Fünfzig Jahre nach Ho Chi Minh

Mit dem Rad durch Vietnam und Kambodscha – ein politisch geprägter Reisebericht

Von Hubert Seiter

Das alte Saigon heißt jetzt Ho Chi Minh-City – aber von den Schrecken des Vietnam-Krieges ist im Alltag kaum etwas zu spüren. Überall begegnen dem Touristen überaus freundliche Menschen. (Foto: Seiter)


 

 

Hubert Seiter war von 1996 bis 2016 Geschäftsführer der Rentenversicherung Baden-Württemberg. Ehrenamtlich engagierte er sich in zahlreichen Institutionen, unter anderem im Krebsverband Baden-Württemberg, in zahlreichen Patienten- und Behindertenorganisationen und als alternierender Vorsitzender im Verwaltungsrat des Medizinischen Dienstes (MD) Baden-Württemberg. Seiter ist passionierter Radfahrer und lebt in Bietigheim-Bissingen. (Foto: Staatsministerium Baden-Württemberg)


„Ho Ho  – Ho Chi Minh!“ –  dieser rund fünfzig Jahre alte Schlachtruf weckte meine Erinnerungen bei einer Radreise im Spätherbst 2023 nach Vietnam und Kambodscha. Als „Bub vom Land“ habe ich damals die weltweiten Protestmärsche gegen den Vietnamkrieg der Amerikaner zunächst nur aufmerksam verfolgt. Erst zum Schluss habe ich mich getraut mitzudemonstrieren, aber bitte möglichst unauffällig. Als junger „Beamtenanwärter für den gehobenen, nichttechnischen württembergischen Verwaltungsdienst“ wusste oder ahnte ich, dass solche Aktivitäten den allermeisten Chefs – Landräten oder Bürgermeistern (damals fast nur Männer) – gar nicht gefallen würden.

Das alles ging mir auf dem viel zu langen Flug nach Saigon durch den Kopf, pardon: nach Ho-Chi-Minh-City – wie die 9-Milionen-Metropole seit 1976 zu Ehren des 1969 verstorbenen Revolutionärs und Präsidenten von Vietnam heute offiziell heißt. Drei Wochen lagen vor mir, in denen ich überwiegend auf dem Rad durch Südvietnam, durch das riesige Mekongdelta, und schließlich im benachbarten Kambodscha die Hauptstadt Phnom Penh und die unzähligen Tempel in Angkor Wat entdecken würde. Ich wollte mehr, und auch etwas darüber erfahren: Wie haben die Menschen in diesen Ländern den grausamen Vietnamkrieg gegen die Amerikaner und die nicht minder barbarische Schreckensherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha verarbeitet – knapp fünfzig Jahre nach Kriegsende im Jahr 1975?

Das frühere Saigon lächelt

Das frühere Saigon lächelt, als ob nichts gewesen wäre. Man sieht fast nur junge, überwiegend sehr freundliche Menschen auf den Straßen. Das Durchschnittsalter der knapp 100 Millionen Einwohner Vietnams liegt gerade mal bei 32 Jahren – in Deutschland beträgt der Vergleichswert 45 Jahre. Die wenigsten Menschen haben daher unmittelbar mit- und überlebt, wie die USA in einer beispiellosen Material- und Menschenschlacht in Vietnam einen „Stellvertreterkrieg gegen den Weltkommunismus“ (so der Marco-Polo-Reiseführer „Vietnam“) geführt hat. Viele Millionen Tonnen Bomben, chemischen Kampfmitteln („Agent Orange“), einfach alles, was modernste Waffenarsenale damals hergaben, wurde eingesetzt.

Geschätzt 3,5 Millionen Menschen – Soldaten und Zivilisten – wurden getötet, unzählige Menschen verletzt und vertrieben. Es gibt Gedenkstätten, welche die Erinnerung an die Gräueltaten und an den stolzen Sieg wachhalten, z.B. in Cu Chi. Nachzuerleben ist dort, wie die „sehr schmächtigen Vietnamesen“ unter der Erde ein Tunnelsystem, auch mit Schutzräumen und Krankenhäusern, gegraben haben, das für die „beleibten Feinde“ unzugänglich war. Auch ein Museum mit allerlei Kriegsgerätschaften gibt es. Im Alltag dominierend ist die Erinnerung an diese Zeit jedoch nicht. Auf den mit tausenden Mopeds überfüllten Straßen habe ich keinerlei Hass gespürt. Man hat offensichtlich selbst mit Amerika seinen Frieden gefunden – spätestens seit dem Besuch von Bill Clinton im Jahr 2000, berichtet unser kundiger Reiseführer.

Gibt es eine „Verzeihenskultur“?

Kann das stimmen? Mir ist es zu einfach und ich nehme mir deshalb vor, mich zu Hause intensiver mit Konfuzius, Buddha und dem Daoismus zu befassen. Vielleicht finde ich Erklärungen für „eine Friedens- und Verzeihenskultur“, Werte, die beim Aggressor Putin, aber auch bei vielen „Zündlern“ in der NATO derzeit leider überhaupt keine Konjunktur haben.

Der Mekong mündet im zweitgrößten Delta der Welt (nach dem Amazonasdelta) in das Südchinesische Meer. Diese Landschaft auf dem Rad zu entdecken ist überwältigend. Fischfang, große Reisfelder, Handwerksbetriebe, viele Fähren (statt Brücken) und zunehmend -hoffentlich – auch ein bald wieder wachsender Fremdenverkehr, ermöglichen vielen Menschen ein bescheidenes Auskommen. Wir übernachteten überwiegend in sog. Homestays und ließen uns von vietnamesischer Hausmannskost verwöhnen. In allen Variationen gab es Fisch, Fleisch, vielfältiges Gemüse, Reis und tolle Früchte zum Nachtisch. Besondere Gewürze machten den (großen) Unterschied zum „Vietnamesen um die Ecke“ in Deutschland.

Auf kleinen Pfaden fuhren wir von Dorf zu Dorf.  Unser Guide hat es geschafft, uns fünf Tage lang durch das Delta zu lotsen, ohne dass wir einem Touristen begegnet wären, immer und überall begleitet von nur freundlichen Menschen, die uns „Hello“ zujubelten.

Mitten in Phnom Penh: Eine Begegnung auf Deutsch

Mit dem Tuk-Tuk durch Phnom Penh gefahren werden – und dabei kann man viel darüber erfahren, wie es war, als Arbeitskraft in der früheren DDR gelebt zu haben. (Foto: Seiter)

Dann weiter nach Phnom Penh, der Hauptstadt Kambodschas. Die Busfahrt aus dem märchenhaften Mekongdelta und ein langwieriger Grenzübergang – trotz einiger Dollar Bestechungsgeld – waren eine angemessene Einstimmung. Im Reiseführer steht: „Die 600 Jahre alte Hauptstadt (ca. 2 Mio. Einwohner) ist auf einer rasanten Zeitreise ins 21 Jh. und dem bäuerlichen Rest des Landes um Lichtjahre voraus“ (Marco Polo „Kambodscha“). Nicht ganz so viele Mopeds gibt es dort wie in Saigon, dafür aber sehr viele Tuk-Tuks – motorisierte Rikschas. Unglaublich, was auf diesen „Dreirädern“ alles transportiert werden kann! Wir fanden ein Tuk-Tuk mit einem hervorragend Deutsch sprechenden Fahrer. Bis zur Wende war er „auf Arbeit“ bei Zeiss in Jena. Er hatte viel zu erzählen, auch aus seinen Lehr- und Arbeitsjahren in der DDR. „Gönnt euch einen Abend in dem Dachkaffee eines Hochhauses“, empfahl er uns. Wir folgten dieser Empfehlung und genossen einen wunderschönen Sonnenuntergang über den Dächern von Phnom Penh… bei Cocktails zu einem Preis, den sich unser „deutscher“ Tuk-Tuk-Fahrer trotz üppigem Trinkgeld wohl kaum leisten kann.

Segen und Fluch des Tourismus

Bleibt zu hoffen, dass Kambodscha im Aufschwung doch noch erspart bleibt, was sich – leider – anzudeuten scheint: Sextourismus und/oder Raubtierkapitalismus. Je ein Edelkarosse „Maybach mit Chauffeur“ in Saigon und in Phnom Penh werteten wir dafür als nicht unbedingt gute Zeichen.

Nicht mehr zu entscheiden hat man das in Angkor mit seinen unzähligen Tempel- und Klosterruinen im Dschungel. Dort gibt es bereits im benachbarten Siem Reap eine Partyszene. Nicht auszudenken, wenn jetzt – nach Corona – wieder der Massentourismus aus China einsetzt. Die Kehrseite: Über 300 Hotels (2022), und doch sind viele Gaststätten in Siem Reap immer noch geschlossen, viele Reiseführer arbeitslos. Stattdessen verkaufen Kinder im Vergnügungsviertel kleine Souvenirs und tragen so zum kümmerlichen Lebensunterhalt ihrer Familien bei.

Da einfach nur mildtätig kaufen nicht mein Ding ist, versuchte ich mit einigen – meist – VerkäuferInnen ins Gespräch zu kommen. Ein besonders neugieriges und wissbegieriges kleines Mädchen hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Ich bat sie gestenreich, sich zu uns zu setzten. Auf einer Papierserviette löste sie kleine Rechenaufgaben und vergaß dabei einige Minuten völlig ihren „Job“. Die Serviette – und einen Dollar für einen kleinen Anhänger – packte sie in ihr Täschchen. Wir trafen sie auf dem Heimweg nochmals. Freudestrahlend – und ich glaube auch etwas stolz – zeigte sie uns die Serviette aus ihrem Täschchen.  Ich nahm mir vor, zu Hause nach Projekten zu suchen, die Kindern in Kambodscha – immer noch eines der ärmsten Länder weltweit – Schule und damit Zukunft ermöglichen.

Zwei Tage unterwegs, nur einen Bruchteil gesehen

Einen Teil der riesigen Tempelanlagen in Angkor zu entdecken – verteilt auf eine Fläche so groß wie Berlin! – gelingt am besten auf dem Rad. Auf dem Mountainbike, abseits der Massen, geführt von einem kundigen Guide war es ein unbeschreibliches Erlebnis, im Dschungel nicht nur die gängigen Tempel zu finden. Zwei Tage waren wir unterwegs und haben doch nur einen Bruchteil der sehenswerten Ruinen gesehen. Einfach unvorstellbar, was die Hochkultur der Khmer vor eintausend Jahren hier geschaffen hat. Diese Schätze der Vergangenheit zu schützen und zu erhalten, ist eine Herkulesaufgabe – nicht nur für das arme Kambodscha, sondern für die ganze Welt!

Mit dem Fahrrad durch den Dschungel, und dabei die geheimnisvolle Tempelwelt des Angkor Wat entdecken – ein unvergleichliches Erlebnis. (Foto: Seiter)

Auch dafür ist der nagelneue, hochmoderne Flughafen von Siem Reap Segen und Fluch zugleich. Millionen von Touristen werden in den nächsten Jahren erwartet. Sie bringen die dringend notwendigen Devisen in die Region und nach Kambodscha, aber die Touristen sind auch eine Gefahr für die unverfälschte Freundlichkeit dieser liebenswerten Menschen und den Erhalt der unschätzbaren Kunstwerke vor Ort.

Auf dem Rückflug: Träumen ist erlaubt

So war für mich während des 13-stündigen Fluges zurück von einer nachhaltig- beeindruckenden Reise durch Vietnam und Kambodscha das Träumen angesagt: Bemühen wir uns alle um viel mehr und behutsame Wertschätzung. Reagieren wir wütend auf unmenschliche und unsagbar teure Kriege auf der Welt. Fordern wir Versöhnung statt Revanchismus! Christen, Juden, Buddhisten, Muslime, Atheisten – einfach alle sind gleichermaßen verpflichtet!

 

Dieser Text ist ein Gastbeitrag auf vogtpost.de und gibt ausschließlich die persönliche Meinung von Hubert Seiter wieder.

Wer der Empfehlung von Hubert Seiter folgen und Projekte für Kinder in Kambodscha unterstützen möchte, kann dies an zahlreichen Stellen tun. Hier eine Auswahl: UNICEF-Projekte für Kambodscha, SOS-Kinderdorf in Kambodscha, oder das Projekt „Raise and support the Poor“, das dem Autor persönlich bekannt ist.

 

Mit dem Vietnam-Krieg und wie er in den USA und Deutschland wirkte, setzt sich auch der Text „Vom Frieden träumen, im Krieg aufwachen“ auseinander, veröffentlicht anlässlich eines Musical-Besuchs von „Hair“ in Saarbrücken im Frühjahr 2023.

 

Ideale Fehlbesetzung für das große Glück

Wolf Biermann erzählt vom ewigen Kampf für die Freiheit

Natürlich steht am Anfang die Gitarre. Noch bevor Wolf Biermann irgendetwas gesagt hat in einer Podcast-Aufnahme, die erst enden soll, wenn der Gast der Meinung ist, dass „alles gesagt“ sei, greift er zur Gitarre. Er sing eines seiner Lieder, und stellt dann die Gitarre zur Seite, seufzend fast. „Hier geht es ja nicht im Lieder“, sagt er, „heute soll geredet werden.“ Wie ein stiller Gast wird die Gitarre auf dem kleinen Podium verbleiben, geduldig wartend, bis sie mehr als sieben Stunden später wieder erklingen wird. Dazwischen wurde geredet.

Geredet über Deutschland. „Ist Biermann moderierbar?“, hatte sich Co-Moderator Jochen Wegner, Chefredakteur von „Zeit online“ bei einem Kollegen mit Erfahrung im Umgang mit dem 86-jährigen erkundigt, und als lapidare Auskunft ein „Nein“ erhalten. Diebische Freude hat der kleine Wolf daran, jede Regie durcheinanderzubringen, sich jeder Anweisung zu widersetzen. Eine Schar von Biermann-Fans hatte sich dafür im Rahmen des Hamburger Harbour Literatur-Festivals in einem ausverkauften Tonstudio durchaus kuschelig zusammengefunden.

Gezeichnet von vielen Stunden schwerer Last eines Gesprächs über deutsche Geschichte: Wolf Biermann im Gespräch mit Christoph Amend, Editorial Director ZEITmagazin, bei der Podcast-Aufnahme „alles gesagt“ in Hamburg

Biermann moderiert sich selbst

Biermann führt hier das wortwuchtige Kommando, moderiert sich nahezu selbst in diesem mäandernden Gesprächsmarathon. Ein Leben wird da ausgebreitet, das Leben einer deutschen Ikone der Gegenwart. Wie konnte dieser kleine Mann mit dem markanten, heruntergezogenen Schnauzbart dazu werden?

Im Laufe der Gesprächsstunden mangelt es nicht an Selbstbeschreibungen des putzmunteren Gastes, der von seinen Gastgebern als „größter Drachentöter der deutschen Nachkriegsgeschichte“ begrüßt wurde. Immer wieder tadelt er sich selbst als „Idiot“, schlägt sich gegen die eigene Stirn dabei, spart aber mit solcher Bewertung auch nicht gegenüber seinen Mitmenschen. Vor allem sei er ein Glückskind, eine „ideale Fehlbesetzung“, wundert er sich in eigener Sache. Wer ihm folgt über alle diese Stunden, geduldig den Redeschwall aushält, mit ihm seine häufigen Denkpausen durchschweigt, unterwirft sich seiner geschulten Dominanz, die prallvoll ist von einem deutschen Leben.

Eine Biografie, die verstummen lässt

Zuhören ist also angesagt. Aber diese Biografie lässt ohnehin jeden verstummen, der sie nicht durchlebt hat. Gesäugt an der Brust wurde er, während seine Mutter in den Gestapo-Verhörräumen mit klugen Lügen das Schicksal des Vaters zum Guten zu wenden versuchte. Erfolglos, denn der Vater war zu stolz, sich retten zu lassen. Wolf Biermann, der aus einer Hamburger Kommunisten-Familie stammt, war drei Monate alt, als sein Vater von den Nazis (bereits zum zweiten Mal) verhaftet wurde und nicht mehr freikam, bis sie ihn 1943 in Auschwitz ermordeten. Als Jude, wozu sich der Vater ausdrücklich gegenüber den SS-Schergen bekannt hatte, obwohl er als Kommunist ja eigentlich gar keinen Gott kennen wollte.

Als 17-jähriger siedelte der kleine Wolf Biermann im Jahr 1953 auf Veranlassung der Kommunistischen Partei in die gerade erstandene DDR über, ohne seine Mutter, aber mit ihrem Einverständnis. Schon wieder so ein Glücksfall, meint der Sohn heute, da die Mutter sich niemals dem diktatorischen Duktus der DDR-Bonzen untergeordnet hätte: „Die wäre in Bautzen gelandet“.

Aber so blieb die Mutter im Westen, und der Sohn legte sich im Osten mit den Bonzen an. Unbeugsam verfolgte er seinen künstlerischen Weg, der ihn schon bald isolierte in der berühmten Wohnung in der Chausseestraße, wo seine ersten illegalen Plattenaufnahmen entstanden. Nach und nach geriet Wolf Biermann in die Heldenrolle „dieses deutschen Theaterstücks, das wir aufführen“, wie er sagt.  Wer hätte erwarten können, dass dieser in einer kommunistischen Arbeiterfamilie aufgewachsene Hamburger „Jung“, einmal so gefährlich für den Arbeiter- und Bauernstaat werden könnte, dass dieser ihn 1976 in den verhassten Westen entließ, nur um ihm dann eine Rückkehr zu verweigern?

Loswerden wollten sie ihn, aber das Gegenteil haben sie erreicht

Loswerden wollten sie ihn, den Unbequemen, aber das Gegenteil haben sie erreicht. Er wurde zum Kronzeugen für viele, die dreizehn Jahre später mit dem damals noch so mächtigen, unbelasteten Ruf „Wir sind das Volk“ massenhaft den Kollaps des Systems herbeidemonstrierten. 5000 Menschen kamen am 1. Dezember 1989 zu seinem ersten Konzert nach dem Mauerfall nach Leipzig. Sein Auftritt war damals so bedeutend, dass beide deutschen Fernsehanstalten, Ost wie West, ihn live übertrugen.

Nochmal 25 Jahre später saß der Drachentöter im Bundestag, nicht gewählt, sondern eingeladen, mit Gitarre natürlich, und zupfte sein Lied von der „Ermutigung“. Zuvor aber ließ er es sich nicht nehmen, auch nicht vom launigen Hausherren Norbert Lammert, bei dieser Gelegenheit die unmittelbar vor ihm versammelten Linken-Politiker als „Drachenbrut“ zu beschimpfen. Der Präsident ließ ihn damals gewähren, was ihm Kritik einbrachte, aber beide zu Freunden machte. Vor einiger Zeit, erzählt Biermann, sei er dann von Lammert, der inzwischen Vorsitzender der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung ist, in die CDU-Parteizentrale eingeladen worden. Dorthin sei er seinem Freund zuliebe natürlich gerne gekommen. Neben Lammert habe dann da aber auch der Friedrich Merz gesessen, und da habe er zu dem gesagt: Na, wenn Sie mich eingeladen hätten, dann hätte ich natürlich abgesagt.

Unbeugsam, rebellisch, selbstgewiss: Es bedarf viel Disziplin, Wolf Biermanns Erzählungen über mehr als sieben Stunden zu folgen. Wer es tut, blickt staunend und sprachlos auf eine deutsche Biografie der Sonderklasse.

Ein Rebell ist er also geblieben, der Kommunistensohn, unbeugsam jetzt als straffer Antikommunist.  Die Mischung aus Schalk und Haltung lässt im Laufe der Gesprächsstunden in Hamburg die Luft immer nebeliger werden vor lauter gelebtem Leben, sanfter Wut und sprachlicher Fantasie. Biermann schreibt Lieder und Gedichte, die oft nicht gefällig sind, anstrengend, aber auch klug, voller Kraft und Wortwitz, der nichts zu tun hat mit dem billigen, berechneten Humor von Komödianten. Ein ganz einmaliges Amalgam schafft er, ist er selbst, eine Mischung aus Stolz und Trotz, aus Reflexion und Scharfsinn, aus kontrollierter Angst und unbändiger Lebenslust.

Und nun? Biermann ist 86 Jahre alt, kein „verdorbener Greis“ (wie er 1989 die Nomenklatura der versinkenden DDR gegeißelt hatte), sondern ein Institution der deutsche Geschichte. Ruhig könnte er sein, sich in Hamburg-Altona zurückziehen. Oft genug Recht behalten, könnte er sich denken, der schon immer vor Putin gewarnt hatte, der die DDR von innen kritisierte, als dazu noch ein Maß von Mut gehörte, das sich die von einem Rechtsstaat verwöhnten Kritiker deutscher Wirklichkeiten von heute gar nicht mehr vorstellen können.

Resignieren ist keine Option, sagt der alte Kämpfer

Aber der proletarische Kämpfer in ihm lebt noch immer. Wie er auf das heutige Deutschland blicke, auf den Rechtsruck im Osten,  wie man das alles aushalten soll mit AfD, mit Populismus, mit dem von Putin angezettelten Krieg?

Lange muss er nachdenken. Mucksmäuschenstill ist es im Tonstudio, keiner zuckt, keiner räuspert, bis Biermann sich eine Antwort zurechtgelegt hat: Der Krieg in der Ukraine, sagt er dann, und auch die Hinwendung vieler Menschen nach rechts, das seien doch letztlich auch nichts anderes als Teile des großen Freiheitskrieges, den die Menschheit führen muss, schon seit Jahrhunderten. Schon immer eigentlich, setzt er hinzu. Zu resignieren sei keine Option, sagt er,  nirgends, die Freiheit gibt’s nur im Kampf, nicht umsonst.

„Was wird mit meinem Vaterland?“

Schließlich der Griff zur Gitarre. „Was wird mit meinem Vaterland?“, singt er, und bricht doch wieder ab. Es gibt noch etwas loszuwerden, über die DDR, über die Feigheit, über die Stasi und die Uneinlösbarkeit ihrer Vertraulichkeitsversprechen. Dann setzt er neu an und bringt das Lied zu Ende. Es geht um Putin und seine Todesfurcht „vor eine Frau, die Freiheit heißt“.

Damit ist nach seiner Meinung alles gesagt, und nach sieben Stunden und vierzig Minuten trotten erschöpft die verbliebenen Zuhörer hinaus in den Hamburger Nieselregen, hinaus in die „fetten finst´ren Zeiten“, wie der in einer jüdisch-kommunistischen Familie aufgewachsene „Drachentöter“ in seinem Schlusslied noch reimte. Finstere, fette Zeiten – es ist der Abend von Freitag, dem 6. Oktober 2023, und am nächsten Morgen ermorden Hamas-Terroristen in Israel mehr als 1200 wehrlose Menschen.

 

Den ZEIT-Podcast mit Wolf Biermann in voller Länge finden Sie kostenlos unter diesem Link: https://www.zeit.de/politik/2023-11/wolf-biermann-interviewpodcast-alles-gesagt

Von dem in meinen Text angesprochene Konzert in Leipzig gibt es einen Mitschnitt auf Youtube, wie auch von Biermanns Auftritt im Deutschen Bundestag zum 25. Jahrestag des Mauerfalls.  (Klick führt jeweils zu Youtube).

Noch bis 2. Juni 2024 widmet auch das Deutsche Historische Museum in Berlin Wolf Biermann eine Ausstellung: https://www.dhm.de/ausstellungen/wolf-biermann-ein-lyriker-und-liedermacher-in-deutschland/

Weitere Texte als #Kuturflaneur finden Sie hier. 

 

 

 

 

Hamilton? Seibold? Ideen zu einer Parallele

Über das Politik-Musical „Hamilton“ und was man in Deutschland daraus lernen könnte

Vielleicht könnte es „Seibold“ heißen? Eignet sich der Name für Rap-Reime? Der Vorname wäre schon mal vielversprechend: Kaspar. Kaspar Seibold könnte der Held sein, um den alle herumtanzen und wirbeln, zu dessen Schicksal sie mitfiebern, mitsingen, schließlich trauern, bis der Schlussakkord sie von den Sitzen reißt.

Ja, vielleicht könnte es „Seibold“ heißen, das Musical über die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Auf keinen Fall „Adenauer“ oder „Schumacher“.

So schmissig kann Geschichte vermittelt werden: Das Musical „Hamilton“ erzählt einen Ausschnitt der Gründungsgeschichte der USA. Foto: Stage Entertainment

Jeder historische Vergleich ist falsch. Das gilt auch hier, aber um das Wagnis zu ermessen, das die Macher des US-amerikanischen Erfolgsmusicals „Hamilton“ eingegangen sind, darf man der Phantasie freien Lauf lassen. „Seibold“ also. Als Kaspar Seibold beträte ein Rapsänger, Tänzer, Schauspieler die Bühne, vom begeisterten Johlen des Publikums begrüßt, schmissig von der elektronisch verstärkten Musik untermalt, und würde erzählen, was er schon erlebt hat:

Die Geschichte von Kaspar Seibold

Kaspar Seibold aus Oberbayern war der jüngste Delegierte im Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz verabschiedete. Er zählt zu den Mitunterzeichnern, obwohl er in der Schlussabstimmung gegen den Text des GG gestimmt hatte. Damit bekannte er sich zu dem demokratischen Prozess, auch wenn er inhaltlich unterlegen gewesen war. Foto: Bestand Erna Wagner-Hehmke, Stiftung Haus der Geschichte

Als er geboren wurde, war der erste Krieg des letzten Jahrhunderts gerade begonnen worden von Deutschland. Dann kamen die wilden Jahre der 20er, von denen er als Kind auf dem Land nicht viel mitbekam, dann die braunen Zeiten der Nazis. Auf dem Bauernhof seiner Eltern waren alle beschäftigt von früh bis spät, hatten keine Zeit, sich viel mit Politik zu befassen. Vermutlich bestellten bedauernswerte Zwangsarbeiter die elterlichen Felder, während sich der junge Kaspar in der Wehrmacht dem Zusammenbruch entgegenstellen musste. Als Gebirgsjäger wurde er schwer verletzt. Kaspar Seibold überlebte, und nach dem Ende de Krieges suchten auch in seiner Heimat, im oberbayerischen Lenggries, zerlumpten Flüchtlinge aus dem Osten Deutschlands und aus den zerbombten Städten kraftlos und erschöpft nach Essbarem.

Da entschied Kaspar Seibold: So konnte es nicht weitergehen. Er engagierte sich in der staatlichen Landwirtschaftsverwaltung. 1948 trat er in die neu gegründete CSU ein, und schon im Herbst des gleichen Jahres fand er sich als jüngster Abgeordneter im Parlamentarischen Rat wieder, jenem Vorab-Parlament, das nach der Katastrophe des Nazireichs ein neues, demokratisches Deutschland schaffen sollte. Und es schuf. Kaspar Seibold war einer der Gründerväter des neuen demokratischen Deutschlands.

Auch Alexander Hamilton schrieb an der Verfassung der USA mit

Alexander Hamilton lebte gut 150 Jahre früher und half mit, die USA zu gründen. Am Anfang seines Weges stand eine uneheliche Herkunft in der Karibik, aber blitzgescheit war er wohl, ehrgeizig dazu. So stieg er im Militär des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges zum wichtigsten Unterstützter für George Washington auf, der später erster amerikanischer Präsident wurde. Die britischen Kolonialherren gaben auf, und die Siedler machten sich daran, einen neuen demokratischen Staat zu schaffen. Weiße Männer waren es, die den Ton angaben, die Frauen, die Ureinwohner ihres Landes, gar die gewaltsam aus Afrika herbeigeschleppten Sklaven, durften nicht mitreden bei ihren Überlegungen.

Seibolds Einfluss war gering im Gründungsparlament der Bundesrepublik (61 Männer, vier Frauen) zwischen Konrad Adenauer, Theodor Heuss und Carlo Schmid, die allesamt den Terror der Nazi-Schergen mit mehr oder weniger tiefen Wunden überstanden hatten. Seibold war jung und politisch unerfahren, während die alten Wortführer schon in der Weimarer Republik politisch aktiv gewesen waren. So musste sich der junge bayerische Landwirtssohn mit einer Statistenrolle unter den Gründervätern des demokratischen Deutschland abfinden.

Statistenrolle für Seibold, aber Hamilton wollte hoch hinaus

Alexander Hamilton aber wollte hoch hinaus. Er wurde 1787 Mitglied im Verfassungskonvent der Vereinigten Staaten, spielte bald mit in der ersten Garde der amerikanischen Politik. Als Minister schuf er das bis heute wirksame Finanzsystem der USA, das mit einer Stärkung der Zentralgewalt in den USA einherging. Seine Gegner bekämpften ihn deshalb, weil sie lieber einen lockeren Staatenbund anstrebten.

Von seinem stürmischen Gemüt angetrieben ließ er sich in einen undurchsichtigen Ehrenhändel verstricken, ruderte im Morgennebel über den Hudson River zu einem Duell nach New Jersey (weil der schießwütige Unsinn in New York bereits verboten war). Vielleicht glaubte er, dass auch sein Widersacher Aaron Burr, immerhin der amtierende Vizepräsident der USA, nur zum Schein auf ihn anlegen würde, aber Hamilton irrte sich. Er wurde getroffen und erlag am nächsten Tag 49-jährig seinen Verletzungen.

So schlimm meinte es das Schicksal nicht mit Kaspar Seibold. Der junge Mann aus Bayern musste sich nur in einem politischen Duell schlagen und unterlag. Typisch bayrisch wollte er das neue Deutschland eher als einen lockeren Staatenbund etablieren, aber es setzte sich doch die Idee einer deutlichen Machtkonzentration auf Bundesebene durch. Seibold verweigerte deshalb in der Schlussabstimmung am 8. Mai 1949 seine Zustimmung zum Grundgesetz.

59 Männer und vier Frauen unterschrieben das Grundgesetz

Trotz seiner Ablehnung in der Abstimmung unterzeichnete er in der feierlichen Zeremonie am 23. Mai 1949 in Bonn neben den Ministerpräsidenten der Länder, den Parlamentspräsidenten der Landtage und den 59 weiteren Männern und vier Frauen aus dem Parlamentarischen Rat (nur die beiden Kommunisten verweigerten die Signatur) die Urfassung des deutschen Grundgesetzes. Der jüngste Gründervater der Bundesrepublik war zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt.

Dr. Kaspar Seibold: Das jüngste Mitglied de Parlamentarischen Ragtes unterschieb 1949 die Urfassung des deutschen Grundgesetzes, obwohl er dagegen gestimmt hatte.

Wer kennt heute noch Kaspar Seibold? Schnell findet man seinen Namen in den allwissenden Suchmaschinen. Seibold ist nicht vergessen, aber zurückgesetzt gegenüber den großen Figuren seiner Zeit. So erging es auch Alexander Hamilton. Im Central Park von New York steht er als Statue herum und die Zehn-Dollarnote zeigt sein Gesicht. Trotzdem müssen wohl auch die meisten Amerikaner den Namen erst einmal googeln, wenn sie ihn einordnen wollen zwischen die großen Helden seiner Zeit: George Washington, Thomas Jefferson, John Adams.

Politik als Bühnenshow: Ein kühner Plan, …

Es war also ein kühner Plan, diese weitgehend vergessene Figur in den Mittelpunkt eines Stücks Musiktheater zu stellen, das noch dazu ohne öffentliche Subventionen auskommen muss. In New York und London wurde „Hamilton“ zum hochdekorierten Kassenschlager. Der Cast ist zeitgeistig divers besetzt, ein subtiler Hinweis darauf, dass die Hamiltons und ihre Zeitgenossen ganz sicher ausschließlich weiß waren. Die Musik kommt schmissig-modern daher, der Rap ist auch für Silverager erträglich und nachvollziehbar, und für das Auge wird ohnehin jede Menge geboten. Eine schwungvolle Bühnenshow, in der noch dazu die tragisch endende Lebensgeschichte dieses unterschätzten Gründervaters publikumsgerecht mit einer romantischen Liebe verflochten wurde.

… aber die Handlung zeigt Politik, wie sie ist.

Aber die Handlung zeigt eben Politik, so wie sie ist. Sie erzählt von komplizierten Fragen, die sich dem mehrheitlich auf fröhlich-gefühlige Unterhaltung  eingestimmten Publikum nicht schnell erschließen. Bis vor wenigen Tagen war „Hamilton“ auf Deutsch in Hamburg zu besuchen, jetzt muss man wieder nach London oder New York reisen. Noch im September 2023 erhielt die Hamburger Produktion den Deutschen Musical-Theaterpreis. Trotzdem war nun nach gerade mal einem Jahr Schluss. Die amerikanische Gründungsgeschichte füllte offenbar nicht so wie „Cats“, „König der Löwen“ oder „Das Phantom der Oper“ jeden Abend das privat betriebene Musical-Theater ausreichend.

Hätte eine deutsche Bühne den Mut, die Gründungsgeschichte der Bundesrepublik so zu erzählen, halbwegs realistisch, niemals langweilig, überhaupt nicht belehrend? Musik und Rap als tragendes Element für bunte Bilder aus einer grauen Zeit? Der Parlamentarische Rat als divers besetztes Tanzballett? Die Debatten über die Stellung der Grundrechte, ob Bundesstaat oder Staatenbund, als Pop-Duette im Gesang? Und das alles vielleicht mit Kaspar Seibold mittendrin?

 

 

Der nicht in die USA reisen möchte, kann sich „Hamilton“ in London ansehen, täglich, an vielen Tagen sogar zweimal am Tag: https://hamiltonmusical.com/london/#/

Wer nicht verreisen möchte, kann sich auf Youtube Ausschnitte der Hamburger Produktion (auf Deutsch) ansehen (Klick führt zu Youtube).

Über die Beratungen des Parlamentarischen Rates zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland informiert sehr anschaulich eine eigene Website des Hauses der Geschichte der Bundesrepublik in Bonn, auch mit weiteren Informationen über Dr. Kaspar Seibold, den jüngsten Abgeordneten des Parlamentarischen Rates.

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

Hockneys bunter Blick durch die Glaswand

Über zwei Bilder zum Entlanglaufen, und was sie uns sagen

Eine Frau findet sich plötzlich allein auf der Welt wieder. Was als Wochenendausflug in eine idyllisch im Wald gelegene Berghütte begonnen hatte, endet jäh in einem Alptraum. Für einen schnellen Einkauf in den nächsten Ort entschwinden die Freunde und kehren nicht zurück. Bei dem Versuch, sie zu finden, stößt die Frau gegen eine glasklare, unsichtbare, aber auch unüberwindbare und unzerstörbare Wand. Durch die blickt sie nun auf die Rest-Welt außerhalb ihres Gefängnisses. Was sie sieht, ist prächtige Natur, blühende Wiesen, ländliche Idylle am sprudelnden Bachlauf unter strahlend blauem Himmel. Aber nichts lebt dort: kein Schmetterling, kein Vogel, kein Mensch. Irgendetwas Katastrophales muss dort geschehen sein, denn alles ist tot, übrig ist eine schöne Welt der Flora ohne jedes sonstige Leben.

Über 90 Meter erstreckt sich raumumgreifend das Panorama-Werk „A Year in Normandie“ von David Hockney, zur Zeit zu sehen im Museum Würth 2 in Künzelsau. Foto: Würth/Ufuk Arslan © David Hockney

 

Die Szene stammt aus der großartigen Verfilmung des Romans „Die Wand“ von Marlen Haushofer. Es ist der Blick auf unsere Welt, den die Kunst eröffnet. Es ist ein Blick wie durch ein Fenster oder eben durch die unüberwindliche Glaswand. Wer davor steht, hinausblickt, kann sich fragen, wie die Welt ist oder sein sollte.

Fast 1000 Jahre liegen zwischen den Werken und ihren Welten

Fast 1000 Jahre liegen zwischen den beiden Kunstwerken, um die es hier gehen soll. Es sind beides monumentale Werke, die zu einem Blick auf die jeweils aktuelle Wirklichkeit einladen und doch ihre Betrachter genau dorthin zurückwerfen, wo sie stehen: Wie soll es weitergehen?

Auf den ersten Blick haben die beiden Werke vor allem eines gemeinsam: ihre enorme Länge. Das ist ein ungewöhnliches Merkmal für Kunst. Für das ältere der beiden wurde sogar ein eigenes Museum in der französischen Stadt Bayeux gebaut, durch das sich nun die Touristen enggedrängt an einer langgestreckten, hinter einer Glaswand gesicherten Sehenswürdigkeit entlangschieben. Der Besuch in dem abgedunkelten Raum, in dem der „Teppich von Bayeux“ gezeigt wird, bleibt unvergesslich, obwohl ein gelassenes Studieren der zahlreichen Bilder mithilfe eines übereifrigen Audioguides sabotiert wird. Der ungeduldige Apparat erläutert die kriegerische Bildfolge in einem Tempo, das dazu zwingt, zügig Platz zu machen für die nachdrängenden Gleichgesinnten. Um die 50 Zentimeter hoch und fast 70 Meter lang ist diese textile Einmaligkeit, ein mittelalterlicher Wandbehang. In ungezählten Stichen haben fleißige Hände darauf 623 Männer (und nur 3 Frauen), 202 Pferde und Maultiere, 50 Hunde und weitere Tiere, 41 Schiffe und 37 Festungsbauten verewigt. Das Wort passt, wenn man es als ein Antippen an der Ewigkeit akzeptiert, eine zusammengenähte Stoffbahn fast eintausend Jahre zu erhalten.

Wie in einem Film wandelt der Betrachter vorbei

Der britische Künstler, insbesondere Landschaftsmaler, David Hockney hat sich von diesem in der Normandie ausgestellten Werk inspirieren lassen, selbst ein Panorama zu schaffen, das zum Wandeln entlang der Wand einlädt. In seiner Länge und Höhe übertrifft Hockney sein Vorbild von Bayeux sogar: 90 Meter lang ist es, und einen Meter hoch, und es trägt die Bezeichnung „iPad-Gemälde“, was noch zu erläutern ist. Das Werk heißt „A Year in Normandie“ und ist derzeit noch bis 3. September 2023 im Museum Würth 2 (bei stets freiem Eintritt!) in der schwäbischen Provinzstadt Künzelsau zu besichtigen. Dort kann man sich Zeit lassen, gedrängelt wird nicht.

Wie in einem Film schreitet man bei beiden Kunstwerken einen Ablauf entlang. Bei Hockney ist es der Jahresverlauf rund um sein ländliches Anwesen in der Normandie. Schritt für Schritt ist der Wechsel der Jahreszeiten zu erleben, beginnend mit kahlen Baumgerippen vor kaltblauem Himmel, vorbei an sprießender Blütenpracht und saftigem Grün. Schließlich fallen im lautlosen Rausch die bunten Blätter, und der Gang endet in einer Schneelandschaft. Kein einziger Mensch, kein einziges Tier ist zu entdecken auf den langen Metern seiner Bild-Dokumentation. Die Pflanzen leben und funktionieren – der Rest ist tot. Hockneys Welt gleicht dem Blick aus der Glaswand im Film.

Menschen, Schlachten, Schiffe – Der Teppich von Bayeux ist ein Mittelalter-Comic über Macht und Krieg.

Unendliche Mühsal steckt im einen Werk …

Dagegen wimmelt es von Menschen und Tieren auf dem gestickten Teppich von Bayeux, der um das Jahr 1070 entstanden ist. Vier Jahre vorher gelang es den normannischen Herrschern in der Schlacht von Hastings, einen Teil Englands zu erobern. Mit diesem Sieg begann die Integration Englands in die politischen und kulturellen Geschehnisse des Kontinents, an der auch ein Brexit nichts ändern wird. Vom Weg zu diesem Sieg erzählt der spektakuläre Mittelalter-Comic. Erbfolgestreitigkeiten spielen eine Rolle, und auch die Machtverteilung zwischen Kirche und Adel. Erzählt wird von den Vorbereitungen und Gesprächen um die Thronfolge und das Schlachtengeschehen. Geschildert werden die Lebensumstände der Zeit, die Ernährung der Soldaten, der Bau der Schiffe, sogar der vorbeiziehende Komet Halley ist eingestickt. Hunderte, vielleicht Tausende kunstfertige Menschen waren mit der Herstellung des Textils beschäftigt, ungezählte Stiche in die Fingerkuppen mussten verheilen, ehe das Werk fertig war, das von einem Sieg erzählen sollte.

… und digitale Kreativität im anderen

Hockneys Panorama (Ausschnitt aus „A Year in Normandie“) ist eine menschenleere Idylle …

David Hockney schuf sein langgestrecktes Werk fast ganz allein mit einem Tablet. Der heute 86-jährige eignete sich die Technik des digitalen Zeichenprogramms an und malte die Landschaft vor ihm in zahlreichen elektronisch erstellten Bildern, die er dann zum Jahreszeiten-Panorama zusammenfügte. Entstanden ist ein knallig bunter Kontrapunkt, ein Triumpf der unberührten Natur über eine von Machtkämpfen und Kriegen zerfressene Welt der Menschen. Zu sehen, nein, zu erleben, sind Szenen in saftiger Natur, die Pracht der Bäume, ländliche Idyllen, knuffige Landhäuser mit Fachwerk. Man kann Hockneys gefällig bunte Pracht als Traum einer heilen Welt deuten, und viele im Würth-Museum gönnen sich genau diese Illusion. Die Motive aus dem Panorama eignen sich bestens zur kommerziellen Vermarkung, und so quillt der Museumsshop in Künzelsau über von Postkarten, Kühlschrankmagneten und anderem Merchandising. Als Vorwurf eignet sich das allerdings nicht, denn auch in Bayeux sind die Motive der als Weltdokumentenerbe geadelten Riesenstickerei in jeder beliebigen Form erwerbbar.

Nicht nur die Länge verbindet beide Werke

… in der es nicht einmal Tiere gibt. Nur die Pflanzen funktionieren. (Ausschnitt aus „A Year in Normandie“)

Es ist nicht nur die Länge, die beide Kunstwerke gemeinsam haben. Verloschen sind die Dynastien, die einst untereinander über England stritten. Vergessen sind die Menschen, die ihre Kämpfe ausfechten mussten und deren Abbild hier mühsam gestickt wurde, tot die Pferde ihrer Schlachten, verrostet die Schilde, vermodert die stolzen Schiffe. Alles vorbei. Und Hockneys Blick durch die Glaswand sagt uns voraus: Wenig von dem, was uns wichtig ist, wird bleiben, wenn wir so weitermachen.

 

 

Mehr über die Ausstellung „A Year in Normandie“ im Museum Würth 2 in Künzelsau finden Sie hier. Die Ausstellung wurde verlängert und ist noch bis 3. September 2023 bei freiem Eintritt zu sehen.

Ein Einblick in die Art, wie David Hockney Bilder mit dem iPad malt, ist hier zu finden: (Klick bedeutet Einwilligung zu Youtube)

Der Wandteppich von Bayeux ist zu besuchen im Museum in Bayeux. Mehr Informationen dazu auch auf Wikipedia.

Mehr Informationen über den Film „Die Wand“ nach dem Roman von Marlen Haushofer u.a. hier: https://www.filmstarts.de/kritiken/190949.html

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Die Barocke am Birnbaum (#48)

Wallfahrtskirche Maria Birnbaum,  Maria-Birnbaum-Straße 51, 86577 Sielenbach

Mein Besuch am 7. Juli 2023

Auch heute steht ein Birnbaum vor der Kirche „Maria Birnbaum“. Warum sie nach einem solchen Baum heißt, ist eine fromme Geschichte. Foto: GFreihalter – Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=19268701

 

Seit Jahrzehnten fahre ich an diesem Schild vorbei. Es ist braun und steht an der Autobahn zwischen Augsburg und München, eine sogenannte „Touristische Unterrichtungstafel“. „Wallfahrtskirche Maria Birnbaum“ steht darauf, und seit ich vorbeifahre, habe ich mich gefragt, was das für ein merkwürdiger Name für eine Kirche ist. Zumal ich selbst im Schatten großer Birnbäume aufgewachsen bin.

Nun endlich bin ich einmal abgebogen. Ich hatte Zeit und Lust, die Maria und den Birnbaum kennenzulernen. Über Landstraßen, hindurch zwischen saftigen Wiesen und hinweg über sanfte Hügel dauerte es nochmal zehn Kilometer, aber dann trat tatsächlich und überraschend nach einer Biegung am rechten Straßenrand eine prächtigen Barockkirche am Ortsrand des bayrische-schwäbischen Dorfes Sielenbach ins Bild. 350 Jahre ist der Bau in seinen Grundzügen alt, seine Geschichte noch älter. Ein „Verperbild“, also eine fromme Mariendarstellung, sei an dieser Stelle um 1600 geschnitzt und dann im Dreißigjährigen Krieg zerstört worden – oder eben auch nicht. Ein Dorfbewohner habe die schon reichlich angegriffene Holzskulptur im Moor gefunden, restauriert, und in einen hohlen Birnbaum hinein aufgestellt. Dort, so erzählt die Legende, sei es dann zu überraschenden „Wunder“-Heilungen gekommen, und der Baum und die Maria habe sich immer mehr zu einem Wallfahrtsort entwickelt.

Die Kirche hat eine lichte, helle Raumwirkung und ist trotz der Barockausstattung nicht überladen. Sie wird überspannt von einer prächtigen Kuppel.

An der Stelle des alten Baumes wurde dann die Kirche errichtet, um dem Ansturm der Gläubigen ein stolzes Ziel zu geben. Ein Stück vom Birnbaum ist auch heute noch hinter dem Hauptaltar zu bestaunen. Mich hat das Stück Holz wenig beeindruckt. Die Kirche selbst aber ist groß und weiträumig, nicht überladen, still und voller Frömmigkeit, die zu respektieren mir mehr ist als eine Pflicht, auch wenn ich selbst nicht so glauben kann.

 

Mehr über Maria Birnbaum auf der Website des Deutschen Ordens, der die Kirche betreut:  https://www.maria-birnbaum.de/ oder auch auf Wikipedia 

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Das romanische Chamäleon (#47)

Kaiser- und Mariendom zu Speyer, Domplatz, 67346 Speyer

Mein Besuch am 26. Juni 2023

Die Last der Jahrhunderte – Detailausschnitt aus der Krypta des Doms von Speyer (Grabplatte von Rudolf v. Habsburg, gest. 1291)

Ein weiter, freier, schattenloser Platz liegt vor dem Dom von Speyer, und an diesem hochsommerlichen Junitag glüht schon am Vormittag das Pflaster. Der Dom verspricht Abkühlung, und das in seinen Ursprüngen fast 1000 Jahre alte Bauwerk hält, was der erhitzte Besucher erhofft. Schon die Vorhalle mit gewaltigen, goldbesetzten Mosaiken bereitet vor auf ein Bauwerk, das mehr stummer Zeitzeuge ist als lebendige Kirche, was dieser gewaltige Raum schon aufgrund seiner schieren Größe gar nicht sein kann. (Womit kein Urteil gesprochen sein will über die Kirchengemeinde selbst, die diesen Dom nutzt; es ist eine Besucherperspektive, die ich hier einnehme).

Zur Stadt hin liegt vor dem Dom einer weiter, schattenloser Platz – auf den anderen drei Seiten umgibt das Bauwerk ein grüner Stadtpark.

Der Dom zu Speyer ist die größte erhaltene romanische Kirche der Welt. Der Bau begann um 1025, erstmals als vollständige Kirche geweiht wurde die Kirche 1061. Seither hat sie alle Schicksale durchlebt, welche die europäische Geschichte bereithält: Machtkämpfe und Besitzerwechsel, Brände und Kriege, Plünderungen, bauliche Veränderungen und Wiederherstellungen. Der Dom wurde als Viehstall benutzt und in seiner Gruft wurden Kaiser bestattet.

Wer die Kirche heute betritt, findet sich in einer romanischer Illusion vor – himmelstrebend wuchtig, demutspendend hoch, glattgeputzt und scheinbar unverfälscht, so findet sich romanischer Baustil selten. Die allermeisten Elemente aus anderen Epochen wurden entfernt, die Kirche wurde „re-romanisiert“, was Kunsthistoriker durchaus auch kritisieren. Mir ist diese Kritik egal, der Besuch dieses weitgehend schmucklosen Mammutbaus ist mir wie eine Meditation: Nur Stein und Zeit ist hier zu spüren, kaum Schmuck und Tand.

Wo Schmucklosigkeit zum Konzept gehört, wird das Licht zum zentralen Gestaltungsmoment.

Eine Stunde war ich in dieser Kirche, habe das Licht auf mich wirken lassen, die Weite und Höhe gespürt, die Schattenwürfe bewundert und bin herabgestiegen in die Krypta, die hier ein Ausmaß hat, um das manche Dorfkirche beneidet würde. Die Kaiser-Särge liegen dort grau und stumm, längst vergangen, zu Staub geworden ist ihr Inneres.

Dort unten, tief unter der Kirche, ist so so kühl, dass den andächtig Staunenden beim Heraufsteigen in den großen alten Kirchenraum das relative Gefühl von angenehmer Wärme empfängt, wo es doch das Versprechen der Kühle war, das dort hinein gelockt hatte. Genau in dieser chamäleonhaften Vielschichtigkeit  habe ich den Dom erlebt: Ein aufgeräumter Ort des zeitlosen Willkommens, eine Einladung zur Annäherung an die Illusion von Dauerhaftigkeit. Ein Ort, der spüren lässt, dass vieles, das mich umgibt, so viel größer ist als mein eigenes, so begrenztes Dasein.

 

Der Dom zu Speyer ist Weltkulturerbe und es gibt über ihn Literatur ohne Ende. Ich empfehle für einen Überblick die Website der Kirchengemeinde, die auch einen virtuellen Rundgang anbietet: https://www.dom-zu-speyer.de/

Die drei deutschen Kaiserdome sind Mainz. Worms und Speyer. Dem Dom in Main habe ich vor einem Jahr besucht: https://vogtpost.de/dom-mainz/31/07/2022/

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Die Signatur – Ein Bucherlebnis

Die Schlange und die Signatur – Wie es dazu kam, dass in einem modernen Roman die einzige Handschrift vom Autor kommt.

Der berühmte Autor ist spindeldürr und groß wie ein Basketballspieler. Schütteres blondes Haar krönt seinen schmalen Kopf, ein Spitzbart ziert das hagere, brillenlose Gesicht.  18 Romane hat er schon geschrieben in seinen bald 75 Lebensjahren, ungezählte Kurzgeschichten – Worte über Worte, die er geschaffen hat. In seinem neuesten Buch, dem zu Ehren er in dieser Stadt, in diesem Land, auf dem alten Kontinent weilt, geht es um moderne Zeiten: Um die Selbstverständlichkeit, mit der die Klimaveränderung und ihre Folgen in den Alltag einer amerikanischen Familie hineinkriecht.

Niemand im Roman schreibt etwas auf

Weil es im Jetzt spielt, in unserer Zeit, mitten im Leben also, erzählt (ganz nebenbei) keines der Worte auf den 400 Seiten der deutschen Übersetzung, kein einziges, dass irgendwer irgendwas aufschreibt. Die Protagonisten des Romans halten keine Stifte, sie korrespondieren per e-Mail oder Messanger, sie rufen sich an oder sie begegnen sich persönlich. Aber was sie nicht tun, ist: Etwas mit der Hand zu schreiben.

Ausverkauft ist der große Saal. Im Foyer klingelt schon vor Beginn der Lesung die Kasse am Verkaufsstand der Buchhandlung. Alle wollen das neue Buch des großen Mannes. Manche, die ganz Schnellen, die fanatischen Freunde, die Süchtigen, die wahren Verehrer, die haben es sogar schon gelesen.

Dann rauscht Beifall auf, als der Schriftsteller die Bühne betritt. Als „Rockstar der Literatur“ wird er begrüßt. Es ist nicht einfach, eine Lesung zu organisieren mit einem englischsprachigen Autor, der anlässlich der gerade erschienenen deutschen Fassung seines Buches nach Deutschland kommt. Geduldig fügt sich das Publikum in die Sprachbarriere; es hört sich das teilübersetzte Interview an und auch ein paar kurze Ausschnitte, die der Autor im englischen Original vorliest. Den Rest erledigt eine routinierte Sprecherin, die den deutschen Text zum Klingen bringt. Großer Beifall.

Es geht um eine Schlange

Im Wesentlichen geht es um eine Schlange in diesem Buch, lernen die Bücherfreunde. Jedenfalls im ersten Kapitel, das hier zu Gehör gebracht wurde. Wofür die Schlange denn wohl steht?, wird der Autor gefragt. Vielleicht für die zahllosen Verführungen der modernen Zeiten? Der Hagere nutzt die Antwort zur Kaufempfehlung: Man solle besser lesen, als hier zuzuhören und über mögliche Deutungen seines Textes zu spekulieren. Er werde nichts interpretieren. Er habe das Buch geschrieben und dort alles gesagt, was er zu sagen habe.

Erwartungsgemäß macht die Lesung Lese-Appetit. Der Bücherstand ist noch mehr umlagert als zuvor. Vielstimmiges Gewühl wimmelt im engen Foyer. Die einen suchen einen Ausgang, die anderen das Ende einer Schlange, an deren Kopf der berühmte Autor sitzen sollte, um zu signieren. Zunächst ist er nicht zu entdecken im Getümmel. Erst nach zwanzig Minuten im dichtgedrängten Pulk, nach Vorrücken in Millimetern, gibt die nächste Biegung der Schlange den Blick frei: Da sitzt er auf dem Hochstuhl am Stehtisch, einen geduldigen Stift in der Hand, Wasser und Rotwein vor sich, und geht seiner Arbeit nach: Schreiben.

Da sitzt er: Wasser und Rotwein vor sich

Weitere dreißig Minuten bleibt Zeit, ihn und die Mit-Wartenden zu beobachten. Menschen, die zweifeln, ob sie sich die Warterei weiterhin antun möchten. Passionierte Autogrammjäger, die nach jedem verfügbaren Zettel zur Signatur kramen. Buchbegeisterte Ehepaare mit großen Einkaufstüten voller Bücher; ihre ganze Sammlung der Werke des berühmten Autors werden sie abzeichnen lassen. Ein Einsamer, der Bücher eines anderen Verfassers (ähnlichen, aber nicht gleichen, Namens) in den Händen hält. Wird er erfolgreich sein? Schüchterne, denen die Sorge vor dem bevorstehenden Sekunden-Gespräch mit dem Autor im ungewohnten Englisch ins Gesicht gezeichnet ist. Heitere, die wissen, wie sie ihren Charme werden einsetzen können. Selbstgewisse, die nicht ohne kleinen Plausch am bekannten Mann vorbeiziehen wollen, und dabei den nervösen Blick der Ungeduldigen hinter ihnen vielleicht sogar genießen. Erleichtert registriert das Saalpersonal: „Endlich, ich sehe das Ende!“ Denn langsam nur, aber doch: Die Schlange rückt vor.

Einer wie Du und ich, nur genial

Der berühmte Autor und sein Verehrer – ein Moment der Begegnung.

Dann ist es soweit: Der wahre Verehrer, der alle 18 Romane gelesen hat, steht vor dem freundlichen, hageren Gesicht, sieht ihm in die Augen, nimmt ihn wahr in seinem ganzen Menschsein, einer wie Du und ich, nur genial, jetzt angestrengt, trotzdem wach, natürlich sympathisch. Er sieht die Stirn, hinter der Tiefsinn, Humor, Fantasie und all die Ideen verborgen sind, die dem Verehrer seit Jahrzehnten so viele Stunden der Nachdenklichkeit, der Spannung, der Heiterkeit, geschenkt haben.

„Guten Abend“, sagt der Berühmte auf Deutsch, beantwortet freundlich eine Frage, blättert in seinem Buch („In meinem Buch!“, denkt sich der Verehrer) auf die dritte Seite, und zeichnet seinen Namen hinein, wie tausende, zigtausende Male in seinem Leben zuvor.

Vielleicht weiß er es gar nicht, dass seine schwungvolle Signatur das Buch ganz einzigartig macht. Sie ist das einzige Wort in Handschrift, das in diesem Buch vorkommt.

 

Der amerikanische Schriftsteller T. Coraghassian Boyle ist noch bis 19. Juni auf Lesereise durch Deutschland: https://www.tcboyle.de/lesereise-2023/

Im Zuge seiner Lesereise hat er auch den Tagesthemen ein Interview gegeben, das sich lohnt anzusehen: https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tagesthemen/video-1206626.html

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Wokes Kunstvergnügen in Söders Reichweite

Nicole Eisenman im Münchner Museum Brandhorst – ein Ausstellungsbesuch

Frühlingsgrün schimmert es im Geäst der Bäume. Saftiges Gras deckt die Wiese. Tauben flattern, ein Hund tollt herum. Fast schon Schwabing ist das hier, umzingelt von Universitäten, Studentenviertel. Die Sonne glänzt vom weiß-blauen Himmel. Ein großes Lächeln tönt durch diese Stadt, ein vielsprachiges Palavern der Jugend dieser Welt, die hier studiert und lebt und genießt. Man teilt sich eine Pizza, trinkt aus mitgebrachten Plastikflaschen.

Ermattet im Klimawandel: Die New Yorker Künstlerin Nicole Eisenman hält der Wohlstandsgesellschaft den Spiegel vor – unterhaltsam, anregend, witzig. (Bildausschnitt aus: Tail End)

Dies ist kein Bild, sondern bayerische Realität. Die Bilder sind daneben untergebracht, in einem quaderförmigen Gebäude. Die Fassade schillert bunt, zusammengestückelt ist sie aus Tausenden kleinen bunten Klötzchen. Zu nüchtern für einen Prachtbau, aber angemessen schön für moderne Kunst.

Im trunkenen Rausch wacher Erwartung

Aufbruch der fröhlichen Gruppe, die gerade noch auf der Wiese saß in lockerer Runde. Niemand ist betrunken, und doch ist es ein trunkener Rausch von wacher Erwartung, der diese jungen Menschen hereinspült in das Museum Brandhorst im Münchner Museumsviertel, gleich neben der Pinakothek der Moderne. Die Siebträgermaschine des Museumscafés dampft und zischt, die Studierenden biegen erst einmal dorthin ab, bilden eine gesittete, geduldig und angeregt schnatternde Warteschlange. Englisch, französisch, deutsch – alles durcheinander. Nur keine Eile, der Barista braucht seine Zeit für einen perfekten Cappuccino. Noch ein Croissant dazu, ein italienisches Gebäck? Im Café werden erwartungsfroh die Tische zusammengeschoben.

Wach sind sie, vermutlich auch „woke“

„Wach“ sind diese jungen Menschen, und vermutlich auch „woke“. Denn der heute zum Schimpfwort mutierte Begriff war bei seinem Eintritt in den modernen Sprachgebrauch einfach nur eine Beschreibung. „Stay woke!“ mahnten sich gegenseitig engagierte Menschen nach den Polizeiübergriffen gegen Schwarze in den USA (z.B. gegen Michael Brown 2014 in Missouri). Sie wandten sich mit wachem Geist den gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten in den USA zu. Schnell verbreitete sich das kurze Wort aus vier Buchstaben über die ganze westliche Welt, und als „woke“ wurden bald alle bezeichnet, die sich gegen rassistische, homophobe, sexistische Traditionen und Verwurzelungen wehrten.

Aber Sprache ist nicht neutral, Sprache ist ein Gefechtsfeld. In den nur knapp zehn Jahren seither war eine erfolgreiche Fremdermächtigung dieses Wortes durch rechtsgerichtete und konservative Kreise zu beobachten. „Wokeness“ wurde in ein Schimpfwort umgedeutet, gerade so, als wäre etwas falsch daran, dunkelhäutige Menschen nicht mehr kolonialistisch beleidigen zu wollen. Oder sexistischen Darstellungen in der Öffentlichkeit entgegenzutreten und für die Toleranz gegenüber queeren Lebenskonzepten zu werben, auch wenn sie einem selbst vielleicht fremd sein mögen.

„Bayern ist anders als Berlin.“ Hoffentlich nicht.

„Bayern ist anders als Berlin“, rüpelte jüngst Markus Söder, der bayerische Ministerpräsident, gegen die Bundeshauptstadt und die dort regierende Ampel-Koalition. „Wir lehnen Wokeness, Cancel Culture und Genderpflicht ab. Bei uns darf man sagen und singen, was einem einfällt.“ Hoffentlich nicht, möchte man ihm da zurufen, denn auch in Bayern darf erfreulicherweise nicht beleidigt und Gewalt verherrlicht werden.

So ganz hoch und abweisend kann die bayerische Mauer gegen die böse Wokeness nicht sein.  Noch bis 10. September zeigt das vom Freistaat Bayern getragene „Museum Brandhorst“, wenige hundert Meter Luftlinie vom Amtssitz des Ministerpräsidenten entfernt, eine spektakulär erfolgreiche Ausstellung der feministisch und bekennend homosexuell positionierten amerikanischen Künstlerin Nicole Eisenman. Was dort im wunderbar luftig hell ausgeleuchteten Keller des Museums auf die oben geschilderten Cappuccino-Trinker wartet, ist beste „woke“ Wohlstandskunst.

Eisenman bietet, was moderne Kunst zugänglich macht

Das Digitale wird Teil der menschlichen Identität: „Selfie“ von Nicole Eisenman.

Die Ausstellung zeigt eine Retrospektive von mehr als 100 Werken der 58-jährigen New Yorkerin unter dem Titel „What Happened“. Es sind Szenen aus dem gesellschaftlichen Leben in den USA – von der Künstlerin eingefangen „auf ebenso humorvolle wie mitfühlende Weise“ (Ausstellungstext). Die Bilder und Installationen bieten alles, was moderne Kunst zugänglich macht. Sie sind oft witzig und laden doch zum Nachdenken ein. Sie stellen die Fragen unserer Zeit, fangen die Ödnis einer oftmals sich selbst überdrüssig gewordenen Welt im Wohlstand ein, stets mahnend, aber nicht klagend. Eisenmans Figuren sehen den Betrachtenden an und fragen ihn, ob er so leben möchten, wie es da zu sehen ist – mehr im Nebeneinander als im Miteinander; mit sich selbst beschäftigt, statt wach für die Welt; verharrend in trostloser Monotonie des kommerziellen Erwartungsdruckes.

Beziehungslose Menschen mit ausdruckslosen Gesichtern hocken in einem Biergarten und wissen mit sich und den vielen anderen, die um sie herum die Zeit totschlagen, nichts anzufangen. In ihrer Verblendung dösen Tea-Party-Republikaner dahin, festgefahren in ihrer Blase aus gegenseitiger Trostlosigkeit, die eine das Gewehr im Blick, während der andere an einem Sprengsatz herumfummelt. Menschen sind gefangen in einer digitalen Welt, die ihnen Kontaktfülle suggeriert, sie aber doch mutterseelenalleine auf das Sofa fesselt. Für ein Selfie teilen wir unsere ganze Identität mit dem Bildschirm.

Gesellschaftliche Missstände im Wohlstand

Im Gemälde „Tea Party“ warten konservative Aktivisten auf ihren Einsatz.

Eisenman zeigt gesellschaftliche Missstände im Wohlstand, auch deren politische Folgen. Daran gibt es nichts zu kritisieren. Im Gegenteil: Dieser Text möchte eine engagierte Aufforderung sein, die inspirierende Kunst von Nicole Eisenman kennenzulernen. Und doch: Möglicherweise kann man am Blick der Künstlerin  auf ihre Welt besser verstehen, warum der Begriff „Wokeness“ eine solche abwertende Umdeutung erfahren hat, zum Kampfbegriff wurde gegen alles, was unbequeme Veränderung befürchten lässt.

Kommt man aus der passenden Ecke der Gesellschaft, so wird man sich bei Eisenman moralisch überlegen wohlfühlen. Die Künstlerin stellt das Patriarchat in Frage und geißelt Rassismus, sie sieht die Folgen des Klimawandels vorher und verspottet uns als Sklaven der digitalen Transformation. Und doch sind dabei die Betrachtenden stets wohlig unterhalten, dürfen grübeln und schmunzeln, müssen keine Schmerzen fürchten.

Die „woke“ Weltsicht ist nicht frei von Selbstgerechtigkeit

Eine so komfortabel ausgestaltete, „woke“ Weltsicht, die nicht frei ist von Selbstgerechtigkeit, musste zwischen die Mühlsteine des politischen Diskurses geraten. Für die einen ist sie selbstgerechte Nestbeschmutzung des mühsam der Geschichte und der Natur abgerungenen Wohlstandes, den der konservative Teil der reichen Gesellschaften lieber verteidigt sähe als verspottet. Auf diese Gefühle adressieren Markus Söder und andere, wenn sie pauschal „Wokeness“ zum Feindbild erklären.

Und den anderen, den Aktivisten für mehr Gerechtigkeit auf dieser Welt, geht das alles nicht weit genug. Für sie finden die wirklichen Miseren des menschlichen Daseins nicht in der Beziehungslosigkeit eines Biergartenbesuchs statt oder auf der Couch eines Psychotherapeuten, sondern in den Hungerlagern der sonnenversengten Sahelzone, in den Folterkellern im Iran oder in den Fluten des Mittelmeeres, wo Menschen auf der Suche nach Hoffnung gegen ihr Ertrinken ankämpfen.

Da strömt schon die Gruppe die breite Museumstreppe hinab! Gerade hatten sie sich noch mit Cappuccinos gestärkt, nun streben sie der Kunst entgegen – erwartungsvoll, bunt gemischt, multikulturell, in lustig bedruckten T-Shirts und schwingenden Sommerröcken. Sie werden über Eisenmans Kunst lachen und grübeln, sie werden nachdenklich sein, und dann werden sie hinausstreben in ihre reiche, bunte Welt und sagen und singen, was ihnen so einfällt.

 

Weitere Informationen zur Ausstellung „What Happened“ im Museum Brandhorst (noch bis 10. September 2023) in München: https://www.museum-brandhorst.de/ausstellungen/nicole-eisenman/

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Mal mehr Mozart, mal mehr Zufall

Wenn KI Klassik komponiert – Ein Konzerterlebnis

Unterlegt vom Geschnatter der restlichen Streicher stürmt zunächst das drängende Cello auf die abwartende erste Violine ein; dann umgekehrt. Irgendwann im weiteren Verlauf einigen sie sich auf eine Harmonie und der anfangs stürmische Streit mündet in einem Hörerlebnis der Ausgeglichenheit. Es ist das Streichquintett C-Dur (KV 515) von Wolfgang Amadeus Mozart, das so beginnt.

Eine Installation aus der Ausstellung „Shift- KI und eine zukünftige Gemeinschaft“ im Kunstmuseum Stuttgart. Im Rahmenprogramm dieser Ausstellung fand das hier beschriebene Konzert statt. Foto: Gerald Ulmann, bereitgestellt vom Kunstmuseum Stuttgart

Entstanden sind diese Töne im Jahr 1787. Der umjubelte Komponist war 31 Jahre alt und berauscht vom Höhenflug des Erfolges seines „Figaro“. Wie hat er seine eigenen Töne gehört, während er sie, vielleicht in fliegend-kreativer Hast, zu Papier brachte? Das Genie musste sie vermutlich gar nicht hören können, seine Musik erklang ihm im Kopf. Wer aber kein Genie war, der brauchte Instrumente und fünf fachkundige Musikerinnen oder Musiker, um das Werk zum Erlebnis werden zu lassen.

Technische Intelligenz hat die Musik schon längst erobert

Gut hundert Jahre später trat das Grammophon auf den Plan. Seit 1889 hat technische Intelligenz die Musik erobert. Mit Hilfe eines furchterregend großen Kastens und seines emporragenden Schalltrichters rang die Technik dem Schellack krächzende und rauschende Töne ab. Es folgten viele Schritte des technischen Fortschritts, das Rauschen wurde leiser und die Qualität der musikalischen Konserve besser. Elektrische Lautsprecher lösten den Trichter ab und Motoren die Kurbel, handliche und weniger empfindliche Tonbandcassetten schließlich die sperrige Schallplatte. Die noch robusteren kleinen silbernen CD´s folgten, der Walkman brachte der Musik das Laufen bei, und heute quillt jederzeit Musik aus jedem Handy, ganz ohne Ruckeln und Rauschen, in glasklarer Qualität, immer und überall. Aber es blieb dabei: Komponieren musste der Mensch.

Der Kreis zu Mozart wäre daher erst geschlossen, wenn die kleinen Apparate, aus denen jetzt nach wenigen Wischbewegungen jene Musik quillt, die einst vom Menschen komponiert wurde, auch noch dazu in der Lage wären, die schönen Töne gleich selbst zu erfinden. Was die Produktion der Töne angeht, wäre das kein Problem. Aber die Komposition?

„Komponiere mir ein Streichquintett!“

„Komponiere mir ein Streichquintett im Stil von Wolfgang Amadeus Mozart“ – mit einer solchen Aufforderung hat Dr. Axel Berndt, Experte für „Interactive Algorithmic Sound and Music“ an der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe seinen Computer tatsächlich auf eine musikalische Reise geschickt. Was dabei herauskam, war kürzlich im Stuttgarter Kunstmuseum zu hören, vorgetragen von den Streicher-Profis des Stuttgarter Kammerorchesters.

Der Konzertabend traf auf angemessen erregtes Interesse eines neugierigen Publikums, wobei sich die musik- und technikinteressierten Menschen bunt durchmischten, um eine halbe Stunde im klimatisiert kühlen Saal anzuhören, was der Computer ihnen musikalisch mitzuteilen hatte. Unstrittig ist immerhin, dass Computerprogramme bereits heute achtbare Ergebnisse erzielen, wenn sie sogenannte „Gebrauchsmusik“ komponieren, also zum Beispiel Musiksequenzen, die Filmszenen untermalen. Aber kann sich Komponist KI mit Mozart messen?

Zunächst ist menschliche Intelligenz gefragt

Zunächst sahen sich die erwartungsvollen Konzertbesucher geballter menschlicher Intelligenz ausgesetzt. Dr. Berndt war ehrlich bemüht, dem Publikum näherzubringen, wie das denn nun vor sich geht, wenn der Computer Musik im Stile Mozarts ausbrütet. Einfach ist es nicht, das wurde schnell deutlich. Mit sehr unterschiedlichen Methoden kann ein kundiger Computerfreund die Maschine zum künstlich intelligenten Komponieren anstiften. „Neuronale Netze“, „genetische Algorithmen“ oder „Markov-Ketten“ heißen diese Zauberformeln, wobei der mitfühlende Experte sich und seinem Publikum ersparte, deren Unterschiede auszubreiten. Je nachdem, was davon angewendet wird, kommt etwas anderes heraus.

Schwierige Materie, das Ganze, vielleicht so viel: Wie das vielzitierte KI-basierte Schreibprogramm kann auch der Musikcomputer nur komponieren, wenn ihm zuvor als Lernmaterial grundlegende Stilrichtungen vorgegeben wurden (z.B. ein Mozart-Streichquintett). In vielen sich wiederholenden Lernschritten erlernt die künstliche Intelligenz auf dieser Grundlage kompositorische Abläufe und Charakteristika, etwa so, wie man bei Kindern das Erlernen der Muttersprache miterlebt – in ungezählten, millionenfach wiederholten Alltagsschritten. Nur dass die Software keinen Alltag hat, nicht schläft und nicht träumt und nicht isst, so dass sie die Aneignung unermüdlich, ununterbrochen, Tag und Nacht, millionenfach neu in sich hineinlernen kann. Nach einiger Zeit könnte die Software dann tatsächlich Musik im Stile von Mozarts Kammermusik produzieren.

Eine Mozart-Retorte reicht nicht

Kann es dann jetzt also losgehen mit der KI-Musik?

Nein, erläutert der Experte. Denn so entstandene Musik würde zu sehr berechenbaren Ergebnissen führen, gewissermaßen eine sich ständig wiederholende Mozart-Retorte. „Zu langweilig“, urteilt Dr. Berndt. Der KI muss also zusätzlich die Aufgabe gegeben werden, gezielt und willentlich (hat KI einen Willen? Ja, wohl schon.) abzuweichen von dem, was sie da gerade mühsam erlernt hat.

„Und nach welcher Logik geht das?“, wird der musikalische Zauberlehrling fragt. „Das ist dann Zufall“, freut sich dieser über seine selbst gewählte Machtlosigkeit. Immerhin, in welchem Umfang er der musikalischen Software vorgibt, sich an Mozart zu halten, oder eigene, freie Ideen beizumischen, das könne er beeinflussen. Man solle sich das wie einen Regler vorstellen: mal mehr Mozart, mal mehr Zufall.

Wer KI spielt, blättert keine Papiernoten

Genug der Erläuterungen, jetzt endlich mal was hören von der komponierenden KI! Schon quillt das Streichorchester aus den rückwärtigen Türen des Saals. Mit i-Pads ausgerüstet nehmen sie ihre Positionen ein. Wer KI spielt, blättert kein Papier.

Gute Laune hinter dem i-Pad: Das Stuttgarter Kammerorchester (SKO) versucht sich an der Interpretation von Klassik, die Künstliche Intelligenz erzeugt hat. Foto: Wolfgang Schmidt Ammerbuch, bereitgestellt von SKO

Was zu hören ist, klingt gefällig, hat auch musikalische Spannungsbögen, und doch: Irgendwie verhallen die drei Stücke „Cannon Crossover“, „Polyphnic Skeleton“ und „Deconstruction“ ziemlich konturlos im Raum. Wenig davon haftet im Ohr, und wenn, dann am ehesten jene Töne der leisen Ironie, die sich auch in den grinsenden Gesichtern der Musiker/innen ausdrückt, immer dann, wenn sich im KI-Werk deutlich manche Mozart-Zitate heraushören lassen. Das waren dann wohl die Stellen, an denen Dr. Berndt den Zufalls-Regler Richtung Mozart verschoben hatte. Artiger Beifall.

KI verhallt konturlos, Mozart aber steckt voller Überraschungen

Dann nimmt das Kammerorchester erneut Anlauf und lässt Mozart im Original hören. Eine Orchester-Version des berühmten c-dur-Streichquintetts füllt den Raum. Es war dies eines jener Stücke, mit denen die lernende KI als Anschauungsmaterial gefüttert worden war. Die Violinen und Violas, die Celli und der Kontrabass legen dynamisch los, mit dialogischer Wucht und voller Überraschungen. Ach, so schöne Töne, nichts Beliebiges haftet dieser Musik an. Die Magie der Kreativität eines Mozart bestand eben ganz sicher nicht nur in der Beimischung des Zufalls zu gelernten Regeln des Musikaufbaus. Sondern aus einem Zauber, der sich nicht errechnen lässt.

„Zu schön für unsere Ohren und gewaltig viel Noten, lieber Mozart,“ hat bekanntlich Kaiser Josef II. die Aufführung der „Entführung aus dem Serail“ im Jahr 1782 kommentiert. Das würde der KI nicht passieren, da ihr jeder moderne Herrscher (und das sind heutzutage die Programmierer) die Länge eines Stückes exakt vorgeben könnte. Erst dann, wenn der Rechner antwortet wie einst Mozart: „Grad so viel Noten, Eure Majestät, als nötig sind“ – erst dann müssen wir uns Sorgen machen über die Zukunft menschlicher Kreativität.

 

Das besuchte Konzert war Teil des Begleitprogramms für die Ausstellung „Shift – KI und eine zukünftige Gemeinschaft“, die nur noch bis 21. Mai 2023 im Kunstmuseum Stuttgart zu sehen ist. https://www.kunstmuseum-stuttgart.de/ausstellungen/shift .

Danach zieht sie weiter in das Museum https://marta-herford.de/ in Herford, wo sie ab 17. Juni bis 15. Oktober 2023 für Besucher zugänglich sein wird.

Das Stuttgarter Kammerorchester beschäftigt sich schon länger mit der Wirkung von Künstlicher Intelligenz auf klassische Musik. Im aktuellen Magazin 1/23 des SKO findet sich auch ein ausführlicher Beitrag dazu. Es kann kostenfrei heruntergeladen werden: https://stuttgarter-kammerorchester.com/publikationen

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Ein Wessi staunt im „Elefantenklo“

Das Bauernkriegspanorama von Bad Frankenhausen

Die guten alten Zeiten waren noch niemals gut. Sie waren ungerecht, staubig und versprachen einen frühen Tod. Zu den rätselhaftesten Freizeitvergnügungen unserer Zeit zählen daher Mittelalterfeste. Menschen, die über Auto und Handy verfügen und sich lauthals darüber beklagen, wenn in ihrer Nachbarschaft das Provinzkrankenhaus geschlossen werden soll, wollen sich dort im Vollbesitz ihres Verstands freiwillig zurückversetzen in eine Zeit, in der schuldlose Frauen der Hexerei angeklagt und verbrannt wurden, es menschenverachtende Leibeigenschaften, allenfalls zufallsgetriebene Erfolge der Heilkunst und soziale Ungerechtigkeit zuhauf gab. Wie sicher muss sich jemand sein über die Unvergänglichkeit des eigenen Wohlstandes, wenn er sich in eine solche Welt zurück träumen möchte?

Vom Volksmund als „Elefantenklo“ verspottet: Der Rundbau oberhalb von Bad Frankenhausen in Thüringen birgt eines der größten Gemälde der Welt.

Mut zur Wut machte den Bauern die Bibel

Dabei weiß natürlich jedes wache Wesen, dass in der „guten alten Zeit“ nicht etwa nur romantisch auf offenem Feuer gekocht, süffig-trübes Bier getrunken und sich mit rupfig-rauem Tuch gekleidet wurde. Vielmehr herrschte Mord und Totschlag. Im Jahr 1525 zum Beispiel, als das, was wir heute „Mittelalter“ nennen, gerade zu Ende gegangen war, lehnten sich die Bauern im Süden Deutschlands gegen ihre Herrschaften auf. Getrieben waren sie von Hunger, materieller Not und der umfassenden Aussichtslosigkeit ihrer Lebenssituation. Mut zur Wut machte ihnen auch der Reformator Martin Luther, der durch seine Übersetzung der Bibel ins Deutsche das Gott-Vertrauen in ein Anrecht auf eine gerechtere Welt auch beim „einfachen Volk“ anwachsen ließ. Also kämpften die Bauern mit Dreschflegeln für ein besseres, gerechteres Leben und wurden von den mit Kanonen ausgerüsteten Söldnern der Feudalherren brutal niedergemetzelt. Einer der Anführer der Revolte war der Theologe Thomas Müntzer, ein Weggefährte Luthers, der sich anders als der große Reformator auf die Seite der rebellierenden Bauern schlug, während Luther jede Gewalt gegen die Obrigkeit ablehnte. Müntzer wurde wenige Tage nach der verlorenen Schlacht von Frankenhausen hingerichtet.

Hoch über dem Berghang thront ein Rundbau

Eine der größten Schlachten dieser Art im deutschen Bauernkrieg fand in der Nähe des Ortes Bad Frankenhausen in Thüringen statt, auf einem weiten, bis heute weitgehend kahlen Berghang. Hoch über ihm thront jetzt ein fensterloser Rundbau, der in den 70er Jahren errichtet wurde. Die Einheimischen nannten das Gebäude spöttisch ein „Elefantenklo“, und brachten damit zum Ausdruck, dass der Bau damals wie heute nicht gängigen Vorstellungen von schöner Architektur entsprach – und viele auch wenig Verständnis hatten für seinen Zweck.

Die Rotunde birgt eines der (flächenmäßig) größten Gemälde der Welt, ein Kunstwerk, das mehr über den Gang der Zeiten seit dem ausgehenden Mittelalter bis heute nachdenken lässt als jedes Mittelalterfest. Geschaffen hat das Riesenwerk (123 Meter lang, 14 Meter hoch) der Leipziger Universitätsprofessor und Künstler Werner Tübke. Tübke hatte auch im Westen Beachtung und Anerkennung gefunden und galt als berühmtester zeitgenössischer Maler der DDR. Seine ins Ausland verkauften Werke brachten dem Staat Devisen, aber der künstlerische Ausdruck Tübkes war nicht unumstritten, da er sich gegen ästhetische Vereinnahmungen durch die Ideologie wehrte. Der Maler war ein zweifelnder, von der Denkwelt des Christentums, auch von esoterischen Ideen beeinflusster Mensch. Als im Jahr 1975 entschieden wurde, dass er das größte Bild malen sollte, das der sozialistische Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden jemals in Auftrag gegeben hatte, warnte Tübke seine Auftraggeber: Er werde kein heroisches Schlachtengemälde malen. Vielmehr werde er die Ereignisse, um die es ging, in einen größeren Zusammenhang stellen. Und er forderte das ein, was dieser Staat, der einen perfektionistischen Überwachungsapparat unterhielt, weil er seinen Bürgern zutiefst misstraute, am wenigsten zu geben hatte: Vertrauen und künstlerische Freiheit.

Zwölf Jahre arbeitete Tübke am Panorama

Fronarbeit an der 1722 qm großen Leinwand: mehr als die Hälfte des Panoramas malte Werner Tübke selbst.

Nachdem ihm alles das weitgehend zugesichert worden war, machte sich Tübke an die Arbeit. Zwei Jahre lang studierte er die Maler der Renaissance, auch in Studienreisen ins westliche Ausland. Anschließend erstellte er ein Modell für das Rundbild im Maßstab 1:10, das er im Jahr 1982 fertigstellte. Dessen Konturen wurden mit Lichtprojektoren vergrößert und auf die schon seit vier Jahren in der Rotunde wartende Leinwand übertragen. Fünf weitere Jahre malte Tübke dann im „Elefantenklo“ auf insgesamt 1722 Quadratmetern sein Weltengemälde mit mehr als 3000 Figuren. Er ließ sich helfen von Schülern seines Vertrauens, aber mehr als die Hälfte des gewaltigen Panoramas malte er selbst. In diesen Jahren lebte und arbeitete er bis zur Erschöpfung. Am 16. Oktober 1987 signierte er sein Werk.

Als Tübke endlich fertig war, wollte der Staat bis zur Eröffnung noch weitere zwei Jahre warten. Für das Jahr 1989, zur 500. Wiederkehr des vermutetem Geburtsjahr von Thomas Müntzers (1489), plante die DDR umfassende Feierlichkeiten zur Vereinnahmung des revolutionären Theologen. Die Eröffnung des Bauernkriegspanoramas von Frankenhausen am 14. September 1989 sollte dafür den Höhepunkt bilden. Aber bekanntlich verordnete die Geschichte dem sterbenden Staat andere Prioritäten. Die höchste Staatsführung fehlte beim Festakt, weil sie bereits mit ihrer eigenen Rettung beschäftigt war: Tausende verzweifelte DDR-Bürger umlagerten die Prager Botschaft der Bundesrepublik und suchten den Weg nach Westen.

Die Geschichte verordnete andere Prioritäten

Zwei Monate später fiel die Mauer und im nun diskussionsfreudigen Klima der Nach-Wende-DDR geriet das gerade eröffnete Bauernkriegspanorama in die Kritik. Warum hatte sich dieser bankrotte Staat noch in seinen letzten Stunden ein solches Riesenwerk geleistet? War das nicht pure Propaganda? Und wer war dieser Werner Tübke eigentlich, der da jahrelang an seinem Bild gepinselt hatte – war das nicht ein angepasster Auftragskünstler des verhassten Regimes? Wozu dieses ganze Gebäude, das es jetzt auch noch zu unterhalten gilt? Und die westliche Kulturkritik spottete teilweise selbstgefällig über das Riesengemälde.

Wer schließlich das Schlachtfeld von Frankenhausen hinter sich lässt und hinaufsteigt auf die abgedunkelte Bühne im Inneren des Rundbaus, von der aus das effektvoll ausgeleuchtete Panorama zu besichtigen ist, sieht viel mehr, als Auge und Verstand erfassen können. Stundenlang könnte man all den Geschichten und Mythen nachforschen, all den Figuren begegnen, die sich der Künstler hat einfallen lassen. Es ist ganz sicher nicht ein verherrlichendes, heroisches Bild, das viele Ostdeutsche und erst recht die vorurteilsgetriebenen Wessis hinter den Mauern der Rotunde erwarten.

Das Bild lässt „alle Theorie grau in grau erscheinen“

Denn der Künstler verblieb in seinem Werk im historischen Kontext der Renaissance, schildert die Bauernschlacht in einem Moment, da bereits erkennbar ist, dass sie für die Bauern verloren ist. Tübke ergänzt diese ernüchternde, nachdenkliche Darstellung mit bildreichen Phantasien. Das Gemälde sei „keine didaktische Großillustration, sondern eine historische Parabel menschlicher Irrungen und Wirrungen“ schrieb der Kunstkritiker Eduard Beaucamp von der FAZ, der auch eine kommentierte Sammlung der Tagebuchaufzeichnungen von Werner Tübke herausgegeben hat.  Im Endlosbild ist, geordnet nach den Jahreszeiten, von Adam und Eva, dem Turmbau zu Babel bis zu Luthers Wirken, der Erfindung des Buchdrucks, dem erwachenden Widerstandsgeist der Bürger und Handwerker fast alles zu sehen, was ein christlich-europäisches Weltbild zu bieten hat. Wer dieses Bild gesehen habe, „dem wird die Zaubermacht der Kunst für einen Moment alle Theorie als grau in grau erscheinen lassen“, urteilte der Schriftsteller Golo Mann, nachdem er bereits 1987 das Panorama besucht hatte.

Thomas Müntzer als Zweifelnder: Inmitten der tobenden Schlacht erkennt der Theologe, den die DDR-Führung zum revolutionären Helden machen wollte, dass der Kampf verloren ist.

Das mag heute alles etwas angestaubt klingen. Und doch bleibt, dass hier ein bedächtig zweifelnder Künstler seinem sozialistischen Auftraggeber eine Botschaft aufgezwungen hat, die einerseits im Göttlich-Christlichen fußt, und andererseits den revolutionären Helden fast verloren zeigt im Mittelpunkt des Schlachtgetümmels. Die Regenbogenfahne, damals gedacht als Symbol der Einheit von Gott und Mensch, hat Thomas Müntzer auf dem Bild bereits gesenkt. Nachdenklich betrachtet er das blutige Geschehen, während die verzweifelten Bauern noch die Flagge der „Freyheit“ hoch halten, aber doch schon die Kanonen und Schwerter der vom Adel gedungenen Söldner morden.

Wo bleiben solche Zweifel am Heroischen andernorts?

Wo bleiben solche Zweifel bei anderen berühmten Bauten zur Verehrung historischer Helden der Deutschen? Niemals musste sich die „Walhalla“ bei Regensburg, in der nicht nur Forscher und Dichter, sondern auch zahlreiche Heerführer aller Jahrhunderte geehrt werden, ob ihrer Geschichte rechtfertigen, obwohl es dafür gute Gründe gäbe. Ähnliches gilt für das Völkerschlachtendenkmal bei Leipzig, für den Kyffhäuser in Thüringen oder das Niederwalddenkmal oberhalb des Rheins. Allen diesen Bauten fehlt jener Zweifel am Heroischen, das Tübkes Panoramabild prägt.

Draußen dann, nach diesem farbenprächtigen Rundum-Erlebnis im Halbdunkel, wartet eine große Terrasse vor dem Museum. Der Blick geht über das historische Schlachtfeld hinaus in die weite Landschaft des Südharzes. Vielleicht könnte das der richtige Ort sein für die Betrachtung eines noch größeren Panoramas:

Augen auf!

Einmal die Augen schließen, das Bewusstsein für das Hier und Jetzt anschalten und langsam um die eigene Achse drehen! Was dann zu sehen ist, ist keine mittelalterliche Szene, sondern das Bild der apokalyptischen Herausforderungen von heute zwischen Heiß und Kalt, zwischen Flut und Dürre, von tödlichem aktuellem Kriegsgeschehen, von sozialen Ungerechtigkeiten allerorten. Die Szene ist bevölkert von den vielen Mitmenschen, die sich als Figuren der Fremdbestimmung erleben, die empfinden, herumgeschubst zu werden in einer Welt, die sie nicht verstehen und die ihnen feindlich begegnet.

Es bedarf nur eines solchen Blickes, und Tübkes Rundbild vom Bauernkrieg wird hochaktuell, während auf dem Kyffhäuser das braune Moos wuchert und die meisten Marmorköpfe in der Walhalla längst verstaubt sind. Augen auf!

 

 

Das Bauernkriegspanorama von Werner Tübke ist jeden Umweg wert. Eine virtuelle Tour über das Gemälde und nähere Informationen zu einem Besuch gibt es hier:  https://www.panorama-museum.de/de/

Weitere Informationen zu dem Künstler Werner Tübke z.B. auf Wikipedia, oder auch in diesem sehr interessanten Gespräch anlässlich der Herausgabe seiner Tagebücher mit  dem Kunstkritiker Eduard Beaucamp und der Kunsthistorikerin Dr. Annika Michalski.

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.