllen, knuffige Landhäuser mit Fachwerk. Man kann Hockneys gefällig bunte Pracht als Traum einer heilen Welt deuten, und viele im Würth-Museum gönnen sich genau diese Illusion. Die Motive aus dem Panorama eignen sich bestens zur kommerziellen Vermarkung, und so quillt der Museumsshop in Künzelsau über von Postkarten, Kühlschrankmagneten und anderem Merchandising. Als Vorwurf eignet sich das allerdings nicht, denn auch in Bayeux sind die Motive der als Weltdokumentenerbe geadelten Riesenstickerei in jeder beliebigen Form erwerbbar.

Nicht nur die Länge verbindet beide Werke

… in der es nicht einmal Tiere gibt. Nur die Pflanzen funktionieren. (Ausschnitt aus „A Year in Normandie“)

Es ist nicht nur die Länge, die beide Kunstwerke gemeinsam haben. Verloschen sind die Dynastien, die einst untereinander über England stritten. Vergessen sind die Menschen, die ihre Kämpfe ausfechten mussten und deren Abbild hier mühsam gestickt wurde, tot die Pferde ihrer Schlachten, verrostet die Schilde, vermodert die stolzen Schiffe. Alles vorbei. Und Hockneys Blick durch die Glaswand sagt uns voraus: Wenig von dem, was uns wichtig ist, wird bleiben, wenn wir so weitermachen.

 

 

Mehr über die Ausstellung „A Year in Normandie“ im Museum Würth 2 in Künzelsau finden Sie hier. Die Ausstellung wurde verlängert und ist noch bis 3. September 2023 bei freiem Eintritt zu sehen.

Ein Einblick in die Art, wie David Hockney Bilder mit dem iPad malt, ist hier zu finden: (Klick bedeutet Einwilligung zu Youtube)

Der Wandteppich von Bayeux ist zu besuchen im Museum in Bayeux. Mehr Informationen dazu auch auf Wikipedia.

Mehr Informationen über den Film „Die Wand“ nach dem Roman von Marlen Haushofer u.a. hier: https://www.filmstarts.de/kritiken/190949.html

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

 

Die Signatur – Ein Bucherlebnis

Die Schlange und die Signatur – Wie es dazu kam, dass in einem modernen Roman die einzige Handschrift vom Autor kommt.

Der berühmte Autor ist spindeldürr und groß wie ein Basketballspieler. Schütteres blondes Haar krönt seinen schmalen Kopf, ein Spitzbart ziert das hagere, brillenlose Gesicht.  18 Romane hat er schon geschrieben in seinen bald 75 Lebensjahren, ungezählte Kurzgeschichten – Worte über Worte, die er geschaffen hat. In seinem neuesten Buch, dem zu Ehren er in dieser Stadt, in diesem Land, auf dem alten Kontinent weilt, geht es um moderne Zeiten: Um die Selbstverständlichkeit, mit der die Klimaveränderung und ihre Folgen in den Alltag einer amerikanischen Familie hineinkriecht.

Niemand im Roman schreibt etwas auf

Weil es im Jetzt spielt, in unserer Zeit, mitten im Leben also, erzählt (ganz nebenbei) keines der Worte auf den 400 Seiten der deutschen Übersetzung, kein einziges, dass irgendwer irgendwas aufschreibt. Die Protagonisten des Romans halten keine Stifte, sie korrespondieren per e-Mail oder Messanger, sie rufen sich an oder sie begegnen sich persönlich. Aber was sie nicht tun, ist: Etwas mit der Hand zu schreiben.

Ausverkauft ist der große Saal. Im Foyer klingelt schon vor Beginn der Lesung die Kasse am Verkaufsstand der Buchhandlung. Alle wollen das neue Buch des großen Mannes. Manche, die ganz Schnellen, die fanatischen Freunde, die Süchtigen, die wahren Verehrer, die haben es sogar schon gelesen.

Dann rauscht Beifall auf, als der Schriftsteller die Bühne betritt. Als „Rockstar der Literatur“ wird er begrüßt. Es ist nicht einfach, eine Lesung zu organisieren mit einem englischsprachigen Autor, der anlässlich der gerade erschienenen deutschen Fassung seines Buches nach Deutschland kommt. Geduldig fügt sich das Publikum in die Sprachbarriere; es hört sich das teilübersetzte Interview an und auch ein paar kurze Ausschnitte, die der Autor im englischen Original vorliest. Den Rest erledigt eine routinierte Sprecherin, die den deutschen Text zum Klingen bringt. Großer Beifall.

Es geht um eine Schlange

Im Wesentlichen geht es um eine Schlange in diesem Buch, lernen die Bücherfreunde. Jedenfalls im ersten Kapitel, das hier zu Gehör gebracht wurde. Wofür die Schlange denn wohl steht?, wird der Autor gefragt. Vielleicht für die zahllosen Verführungen der modernen Zeiten? Der Hagere nutzt die Antwort zur Kaufempfehlung: Man solle besser lesen, als hier zuzuhören und über mögliche Deutungen seines Textes zu spekulieren. Er werde nichts interpretieren. Er habe das Buch geschrieben und dort alles gesagt, was er zu sagen habe.

Erwartungsgemäß macht die Lesung Lese-Appetit. Der Bücherstand ist noch mehr umlagert als zuvor. Vielstimmiges Gewühl wimmelt im engen Foyer. Die einen suchen einen Ausgang, die anderen das Ende einer Schlange, an deren Kopf der berühmte Autor sitzen sollte, um zu signieren. Zunächst ist er nicht zu entdecken im Getümmel. Erst nach zwanzig Minuten im dichtgedrängten Pulk, nach Vorrücken in Millimetern, gibt die nächste Biegung der Schlange den Blick frei: Da sitzt er auf dem Hochstuhl am Stehtisch, einen geduldigen Stift in der Hand, Wasser und Rotwein vor sich, und geht seiner Arbeit nach: Schreiben.

Da sitzt er: Wasser und Rotwein vor sich

Weitere dreißig Minuten bleibt Zeit, ihn und die Mit-Wartenden zu beobachten. Menschen, die zweifeln, ob sie sich die Warterei weiterhin antun möchten. Passionierte Autogrammjäger, die nach jedem verfügbaren Zettel zur Signatur kramen. Buchbegeisterte Ehepaare mit großen Einkaufstüten voller Bücher; ihre ganze Sammlung der Werke des berühmten Autors werden sie abzeichnen lassen. Ein Einsamer, der Bücher eines anderen Verfassers (ähnlichen, aber nicht gleichen, Namens) in den Händen hält. Wird er erfolgreich sein? Schüchterne, denen die Sorge vor dem bevorstehenden Sekunden-Gespräch mit dem Autor im ungewohnten Englisch ins Gesicht gezeichnet ist. Heitere, die wissen, wie sie ihren Charme werden einsetzen können. Selbstgewisse, die nicht ohne kleinen Plausch am bekannten Mann vorbeiziehen wollen, und dabei den nervösen Blick der Ungeduldigen hinter ihnen vielleicht sogar genießen. Erleichtert registriert das Saalpersonal: „Endlich, ich sehe das Ende!“ Denn langsam nur, aber doch: Die Schlange rückt vor.

Einer wie Du und ich, nur genial

Der berühmte Autor und sein Verehrer – ein Moment der Begegnung.

Dann ist es soweit: Der wahre Verehrer, der alle 18 Romane gelesen hat, steht vor dem freundlichen, hageren Gesicht, sieht ihm in die Augen, nimmt ihn wahr in seinem ganzen Menschsein, einer wie Du und ich, nur genial, jetzt angestrengt, trotzdem wach, natürlich sympathisch. Er sieht die Stirn, hinter der Tiefsinn, Humor, Fantasie und all die Ideen verborgen sind, die dem Verehrer seit Jahrzehnten so viele Stunden der Nachdenklichkeit, der Spannung, der Heiterkeit, geschenkt haben.

„Guten Abend“, sagt der Berühmte auf Deutsch, beantwortet freundlich eine Frage, blättert in seinem Buch („In meinem Buch!“, denkt sich der Verehrer) auf die dritte Seite, und zeichnet seinen Namen hinein, wie tausende, zigtausende Male in seinem Leben zuvor.

Vielleicht weiß er es gar nicht, dass seine schwungvolle Signatur das Buch ganz einzigartig macht. Sie ist das einzige Wort in Handschrift, das in diesem Buch vorkommt.

 

Der amerikanische Schriftsteller T. Coraghassian Boyle ist noch bis 19. Juni auf Lesereise durch Deutschland: https://www.tcboyle.de/lesereise-2023/

Im Zuge seiner Lesereise hat er auch den Tagesthemen ein Interview gegeben, das sich lohnt anzusehen: https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tagesthemen/video-1206626.html

Weitere Texte als Kulturflaneur finden Sie hier. 

Wokes Kunstvergnügen in Söders Reichweite

Nicole Eisenman im Münchner Museum Brandhorst – ein Ausstellungsbesuch

Frühlingsgrün schimmert es im Geäst der Bäume. Saftiges Gras deckt die Wiese. Tauben flattern, ein Hund tollt herum. Fast schon Schwabing ist das hier, umzingelt von Universitäten, Studentenviertel. Die Sonne glänzt vom weiß-blauen Himmel. Ein großes Lächeln tönt durch diese Stadt, ein vielsprachiges Palavern der Jugend dieser Welt, die hier studiert und lebt und genießt. Man teilt sich eine Pizza, trinkt aus mitgebrachten Plastikflaschen.

Ermattet im Klimawandel: Die New Yorker Künstlerin Nicole Eisenman hält der Wohlstandsgesellschaft den Spiegel vor – unterhaltsam, anregend, witzig. (Bildausschnitt aus: Tail End)

Dies ist kein Bild, sondern bayerische Realität. Die Bilder sind daneben untergebracht, in einem quaderförmigen Gebäude. Die Fassade schillert bunt, zusammengestückelt ist sie aus Tausenden kleinen bunten Klötzchen. Zu nüchtern für einen Prachtbau, aber angemessen schön für moderne Kunst.

Im trunkenen Rausch wacher Erwartung

Aufbruch der fröhlichen Gruppe, die gerade noch auf der Wiese saß in lockerer Runde. Niemand ist betrunken, und doch ist es ein trunkener Rausch von wacher Erwartung, der diese jungen Menschen hereinspült in das Museum Brandhorst im Münchner Museumsviertel, gleich neben der Pinakothek der Moderne. Die Siebträgermaschine des Museumscafés dampft und zischt, die Studierenden biegen erst einmal dorthin ab, bilden eine gesittete, geduldig und angeregt schnatternde Warteschlange. Englisch, französisch, deutsch – alles durcheinander. Nur keine Eile, der Barista braucht seine Zeit für einen perfekten Cappuccino. Noch ein Croissant dazu, ein italienisches Gebäck? Im Café werden erwartungsfroh die Tische zusammengeschoben.

Wach sind sie, vermutlich auch „woke“

„Wach“ sind diese jungen Menschen, und vermutlich auch „woke“. Denn der heute zum Schimpfwort mutierte Begriff war bei seinem Eintritt in den modernen Sprachgebrauch einfach nur eine Beschreibung. „Stay woke!“ mahnten sich gegenseitig engagierte Menschen nach den Polizeiübergriffen gegen Schwarze in den USA (z.B. gegen Michael Brown 2014 in Missouri). Sie wandten sich mit wachem Geist den gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten in den USA zu. Schnell verbreitete sich das kurze Wort aus vier Buchstaben über die ganze westliche Welt, und als „woke“ wurden bald alle bezeichnet, die sich gegen rassistische, homophobe, sexistische Traditionen und Verwurzelungen wehrten.

Aber Sprache ist nicht neutral, Sprache ist ein Gefechtsfeld. In den nur knapp zehn Jahren seither war eine erfolgreiche Fremdermächtigung dieses Wortes durch rechtsgerichtete und konservative Kreise zu beobachten. „Wokeness“ wurde in ein Schimpfwort umgedeutet, gerade so, als wäre etwas falsch daran, dunkelhäutige Menschen nicht mehr kolonialistisch beleidigen zu wollen. Oder sexistischen Darstellungen in der Öffentlichkeit entgegenzutreten und für die Toleranz gegenüber queeren Lebenskonzepten zu werben, auch wenn sie einem selbst vielleicht fremd sein mögen.

„Bayern ist anders als Berlin.“ Hoffentlich nicht.

„Bayern ist anders als Berlin“, rüpelte jüngst Markus Söder, der bayerische Ministerpräsident, gegen die Bundeshauptstadt und die dort regierende Ampel-Koalition. „Wir lehnen Wokeness, Cancel Culture und Genderpflicht ab. Bei uns darf man sagen und singen, was einem einfällt.“ Hoffentlich nicht, möchte man ihm da zurufen, denn auch in Bayern darf erfreulicherweise nicht beleidigt und Gewalt verherrlicht werden.

So ganz hoch und abweisend kann die bayerische Mauer gegen die böse Wokeness nicht sein.  Noch bis 10. September zeigt das vom Freistaat Bayern getragene „Museum Brandhorst“, wenige hundert Meter Luftlinie vom Amtssitz des Ministerpräsidenten entfernt, eine spektakulär erfolgreiche Ausstellung der feministisch und bekennend homosexuell positionierten amerikanischen Künstlerin Nicole Eisenman. Was dort im wunderbar luftig hell ausgeleuchteten Keller des Museums auf die oben geschilderten Cappuccino-Trinker wartet, ist beste „woke“ Wohlstandskunst.

Eisenman bietet, was moderne Kunst zugänglich macht

Das Digitale wird Teil der menschlichen Identität: „Selfie“ von Nicole Eisenman.

Die Ausstellung zeigt eine Retrospektive von mehr als 100 Werken der 58-jährigen New Yorkerin unter dem Titel „What Happened“. Es sind Szenen aus dem gesellschaftlichen Leben in den USA – von der Künstlerin eingefangen „auf ebenso humorvolle wie mitfühlende Weise“ (Ausstellungstext). Die Bilder und Installationen bieten alles, was moderne Kunst zugänglich macht. Sie sind oft witzig und laden doch zum Nachdenken ein. Sie stellen die Fragen unserer Zeit, fangen die Ödnis einer oftmals sich selbst überdrüssig gewordenen Welt im Wohlstand ein, stets mahnend, aber nicht klagend. Eisenmans Figuren sehen den Betrachtenden an und fragen ihn, ob er so leben möchten, wie es da zu sehen ist – mehr im Nebeneinander als im Miteinander; mit sich selbst beschäftigt, statt wach für die Welt; verharrend in trostloser Monotonie des kommerziellen Erwartungsdruckes.

Beziehungslose Menschen mit ausdruckslosen Gesichtern hocken in einem Biergarten und wissen mit sich und den vielen anderen, die um sie herum die Zeit totschlagen, nichts anzufangen. In ihrer Verblendung dösen Tea-Party-Republikaner dahin, festgefahren in ihrer Blase aus gegenseitiger Trostlosigkeit, die eine das Gewehr im Blick, während der andere an einem Sprengsatz herumfummelt. Menschen sind gefangen in einer digitalen Welt, die ihnen Kontaktfülle suggeriert, sie aber doch mutterseelenalleine auf das Sofa fesselt. Für ein Selfie teilen wir unsere ganze Identität mit dem Bildschirm.

Gesellschaftliche Missstände im Wohlstand

Im Gemälde „Tea Party“ warten konservative Aktivisten auf ihren Einsatz.

Eisenman zeigt gesellschaftliche Missstände im Wohlstand, auch deren politische Folgen. Daran gibt es nichts zu kritisieren. Im Gegenteil: Dieser Text möchte eine engagierte Aufforderung sein, die inspirierende Kunst von Nicole Eisenman kennenzulernen. Und doch: Möglicherweise kann man am Blick der Künstlerin  auf ihre Welt besser verstehen, warum der Begriff „Wokeness“ eine solche abwertende Umdeutung erfahren hat, zum Kampfbegriff wurde gegen alles, was unbequeme Veränderung befürchten lässt.

Kommt man aus der passenden Ecke der Gesellschaft, so wird man sich bei Eisenman moralisch überlegen wohlfühlen. Die Künstlerin stellt das Patriarchat in Frage und geißelt Rassismus, sie sieht die Folgen des Klimawandels vorher und verspottet uns als Sklaven der digitalen Transformation. Und doch sind dabei die Betrachtenden stets wohlig unterhalten, dürfen grübeln und schmunzeln, müssen keine Schmerzen fürchten.

Die „woke“ Weltsicht ist nicht frei von Selbstgerechtigkeit

Eine so komfortabel ausgestaltete, „woke“ Weltsicht, die nicht frei ist von Selbstgerechtigkeit, musste zwischen die Mühlsteine des politischen Diskurses geraten. Für die einen ist sie selbstgerechte Nestbeschmutzung des mühsam der Geschichte und der Natur abgerungenen Wohlstandes, den der konservative Teil der reichen Gesellschaften lieber verteidigt sähe als verspottet. Auf diese Gefühle adressieren Markus Söder und andere, wenn sie pauschal „Wokeness“ zum Feindbild erklären.

Und den anderen, den Aktivisten für mehr Gerechtigkeit auf dieser Welt, geht das alles nicht weit genug. Für sie finden die wirklichen Miseren des menschlichen Daseins nicht in der Beziehungslosigkeit eines Biergartenbesuchs statt oder auf der Couch eines Psychotherapeuten, sondern in den Hungerlagern der sonnenversengten Sahelzone, in den Folterkellern im Iran oder in den Fluten des Mittelmeeres, wo Menschen auf der Suche nach Hoffnung gegen ihr Ertrinken ankämpfen.

Da strömt schon die Gruppe die breite Museumstreppe hinab! Gerade hatten sie sich noch mit Cappuccinos gestärkt, nun streben sie der Kunst entgegen – erwartungsvoll, bunt gemischt, multikulturell, in lustig bedruckten T-Shirts und schwingenden Sommerröcken. Sie werden über Eisenmans Kunst lachen und grübeln, sie werden nachdenklich sein, und dann werden sie hinausstreben in ihre reiche, bunte Welt und sagen und singen, was ihnen so einfällt.

 

Weitere Informationen zur Ausstellung „What Happened“ im Museum Brandhorst (noch bis 10. September 2023) in München: https://www.museum-brandhorst.de/ausstellungen/nicole-eisenman/

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

 

 

 

 

Mal mehr Mozart, mal mehr Zufall

Wenn KI Klassik komponiert – Ein Konzerterlebnis

Unterlegt vom Geschnatter der restlichen Streicher stürmt zunächst das drängende Cello auf die abwartende erste Violine ein; dann umgekehrt. Irgendwann im weiteren Verlauf einigen sie sich auf eine Harmonie und der anfangs stürmische Streit mündet in einem Hörerlebnis der Ausgeglichenheit. Es ist das Streichquintett C-Dur (KV 515) von Wolfgang Amadeus Mozart, das so beginnt.

Eine Installation aus der Ausstellung „Shift- KI und eine zukünftige Gemeinschaft“ im Kunstmuseum Stuttgart. Im Rahmenprogramm dieser Ausstellung fand das hier beschriebene Konzert statt. Foto: Gerald Ulmann, bereitgestellt vom Kunstmuseum Stuttgart

Entstanden sind diese Töne im Jahr 1787. Der umjubelte Komponist war 31 Jahre alt und berauscht vom Höhenflug des Erfolges seines „Figaro“. Wie hat er seine eigenen Töne gehört, während er sie, vielleicht in fliegend-kreativer Hast, zu Papier brachte? Das Genie musste sie vermutlich gar nicht hören können, seine Musik erklang ihm im Kopf. Wer aber kein Genie war, der brauchte Instrumente und fünf fachkundige Musikerinnen oder Musiker, um das Werk zum Erlebnis werden zu lassen.

Technische Intelligenz hat die Musik schon längst erobert

Gut hundert Jahre später trat das Grammophon auf den Plan. Seit 1889 hat technische Intelligenz die Musik erobert. Mit Hilfe eines furchterregend großen Kastens und seines emporragenden Schalltrichters rang die Technik dem Schellack krächzende und rauschende Töne ab. Es folgten viele Schritte des technischen Fortschritts, das Rauschen wurde leiser und die Qualität der musikalischen Konserve besser. Elektrische Lautsprecher lösten den Trichter ab und Motoren die Kurbel, handliche und weniger empfindliche Tonbandcassetten schließlich die sperrige Schallplatte. Die noch robusteren kleinen silbernen CD´s folgten, der Walkman brachte der Musik das Laufen bei, und heute quillt jederzeit Musik aus jedem Handy, ganz ohne Ruckeln und Rauschen, in glasklarer Qualität, immer und überall. Aber es blieb dabei: Komponieren musste der Mensch.

Der Kreis zu Mozart wäre daher erst geschlossen, wenn die kleinen Apparate, aus denen jetzt nach wenigen Wischbewegungen jene Musik quillt, die einst vom Menschen komponiert wurde, auch noch dazu in der Lage wären, die schönen Töne gleich selbst zu erfinden. Was die Produktion der Töne angeht, wäre das kein Problem. Aber die Komposition?

„Komponiere mir ein Streichquintett!“

„Komponiere mir ein Streichquintett im Stil von Wolfgang Amadeus Mozart“ – mit einer solchen Aufforderung hat Dr. Axel Berndt, Experte für „Interactive Algorithmic Sound and Music“ an der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe seinen Computer tatsächlich auf eine musikalische Reise geschickt. Was dabei herauskam, war kürzlich im Stuttgarter Kunstmuseum zu hören, vorgetragen von den Streicher-Profis des Stuttgarter Kammerorchesters.

Der Konzertabend traf auf angemessen erregtes Interesse eines neugierigen Publikums, wobei sich die musik- und technikinteressierten Menschen bunt durchmischten, um eine halbe Stunde im klimatisiert kühlen Saal anzuhören, was der Computer ihnen musikalisch mitzuteilen hatte. Unstrittig ist immerhin, dass Computerprogramme bereits heute achtbare Ergebnisse erzielen, wenn sie sogenannte „Gebrauchsmusik“ komponieren, also zum Beispiel Musiksequenzen, die Filmszenen untermalen. Aber kann sich Komponist KI mit Mozart messen?

Zunächst ist menschliche Intelligenz gefragt

Zunächst sahen sich die erwartungsvollen Konzertbesucher geballter menschlicher Intelligenz ausgesetzt. Dr. Berndt war ehrlich bemüht, dem Publikum näherzubringen, wie das denn nun vor sich geht, wenn der Computer Musik im Stile Mozarts ausbrütet. Einfach ist es nicht, das wurde schnell deutlich. Mit sehr unterschiedlichen Methoden kann ein kundiger Computerfreund die Maschine zum künstlich intelligenten Komponieren anstiften. „Neuronale Netze“, „genetische Algorithmen“ oder „Markov-Ketten“ heißen diese Zauberformeln, wobei der mitfühlende Experte sich und seinem Publikum ersparte, deren Unterschiede auszubreiten. Je nachdem, was davon angewendet wird, kommt etwas anderes heraus.

Schwierige Materie, das Ganze, vielleicht so viel: Wie das vielzitierte KI-basierte Schreibprogramm kann auch der Musikcomputer nur komponieren, wenn ihm zuvor als Lernmaterial grundlegende Stilrichtungen vorgegeben wurden (z.B. ein Mozart-Streichquintett). In vielen sich wiederholenden Lernschritten erlernt die künstliche Intelligenz auf dieser Grundlage kompositorische Abläufe und Charakteristika, etwa so, wie man bei Kindern das Erlernen der Muttersprache miterlebt – in ungezählten, millionenfach wiederholten Alltagsschritten. Nur dass die Software keinen Alltag hat, nicht schläft und nicht träumt und nicht isst, so dass sie die Aneignung unermüdlich, ununterbrochen, Tag und Nacht, millionenfach neu in sich hineinlernen kann. Nach einiger Zeit könnte die Software dann tatsächlich Musik im Stile von Mozarts Kammermusik produzieren.

Eine Mozart-Retorte reicht nicht

Kann es dann jetzt also losgehen mit der KI-Musik?

Nein, erläutert der Experte. Denn so entstandene Musik würde zu sehr berechenbaren Ergebnissen führen, gewissermaßen eine sich ständig wiederholende Mozart-Retorte. „Zu langweilig“, urteilt Dr. Berndt. Der KI muss also zusätzlich die Aufgabe gegeben werden, gezielt und willentlich (hat KI einen Willen? Ja, wohl schon.) abzuweichen von dem, was sie da gerade mühsam erlernt hat.

„Und nach welcher Logik geht das?“, wird der musikalische Zauberlehrling fragt. „Das ist dann Zufall“, freut sich dieser über seine selbst gewählte Machtlosigkeit. Immerhin, in welchem Umfang er der musikalischen Software vorgibt, sich an Mozart zu halten, oder eigene, freie Ideen beizumischen, das könne er beeinflussen. Man solle sich das wie einen Regler vorstellen: mal mehr Mozart, mal mehr Zufall.

Wer KI spielt, blättert keine Papiernoten

Genug der Erläuterungen, jetzt endlich mal was hören von der komponierenden KI! Schon quillt das Streichorchester aus den rückwärtigen Türen des Saals. Mit i-Pads ausgerüstet nehmen sie ihre Positionen ein. Wer KI spielt, blättert kein Papier.

Gute Laune hinter dem i-Pad: Das Stuttgarter Kammerorchester (SKO) versucht sich an der Interpretation von Klassik, die Künstliche Intelligenz erzeugt hat. Foto: Wolfgang Schmidt Ammerbuch, bereitgestellt von SKO

Was zu hören ist, klingt gefällig, hat auch musikalische Spannungsbögen, und doch: Irgendwie verhallen die drei Stücke „Cannon Crossover“, „Polyphnic Skeleton“ und „Deconstruction“ ziemlich konturlos im Raum. Wenig davon haftet im Ohr, und wenn, dann am ehesten jene Töne der leisen Ironie, die sich auch in den grinsenden Gesichtern der Musiker/innen ausdrückt, immer dann, wenn sich im KI-Werk deutlich manche Mozart-Zitate heraushören lassen. Das waren dann wohl die Stellen, an denen Dr. Berndt den Zufalls-Regler Richtung Mozart verschoben hatte. Artiger Beifall.

KI verhallt konturlos, Mozart aber steckt voller Überraschungen

Dann nimmt das Kammerorchester erneut Anlauf und lässt Mozart im Original hören. Eine Orchester-Version des berühmten c-dur-Streichquintetts füllt den Raum. Es war dies eines jener Stücke, mit denen die lernende KI als Anschauungsmaterial gefüttert worden war. Die Violinen und Violas, die Celli und der Kontrabass legen dynamisch los, mit dialogischer Wucht und voller Überraschungen. Ach, so schöne Töne, nichts Beliebiges haftet dieser Musik an. Die Magie der Kreativität eines Mozart bestand eben ganz sicher nicht nur in der Beimischung des Zufalls zu gelernten Regeln des Musikaufbaus. Sondern aus einem Zauber, der sich nicht errechnen lässt.

„Zu schön für unsere Ohren und gewaltig viel Noten, lieber Mozart,“ hat bekanntlich Kaiser Josef II. die Aufführung der „Entführung aus dem Serail“ im Jahr 1782 kommentiert. Das würde der KI nicht passieren, da ihr jeder moderne Herrscher (und das sind heutzutage die Programmierer) die Länge eines Stückes exakt vorgeben könnte. Erst dann, wenn der Rechner antwortet wie einst Mozart: „Grad so viel Noten, Eure Majestät, als nötig sind“ – erst dann müssen wir uns Sorgen machen über die Zukunft menschlicher Kreativität.

 

Das besuchte Konzert war Teil des Begleitprogramms für die Ausstellung „Shift – KI und eine zukünftige Gemeinschaft“, die nur noch bis 21. Mai 2023 im Kunstmuseum Stuttgart zu sehen ist. https://www.kunstmuseum-stuttgart.de/ausstellungen/shift .

Danach zieht sie weiter in das Museum https://marta-herford.de/ in Herford, wo sie ab 17. Juni bis 15. Oktober 2023 für Besucher zugänglich sein wird.

Das Stuttgarter Kammerorchester beschäftigt sich schon länger mit der Wirkung von Künstlicher Intelligenz auf klassische Musik. Im aktuellen Magazin 1/23 des SKO findet sich auch ein ausführlicher Beitrag dazu. Es kann kostenfrei heruntergeladen werden: https://stuttgarter-kammerorchester.com/publikationen

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier. 

 

 

 

 

Ein Wessi staunt im „Elefantenklo“

Das Bauernkriegspanorama von Bad Frankenhausen

Die guten alten Zeiten waren noch niemals gut. Sie waren ungerecht, staubig und versprachen einen frühen Tod. Zu den rätselhaftesten Freizeitvergnügungen unserer Zeit zählen daher Mittelalterfeste. Menschen, die über Auto und Handy verfügen und sich lauthals darüber beklagen, wenn in ihrer Nachbarschaft das Provinzkrankenhaus geschlossen werden soll, wollen sich dort im Vollbesitz ihres Verstands freiwillig zurückversetzen in eine Zeit, in der schuldlose Frauen der Hexerei angeklagt und verbrannt wurden, es menschenverachtende Leibeigenschaften, allenfalls zufallsgetriebene Erfolge der Heilkunst und soziale Ungerechtigkeit zuhauf gab. Wie sicher muss sich jemand sein über die Unvergänglichkeit des eigenen Wohlstandes, wenn er sich in eine solche Welt zurück träumen möchte?

Vom Volksmund als „Elefantenklo“ verspottet: Der Rundbau oberhalb von Bad Frankenhausen in Thüringen birgt eines der größten Gemälde der Welt.

Mut zur Wut machte den Bauern die Bibel

Dabei weiß natürlich jedes wache Wesen, dass in der „guten alten Zeit“ nicht etwa nur romantisch auf offenem Feuer gekocht, süffig-trübes Bier getrunken und sich mit rupfig-rauem Tuch gekleidet wurde. Vielmehr herrschte Mord und Totschlag. Im Jahr 1525 zum Beispiel, als das, was wir heute „Mittelalter“ nennen, gerade zu Ende gegangen war, lehnten sich die Bauern im Süden Deutschlands gegen ihre Herrschaften auf. Getrieben waren sie von Hunger, materieller Not und der umfassenden Aussichtslosigkeit ihrer Lebenssituation. Mut zur Wut machte ihnen auch der Reformator Martin Luther, der durch seine Übersetzung der Bibel ins Deutsche das Gott-Vertrauen in ein Anrecht auf eine gerechtere Welt auch beim „einfachen Volk“ anwachsen ließ. Also kämpften die Bauern mit Dreschflegeln für ein besseres, gerechteres Leben und wurden von den mit Kanonen ausgerüsteten Söldnern der Feudalherren brutal niedergemetzelt. Einer der Anführer der Revolte war der Theologe Thomas Müntzer, ein Weggefährte Luthers, der sich anders als der große Reformator auf die Seite der rebellierenden Bauern schlug, während Luther jede Gewalt gegen die Obrigkeit ablehnte. Müntzer wurde wenige Tage nach der verlorenen Schlacht von Frankenhausen hingerichtet.

Hoch über dem Berghang thront ein Rundbau

Eine der größten Schlachten dieser Art im deutschen Bauernkrieg fand in der Nähe des Ortes Bad Frankenhausen in Thüringen statt, auf einem weiten, bis heute weitgehend kahlen Berghang. Hoch über ihm thront jetzt ein fensterloser Rundbau, der in den 70er Jahren errichtet wurde. Die Einheimischen nannten das Gebäude spöttisch ein „Elefantenklo“, und brachten damit zum Ausdruck, dass der Bau damals wie heute nicht gängigen Vorstellungen von schöner Architektur entsprach – und viele auch wenig Verständnis hatten für seinen Zweck.

Die Rotunde birgt eines der (flächenmäßig) größten Gemälde der Welt, ein Kunstwerk, das mehr über den Gang der Zeiten seit dem ausgehenden Mittelalter bis heute nachdenken lässt als jedes Mittelalterfest. Geschaffen hat das Riesenwerk (123 Meter lang, 14 Meter hoch) der Leipziger Universitätsprofessor und Künstler Werner Tübke. Tübke hatte auch im Westen Beachtung und Anerkennung gefunden und galt als berühmtester zeitgenössischer Maler der DDR. Seine ins Ausland verkauften Werke brachten dem Staat Devisen, aber der künstlerische Ausdruck Tübkes war nicht unumstritten, da er sich gegen ästhetische Vereinnahmungen durch die Ideologie wehrte. Der Maler war ein zweifelnder, von der Denkwelt des Christentums, auch von esoterischen Ideen beeinflusster Mensch. Als im Jahr 1975 entschieden wurde, dass er das größte Bild malen sollte, das der sozialistische Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden jemals in Auftrag gegeben hatte, warnte Tübke seine Auftraggeber: Er werde kein heroisches Schlachtengemälde malen. Vielmehr werde er die Ereignisse, um die es ging, in einen größeren Zusammenhang stellen. Und er forderte das ein, was dieser Staat, der einen perfektionistischen Überwachungsapparat unterhielt, weil er seinen Bürgern zutiefst misstraute, am wenigsten zu geben hatte: Vertrauen und künstlerische Freiheit.

Zwölf Jahre arbeitete Tübke am Panorama

Fronarbeit an der 1722 qm großen Leinwand: mehr als die Hälfte des Panoramas malte Werner Tübke selbst.

Nachdem ihm alles das weitgehend zugesichert worden war, machte sich Tübke an die Arbeit. Zwei Jahre lang studierte er die Maler der Renaissance, auch in Studienreisen ins westliche Ausland. Anschließend erstellte er ein Modell für das Rundbild im Maßstab 1:10, das er im Jahr 1982 fertigstellte. Dessen Konturen wurden mit Lichtprojektoren vergrößert und auf die schon seit vier Jahren in der Rotunde wartende Leinwand übertragen. Fünf weitere Jahre malte Tübke dann im „Elefantenklo“ auf insgesamt 1722 Quadratmetern sein Weltengemälde mit mehr als 3000 Figuren. Er ließ sich helfen von Schülern seines Vertrauens, aber mehr als die Hälfte des gewaltigen Panoramas malte er selbst. In diesen Jahren lebte und arbeitete er bis zur Erschöpfung. Am 16. Oktober 1987 signierte er sein Werk.

Als Tübke endlich fertig war, wollte der Staat bis zur Eröffnung noch weitere zwei Jahre warten. Für das Jahr 1989, zur 500. Wiederkehr des vermutetem Geburtsjahr von Thomas Müntzers (1489), plante die DDR umfassende Feierlichkeiten zur Vereinnahmung des revolutionären Theologen. Die Eröffnung des Bauernkriegspanoramas von Frankenhausen am 14. September 1989 sollte dafür den Höhepunkt bilden. Aber bekanntlich verordnete die Geschichte dem sterbenden Staat andere Prioritäten. Die höchste Staatsführung fehlte beim Festakt, weil sie bereits mit ihrer eigenen Rettung beschäftigt war: Tausende verzweifelte DDR-Bürger umlagerten die Prager Botschaft der Bundesrepublik und suchten den Weg nach Westen.

Die Geschichte verordnete andere Prioritäten

Zwei Monate später fiel die Mauer und im nun diskussionsfreudigen Klima der Nach-Wende-DDR geriet das gerade eröffnete Bauernkriegspanorama in die Kritik. Warum hatte sich dieser bankrotte Staat noch in seinen letzten Stunden ein solches Riesenwerk geleistet? War das nicht pure Propaganda? Und wer war dieser Werner Tübke eigentlich, der da jahrelang an seinem Bild gepinselt hatte – war das nicht ein angepasster Auftragskünstler des verhassten Regimes? Wozu dieses ganze Gebäude, das es jetzt auch noch zu unterhalten gilt? Und die westliche Kulturkritik spottete teilweise selbstgefällig über das Riesengemälde.

Wer schließlich das Schlachtfeld von Frankenhausen hinter sich lässt und hinaufsteigt auf die abgedunkelte Bühne im Inneren des Rundbaus, von der aus das effektvoll ausgeleuchtete Panorama zu besichtigen ist, sieht viel mehr, als Auge und Verstand erfassen können. Stundenlang könnte man all den Geschichten und Mythen nachforschen, all den Figuren begegnen, die sich der Künstler hat einfallen lassen. Es ist ganz sicher nicht ein verherrlichendes, heroisches Bild, das viele Ostdeutsche und erst recht die vorurteilsgetriebenen Wessis hinter den Mauern der Rotunde erwarten.

Das Bild lässt „alle Theorie grau in grau erscheinen“

Denn der Künstler verblieb in seinem Werk im historischen Kontext der Renaissance, schildert die Bauernschlacht in einem Moment, da bereits erkennbar ist, dass sie für die Bauern verloren ist. Tübke ergänzt diese ernüchternde, nachdenkliche Darstellung mit bildreichen Phantasien. Das Gemälde sei „keine didaktische Großillustration, sondern eine historische Parabel menschlicher Irrungen und Wirrungen“ schrieb der Kunstkritiker Eduard Beaucamp von der FAZ, der auch eine kommentierte Sammlung der Tagebuchaufzeichnungen von Werner Tübke herausgegeben hat.  Im Endlosbild ist, geordnet nach den Jahreszeiten, von Adam und Eva, dem Turmbau zu Babel bis zu Luthers Wirken, der Erfindung des Buchdrucks, dem erwachenden Widerstandsgeist der Bürger und Handwerker fast alles zu sehen, was ein christlich-europäisches Weltbild zu bieten hat. Wer dieses Bild gesehen habe, „dem wird die Zaubermacht der Kunst für einen Moment alle Theorie als grau in grau erscheinen lassen“, urteilte der Schriftsteller Golo Mann, nachdem er bereits 1987 das Panorama besucht hatte.

Thomas Müntzer als Zweifelnder: Inmitten der tobenden Schlacht erkennt der Theologe, den die DDR-Führung zum revolutionären Helden machen wollte, dass der Kampf verloren ist.

Das mag heute alles etwas angestaubt klingen. Und doch bleibt, dass hier ein bedächtig zweifelnder Künstler seinem sozialistischen Auftraggeber eine Botschaft aufgezwungen hat, die einerseits im Göttlich-Christlichen fußt, und andererseits den revolutionären Helden fast verloren zeigt im Mittelpunkt des Schlachtgetümmels. Die Regenbogenfahne, damals gedacht als Symbol der Einheit von Gott und Mensch, hat Thomas Müntzer auf dem Bild bereits gesenkt. Nachdenklich betrachtet er das blutige Geschehen, während die verzweifelten Bauern noch die Flagge der „Freyheit“ hoch halten, aber doch schon die Kanonen und Schwerter der vom Adel gedungenen Söldner morden.

Wo bleiben solche Zweifel am Heroischen andernorts?

Wo bleiben solche Zweifel bei anderen berühmten Bauten zur Verehrung historischer Helden der Deutschen? Niemals musste sich die „Walhalla“ bei Regensburg, in der nicht nur Forscher und Dichter, sondern auch zahlreiche Heerführer aller Jahrhunderte geehrt werden, ob ihrer Geschichte rechtfertigen, obwohl es dafür gute Gründe gäbe. Ähnliches gilt für das Völkerschlachtendenkmal bei Leipzig, für den Kyffhäuser in Thüringen oder das Niederwalddenkmal oberhalb des Rheins. Allen diesen Bauten fehlt jener Zweifel am Heroischen, das Tübkes Panoramabild prägt.

Draußen dann, nach diesem farbenprächtigen Rundum-Erlebnis im Halbdunkel, wartet eine große Terrasse vor dem Museum. Der Blick geht über das historische Schlachtfeld hinaus in die weite Landschaft des Südharzes. Vielleicht könnte das der richtige Ort sein für die Betrachtung eines noch größeren Panoramas:

Augen auf!

Einmal die Augen schließen, das Bewusstsein für das Hier und Jetzt anschalten und langsam um die eigene Achse drehen! Was dann zu sehen ist, ist keine mittelalterliche Szene, sondern das Bild der apokalyptischen Herausforderungen von heute zwischen Heiß und Kalt, zwischen Flut und Dürre, von tödlichem aktuellem Kriegsgeschehen, von sozialen Ungerechtigkeiten allerorten. Die Szene ist bevölkert von den vielen Mitmenschen, die sich als Figuren der Fremdbestimmung erleben, die empfinden, herumgeschubst zu werden in einer Welt, die sie nicht verstehen und die ihnen feindlich begegnet.

Es bedarf nur eines solchen Blickes, und Tübkes Rundbild vom Bauernkrieg wird hochaktuell, während auf dem Kyffhäuser das braune Moos wuchert und die meisten Marmorköpfe in der Walhalla längst verstaubt sind. Augen auf!

 

 

Das Bauernkriegspanorama von Werner Tübke ist jeden Umweg wert. Eine virtuelle Tour über das Gemälde und nähere Informationen zu einem Besuch gibt es hier:  https://www.panorama-museum.de/de/

Weitere Informationen zu dem Künstler Werner Tübke z.B. auf Wikipedia, oder auch in diesem sehr interessanten Gespräch anlässlich der Herausgabe seiner Tagebücher mit  dem Kunstkritiker Eduard Beaucamp und der Kunsthistorikerin Dr. Annika Michalski.

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

Wegschmeißen oder Weiterlesen?

Als Zuschauer beim „Literarischen Quartett“ – eine Erfahrung

Das Sprechen über Literatur steckt voller Risiken. „Nicht verraten!”, schreit der eine, wenn das Gegenüber ansetzt, die Pointe aus dem Buch zu erzählen, das er gerade liest. „Völlig langweilig”, hört überrascht die Leserin das fremde Urteil über den Roman, den sie gerade so packend findet. Die euphorische Empfehlung „Das Buch ist ganz toll!“ ist verantwortlich dafür, dass Abertausende ungelesene, im Lesen abgebrochene Bücher die Regale und e-Reader füllen, und auch dafür, dass die Verlage damit sogar noch Geld verdienen.

Die Welt, die sich im eigenen Denken beim Lesen eines Buches entfaltet, ist eine individuelle Eigenproduktion, eine Einmaligkeit, ein Solitär. Darüber zu sprechen, eröffnet für viele weniger einen Blick auf Literatur, mehr auf die Sprechenden. Und doch, oder deshalb, treffen sich täglich im ganzen Land Menschen, suchen erkaltete Salons von Volkshochschulen auf oder bewirten sich in privaten Zirkeln mit Weißwein und Käsehäppchen, um über Bücher zu sprechen.

Der Wort-Adel vor dem Spiegel des kultivierten Streits: Adam Soboczynski, Thea Dorn, Jenny Erpenbeck und Philipp Tingler (von links) im „Literarischen Quartett“ vom 31.03.2023. Foto: Svea Pietschmann, bereitgestellt vom ZDF

Ein bildungsbürgerliches Hochamt

Wenn es ganz öffentlich, auf einer Bühne, übertragen im nächtlichen Fernsehen, abrufbar zu jeder Tageszeit in den Mediatheken, stattfindet, dann kann das Sprechen über Bücher zum bildungsbürgerlichen Hochamt werden. Seit dem Jahr 1988 streiten in der Sendung „Das literarische Quartett” im ZDF Literaturkritiker/innen und andere über Bücher. Das legendäre erste Quartett mit Marcel Reich-Ranicki, Hellmuth Karasek und Siegrid Löffler (die Reihenfolge war Programm) ging am 30. Juni 2000 im heftigen Streit auseinander. Man kann sich den Moment der öffentlichen Implosion der Literaturkritik auch heute noch auf YouTube ansehen und es ist zu empfehlen, dies zu tun.

Im Streit über diesen Bestseller zerbrach das erste „Literarische Quartett“. Sigrid Löffler hielt es im Jahr 2000 für „sprachloses, kunstloses Gestammel.“

Das Filmchen ist ein Zeitdokument darüber, dass sich in den seither vergangenen 23 Jahren die Dinge zwischen Männern und Frauen zumindest in der Öffentlichkeit doch ein wenig zum Guten verändert haben. Der noch ohne den geringsten Anflug von Selbstreflexion agierende Kultur-Großfürst Reich-Ranicki hatte sich vor laufender Kamera zu persönlichen, sexistischen Bewertungen über das Liebesverständnis seiner aus Wien stammenden Literatur-Kritiker-Kollegin Loeffler verstiegen. Das hatte nicht etwa das Ende seiner eigenen Mitwirkung an der Sendung zur Folge, sondern den Rückzug von Löffler. Die allerdings wusste ebenfalls auszuteilen, gegen das Buch, aber auch gegen die „erotischen Vorlieben” ihres männlichen Kollegen. Im Mittelpunkt des spektakulären Schlagabtauschs stand das Buch „Gefährliche Geliebte” von Haruki Murakami, was im weiteren Verlauf dieser Erlebnisschilderung noch eine Rolle spielen wird.

Bald darauf verordnete das ZDF dem Quartett eine Sendepause. 2015 wurde es in neuer Besetzung wiederbelebt, und seit 2020 leitet die Schriftstellerin mit dem Künstlernamen Thea Dorn die Kritikerrunde, die außer ihr selbst keine festen Partner mehr hat. Dorn und das ZDF suchen sich in jeder Sendung neu drei wechselnde Prominente aus der Welt der Worte, und um die 100 Zuschauer sitzen artig um das Podest im Großen Salon des Berliner Ensemble herum, wenn die Scheinwerfer aufleuchten.

Kabelgewirr, nervös gewittriges Blinken, Giraffenarme

Der technische Aufwand ist enorm. Ein Gewirr von Kabeln, nervös gewittriges Blinken der Displays und Bildschirme prägen die vorfreudige Atmosphäre im Foyer des dunkelholz-getäfelten Theaterbaus am Schiffbauerdamm. Eine Heerschar von Fernsehfachleuten versucht die Technik in Schach zu halten, – besser noch: – auf Höchstform zu trimmen, jeden Ton einzufangen, das Licht richtig zu setzen, um die Heldinnen und Helden der Literaturkritik im richtigen Winkel einzufangen. Lautlos kreisen die giraffenartig ausgreifenden Kameraarme durch den Raum, schweben geisterhaft hinweg über die Köpfe der gutgelaunten Zuschauerschar, die sich schon Wochen vorher eine Karte gesichert hatte für die Aufzeichnung des „Literarischen Quartett” Ende März 2023.

Wer über eine solche Karte verfügt, wird handverlesen gesetzt. Keine freie Platzwahl bei der Literatur. Es soll ausgebucht aussehen (was es ist), vielleicht auch divers und kameratauglich. Zuvor mussten die Besucher Mantel und Handy abgeben, damit keine Störfrequenz die sensible Technik irritiert. Und kein unbotmäßiges Klingeln. Wie wäre es mit unkontrolliertem Herumschreien? Nun ja, hier ist alles unter Kontrolle, nicht live. Es ist eine Aufzeichnung, und ein Flitzer unter Literaturfreunden könnte zur Not herausgeschnitten werden. Aber niemand aus der Schar der Bücherfreunde ist hergekommen, um die eigene Meinung zu den Büchern einzubringen. Klatschen ist erwünscht; es wird eingeübt, wie lange der aus Regiesicht optimale Beifall andauern sollte – fünf Sekunden, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Zweimal ist sich der Wort-Adel einig

Dann – Auftritt der Matadore. Thea Dorn als erste; einer ihrer Mitdiskutanten trottet mit ihr vorab auf die Bühne, aber die Chefin schickt ihn wieder zurück. Die Gastgeberin erläutert nochmals das Prozedere: Man werde sich erst einmal warmdiskutieren, was dann später nicht im Fernsehen zu sehen sein wird. Sie stellt ihre Mitkritiker vor, auch das ist exklusiv für das Live-Publikum der Aufzeichnung, denn in der ausgestrahlten Sendung wird das ein Intro-Film erledigen. Diesmal sind dabei: die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck und die Literaturkritiker Adam Soboczynski  (ZEIT) und Philipp Tingler (Schweizer Fernsehen SRF) . Vier Bücher stehen zur Diskussion, und man kann das Ergebnis so zusammenfassen: Bei zwei Büchern ist sich der Wort-Adel weitgehend einig, dass sie gut sind. Bei einem scheiden sich die Geister: zwei dafür, zwei dagegen.

Schließlich kommt das Buch dran, das der Autor dieser Zeilen gerade liest; es wird vorgestellt von Jenny Erpenbeck, die tapfer für ihren Kollegen Arno Geiger kämpft. Aber es hilft nichts. Die drei anderen vernichten „Das glückliche Geheimnis“ als „wirklich ärgerlich und entbehrlich“ (Philipp Tingler).  Man muss Arno Geiger nicht auf eine Stufe mit Haruki Murakami stellen, wenn an dieser Stelle an den Zwist zwischen Sigrid Löffler, Marcel Reich-Ranicki und Hellmuth Karasek erinnert wird. Löffler sprach damals der „Gefährlichen Geliebten“ jede literarische Qualität ab, sprach von „literarischem Fastfood“, kanzelte den japanischen Roman als „sprachloses, kunstloses Gestammel“ ab, was den schon beschriebenen Streit auslöste. Und doch wird noch immer jedes Jahr spekuliert, wann endlich Murakami den Literatur-Nobelpreis bekommen wird.

„Wie ein Schuss aus dem Betäubungsgewehr“

Die Vernichtung des Geiger-Buches im aktuellen „Quartett“ kommt ohne vergleichbare persönliche Schärfe im Disput aus. Selbst wenn das kritisierte Buch eine „Wirkung hat wie ein Schuss aus dem Betäubungsgewehr“ bleiben Verletzungen aus. Allesamt sind sie interessiert am gepflegten Diskurs, die bösartige Streitkultur von einst ist längst abgewandert in andere Medien.

Es ist eine wohlige, bildungsbürgerlich kultivierte Szene, die da zusammenkommt, auf der Bühne wie im Publikum. Hier ein graues Haar, dort ein elegant um den Hals gelegter Schal. Philipp Tingler testet die Grenzen der fernsehtauglichen  Kleiderordnung aus und trägt ein schrilles T-Shirt. Das war es aber schon.

Selten ist der Zweifel so kultiviert zu haben wie hier

Bert Brecht sitzt in Bronze vor dem „Berliner Ensemble“. „Von den sicheren Dingen das sicherste ist der Zweifel.“

Ein großer Spiegel verdeckt für die Fernsehaufzeichnung die Glastüren, die sonst vom Salon auf den Balkon des Berliner Ensembles führen. Man könnte dort hinaustreten und bekäme Bert Brecht zu sehen, der in Bronze gegossen auf dem Platz vor „seinem“ Theater sitzt. „Von den sicheren Dingen das sicherste ist der Zweifel“, hat der Theatermann einmal gesagt. Selten ist der Zweifel in unserer wilden Welt noch so kultiviert zu erleben wie beim „Quartett“, wo sich im großen eitlen Spiegel das Licht der Scheinwerfer bricht. Sie beleuchten eine Welt, die sich gefällt, aber berührungslos fremd bleibt für die Bäckereiverkäuferin, die mit den Folgen der Inflation kämpft, für den Müllwerker, der an seine Familie in der fernen Heimat denkt, oder für die Mutter, die sich über den Notfallplan ihrer Kinderkrippe beugt.

Nach einer knappen Stunde ist die gut ausgeleuchtete Spiegelei vorbei, der von Licht und Menschen aufgeheizte Raum leert sich schnell, die wohlgesetzten Worte sind schon verhallt, die Kritiker verabschieden sich artig, und die Zuschauer treten hinaus an die frische Luft. Das Handy brummt, die reale Welt meldet sich.

Was jetzt tun mit dem abgekanzelten Geiger-Buch: Wegschmeißen oder weiterlesen?  Es war unterhaltsam, das Sprechen über Literatur zu erleben. Am besten aber ist wohl: Man liest.

 

 

 

Die aktuelle Folge des „Literarischen Quartett“ wurde am 31.3.2023 ausgestrahlt und ist noch bis 30.6.2023 in der ZDF-Mediathek verfügbar.

Ich empfehle unbedingt, sich auch den legendären Streit im „Quartett“ vom 30. Juni 2000 auf YouTube anzusehen: https://www.youtube.com/watch?v=IFCSHEfQvY4

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

 

Doppelter Tumult auf den Rücksitzen

Eine Assoziation zur Neuinszenierung von Puccinis „Il trittico“ in Hamburg

Schon zu lange dauert die Fahrt. Kilometer um Kilometer zieht sich die Autobahn dahin. Tochter und Sohn sind festgeschnallt auf der Rückbank, aber die Stimmung droht zu kippen. „Erzähl uns eine Geschichte!“, wird von hinten gefordert. „Wir sagen Dir drei Worte“, übernimmt die Tochter die Regie, „und daraus machst Du eine Geschichte!“ „Aber eine coole!“, verlangt der Sohn. Die Mutter steuert und schweigt.

„Ein Einhorn soll vorkommen, ein wunderschönes Einhorn“, fordert die Tochter. „Und ein Dinosaurier“, schreit der Sohn. Die Tochter verdreht die Augen.

„Also gut“, sagt die Mutter, „ein wunderschönes Einhorn und ein Dinosaurier. Und was noch?“ Langes Beratschlagen auf den Rücksitzen über den dritten Begriff. Ein Fahrrad? Ein Feuerwehrauto? Die Kinder können sich nicht einigen. Da taucht vor ihnen ein LKW auf. Aufgemalt ist ein großer, runder Donut, gelbe Glasur, bunte Zuckerstreusel. „Ein Donut!“, ruft der Sohn. „Ohh, lecker“, bestaunt die Tochter das aufgemalte Riesen-Schmalzgebäck. Die Mutter lenkt und denkt.


Drei kurze Opern an einem Abend, das verspricht „Il trittico“. In Hamburg werden aber vier Geschichten erzählt. Es beginnt mit der witzigen Erbschleicher-Soap „Gianni Schicchi“ (hier Narea Son und Roberto Frontali) …

Tumult! Irreführende Ankündigung! Hier soll es doch um eine Oper gehen!

An der Staatsoper Hamburg geht es dieser Tage nicht um drei Worte, sondern um drei Kurzopern. „Il trittico“ heißt der Opernabend, den der auch damals schon weltberühmte italienische Komponist Giacomo Puccini, sechs Jahre vor seinem Tod im November 1924, als letztes komplettes Werk vertonte. Auf dem Programm stehen drei Einakter, jeder etwa eine Stunde lang, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Trotzdem wünschte sich der Komponist ganz ausdrücklich, dass sie gemeinsam an einem Abend gegeben werden sollten – als „Triptychon“, als dreiteiliges Gesamtkunstwerk. „Il trittico” ist ein Sittengemälde, in dem jede einzelne Oper für sich steht. „Der Mantel” erzählt dramatisch von Armut und der mörderischen Verzweiflung über eine erkaltete Liebe. „Schwester Angelica” schildert tragisch die Unerbittlichkeit von Moralvorstellungen, die ein junges Leben erst ins Kloster und dann in den Tod treibt. Und “Gianni Schicchi” schließlich spottet heiter über geldgierige Erbschleicherei und endet in der glücklichen Liebe eines jungen Paares.

Schöne, elegante Bilder verwöhnen das Publikum

In Hamburg hat das Regieteam um Axel Ranisch diese drei Opern in schöne, elegante Bilder gesetzt. Es ist eine Lust, auf diese Bühne zu schauen. Die Kulissen sind stimmig und erzählfreudig, das Licht strahlt und schimmert in jeder dargestellten Seelenlage genauso, wie es sein muss. Die Kostüme sind bunt und fantasievoll. Alles ist angenehm modernisiert, nicht angestaubt, und doch stören keine allzu gewagten Regie-Experimente die schönen Bilder zur schmelzenden Musik. Die Tragödie rund um den Mantel, der am Ende die Leiche eines Liebhabers verbirgt, wird – wie vom Komponisten gewünscht – in der düsteren Tristesse des Pariser Prekariats um 1900 verortet. Im Italien des Mittelalters ist die Komödie „Gianni Schicchi“ angesiedelt und erzählt in Hamburg äußerst unterhaltsam  den trickreichen Kampf der Erben am zu verteilenden Kuchen in der bunten Bildersprache einer Vorabendserie auf RTL2. Nur das tragische Schicksal von Angelica, der traurigen Klosterschwester wider Willen, wird aus dem 17. Jahrhundert auf ein modernes Filmset verlegt.

Aber trotzdem hält es Empörte kaum auf den Sitzen

…, dann folgt ein Sozialdrama mit mörderischem Ausgang: „Der Mantel“ (hier: Roberto Frontali und Elena Guseva). Und schließlich …

Es gäbe also für alle Puccini-Fans, für die oft romantisch veranlagten Genießer dahinschmelzender Arien und rauschhafter Orchesteraufwallungen, wahrlich nichts zu bemängeln an dieser Umsetzung der drei Einakter. Und doch ist der ganze Abend ein großes Experiment, das offenbar stark an den Nerven des Hamburger Opernpublikums zerrt. Auch am zweiten Abend der Neuinszenierung (Premiere war am 15. März 2023) hält es manche Empörte und Enttäuschte zeitweise kaum auf den Sitzen. “Aufhören!” wird gebrüllt, laut stöhnend raunt mehrstimmig „Nein, nicht schon wieder“ und vielfaches „Ojee“ durch das Auditorium. „Wir wollen Puccini hören!“, wird gerufen, sogar demonstratives Aufstehen und Türenknallen ist zu vernehmen.

Ein anderer – wie man am Ende sieht: weitaus größerer – Teil des Opernpublikums ereifert sich über genau diese Störungen: „Ihr habt alle keinen Anstand!“, hallt es durch die Polsterreihen. Ruhe kehrt erst ein, als sich der Vorhang wieder hebt und die Musik den genervten Protest zum Schweigen bringt.

Ein Leben blüht auf und fällt in sich zusammen

Was hat da so erregt? Es ist eine Rahmenhandlung, die vor jeder der drei Kurzopern in Videointerviews ausgebreitet wird. Wegbegleiter/innen einer fiktiven Schauspielerin berichten über deren Karriere-Höhepunkte. Wer zuhört (und nicht seinem demonstrativ empörten Desinteresse Ausdruck verschafft), erfährt die Lebensgeschichte einer Künstlerin, die einen steilen Aufstieg erlebte, auf dem Höhepunkt von Ansehen und Erfolg einen schweren privaten Schicksalsschlag erlitt, und schließlich ihrem Leben verzweifelt ein Ende setzte. Kurz: Ein Leben blüht auf und fällt dann in sich zusammen.

… verzweifelt in „Schwester Angelica“ eine Klosterschwester (hier: Elena Guseva) an Moral und Trauer über ihr verstorbenes Kind. Regisseur Axel Ranisch gelingt es, diese drei Geschichten intelligent zu einem spannenden Drama miteinander zu verbinden. Fotos: Brinkhoff/Mögenburg, bereitgestellt von Oper Hamburg

Das Hamburger Regieteam rund um Axel Ranisch mutet den wohlsituierten Großstadt-Grauköpfen zu, sich für wenige Minuten der ganzen Härte eines Menschenschicksals auszusetzen, bevor sie in rauschhafter Musik und schönen Bildern versinken dürfen. Die jeweils danach gezeigten Einakter werden zu fiktiven Filmproduktionen umgedeutet – ohne sie in der Substanz zu verändern. Ranischs Kunstgriff ergänzt die drei Handlungen der Opern um eine vierte, bindet sie schlüssig zusammen, und wenn man das „Trittico“ noch niemals anders gesehen hätte, würde man diese Zusammenführung als absolut naheliegend, geradezu zwingend, betrachten. Vielleicht hätte man statt einer imaginären Figur sogar ein historisch belegtes Künstlerinnenschicksal einführen können? Aber auch so entlassen Puccini und Ransich das Publikum nachdenklich und bereichert. Rauschender Applaus beendet einen Abend, der in Erinnerung bleibt.


„Langweilig!“, schreit der Sohn

„Es war einmal ein kleiner Dinosaurier,“, hob die Mutter an, „und der hatte sich im Wald verlaufen. Einsam und ängstlich stolperte er über die umgefallenen Bäume und kaute an den trockenen Blättern, denn er hatte Hunger. Bald schon würde es dunkel sein, und der Dinosaurier machte sich große Sorgen, ob er seine Familie bis dann wiederfinde würde.“

Blick in den Rückspiegel. Das Publikum wartet aufmerksam auf die Fortsetzung.

„Da sah der kleine Dino zwischen den Bäumen ein helles rosafarbenes Leuchten. Als er darauf zulief, erkannte er ein wunderschönes Einhorn, das weiß und rosa glitzerte und einen prächtigen weißen Haarschweif hatte. Mit großen blauen Augen sah es den Dinosaurier an. Suchst Du etwas?, fragte es freundlich, kann ich Dir helfen?“

Die Mutter unterbricht ihre Erzählung, setzt den Blinker und überholt einen Donut-LKW.

„Langweilig!“, schreit der Sohn.

„Weiter!“, fordert die Tochter.  

„Da klagte der kleine Dinosaurier: Ich suche meine Familie, und so viel Hunger habe ich auch! – Das wundersame Glitzertier wies mit seinem Horn in eine Richtung und sagte: Deine Familie ist hinter diesen Bäumen dort, die habe ich vorhin dort gesehen. Dann machte es Pling! – und im nächsten Moment ringelte sich um das Horn des Einhorns ein großer, fetter, bunter Donut, gelbe Zuckerglasur und darauf ganz viele bunte Streusel.“

Der Sohn gähnt vernehmlich.

„Der ist für Dich!, sagte das Einhorn und der kleine Dinosaurier verschlang den Kringel in Windeseile. Das Einhorn verschwand so schnell wie es erschienen war, und der Dinosaurier hörte seine Familie nach ihm rufen. Er lief schnell zu ihnen hin und gemeinsam stapften sie weiter durch den Wald. Und wenn sie nicht gestorben sind …“

„Jaja. Sind aber schon gestorben, die Dinos. Und Einhörner gibt es überhaupt nicht“, belehrt der Sohn. 

Stille auf der Rückbank. Dann beide Kinder im Chor: „Mama, wie haben sooo viel Hunger!“

 

„Il Trittico“ in Hamburg ist noch an mehreren Terminen im März und April 2023, und dann wieder im Januar und Februar 2024 zu sehen. Weitere Informationen hier: https://www.staatsoper-hamburg.de/de/spielplan/stueck.php?AuffNr=183686

Dort gibt es auch einen Trailer, der Lust auf Mehr macht: https://www.youtube.com/watch?v=G-MClvcIIo4&t=3s

Dieser Text erhebt nicht den Anspruch einer Aufführungskritik. Mein Fokus liegt ausschließlich auf dem (kultur-)politischen Aktualitätsbezug von Werk und Inszenierung. Daher gibt es in diesem Text auch nur Bemerkungen zur Konzeption der Inszenierung, nicht zu den Leistungen von Sänger/innen und Orchester.

Gesehen habe ich die Vorstellung am 18. März 2023. 

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

 

 

Vom Frieden träumen, im Krieg aufwachen

Über die Aktualität des Musicals „Hair“ am Staatstheater in Saarbrücken

Es wäre eine bösartige Verkürzung, würde behauptet, dass Deutschland gespalten sei über die Frage von Krieg oder Frieden. Es mag zwar sein, dass – grob gesagt – unter den Deutschen jeweils etwa die Hälfte meint, es solle mehr Waffen für die Ukraine geben oder eher weniger. Würde man aber fragen (was aus guten Gründen niemand tut), ob man für Krieg oder für Frieden sei, dann würden sich natürlich alle für den Frieden aussprechen. Wer kann da schon dagegen sein?

Es ist vielleicht gerade deshalb jetzt ein guter Zeitpunkt, nach Saarbrücken zu fahren. Im dortigen Staatstheater kann man bis tief in diesen Sommer hinein (letzte Vorstellung am 2. Juli 2023) als einzigem Ort in Deutschland das Musical „Hair“ erleben, in dem es um Krieg und Frieden geht, oder genauer gesagt: Um den Traum vom Frieden.

Langes Haar, bunter Fummel: Die Hippies sind bester Laune. Aber sie werden aufwachen aus ihrem Traum vom unbeschwerten Leben – Szene aus „Hair“ in Saarbrücken; Foto: Oliver Dietze, bereitgestellt von Saarländisches Staatstheater

Es war chic, gegen die USA zu opponieren

Das „American Tribal Love-Rock Musical“ aus dem Jahr 1968, an der Saar vor zwei Jahren neu aufgepeppt für die Opernbühne, gehört zur biografischen Erfahrung vieler Silver-Ager von heute. Auch wenn sie jetzt eher von Haarmangel betroffenen sind, füllen die Vertreter der 68er Generation die meisten der weichen Polstersessel des Staatstheaters. Angetreten zur bequemen Besichtigung einer besonders bunten Phase ihrer eigenen Biografie ist also die Generation, die sich erst gegen die sinnlose Brutalität der Amerikaner in Vietnam, und dann gegen deren Pershing-Atomraketen in Deutschland gewehrt hatte. Es war eine Zeit, in der es chic war, gegen die USA zu opponieren.

Ende der achtziger Jahre glitten diese Babyboomer dann ungläubig staunend in ihren eigenen Traum: Der „Ostblock“ kollabierte, der „Kalte Krieg“ schien zu enden, die gefürchteten Atomraketen wurden allseits eingemottet. Die Geschichte schenkte den Deutschen ihre Wiedervereinigung und es konnte endlich Frieden gemacht werden mit den Nachbarn im Osten. Es war ein Traum vom Frieden für immer.

Das Spektakel funktioniert noch immer

Als das geschah, war „Hair“ längst out. Einst hatte es aber den musikalischen Begleitsound geliefert für eine Zeit, in der junge Menschen sich entscheiden mussten: Zur Bundeswehr oder nicht? Für oder gegen die USA? Mehr als fünfzig Jahre später funktioniert die fetzige Musik (eine achtköpfige Band treibt das Geschehen auf der Bühne) noch immer und ist das farbenfrohe Tanzspektakel eine einzige sinnliche Freude. Knapp zwei Stunden wirbelt das Personal des Saarbrücker Staatstheaters äußerst kurzweilig über die Bühne. Die langhaarigen Blumenkinder führen ein Leben voller Müßiggang, Anpassungsverweigerung, Drogen, Sex und Illusionen. Religiöse Versprechungen aller Art würzen den berauschenden Cocktail. Dann drängen sich düstere Vorahnungen von Gewalt ins Bild, sei es im Krieg oder in der eigenen Welt der Vorurteile und Rücksichtslosigkeiten. Und auch der Raubbau an der Natur ist nicht mehr zu leugnen in dieser heilen Welt.

Ja, schön wär´s gewesen! Aber die Hippies müssen erwachen aus ihrem Traum. Noch rammdösig, benommen, verkatert – mindestens von ihrem letzten Marihuana-Trip, vielleicht auch vom ohnehin anstrengenden Rausch des Jungseins, stolpern sie herum in der Wirklichkeit. Ihr Gastwirt, der Hausherr ihrer durchgeknallten Partylokation, ist tot, rassistisch ermordet. Wie wollen sie es denn nun halten mit dem wahren Leben ihrer Zeit: Krieg oder Frieden?

Schlapp und antriebslos suchen sich die erwachten Blumenkinder aus der Altkleidersammlung zivile Klamotten heraus, werfen den lächerlichen Bunt-Fummel ab, und staunen über ihre alten Geldbeutel, die sie nicht vermisst hatten in ihrer Kapitalismus-kritischen Traumwelt. Als nächstes stünde wohl ein Friseurbesuch an.

Am Rande aber liegt der tote Gastwirt

In Saarbrücken entscheiden sich die ernüchterten Hippies schließlich für den bequemen Weg der Illusion. Das ist auch in der Originalvorlage des Musicals so vorgesehen. Einer von ihnen folgt dem Einberufungsbefehl, geht in die Armee, aber die anderen singen: „Let the sunshine in“, erst leise und verhalten und dann immer machtvoller anschwellend wie eine trotzige Hymne auf das unbeschwerte Leben. Als hätte man ein Recht darauf. „Let the sunshine in“, und die nostalgisch erwachte Schar der Grauhaarigen im Saal klatscht und singt mit. Am Rand aber, da liegt der tote Gastwirt. Vorhang.

Eine Ikone der 68er-Generation, die heute 80 Jahre alte Journalistin und Frauenrechtlerin Alice Schwarzer, ist zur gleichen Zeit in der Frage nach Krieg oder Frieden medial allgegenwärtig. Vor wenigen Tagen stand auch sie auf einer Bühne. Mit ausdrucksstarker Haarpracht, mit ihrer ganzen kantigen Persönlichkeit und Lebensleistung, rief sie vor dem Brandenburger Tor Ihrer Gefolgschaft zu: Wie es denn sein könne, dass wir uns an die Barbarei eines Krieges gewöhnen? Warum das Wort „Pazifist“ zu einem Schimpfwort geworden sei? Wie „verbrecherisch“ es sei, „der Ukraine einzureden, sie könne gegen Russland siegen.“

Das wäre dann der Moment, gedanklich kurz auf die Bühne in Saarbrücken und den historischen Hintergrund von „Hair“ zurückzukommen. Den auch von der damaligen Sowjetunion unterstützten Vietnamesen ist es im Jahr 1975 eben doch gelungen, die Soldaten der Atommacht USA aus ihrem Land zu vertreiben. Nicht mit selbstgeflochtenen Traumfängern oder Blumenkränzen auf dem Haupt, sondern mit aufreibendem Kampf und tödlichen Waffen. „Putin hört nicht auf das Geträllere von Friedensliedern“, kanzelte die FDP-Frontfrau Agnes Strack-Zimmermann die Überlegungen von Alice Schwarzer und ihren Anhängern ab, und erwischt gleich alle mit, die „Hair“ einfach nur als nostalgische Erfahrung genießen möchten.

So eine schöne Welt hätte es sein können, in die wir uns bei „Hair“ hätten zurückträumen dürfen! Geht leider nicht, geträumt haben wir vom Frieden, jetzt herrscht Krieg. Also zu Ende geklatscht, herausgestemmt aus den tiefen Polstersesseln, zurück in die brutale Realität.

Auf nach Saarbrücken!

Ein „Geschenk des Führers“ an das Saarland: Das heutige Staatstheater in Saarbrücken.

Schon beim Verlassen des prächtigen Baus in Saarbrücken gilt es, nicht zu stolpern. Ein „Geschenk“ war dieses Theater gewesen (auch wenn danach die Stadt Saarbrücken die Hälfte selbst zahlen musste). Als Dankeschön des „Führers“ wurde es errichtet. Die Bewohner des Saargebietes hatten im Jahr 1935 bei einer Volksabstimmung zu mehr als 90 Prozent für den Anschluss ihrer Heimat an Deutschland und gegen ihre Eigenständigkeit unter Aufsicht des Völkerbundes votiert. Nacherleben kann man das alles im nahegelegenen „Historischen Museum“ der Saarmetropole. Ein Sieg der Nazi-Propaganda war das gewesen, und auch ein tragischer Akt plebiszitärer Selbstunterwerfung unter ein Gewalt-Regime. In vollem Wissen über den rassistischen Judenhass der in Deutschland regierenden Nationalsozialisten und deren blutig-brutale Verfolgung jedes Andersdenkenden wählten die Saarländer den Abgrund.

Sie träumten damals von Wohlstand und Frieden – und wachten auf in einem Albtraum von Repression und Krieg. Auf nach Saarbrücken! Es gibt viel mitzunehmen von dort, wenn man über Krieg und Frieden nachdenken möchte.

 

 

 

„Hair“ ist am saarländischen Staatstheater in Saarbrücken das nächste Mal am 12. März und dann an zahlreichen weiteren Terminen bis 2. Juli 2023 zu erleben. Weitere Informationen: https://www.staatstheater.saarland/stuecke/musiktheater/detail/hair-1

Lohnend ist bei dieser Gelegenheit ein Besuch im Historischen Museum des Saarlandes: https://www.historisches-museum.org/startseite

Auch mein Text über „Langes Haar und die Sehnsucht nach Freiheit“  greift Motive aus „Hair“ auf. Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier. 

Dieser Text erhebt nicht den Anspruch einer Aufführungskritik. Mein Fokus liegt ausschließlich auf dem (kultur-)politischen Aktualitätsbezug von Werk und Inszenierung. Daher gibt es in diesem Text auch nur Bemerkungen zur Konzeption der Inszenierung, nicht zu den Leistungen von Sänger/innen und Orchester.

Gesehen habe ich die Aufführung am 1. März 2023.