Der Ring des Diktators

Zwei Ringe und das Kriegsglück – eine moderne Parabel

Er stand auf seines Daches Zinnen,
er schaute mit vergnügten Sinnen
auf das beherrschte Samos hin.
„Dies alles ist mir untertänig,“
begann er zu Ägyptens König,
„Gestehe, dass ich glücklich bin.“

(aus: Friedrich Schiller, „Der Ring des Polykrates“)

 

 

„Wer bist Du?“, fragt der Diktator seinen Gast. Der Fremde war, ohne anzuklopfen, eingedrungen in den Prachtsaal voller Gold und Stuck, aus dem der Diktator sein Reich befehligt.

„Ich bin Wotan, der Wanderer“, antwortet der Gast ohne Zögern. „Ich durchstreife die Welt.“

„Und kennst Du auch mein Reich?“, fragt der Diktator eitel.

Der Gast schweigt.

„Dann will ich es Dir zeigen, und Du wirst mich bewundern.“

Der Diktator öffnet eine unscheinbare Türe. Er geht voraus, und sie steigen eine schmale Treppe hinauf auf eine Terrasse. Sie ist, gut geschützt, in das Dach der stolzen Burg eingelassen. Mächtige Befestigungen umgeben die Burg, deren Pracht und Größe von grenzenlosem Reichtum und Wohlstand zeugen sollen. Gleich daneben glitzern die vergoldeten Zwiebelturmhauben der Kathedralen im Sonnenlicht.

Der Diktator ist bester Laune.

„Dies alles ist mir untertänig!“ ruft er im sanften Wind seinem Gast zu, und weist mit ausholender Geste im Halbkreis über sein Reich. Der Gast sieht eine prächtige Stadt, unter ihm liegt ein breiter, ruhig dahinströmender Fluss. Er sieht emsig eilende Autos, von hier oben klein wie Spielzeug. Am Horizont verliert sich weites grünes Land in der Unendlichkeit des Sichtbaren, Wälder, Wiesen, und wieder Wälder.

Der Blick des Gastes folgt der flachen Hand des Diktators, die nach Westen zeigt. Vor der Weite des Landes funkelt ein prachtvoller Ring an seinem Finger.

„Hier entlang marschieren meine Truppen,“ prahlt er. „Wir werden weitere Provinzen erobern!“,  Dann blickt er zu seinem Gast. „Gestehe, dass ich glücklich bin!“

Der Wanderer zögert. Dann widerspricht er. Ob der Herrscher nicht sehe, welche Gefahren überall lauern? Jederzeit könne er Opfer einer Palastrevolte oder eines Aufstandes werden, schon viele Diktatoren vor ihm wurden auf dem Höhepunkt der Macht grausam ermordet, warum nicht auch er? „Dich kann mein Mund nicht glücklich sprechen,“ mahnt Wotan kopfschüttelnd, „solang des Feindes Auge wacht!“

In diesem Moment kommt ein Soldat aus der Leibgarde des Diktators heraufgeeilt. „Schau her, was wir verhindert haben!“, ruft er stolz und deutet auf den Bildschirm seines Handys. „Ein Attentäter wollte Euch stürzen, aber wir haben ihn mit Gift ausgeschaltet!“ Der Diktator lächelt, nimmt das Gerät und zeigt seinem Gast das Bild eines toten Mannes.

Der Wanderer tritt einen Schritt zurück. „Kein schönes Bild“, versetzt er mit besorgtem Blick. „Und doch warn´ ich Dich, dem Glück zu trauen. Bedenke die Gefahr fremder Armeen, die sich an den Grenzen Deines Reiches versammeln!“

Da winkt der Diktator seinen Assistenten heran, der still am Rand der Dachterrasse gewartet hatte und nun ein Notebook aufklappt. Eine Tabelle erscheint auf dem Bildschirm. „Wir mögen 100.000 Männer verloren haben in unserem Kampf, aber wir können noch Millionen neue und bessere heranziehen,“ rechnet er vor. Dann mustert der Diktator seinen Ring. „Ich habe die Macht. Alles wird mir gefügig sein.“

Das Notebook piepst. Eine Pushmeldung des Geheimdienstes flackert auf. Der Diktator und sein Gast lesen sie: Die Länder, die dem Überfallenen zu Hilfe geeilt sind, liegen im Streit darüber, ob sie mehr Waffen liefern sollen oder besser nicht?

Der Diktator lacht laut auf. Doch der Gast erbleicht. „Dein Glück ist heute gut gelaunt“, stammelt er, „doch fürchte seinen Unbestand!“ Der Wanderer schreitet auf der Terrasse hin und her. Dann setzt er hinzu: „Kennst Du die Geschichte des Polykrates?“

„Na klar,“ antwortet der Diktator, „er beherrschte die Insel Samos, war reich und glücklich, und auf dem Höhepunkt seines Glücks warf er seinen liebsten Ring ins Meer.“

„Stimmt,“ bestätigt der Gast. „Er wollte die Götter besänftigen, falls sie zürnen ob seines Übermaßes an Glück. Aber Polykrates bekam den Ring zurück, weil am nächsten Tag ein Fisch gefangen wurde, in dessen Bauch er lag.“

Der Diktator grinst. Der Wanderer jedoch bleibt ernst. „Er war sich seines Glückes zu sicher. Bald schon danach wurde Polykrates in eine Falle gelockt und getötet.“

„Gute Geschichte“, antwortet der Diktator und macht eine wegwerfende Handbewegung. Dicht und drohend hält er den prächtigen Fingerschmuck seinem Gast vor das Gesicht. „Aber ich bin nicht Polykrates, und das hier ist nicht sein Ring. An die Götter der Griechen glaube ich nicht. Ich muss niemanden beschwichtigen, und deshalb würde ich auch niemals diesen wunderbaren Ring in ein Meer werfen.“

„Woher hast du ihn?“, flüstert der Gast.

„Erobert“, antwortet der Diktator schmallippig.

Wieder betrachtet er den Ring von allen Seiten. Er holt tief Luft, blickt in die Ferne. „Der Ring gehörte einst den Nibelungen, einem germanischen Sagenvolk. Es war ein schweres Stück Arbeit, ihn zu beschaffen. Ich musste Blut vergießen und töten, Verträge und Versprechen brechen, Frauen betrügen, Vertraute beiseite räumen.“

„Und nun?“

„Nun habe ich die Macht und den Reichtum, mein Land so erstrahlen zu lassen, wie es ihm gebührt. Ich werde den Willen fremder Länder brechen und sie unterwerfen. Generationen nach mir wird mein Volk mich noch bewundern und verehren.“ Der Diktator fixiert seinen Gast, und setzt dann hinzu: „Dieser Ring ermöglicht meine Taten, und meine Taten werden mich unsterblich machen.“

Wotan wendet sich ab. „So kann ich hier nicht ferner hausen“, raunt er leise. „Fort eil ich, nicht mit Dir zu sterben.“ Schnellen Schrittes strebt er der Treppe entgegen.

„Sterben? Ich bin nicht Polykrates!“ ruft ihm der Diktator trotzig hinterher.

Da ist der Gast schon nicht mehr zu sehen. Er stürmt in großen Schritten hinab vom Dach der Burg. „Mag sein,“ ruft er dem Diktator durch das Treppenhaus noch zu, „aber auch dieser Ring wird Dein Verderben sein.“

Schon erreicht der Wanderer den Ausgang des Schlosses, stürmt vorbei an den Wachen, täuscht die Kontrolleure, kurvt geschickt herum um die Sperren und Zäune, eilt hinab in die lebendige Stadt, wohl wissend, dass die Schergen des Diktators ihm auf den Fersen sind.

Atemlos erreicht er den großen Fluss, sucht ein Versteck und erlaubt sich einen verborgenen Moment der Rast. Wie lange mag sie gedauert haben? Immer wieder erwartet Wotan die Schritte und Schreie seiner Verfolger, aber schließlich hört er stattdessen anschwellendes Rauschen. Das Wasser des Flusses, der gerade eben noch lautlos dahinströmte, kräuselt und schäumt, steigt an, kocht und brodelt. Wogende Wellen schlagen erst sanft, dann heftig an das Ufer, schon ist die erste Straße überschwemmt, die vorbeifahrenden Autos bremsen und schlingern, Menschen springen heraus und suchen Rettung am höherliegenden Gemäuer. Aber das Wasser wird immer mehr, es steigt und steigt, tobt und wogt.

Auch den Wanderer erfassen die Fluten, eine unerbittliche Woge reißt ihn mit. Im Wasser treibend, ringend mit der Kraft der Elemente, blickt er hinauf. Lodernde Flammen schlagen aus der prachtvollen Burg, auf deren Dach er einst gestanden hatte, ein entsetzliches Inferno verschlingt dort die ganze Pracht des Diktators. Rauchende Trümmer stürzen hinab in den ansteigenden, alles mit sich reißenden Schwall.

Da schlägt ein harter, kleiner, fester Gegenstand im brodelnden Chaos der aufschäumenden Wassermassen gegen seine Hand. Wotan greift danach, verfehlt ihn, versucht es nochmals, kämpft gegen die tobenden Wellen, die ihn hinaustreiben in die neue Zeit. Nochmals greift er zu, und fischt dann das Kleinod aus dem Nass.

Er muss nicht überlegen. In weitem Bogen wirft er den Ring hinaus in die chaotische Sintflut, damit er für alle Zeiten unauffindbar verloren bleiben möge.

 

Diese Parabel ist meine persönliche Auseinandersetzung mit dem 1. Jahrestag des Beginns des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022. Sie spiegelt meine Hoffnung wieder, dass eines Tages das System stürzen wird, das diese Aggression zu verantworten hat. 

Die Vorstellung, Ringen könnten magische Kräfte innewohnen, fasziniert die Phantasie der Menschen schon seit der Antike bis heute (z.B. „Der Herr der Ringe“ von Tolkien). Die (nicht zeithistorisch belegbare) Geschichte über das Ring-Erlebnis des Polykrates wurde vom Antikendichter Herodot überliefert, der wenige Jahre nach dem Tyrannen Polykrates von Samos lebte (beide ca. 500 v.Chr.). Inspiriert zu meinem Text hat mich die auf Herodots Schilderung basierende, faszinierend schöne Ballade Friedrich Schillers über den „Ring des Polykrates“.

Auch der Besuch aller vier Vorstellungen des „Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner an der Oper Stuttgart trug dazu bei, mich an diese Ring-Parabel zu wagen. Als vollständiger Zyklus ist der Wagner-„Ring“ im Frühjahr in Stuttgart zweimal zu sehen: Vom 3. bis 12. März und vom 4. bis 10. April (jeweils an vier Abenden). Mehr dazu hier: https://www.staatsoper-stuttgart.de/spielplan/der-ring-des-nibelungen/

Für jeden Teil des neuen Stuttgarter „Ring“ habe ich eine verkürzte, moderne Inhaltszusammenfassung erstellt, und dabei auch meine Eindrücke und aktuellen Assoziationen zusammengefasst. Diese Texte finden Sie hier: 

Das Rheingold

Die Walküre

Siegfried

Götterdämmerung

 

 

 

 

 

Den Göttern sind die Zügel längst entglitten

Zur Neuinszenierung der „Götterdämmerung“ in Stuttgart 

Vier normale Geschichten

Vier ganz normale Geschichten aus dem ganz normalen Leben, das uns umgibt:

Die erste: Eine Frau und ein Mann lieben sich innig und aufrichtig. Der Mann bricht zu einer Dienstreise auf, über deren Notwendigkeit man streiten kann. Dort trifft er, bereitwillig, aber ungeplant, auf eine andere Frau, verliebt sich in diese und vergisst die zuvor eben noch erneut beteuerte Liebe. Als die Betrogene die Untreue erkennt, sinnt sie nach Rache.

Die zweite: Wer kennt nicht einen solchen Kollegen (und die männliche Form ist hier Absicht)? Ihm ging schon vorab der Ruf voraus, mit heldenhaften Fähigkeiten ausgestattet zu sein. Und tatsächlich: Er bringt das Unternehmen voran, alles geht ihm locker von der Hand, Probleme räumt er mutig beiseite, erzielt traumhafte Abschlüsse. Er wird zum Liebling der Unternehmensführung, steigt auf in der Hierarchie. Das alles bleibt nicht ohne Spuren in seinem Wesen, der schnelle Ruhm steigt ihm zu Kopf, er strotzt vor Übermut und Selbstgefallen. Sein Mangel an Demut führt zu seinem tiefen Sturz.

Die dritte: Der Bildschirm flimmert, und wir sehen den Bundeskanzler. „Vertrauen Sie mir und meiner Regierung!“, sagt er, als es um tödliche Waffen geht. Wenn uns ein Plan plausibel erscheint, vertrauen wir auf die Strategie der Mächtigen. Doch wir wissen auch: Die Probleme der Welt sind zu groß, als dass dieser einzelne Mensch sie alle allein kontrollieren könnte. Diejenigen, die sichtbar im Rampenlicht stehen, brauchen im Hintergrund stille Strategen, „Spin Doctors“, routinierte Handwerker der Macht.  Wenn dort geirrt wird, scheitert der ganze Plan. Wer dort irrt, wird zum Sündenbock.

Die vierte: Mit brachialer Wucht schlagen vermummte Männer auf die Vitrinen eines Museums ein. Sie rauben Schmuckstücke, die einzigartig sind auf dieser Welt. Sie wollen sie zersägen, einschmelzen, ihre Herkunft unkenntlich machen, damit sie verkauft werden können. Diese Männer wollen reich werden, weil sie glauben, dass Reichtum ihnen ein besseres Leben sichert. Nun sitzen sie in Handschellen vor Gericht.

Daniel Kirch (Siegfried), Patrick Zielke (Hagen) in der Stuttgarter „Götterdämmerung“: Der Held stolpert selbstverliebt in eine Intrige. Foto: Matthias Baus, bereitgestellt von Oper Stuttgart

 

 

Es sind mindestens diese vier Geschichten, die in der Oper „Götterdämmerung“ erzählt werden. Nichts von dem ist veraltet, was in diesem mehr als vier Stunden andauernden Werk (zzgl. Pausen) verhandelt wird. Dabei kommt keines der hier verwendeten Alltagsbilder in der Oper oder in der Stuttgarter Aufführung vor. Die Handlung der „Götterdämmerung“ ist mitten aus unserem Leben gegriffen. Und das, obwohl der Plot in einer frühgermanischen Sagenwelt angesiedelt ist und schon vor 150 Jahren als Musiktheater zu Papier gebracht wurde.

Ein komplexer Stoff. Hier eine Vereinfachung:

Der „Ring des Nibelungen“, ein Zyklus aus vier Opernabenden, komponiert und geschrieben von Richard Wagner, ist kein leicht verdaulicher Stoff. Das gilt auch für den vierten und letzten Abend. Vereinfachung tut daher dem Verständnis der Handlung gut.  Sie lässt sich in etwa so erzählen:

Siegfried, der Enkel des Göttervaters Wotan (und der Held des nach ihm benannten dritten Teils im „Ring“), ist nahezu unverletzlich, furchtlos, und stürmisch verliebt in die Gottestochter Brünhilde (die Heldin des zweiten Teils mit dem Titel „Die Walküre“). Zudem hat Siegfried durch Raub und Mord jenen Ring erobert, der ihm Macht über Himmel und Erde und unermesslichen Reichtum verspricht, der aber allen Besitzern zuvor nur Unglück eingebracht hat.

Nun bricht Siegfried auf zu neuen Heldentaten. Verwöhnt von seiner nahezu vollständigen Unverletzlichkeit stolpert er furchtlos, selbstverliebt und tölpelhaft in eine Intrige. Er gerät mehr oder weniger zufällig in die Fänge der Herrscherclique der Gibichungen, einem germanischen Sagenvolk am Rhein. Deren Chef Gunther schmeichelt ihm, denn er sucht zur gesicherten Erbfolge eine Frau, und Siegfrieds schöne und starke Brünhilde wäre ihm da gerade recht. Gunthers Halbbruder Hagen ist loyal zu seinem Herrscher, aber strategisch kompetenter als dieser, und zudem von der verwandtschaftlichen Zurücksetzung dauergekränkt. Er gibt sich nicht mit der Frauenfrage ab, sondern strebt nach dem mächtigen Ring des Siegfried.

Für beide Vorhaben hat Hagen den passenden Plan. Er veranlasst mittels eines Zaubertranks, dass Siegfried seine Brünhilde vergisst, und sich stattdessen in Gunthers Schwester verliebt. Siegfried macht begeistert mit. Wenig überraschend ist Brünhilde über den Verrat ihres Geliebten empört. Sie sinnt nach Rache. Wütend liefert sie ihren treulosen Gatten dem Tod aus, indem sie Siegfrieds einzige Schwachstelle, den Ort seiner Verletzlichkeit, verrät.

Hagen hatte genau dies erwartet, sein Plan geht auf. Er nutzt die erste Gelegenheit, dem Heldenleben Siegfrieds ein Ende zu setzen. Kaum ist der aber tot, geraten die an der Intrige Beteiligten in tödlichen Streit um den Ring. Ruhe kehrt erst ein, nachdem der Ring, dieser Auslöser des ganzen Ärgers, zurück in den Rhein geworfen wurde, wo er einst geraubt worden war (das war die Handlung des ersten Teils: „Das Rheingold“).

Am Ende ist alles wie am Anfang

Am Ende der vier Abende ist also nach rund 16 Stunden Musik und Drama fast alles wieder so wie am Anfang. Eine Gesamtaufführung des „Ring“, wie sie für das Frühjahr in Stuttgart auf dem Spielplan steht, noch dazu weitgehend als Neuinszenierung, ist ein Großereignis, aber auch eine sichere Bank für jedes Opernhaus. Menschen fahren durch halbe Kontinente, um einen ganzen „Ring“ zu erleben. Warum? Es ist einmal die rauschhafte Musik, die auch wie ein Zaubertrank wirkt und fast alles vergessen lässt, was man gegen Richard Wagner als Person vorbringen kann und muss: Sein unerträgliches Frauenbild, seine antisemitische Haltung, sein hochproblematischer Charakter.

Tumult bei den Gibichungen, aber der Handwerker der Macht scheint alles im Griff zu haben. Auf dem Bild: Patrick Zielke (Hagen), Staatsopernchor Stuttgart; Foto: Matthias Baus, bereitgestellt von Oper Stuttgart

Und dann ist da jedes Mal neu die Frage: Was machen moderne Regisseure aus diesem Stoff? Die Stuttgarter Neuinszenierung der „Götterdämmerung“ strotzt mit vielen, auch originellen Einfällen, mit deren Hilfe die Spannung erhalten bleibt und das lange Werk immer wieder ausgesprochen unterhaltsam ist. Manche Figuren dieser halb göttlichen, halb menschlichen Sagenwelt werden so ironisch gezeichnet, dass das ganze Pathos des Textes der Lächerlichkeit preisgegeben wird.

Ironie macht Absurdes erträglich

Das ist einerseits gut so, denn manches, was man da mitlesen kann, ist inhaltlich schwer erträglich. Die Regie des Teams um Marco Storman nimmt dem Text und Teilen der Handlung ihre Absurdität, die ein aufgeklärter Opernbesucher trotz musikalischer Rausch-Betäubung nicht ignorieren kann. In Stuttgart spottet die Regie über Wagners Heldenbegeisterung und legt doch den Kern der ganzen Werkidee erbarmungslos offen: die selbstverliebte Dürftigkeit, mit der wir Menschen uns immer wieder aufs Neue in den ewigen Kreislaufs aus Eitelkeit, Neid, Verrat und Machtstreben stürzen.

Andererseits ist nicht jede Inszenierungsidee überzeugend, allzu viel Bühnenrauch vernebelt grundlos die Szene, zu viele Gemälde werden unerklärt hin- und hergetragen, und ein herbeirollendes Einhorn kurz vor Schluss ist fragwürdig auf der Kitsch-Spur zu verorten. Immerhin, auf billige Aktualisierungen wird weitgehend verzichtet, Bühnenbild und Kostüme bleiben meist mystisch-zeitlos. Die chaotischen Szenen des zweiten Aktes sind als mahnende Anspielung auf den Sturm des Kapitols von Washington vor zwei Jahren zu deuten (so Marco Storman in einem Interview im Programmheft). Und wer möchte, kann auch den Einfall, dass sich die brüskierte, um ihre Liebe beraubte Brünhilde die Haare abschneidet, als aktuellen politischen Bezug deuten.

Muss Walhall brennen? Längst nicht mehr.

Insgesamt stehen aber das Menschliche und seine Gefühlswelt im Mittelpunkt dieser Interpretation. Vom Göttervater Wotan, der im Rheingold noch mächtig war, sind in der „Götterdämmerung“ nur noch Schilderung über seinen depressiven Zustand zu hören. Die Zügel über den Verlauf des Geschehens sind ihm längst entglitten. Damit es eine „Götterdämmerung“ wird, soll nach dem Willen Richard Wagners (so seine Regieanweisung) zum Ende der Rhein rauschen und über seine Ufer treten. Dann soll ein Flammenmeer auflodern, das nicht nur Brünhilde und den toten Siegfried verschlingt, sondern auch die in der Ferne liegende (und im „Rheingold“ frisch bezogene) Götterburg „Walhall“ gleich mit.

Wie realisiert man solches Unmögliches? Das ist die spannende Preisfrage am Ende jeder neuen „Götterdämmerung“. In Stuttgart hat Storman für den Schluss wirkmächtige Bilder gefunden, die wenig mit Wagners Fantasien zu tun haben. Es ist ein Ende, das so intim wie dramatisch schön ist, dass man es hier nicht verraten darf. In einer Zeit, in der das Göttliche wenig Konjunktur hat, wird das Opernpublikum betäubt, beschwingt, hoffnungstrunken in unsere Welt entlassen, für deren weitere Ausgestaltung nur wir, und keine Götter, verantwortlich sind.

 

Die „Götterdämmerung“ ist am 12. März und 10. April 2023 jeweils als Teil eines ganzen „Ring“-Zyklus in Stuttgart zu sehen. Nähere Informationen bei der Oper Stuttgart: https://www.staatsoper-stuttgart.de/spielplan/a-z/goetterdaemmerung/

Zu den anderen Teile des „Ring des Nibelungen“ gibt es ebenfalls Texte von mir als #Kulturflaneur:

Das Rheingold

Die Walküre

Siegfried

Dieser Text erhebt nicht den Anspruch einer Aufführungskritik. Mein Fokus liegt ausschließlich auf dem (kultur-)politischen Aktualitätsbezug von Werk und Inszenierung. Daher gibt es in diesem Text auch nur Bemerkungen zur Konzeption der Inszenierung, nicht zu den Leistungen von Sänger/innen und Orchester.

Gesehen habe ich die Generalprobe am 26. Januar und die Premiere am 29. Januar 2023. 

 

 

 

Schiller war schon in Sindelfingen

Eine kurze Reise zu zwei Buchstaben-Erlebnissen

Briefe, überall Briefe. Es ist wie aus der Zeit gefallen, was da zu besichtigen ist auf der Bühne des Stuttgarter Schauspielhauses. Denn wer schreibt noch Briefe? Ein paar Worte, einen Gedanken, etwas Persönliches auf ein Blatt Papier zu ver-„ewigen“ (was für ein Wort!), es damit einzigartig zu machen, unveränderbar, nicht weiterleitbar mit ein paar Klicks, sondern es in einen Umschlag zu stecken, ihn zu verschließen und darauf zu hoffen, dass das Gegenüber erreicht wird, vielleicht tagelang warten und bangen, wie es reagiert – wer macht das noch?

Briefe, überall Briefe: Szene aus der aktuellen Inszenierung von „Don Carlos“ im Schauspiel Stuttgart (Frida-Lovisa Hamann (Elisabeth), Matthias Leja (Philipp II.) Foto: Thomas Aurin, bereitgestellt von Schauspiel Stuttgart

Dem Theaterfreund wird das ganz nebenbei vor Augen geführt in der neuen Inszenierung von Schillers Klassiker „Don Carlos“, verantwortet vom Regieteam um David Bösch. Das „dramatische Gedicht“ von Friedrich Schiller ist fast 250 Jahre alt, und die kommunikativen Optionen von heute waren nicht vorstellbar. Wer nicht sprechen wollte oder konnte, musste Briefe schreiben. Also gibt es eine Szene, in der die ganze Bühne übersät ist von Briefen. Mit den Briefen treibt Schiller die Handlung voran, sie sind Trigger des weiteren Geschehens, lösen bei Empfängern jubelnde Begeisterung oder kochende Wut aus, stacheln an zu neuen Briefen, die dann ihrerseits ihre Wirkung erzielen. Viele davon sind keine langen, klug durchdachten Briefe, oft sind es schnell hingekritzelte Zeilen: Hier eine geheime Einladung, dort ein schmachtendes Geständnis, da ein giftiger Verdacht, ein Verrat sogar, Teil einer bösen Intrige.

Scharfsinniges Psychogramm

Schillers „Don Carlos“ ist ein vielschichtiger Stoff und soll hier gewiss nicht auf die Rolle der Briefe reduziert werden. Das scharfsinnige, hochaktuelle Psychogramm eines Konfliktes zwischen Alt und Jung, auch zwischen Liebe und Vernunft, das in Stuttgart aus diesem alten Stoff herausgearbeitet wurde, muss man selbst erleben. Ein Abend für Genießer klug gesetzter Worte!

Und so ist es auch eine schmale Brücke, über die zu gehen mit diesen Zeilen eingeladen wird, wenn die heutige Entsprechung zu den Briefen in Schillers Welt von einst gesucht wird. Die Verbindung besteht aus dem Rohmaterial, den 30 Buchstaben des deutschen Alphabets, denn daraus formte schon damals und bis heute ein jeder Mensch den Sinn seiner Worte. Frau wie Mann kann damit zart berühren, tief verletzen, klug informieren. Die Buchstaben sind es, aus dem gleichermaßen ein nachdenklicher Theaterabend werden kann, oder eine unverständliche Gebrauchsanleitung, oder auch ein vernichtender Streit, ein geflüstertes Geständnis.

Schnell ist das böse Wort gebildet

Friedrich Schiller brauchte vier Jahre für seinen „Don Carlos“, aber die vielen Briefe in seinem Drama beweisen: Schon damals wurde aus den Buchstaben schnell das böse Wort gebildet, eilig, vielleicht auch unüberlegt, hingeworfen auf ein Blatt Papier. Heute, schnell hineingetippt in den virtuellen Raum, bleiben sie dort erhalten, lassen sich nicht zerknüllen oder verbrennen, sondern krallen sich fest im digitalen Gedächtnis, haben Beweiskraft und Vernichtungsenergie. Und wer weiß schon, wer noch zuhört oder mitliest? Auch ganz öffentlich werfen sich in sozialen Medien die Menschen manches Lob, viel Spott, oft abwertende und verletzende Kommentare zu, halten fest an unerbittlichem Beharren auf die eigene Sicht der Welt und dokumentieren selbstverliebt ihre Weigerung, einfach einmal zuzuhören.

Aus Buchstaben wurden schon immer erhebend schöne, genauso wie hässlich verletzende Worte gebildet. Aber vor 250 Jahren gab weniger Menschen auf der Welt, viele konnten gar nicht schreiben, und wenn doch, hatten ihre Briefe meist nur einen einzigen Adressaten. Heute dröhnt uns das lärmende Dauergetöse Tinnitus-gleich in den Ohren, ein stetes Rauschen und Pfeifen und Stampfen aus Buchstaben, Worten und Sätzen.

Wo herrscht Stille? In Sindelfingen.

Wo also herrscht ein Moment der Ruhe in diesen lauten Zeiten? In Sindelfingen. Und zwar in einem Raum, der voller Buchstaben ist, und in dem gerade deshalb jede hitzige Debatte verstummt. Eine Halle des „Schauwerk“ war einmal ein industrielles Hochregallager, ein hochkant gestellter Quader. Seine fünfzehn Höhenmeter, seine luftigen 130 Quadratmeter Grundfläche sind heute schmucklos weiß ausgepinselt und raffiniert ausgeleuchtet. Den Quader kann man in seiner ganzen Höhe ersteigen. Entlang der fensterlosen Wände schraubt sich der Weg sanft und schneckengleich der dunklen Decke entgegen.

„Silent Word“, eine Installation von Chiharu Shiota im Schauwerk Sindelfingen – ein erstarrter Strom der Inspiration.

Aber warum dort hinauf, da doch schon der erste Blick genügt für die Überwältigung, die stumm macht in unserer lauten Zeit, allenfalls ein Flüstern duldet? Ein schmucker Schreibsekretär steht da in der Mitte der Grundfläche, aufgeklappt, schreibbereit, ein Stuhl dazu, locker zur Seite geschoben.

Der Platz zum Schreiben ist schon belegt

Der Stuhl ist leer, und auch der Schreibplatz trägt kein Schreibgerät, kein Notebook, keine Schreibmaschine, nicht einmal Papier und Stift sind zu sehen. Der Platz fürs Schreiben ist schon belegt von Buchstaben und noch dazu unbenutzbar eingesponnen. Überall Fäden, hunderte, vielleicht tausend, wie ein erstarrter Regen ergießen sie sich hinab aus der dunklen Höhe des Raumes. An den Schnüren verharren die Buchstaben in ihrem Hinabgleiten, lautlos wie Schneeflocken, wie schwankendes Herbstlaub. Sie kommen aus der Decke, füllen den ganzen Raum bis hinauf in seine äußerste, von unten kaum ergründliche Höhe.

Also doch hinauf! Vorbei an diesem erstarrten Strom der Inspiration. Ganz oben unter der schwarzen Decke des Quaders scheinen die Buchstaben noch größer zu sein und der Schreibplatz unten ganz klein. In der Installation „Silent Word“ der japanischen Künstlerin Chiharu Shiota füllen die Lettern den ganzen hohen Raum bis hinab zum Boden, wo sie verwendungslos liegengeblieben sind.

„Meine Worte sind lautlos“, sagt die in Berlin lebende Künstlerin über ihr Werk. Wer sich also zutraut, aus den Buchstaben etwas zu formen, das es Wert ist, diese Stille zu durchbrechen, der setze sich an diesen oder einen anderen Schreibtisch. Wie es scheint, war Schiller war schon da.

 

 

„Don Carlos“ von Friedrich Schiller am Schauspiel Stuttgart hatte in einer modernisierten, gekürzten Fassung am 14. Januar 2023 Premiere. Zahlreiche weitere Aufführungen sind für Februar und März 2023 geplant: https://www.schauspiel-stuttgart.de/spielplan/monatsplan/don-carlos-/5949/

 

Das stille, raumgreifende Sprach-Kunstwerk „Silent Word“ von Chiharu Shiota ist noch bis 8. Oktober 2023 in Sindelfingen im „Schauwerk“ zu besichtigen, dem privaten Museum der Sammlung Schaufler:  https://www.schauwerk-sindelfingen.de/de/

 

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

 

 

 

Wo ist sie hin? – Ein Rätsel in Tierbildern

Während der Böller-Krawalle in der Silvesternacht war eine menschliche Empfindung auf der Flucht. Welche? 

 

Sie kann eine Löwin sein.

Sie kann ihre Kinder entschlossen behüten und verteidigen, damit sie selbst großartige Löwinnen und Löwen werden. Sie kann drohend fauchen und laut brüllen. Sie kann Respekt einflößen. Überwältigt davon sinkt dann manches Gegenüber zu Boden, sackt der Widerstand in Sekundenschnelle in sich zusammen, resigniert die Gegenwehr, sucht Rettung in der klugen Unterwerfung. Sie kann eine mächtige Löwin sein.

Sie kann so mächtig sein wie eine Löwin … (Foto: Rupal Vaidya from Ahmedabad, India – Her Highness, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8643131

 

Sie kann ein Schmetterling sein,

der mal hier, mal dort eine Blüte besucht und befruchtet, wie zufällig dahinflattert über die bunte Wiese. Und dort, wo der federleichte Flatterling sich nur sekundenlang niedergelassen hatte, dort wächst schon ein paar Wochen später wundergleich die köstliche Frucht. Sie kann ein luftiger Schmetterling sein.

Sie kann sein wie ein scheues Reh.

Lautlos leise, den wachen Blick, das gespitzte Ohr, die witternde Nase stets in der Luft, weiß sie um die Gefahr in dieser Welt. Braucht das Reh den lauten Knall, den Schuss, um davonzuspringen in die schützende Tiefe des Gebüschs? Nein, schon ein leises Knacken genügt, und da ist es fort. Sie kann fliehen wie ein scheues Reh.

Ihr kann es ergehen wie einem Wurm.

Ein ganzes Leben lang wühlt sie sich durch die dunkle Krume unseres inneren Untergrunds, immer weiter, ringelnd und schlängelnd vorbei an Hindernissen, den Wurzeln ausweichend, die Hohlräume nutzend. Hauptsache: geschützt, weil unsichtbar! Doch was passiert mit dem Wurm, wenn es schüttet, wenn das triefende Nass alles durchtränkt, wenn der Wurm zu ertrinken droht im Erdreich? Dann muss er hinaus und hinauf. Wehrlos nackt und ohne jeden Schutz liegt er auf dem Teer, billiges Futter für die Vögel, bald zermatscht unter den Schuhen der Achtlosen. Sie könnte auch ein Wurm sein.

Sie kann ein Pfau sein.

… und von so flüchtiger Schönheit wie ein Pfau.

Zum gewaltigen Rad schwingt er sich auf: Hinauf in die Luft mit dem absurd überlangen, zum Fliegen viel zu schweren Federkleid, das alle Verlockungen der Freiheit so bitter hemmt! Dann glitzert und schillert seine halbrunde Pracht im Sonnenlicht, und auch sie lockt mit ihrer bunten Schönheit in alle Richtungen. Doch schon bald ist es vorbei damit. Unter dem bösen Druck des Egoismus erlahmen ihre Muskeln. Dann sinkt ihre flüchtige Schönheit zusammen und wird wieder zur schweren, langen Schleppe, nutzlos und hinderlich. Traurig schleicht sie davon wie ein Pfau.

Sie kann ein Brauereipferd sein.

Tag um Tag, Woche um Woche, Jahr um Jahr zieht es die schweren Wagen mit den Fässern des fröhlichen Treibens, klaglos und treu. Wie das Kaltblut sorgt sie unaufgeregt für steten Nachschub, damit unser Durst gestillt wird nach noch mehr gesellschaftlichem Frohsinn, damit der Traum von der Schwerelosigkeit des Lebens lebendig bleibt. Das langsam stetig dahintrottende Pferd sehen wir kaum, es ist nicht Teil unserer Hoffnung auf ein gutes Miteinander. Aber es zieht die schwere Last, die sie erst ermöglicht. Sie könnte auch ein Brauereipferd sein.

Wo ist sie hin?

Davongestoben wie das scheue Reh war sie längst, als mancherorts das Dynamit des Frohsinns die Stille der Nacht zerriss. Sie war schon fort, weit fort, als erst noch das kleine, funkensprühende Zündrädchen am Feuerzeug kratzte. Der Lärm der Nacht zum Jahreswechsel hatte sich für sie angefühlt wie jener Sintflut-gleiche Regenguss für den Wurm. Sie hatte es nicht mehr ausgehalten im Untergrund. Nackt und wehrlos war sie herausgekrochen, notgedrungen zur falschen Zeit, in diese Welt von Krach und Gewalt und Rücksichtslosigkeit. Da war sie gelegen, glitschig und verletzlich, wie neu geboren, und hatte mit ihrer puren Existenz die harten Herzen und dummen Köpfe gestört. Sie war zu unwichtig gewesen, um lästig zu sein. So war sie zertreten, gefressen, getötet worden.

Wo ist sie hin? Immerhin, es gab auch nach dieser Nacht einen Morgen. Verkatert rieb sich die Gesellschaft die Augen des kurzen Schlafes, als das Brauereipferd müden Schrittes an ihr vorbeistapfte. Wieder zog es die übliche schwere Last. Auch das brave Tier hatte schreckhaft gelitten unter der unerklärlichen Knallerei. Aber es hatte gewusst, dass auch dieser Torkel der lauten Töne und des blitzenden Lichts vorübergehen würde. So wie das Pferd kannte auch sie das hohle Glücksversprechen des trunkenen Jubels nur allzu gut, dass es vorübergehen wird und oft gar in Dummheit und Enttäuschung endet. Trotz allem, was geschehen war, würde sie es auch im neuen Jahr wieder dem geduldigen Pferd gleichtun, Tag ein, Tag aus, damit die Menschen sich vertragen können in Fröhlichkeit.

Wo ist sie hin?

Viel zu warm ist es, kein Schnee, kein Frost zu Beginn dieses neuen Jahres! Flattert da nicht schon ein früher Schmetterling durch die laue Neujahrsluft? Besucht er da nicht, bunt glänzend, federleicht schwebend, schon jetzt die Blüten der Unzeit, die herausleuchten aus dem fahlen Grün der Winterwiesen, die doch eigentlich vom Schnee bedeckt sein sollten? Schon haben die Menschen den Lärm des Gestern vergessen. Sie blicken auf den Schmetterling und hoffen wohlfeil auf die Früchte, die sie morgen ernten wollen.

Doch da, ta tü, ta ta! Ohrenbetäubend lärmt das Feuerwehrauto um die Ecke. Drängend kommt es angebraust, fordert Platz ein und Aufmerksamkeit, schlägt pfauengleich sein Rad der Wichtigkeit, lässt es leuchten und blinken und glitzern. Noch sind die Spuren der letzten Nacht zu sehen an diesem stolzen Gefährt. Noch schwärzt der Ruß der Explosionen die Flanke seines Signalfarben-Gefieders, noch sind die Splitter auf den Seitenscheiben nur abgeklebt, nicht erneuert. Denn am Morgen danach war noch keine Zeit für solche Eitelkeit.

Da ist sie ja!

Eine Löwin steuert den mächtigen Wagen, der noch in der Nacht zuvor so verletzlich gewesen war. Konzentriert, klug, zielstrebig sucht sie ihren Weg. Sie ist hier nicht zu ihrem Vergnügen unterwegs. Schon wieder muss sie Leben retten, einen Brand löschen, Menschen herausholen aus ihrer Angst. Die Löwin faucht und brüllt, und alle tummeln sich zur Seite, die Klugen und Einsichtigen sowieso, die Gleichgültigen nun auch, und jetzt, bei Licht, sogar die meisten Trunkenen und Verblendeten der Nacht. Es ist ihnen wieder eingefallen: Der entschlossene Sprung der Löwin, die zur Hilfe kommt, könnte auch ihnen selbst gelten.

Sie kann eben auch eine Löwin sein – die Empathie.

 

 

Der Begriff „Empathie“ beschreibt die Fähigkeit und Bereitschaft, sich in einen anderen Menchen hineinzuversetzen. Ganz gewiss ist empathisches Verhalten so alt wie die Menschheit selbst, auch höher entwickelten Tieren wird Empathie nachgesagt.

Wortverlaufskurve ab 1946
Ein Begriff verändert unser Denken: Die Wortverlaufskurve von „Empathie“ seit 1945 in Deutschland. Quelle: DWDS-Wortverlaufskurve für „{‚Empathie‘,’Emphathie‘}“, erstellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, <https://www.dwds.de/r/plot/?view=1&corpus=zeitungenxl&norm=date%2Bclass&smooth=spline&genres=0&grand=1&slice=1&prune=0&window=3&wbase=0&logavg=0&logscale=0&xrange=1946%3A2022&q1=%7B’Empathie’%2C’Emphathie’%7D>, abgerufen am 11.1.2023.

Der Begriff selbst ist aber modern; erstmals taucht er in der wissenschaftlichen Literatur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf. Die Statistik des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache (DWDS), zeigt, dass „Empathie“ im deutschen Sprachgebrauch bis in die Mitte der 1970er Jahre praktisch keine Rolle spielte. Dass es kein Zufall oder gar allgemeiner Standard des menschlichen Miteinanders ist, sich in einen anderen hineinzuversetzen, gehört erst seit rund fünfzig Jahren, dann aber mit großer Dynamik, zum gesellschaftlichen Diskurs in Deutschland. Seither gilt Empathie als wichtiger Schlüssel für das Verständnis unseres Zusammenlebens.

Auch über die unmittelbare zwischenmenschliche Begegnung hinaus kann Empathie eine starke ordnende Kraft sein: Es ist un-empathisch, da es die Allgemeinheit schädigt, mit falschen Angaben Steuern zu sparen oder die Haushaltshilfe illegal zu beschäftigen. Wer Müll einfach am Straßenrand liegen lässt, zehrt von der sicheren Erwartung, dass sich schon ein anderer darum kümmern wird. Für diesen anderen aber gehört die Beseitigung willkürlich weggeworfener Gegenstände – anders vielleicht als das Leeren eines bereitgestellten Mülleimers – nicht zu seinen Kernaufgaben. Es ist also rücksichtslos, aber auch un-empathisch, so zu handeln.

Wer wachen Auges durch unsere Zeit geht, wer in der Welt der Ich-Bezogenheit wach flaniert, findet unermesslich viele Beispiel für wärmende Empathie im Umgang miteinander, Hilfsbereitschaft und Altruismus – aber eben leider auch für un-empathisches Verhalten, das sich ganz leicht, mit einem Gedanken mehr, einem zusätzlichen Handgriff vermeiden ließe.

Aber leider ist Empathielosigkeit „salonfähig geworden in unseren Tagen“, wie die Neurowissenschaftlerin Grit Hein von der Universität Würzburg in einem klugen Interview mit dem Deutschlandfunk sagte. Dann wird die mächtige Löwin zum schutzlosen Wurm.

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Der Paradiesbaum – Eine Weihnachtsgeschichte

Es war noch dunkel draußen, …

… als Melli aufwachte. Das kalte Licht der Straßenlaterne tauchte das Schlafzimmer in dumpfen Dämmer: der Wäscheständer, der längst hätte abgeräumt werden müssen; der Kleiderschrank, eine Tür war offen stehen geblieben gestern Abend. Die Wand mit den Fotos, lange nicht mehr hingeschaut. Lautes Scharren hatte sie geweckt, ein Kratzen, Stoßen, dann wieder das Scharren – Melli brauchte einen Moment, bis sie das störende Geräusch deuten konnte. Es kam von draußen, durch das zur Hälfte gekippte Fenster. Schippte da auf dem Gehweg der Hausmeister Schnee? Richtig, fiel es Melli jetzt ein, gestern Abend hatte es geheißen, dass es schneien sollte in dieser Nacht.

Der Weihnachtsbaum vor dem Rathaus in Stuttgart-Zuffenhausen.

 

 

Melli tastete mit ihrer rechten Hand durch das Bett. Sie spürte den Haarschopf ihrer Tochter, das vertraute Gewühl, darunter die beruhigend warme Kopfhaut. Kurz schloss Melli noch einmal die Augen. Irgendwann in der Nacht musste Selma in ihr Bett gekrochen sein, wie sie es fast immer machte. Melli hatte davon nichts bemerkt. Wie tief muss sie geschlafen haben? Was hätte das Kind wohl noch anstellen können in der Wohnung, wenn sie nicht mal bemerkt hatte, dass es zu ihr ins Bett schlüpfte? Melli verscheuchte den beängstigenden Gedanken.  Sie wendete ihren Kopf herum und blickte auf ihre Tochter, die da lag und fest schlief. Halb aufgedeckt. Ganz sachte hob und senkte sich der kindliche Brustkorb. Zu hören war nichts. Eine Welle von Zuneigung überschwappte sie. Vom Nachttisch leuchteten die Ziffern des Weckers herüber, eine 6 und eine 35.

Draußen scharrte es weiter. Melli wagte sich aus dem Bett, sofort stellte die Winterkälte an ihrem ganzen Körper die Gänsehaut auf. Melli schloss das Fenster, drehte die Heizung auf und kehrte ins Bett zurück. Noch fünf Minuten, dachte sie sich, und zog ihre Bettdecke bis unter ihr Kinn, kehrte zurück in ihre eigene wohlige Wärme. Die Ziffern lauteten jetzt: 6 und 38.

Ganz langsam, Stück für Stück, …

… krochen ihre Gedanken heraus aus der warmen Narkose des Schlafes, hinein in Mellis Bewusstsein. Ihr stand ein weiterer Tag voller Mühsal und Verpflichtungen bevor. Melli strengte sich an, das Bevorstehende positiv zu sehen, jetzt und hier im warmen Bett, neben ihrem friedlich schlafenden Kind. Du darfst doch hier noch liegen, was plagt dich also? Die angelernten Sätze aus der Mutter-Kind-Kur vom letzten Winter stellten sich tapfer ihrem eigenen Missmut in den Weg. Aber die positive Wendung gelang ihr nur halbherzig. Gleich würde sie ihr Kind wecken und aus dem Bett scheuchen müssen. Sie würde sich selbst und ihre Vierjährige zur Eile zwingen, damit sie rechtzeitig die Straßenbahn erreichen konnte. Nebenbei ein flüchtiges, gehetztes Frühstück, sinnloses Hin und Her über den Inhalt der Brotzeitbox für die Kita: Banane? Nein. Ein Käsebrot? Nein. Was also dann? Doch ein Käsebrot.

Melli hasste es, aufzustehen, wenn es dunkel war, und wenn es kalt war, erst recht. Deshalb war sie immer zu spät dran, und wenn ihre Tochter dann noch quengelte, herumtrödelte, was sie fast jeden Morgen tat, drögen Widerstand leistete – dann hasste Melli auch ihr ganzes von solcher freudlosen Nörgelei dominiertes Alleinerziehenden-Leben, diese immer wiederkehrende, auch noch – ja, ja! – selbstverschuldete Hetze, diesen täglichen Alltagskampf, alle diese lieblosen Worte, die er hervorbrachte. Immerhin, für diese Woche war es die letzte Schlacht dieser Art, denn morgen war Heiligabend, die Kita würde geschlossen sein, und sie würde nicht zur Arbeit müssen. Den stressigen Heiligabenddienst hatte sie an ihre älteren Kolleginnen abdrücken können, wenigstens ein Vorteil, wenn man allein für ein Kind sorgen musste.

Pieppieppiep! Der Wecker scheuchte Melli aus ihren Gedanken. Die Ziffern zeigten 6 und 45. Eilig beugte sie sich über ihr Kind hinweg zum Nachttisch und brachte den lästigen Apparat zum Schweigen. Das Scharren vor dem Fenster hatte aufgehört.

Noch eine Minute, …

… dachte Melli. Weihnachten! Ja, das stand auch noch an. Groß zu feiern gab es für sie nichts, mit dem ganzen weihnachtlichen Romantik-Kram konnte sie ohnehin wenig anfangen. Ihre Mutter lebte weit weg und im Pflegeheim, ihr Vater war bereits tot. Sie musste an Jo denken, ihren Ex, „Jo, der Spinner“, wie sie Selmas Vater nannte. Schon seit Wochen hatte er sich nicht mehr gemeldet.

Jo war eigentlich ein netter Kerl gewesen, humorvoll, aber eben ein Spinner, ein Graffitti-Künstler, immer arbeitslos, weil er es nirgends aushielt, Kettenraucher. Ein Mann für den bodenlosen Glücksmoment, für das Fallenlassen, aber nicht fürs Leben. Kaum war Selma auf der Welt, war es nicht mehr auszuhalten gewesen mit dem Mann, der ging, wann er wollte, und wenn er zurückkam, bestialisch nach seinen Spraydosen stank. Er lag ihr auf der Tasche und qualmte die Wohnung voll. Er hatte einen guten Charakter, aber keinen dazu passenden Willen, er tat ihr nichts, aber er zehrte von ihrer Lebenskraft, anstatt sie zu mehren. „Ein Energie-Vampir“, hatte ihre Therapeutin in der Kur gesagt, und das traf es gut. Selma war ein halbes Jahr alt, als Melli ihn rausgeworfen hatte. Er meldete sich immer wieder mal, um seine Tochter zu besuchen, für ein, zwei Stunden. Immerhin bekam sie regelmäßig den Unterhalt für Selma, immer pünktlich überwiesen von Jos Vater, Selmas Opa. Melli überlegte, ob heute wohl noch ein Paket von Jo mit einem Geschenk für Selma eintreffen würde. Oder von ihren Großeltern?

Irgendwann heute oder morgen …

…. wollte sie auch noch ein Lebkuchenhaus backen für Selma, als Überraschung. Vielleicht heute Nacht, wenn Selma endlich eingeschlafen sein würde, erschöpft von einem weiteren Tag voller Eindrücke, überfüllt von Abenteuern, dem Weihnachtsmann in der Kita, dem Abschiedsfest, dem Auftritt mit den Liedern, die sie seit Tagen übte.

Die Digitalanzeige des Weckers sprang auf 6:52. „Scheiße, wieder zu spät!“, rief Melli und sprang entschlossen aus dem Bett. „Guten Morgen, Schluss mit Schlafen!“, rief sie ihrer Tochter laut zu. Das Licht im Schlafzimmer schmerzte sie in ihren Augen. Selma tat so, als habe sie nichts bemerkt. Es wird ihr nichts nützen, dachte sich Melli, stellte das Radio im Flur an und drehte den Lautstärkeregler so weit nach rechts, dass die Musik in der ganzen Wohnung gut zu hören war.  „I´m dreaming of a white chrismas“, schmachtete Bing Crosby durch die knapp fünfzig Quadratmeter ihres Lebens.

„Darf er träumen!“ Die Stimme des Moderators tönte fröhlich und wach. „Denn diesmal gibt´s weiße Weihnachten! Draußen hat es heute Nacht geschneit, Leute, also raus aus den Federn, die weiße Welt wartet auf Euch!“ Der Sender dudelte seit Tagen Weihnachtsmusik – Jingle Bells, Last Chrismas, jetzt eben den Traum von der weißen Weihnacht. Pappsüßer Weihnachtskitsch in einer Tour, unterbrochen von immer der gleichen Werbung. Für edle Schokolade, ausladende Festessen, Schmuck, Parfüm. Nichts davon hatte mit Mellis Welt zu tun. Sie lebte von ihrer Arbeit und dem Unterhalt, den Selmas Großvater bezahlte. Für die kleine Sozialwohnung bekam sie Wohngeld, dazu das Kindergeld – das alles zusammen musste gerade mal so reichen für ein bescheidenes Leben.

„Hey, Leute, frisch auf in den Morgen, es ist 6 Uhr 55, und nur noch ein Tag bis Weihnachten“, drängte sich der Radiomoderator zwischen die Töne.

*********

Der Tag verlief genauso, ….

… wie Melli es befürchtet hatte. Sie hatte alle Überredungskunst und schließlich auch grobe Kommandos benötigt, um Selma aus dem warmen Bett zu locken. Es gab alle erwarteten Debatten um Kleidung („Nein, nicht die rote Hose, nein, nicht diese Schuhe“) und die Brotzeitbox. Bockig hatte Selma sogar behauptet, heute gar nicht in die Kita gehen zu wollen. Nicht einmal der Schnee vor der Tür hatte sie zur angemessenen Eile motiviert. Schließlich hatte sie ihr Kind doch noch in die – wie an jedem Morgen – nach kalten Kinderschuhen müffelnde Kita bugsiert. Dann war ihre Straßenbahn im Verkehr stecken geblieben, im letzten noch akzeptablen Moment hatte sie ihre Backwaren-Verkaufsstelle im Shopping-Center erreicht. „Willkommen im Weihnachtsland, willkommen im Einkaufs-Paradies“, stand in leuchtenden Buchstaben über dem Eingang.  Eine Kollegin hatte sich krankgemeldet, es war trubeliger Betrieb. Zu zweit wuppten sie im Akkord den Backwaren-Marathon: aufbacken, rausholen, sich nicht die Finger dabei verbrennen, verkaufen. Zwar waren die meisten Kunden nett, aber nach der gefühlt dreitausendsten Bestellung („Sieben Brezeln, drei Sternsemmeln, nein doch lieber zwei Croissants, aber bitte nicht zu dunkel“) ließ ihre Konzentration nach, sie füllte falsche Brötchen in die Tüten, verwechselte Brezen und Croissants, verrechnete sich. Alle waren genervt, die Kunden, sie selbst, die Kollegin.

Für eine Mittagspause war keine Zeit. Nebenbei stopfte sie sich Backwerk in den Mund, verstohlen versteckt in der von glühender Hitze angefüllten Aufbackstube hinter dem Verkaufsraum, damit die niemals endende Kundenschlange nichts davon bemerkte. Melli war fix und fertig, als kurz vor ihrem Dienstschluss ihr Handy klingelte. Die Kita rief an; Selma habe die Weihnachtsfeier zwar noch mitgemacht, aber sei offenbar krank, jedenfalls liege sie jetzt nur noch schlapp in der Kuschelecke und habe leicht erhöhte Temperatur. Ob sie jemand abholen könne?

Niemand konnte ihre Kind abholen, …

… außer sie selbst. Also bat Melli drucksend und lächelnd und bettelnd einmal mehr ihre ebenfalls erschöpfte Kollegin, die restlichen Aufräumarbeiten doch bitte allein zu übernehmen. „Und Frohe Weihnachten!“, rief sie ihr noch im Gehen zu, mit den Gedanken bei Selma und geplagt von ihrem schlechten Gewissen. Sie hetzte zurück zur Kita; diesmal war die Straßenbahn pünktlich, aber wieder voll, Melli quetschte sich zwischen die stehenden anderen Mütter, Väter, Omas, Opas, Singles. In der Kita griff sie sich ihre leise weinend an der Garderobe wartende Tochter und ging mit ihr nach Hause. Es hatte aufgehört zu schneien.

Daheim ließ sich Melli erschöpft auf ihr altes Sofa fallen, eine zerschlissene Bequemlichkeit aus dem Sozialkaufhaus. Das fieberschlappe Kind legte den Kopf auf ihren Schoß. Selma hatte keinen Appetit, also schlang Melli selbst das Käsebrot herunter, das sie morgens ihrer Tochter in die Brotzeitbox gelegt hatte. Zur Kinderärztin gehen? Melli entschied sich dagegen. Der Infekt grassierte, es standen Feiertage bevor, an denen sie nicht arbeiten musste. Selma würde sich schon wieder auskurieren. Melli seufzte und strich über die Haare ihrer Tochter, die das stumm und widerstandslos über sich ergehen ließ. Sie griff nach der Wolldecke und deckte ihr krankes Kind zu.

Dauernd diese Hetzerei, Tag ein, Tag aus, ging ihr durch den Kopf. „Ich hab´s so satt“, sagte sie halblaut und spürte wie der ganze Widerwille gegen dieses Leben von ihr Besitz nahm, sich ausbreitete wie ein Farbkleks im klaren Wasserglas. Melli kannte solche Situationen der vollkommenen Erschöpfung, des überbordenden Überdrusses, und sie hatte sich angewöhnt, dann immer an ihre Therapeutin in der Kur zu denken. „Musst Du jetzt hier, auf Deinem Sofa, das schlappe Kind auf dem Schoß, irgendeine Anstrengung aushalten?“, hätte sie gefragt. Und Melli hätte zugeben müssen: Nein. Selma musste sich auskurieren, das Kinderturnen fiel heute ohnehin aus, einkaufen musste auch nicht mehr unbedingt sein. Es war einfach gar nichts mehr zu tun heute, wenn man es zuließ. Vielleicht noch das Lebkuchenhaus, aber dazu musste Selma erst einmal schlafen.

Melli griff zur Fernbedienung, …

… und der Fernseher erwachte. „Wer hat an Heiligabend Namenstag?“ las ein mit einer Weihnachtsmann-Mütze dekorierter Talkmaster die eingeblendete Frage vor. Offenbar waren die grinsenden Quizkandidaten des Lesens unfähig. Es gab auch Antwortmöglichkeiten: A: Jesus und Christus, B: Adam und Eva, C: Josef und Maria.

So ein Blödsinn, dachte Melli, und klickte weiter. Eine gefakte Gerichtsverhandlung. Ein regionaler Krimi. Eine Sendung, in der alter Kram versteigert wird. Ein Billardturnier. Melli schüttelte den Kopf. Wer schaut sich das an? Dann ein Nachrichtenkanal: Zerstörte Häuser, Menschen, die auf Holzfeuer ihr Essen kochen. Eine Warteschlange vor einem Tanklastwagen, die Menschen dick eingemummelt, mit schmutzigen Kanistern, Schnee auf der Straße. „Nachts sinkt hier das Thermometer auf weniger als zwanzig Minusgrade“, sagte die Stimme des Reporters, „und die Luftangriffe haben die Versorgung mit Wasser und Strom zerstört. Diese Menschen werden frieren und hungern, während wir Weihnachten feiern.“ Melli stellte den Fernseher aus und schloss die Augen. Kurz, ganz kurz nur.

********

„Hey Leute, frisch auf in den Morgen!“, …

… tobte der Radiomoderator aus dem kleinen Lautsprecher.

Melli und Selma waren am Abend gemeinsam auf dem Sofa eingeschlafen. Irgendwann war Melli erwacht und hatte ihre schlafheiße Tochter in ihr Bett gewuchtet, sich neben sie gelegt und war sofort wieder weggedämmert. Gegen halb fünf war sie aufgewacht, und der Rest der Nacht war unerfreulich gewesen. Selma hatte sich fiebrig hin und her gewälzt, und Melli konnte allenfalls neben ihr dahindösen. Jetzt schlief ihre Tochter endlich wieder fest. Melli war aufgestanden, um doch noch das Lebkuchenhaus in Angriff zu nehmen. Leise hatte sie die Schlafzimmertür hinter sich geschlossen, bevor sie das Radio angestellt hatte.

„Hey Leute, es ist 7 Uhr 33 – und wisst Ihr was: Es ist Weihnachten!“ Mit Schmackes trommelte ein hellwaches „Feliz Navidad“ aus dem Radio. „Hey Leute“, meldete sich schon wieder der beneidenswert putzmuntere Moderator, „habt Ihr eigentlich schon Euren Weihnachtsbaum?“ Melli hatte keinen Weihnachtsbaum. Sie hatte keinen Platz. Und für wen sollte sie sich einen Weihnachtsbaum aufstellen?

„Und wisst Ihr überhaupt,…

… woher die Tradition mit dem Baum zu Weihnachten kommt?“, plapperte jetzt der stets Gutgelaunte weiter, „schon irgendeine Idee? Da kommt Ihr nie drauf, Leute, das sage ich Euch, aber ich werde es Euch erzählen – nach der nächsten Musik!“ Die Geigen heulten auf und begleiteten Dean Martin beim Walking durch das „Winter Wonderland“.

Melli nahm das Radio mit in die Küche und kramte in ihrer Vorratsschublade nach der Schachtel mit dem Lebkuchenhaus. Vorsichtig öffnete sie die Packung und holte die gebackenen Lebkuchenplatten heraus. Sie stellte den Puderzucker bereit, und zur Dekoration wühlte sie aus den Untiefen der stets in sicherer Höhe verstauten Süßigkeitenkiste Schokolinsen, Gummibärchen und ein paar Weihnachtskekse heraus, eine angerissene Packung, die sie aus der Bäckerei mitgebracht hatte, weil sie ohnehin nicht mehr verkauft werden konnte.

„Hey Leute, schon eine Idee wegen des Weihnachtsbaums?“, schubste der Moderator seine Zuhörenden aus dem Winter-Wunderland. „Da kommt ihr nie drauf. Null Schnee in der Geschichte. Hat nämlich mit Adam und Eva zu tun. Der Baum stammt aus dem Paradies, Leute, ob Ihr es glaubt oder nicht.“

„We wish you a merry chrismas“, quoll dynamisch anschwellend aus dem Äther. Dann nahm der Mann im Radio den Ton zurück und sagte er es nochmal und sehr betont: „Echt, Leute, aus dem Paradies!“

„Wo ist das Paradies?“ Selma stand mit verquollenen Augen in der Küchentür. Blitzschnell deckte Melli ihre Lebkuchenhaus-Baustelle mit einem Handtuch ab. Sie eilte dem Kind entgegen, das sich willig in ihre Arme fallen ließ. Sie nahm ihre Tochter hoch, spürte ihre Wärme, sog ihren wohligen Geruch ein, und setzte sich an den Küchentisch. Beide Arme und ihr ganzer Oberkörper wärmten das noch schlaftrunkene Bündel. Und wurden gewärmt. Heute keine Kita, keine Arbeit.

„Das Paradies?“ Melli wiegte ihre Tochter sanft hin und her und überlegte. „Das ist echt schwer zu erklären,“ murmelte sie.

Solche Zweifel …

… hatte der Mann im Radio nicht. „Echt jetzt, kein Blödsinn,“ hörte Melli. „Die Christen waren ja sittlich schon immer locker drauf,“ – bedeutungsvolle Pause – „und da haben sie zu ihrem Weihnachtsfest einfach einen anderen alten Brauch übernommen. Eigentlich feierten die Christen nämlich den Namenstag von Adam und Eva mit einem Baum im Zimmer und hingen Äpfel dran. Und als grüne Bäume gab´s bei uns im Dezember eben nur: – Richtig! Tannenbäume! Check! Äpfel, Eva – klingelts da bei Euch?“ Im Radio klingelten die Jingles Bells.

„Die Eva ist auch krank“, murmelte Selma, „die war gestern nicht da in der Kita.“

„Der im Radio meint aber eine andere Eva“, flüsterte Melli ihrer Tochter ins Ohr.

„Hey Leute, das ist doch echt mal eine abgefahrene Geschichte, oder?“, drängte sich die Stimme im Radio wieder über die Musik. „Was wir da heute als Weihnachtskugeln baumeln lassen – Baumeln am Baum, hahahaha,“ freute sich der Spaßige über sein eigenes Wortspiel, „das waren einfach mal Äpfel, Ihr wisst schon, die Geschichte mit der Verführung und dem Apfel und dem Reinbeißen, und wie der Adam auch reingebissen hat, und dann mussten beide sich endlich mal was anziehen und raus aus dem Paradies.“

Wieder loderte kurz die Musik auf, dann redete der Weihnachts-Spaßvogel weiter: „Und deshalb ist Weihnachten eben in Wahrheit ein Paradies-Fest, ok, Leute? Also immer schön fröhlich bleiben und feiern, auch wenn Euch die Kirche egal ist. Auf das Paradies können wir uns schließlich alle einigen.“ Kling klang, kling klang, im Pferderhythmus galoppierten die Jingle Bells davon.

„Wo ist jetzt das Paradies?“, fragte Selma.

Melli grübelte. „Das Paradies, das ist ein Land, in dem alles wunderschön ist, es ist so warm, dass alle Leute nackt rumlaufen können, und alle haben zu essen. Und es gibt keinen Krieg.“ Dann setzte sie hinzu: „So oder so ähnlich muss es gewesen sein im Paradies. Aber das Paradies gibt’s nicht wirklich, leider.“

Selma lehnte sich ganz fest an den Brustkorb ihrer Mutter. Melli rüstete sich auf Nachfragen.

„Gibt’s heute Fischstäbchen?“, fragte Selma dann.

Melli war überrascht. „Kann ich machen,“ sagte sie, „hast Du da Lust drauf?“

„Ja,“ antwortete das Kind. „Die mag ich. Und warm ist es hier drin auch.“

„Ja sicher, wir wollen doch nicht frieren“, sagte Melli und blickte prüfend auf den Heizungsregler unter dem Küchenfenster.

„Die Leute im Fernsehen gestern, die frieren müssen, die leben nicht im Paradies, gell?“ Melli erschrak, sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihre fiebrige Tochter am Abend zuvor die Bilder aus dem Krieg wahrgenommen hatte.

„Ja, leider. Das ist wirklich schlimm,“ antwortete sie.

„Aber wir frieren nicht, und haben Fischstäbchen. Dann sind wir ja im Paradies, oder?“, fragte Selma.

Melli lächelte, kam aber nicht dazu, zu antworten, denn es klingelte an der Tür. Schnell setzte sie ihre Schlafanzug-Tochter ab und schickte sie ins Schlafzimmer. „Zieh Dich an“, rief sie ihr hinterher. Ganz offensichtlich war der Fieberschub vorbei.

Melli drückte auf den Türöffner. Wahrscheinlich ein Paketzusteller, dachte sie sich und rechnete bereits damit, dass sie nach unten würde gehen müssen, um nachzusehen. Dann aber nahm sie wahr, dass sich auf den Treppenstufen langsam jemand näherte. Sie spürte, wie die nackten Füße ihrer Tochter sich auf ihre Hausschuhe stellten. Neugierig klammerte sich Selma an ihre Beine; natürlich hatte sie noch immer den Schlafanzug an.

Tannenzweige wurden sichtbar …

… und kamen näher, erst einer, dann mehrere. Dann begriff sie: Vorsichtig und klappernd kroch ein Weihnachtsbaum über die letzte Windung des Treppenhauses nach oben in ihre Richtung. Vollständig geschmückt, rote Kugeln, goldene Sterne, sogar eine Lichterkette war erkennbar. Der Stecker klapperte am Geländer. Drei Stufen vor ihrer Wohnungstüre blieb der Baum stehen.

„Bestimmt habt Ihr keinen Baum“, erkannte Melli die verrauchte Stimme von Jo, dem Spinner. „Vielleicht könnt Ihr den hier brauchen? Habe ich abgestaubt drüben im Einkaufsparadies. Die brauchen den jetzt nicht mehr.“

Vorsichtig lugte Jo am Baum vorbei. „War eine ganz schöne Schufterei mit dem Baum in der Straßenbahn bis hierher.“

„Papa bringt den Paradiesbaum!“ jubelte Selma.

 

 

Allen Leserinnen und Lesern dieser Geschichte wünsche ich ein frohes Weihnachtsfest.

Die Geschichte des Weihnachtsbaums kann man u.a. hier nachlesen und dabei überprüfen, ob der Mann in Radio Recht hat:

https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Wie-die-Tanne-zum-Weihnachtsbaum-wurde,weihnachtsbaum18.html#:~:text=Der%20uns%20heute%20gel%C3%A4ufige%20Weihnachtsbaum,und%20versprachen%20Schutz%20und%20Fruchtbarkeit.

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Der Klang der neuen Zeit – Zwei Konzertbesuche

München, Herbst 1992

Das Konzert galt schon im Vorfeld als so legendär, dass jeder Platz ausverkauft war. Auch die schmalen harten Chorbänke hinter dem Orchester würden gefüllt sein bis auf den letzten Platz. Manche Kartenbesitzer begriffen ihr Glück erst, als sie am Eingang des „Gasteig“, des im Herbst 1992 noch als frisch empfundenen, weiten, luftigen Konzertsaals in München, ein Spalier von Suchenden und Rufenden durchdringen mussten: „Haben Sie noch eine Karte?“, war da vielstimmig zu hören, „Hundert Mark – oder mehr? Sagen Sie einfach, was ich zahlen soll!“

Ameisenhafte Emsigkeit herrschte im gestuften Foyer, besorgtes Suchen nach dem richtigen Eingang, schnell das Sektglas geleert, ein letzter Blick durch die hoch aufgefalteten Fenster über das Kopfsteinpflaster der Großstadtstraße, hinaus auf die im Regennass glänzenden Gleise der Straßenbahn, auf die rot aufleuchtenden Lichter der sich den Hang hinabbremsenden Autos. Dann der Welt den Rücken gekehrt, denn im Saal saß das Orchester bereits erwartungsvoll und gestimmt. Noch bedurfte es keines Hinweises auf das Ausschalten von Handys.

„Jugend an die Macht!“

Dann, als das Licht abdunkelte, als sich das allseitige Räuspern und Husten ängstlich legte, wohl wissend um die diesbezügliche Empfindlichkeit des Solisten, der schon Konzerte abgebrochen hatte wegen solcher Störungen, – als sich endlich die seitliche Tür öffnete, da traten die greisen Matadoren auf die hölzerne Bühne. Zwei Herren, der eine stolz aufrecht mit pechschwarzem Haar, der andere grau und gebeugt, kamen gemessenen Schrittes daher: Arturo Benedetti-Michelangeli, der legendäre Pianist, 72 Jahre alt und erst vor wenigen Jahren von einem auf offener Bühne erlittenen Herzinfarkt genesen, und Sergiu Celibidache, der Dirigent, 80 Jahre alt.

„Jugend an die Macht!“, flüsterte der nebensitzende Konzertbesucher, als er die ganze Wucht der Jahre erfasste, all der Töne und Noten, der abertausenden Stunden des Zweifelns und Übens, die sich hier auf das Podium tasteten. Aber auch dieser Lästerer war ergriffen von einem Auftritt, der an der Ewigkeit klopfen könnte, der ein geronnener Augenblick der Verbeugung werden wird vor den Lebensleistungen zweier Künstler, die seit Jahrzehnten, ihr ganzes wildes, wechselhaftes Leben lang, den richtigen Ton gesucht hatten, dabei Niederlagen erleiden mussten und Triumpfe feiern konnten. Sie hatten den Äther ungezählter Konzerthallen eingeschüchtert und abertausende Zuhörer zum ehrfurchtsvollen Schweigen gebracht.

Die unerbittliche Suche nach Perfektion

Dann setzte sich der heikle Pianist, der zu jedem Konzert mit zwei eigenen Flügeln anreiste. Er war komplett in schwarz gekleidet, akkurat sortierte er die zwei Schöße seines Fracks hinter die Klavierbank. Benedetti-Michelangeli galt als ausnehmend schwierig. Auf der Suche nach dem perfekten Ton war er unerbittlich sich selbst und seinen Mitmenschen gegenüber.

Celibidache erklomm seinen Hochstuhl. Auch er trug einen Frack und ein weißes, rüschenbesetztes Hemd. Er wollte und konnte einen ganzen Konzertabend nicht mehr über-stehen. Auch der Münchner Chefdirigent stand für die unerbittliche Suche nach der Perfektion. Er war für den Weltruhm der Münchner Philharmoniker ein künstlerischer Hauptgewinn, aber auch ein wirtschaftliches Desaster. Um die von ihm angestrebte Interpretationstiefe der Musik zu erzielen, verlangte er doppelt so viele Proben als andere Dirigenten. So entstand über die Jahre ein langsamer, zwischen Trägheit und Zärtlichkeit schwankender Ton. Hundertfach geduldig und wachsam eingeübt, ausgefeilt in allen seinen Klängen und Zwischentönen, entstand ein Klangbild, wie es kaum ein anderes Orchester bieten konnte im auch schon vor 30 Jahren als internationales Business betriebenen Klassik-Zirkus. Konzerte mit Celibidache waren Einladungen zu tiefempfundenen Musikerlebnissen, nicht wiederholbar, keiner Konserve zugänglich, und genau so wollte es der Maestro. Er weigerte sich, mit seinem Orchester Schallplattenaufnahmen zu machen. Was es heute an Celibidache-Aufnahmen zu kaufen und zu hören gibt, sind tolerierte Live-Mitschnitte aus seiner sehr frühen Berliner Zeit (als junger Wilder unter den Dirigenten, als Karajan-Antipode) und den sehr späten Jahren in München. Hier war er jetzt ein unumstrittener Herrscher.

Ein Herrscher, ein Solist

Benedetti-Michelangeli war bereit. Steif aufrecht thronte der Altmeister vor seinem Instrument, die Arme im rechten Winkel über der Tastatur. Schumanns a-Moll-Klavierkonzert beginnt mit einem heftigen Aufschlag des Orchesters, kurz und kräftig – und dann übernimmt das Klavier, und Benedetti phantasierte über die Tasten, wendig und versunken, ganz in sich gekehrt. Kein Blick ins Orchester, ein sachtes Wiegen des Oberkörpers war nur dann zu vernehmen, wenn er selbst spielte. Ein wahrer Solist.

Der von Schumann erdachte Dialog über drei Sätze zwischen Klavier und Orchester perlte in getragen-demütiger Wucht dahin, auf das lyrische Fragen des Klaviers, folgten die oft entschlossen aufbrausenden Antworten des Orchesters. Nach kaum 25 Minuten war das Ereignis vorbei. Der Schussakkord verklang, der Beifall rauschte auf, das Publikum jubelte, immer wieder, es gab letzte Zugaben und angedeutete steife Verbeugungen der alten Herren.

Zwei strenge Altmeister waren auf der Suche nach Perfektion gewesen. Ob sie sie gefunden hatten, war ihr Geheimnis geblieben.

 

  • Sergiu Celibidache gab sein letztes Konzert mit den Münchner Philharmonikern im Juni 1996 und verstarb im August des gleichen Jahres im Alter von 84 Jahren. Mehr über Dirigenten und sein Musikverständnis in dem wunderbaren Film „Sergiu Celibidache- Feuerkopf und Philosoph“: https://www.youtube.com/watch?v=1JkkVqK3FAE
  • Arturo Beneditti-Michelangeli starb im Juni 1995 im Alter von 75 Jahren. Das Konzert im Herbst 1992 im „Gasteig“ mit dem Schubert-Klavierkonzert war der letzte gemeinsame Auftritt in München mit Celibidache. In der Dokumentation „Ein unfassbarer Pianist“, die auch einen gemeinsamen Auftritt mit Celibidache im Juni 1992 (mit einen Klavierkonzert von Ravel) zeigt,  kann man sich noch heute ein Bild davon machen, was die perfektionistische Faszination dieses Künstlers anrichtete – im Positiven, wie im Negativen: https://www.youtube.com/watch?v=YErVzX_cLok

Igor Levit und die Münchner Philharmoniker.

München, Herbst 2022

Eine Wiedergeburt? Nein, reiner Zufall. Es gab keinen Plan. Der Saal ist auch nicht mehr derselbe, selbst wenn er sich „Gasteig HP 8“ nennt. Es ist der Ersatz-Konzertsaal, zwei Kilometer entlang der Isar entfernt vom sanierungsbedürftigen Original. Die Münchner und die strengen Ohren der Konzertkritik sind vom Provisorium „Isarphilharmonie“ begeistert: Beste Akustik, angenehme, moderne Atmosphäre.

Immerhin: das gleiche Orchester, zumindest dem Namen nach. Die Münchner Philharmoniker dürften inzwischen fast vollständig neu besetzt sein – Generationenwechsel. Und: Die gleiche Musik: Schuberts einziges Klavierkonzert in a-moll.

Auch im Provisorium herrscht wieder Bienenkorb-Atmosphäre. „Suche Karte!“ steht auf dem Schild, das ein verzweifelt Hoffender in die Luft hält, umschwirrt von Vorfreudigen. Lange Schlangen an den Garderoben. Dann ergießt sich das Kulturvolk in den schwarz ausgekleideten Saal, nimmt Besitz von ihm bis zum letzten Platz. Geducktes Huschen, während schon das Orchester die Bühne erobert, die Instrumente stimmt. Ein letztes Handy klingelt und mahnt alle anderen. Das Licht dimmt herab.

Eine junge Frau, ein junger Mann

Die Bühne betreten: Eine junge Frau und ein junger Mann. Die junge Frau ist fast lässig gekleidet im schwarzen 7/8-langen Hosenanzug, die Haare zum kurzen Pferdeschwanz gebunden. Der junge Mann hat lichtes schwarzes Haar, Vollbart und ein schüchternes Lächeln, das sein Markenzeichen ist. Über der schwarzen Hose und dem schwarzen T-Shirt lässt er seine bordeauxrote Jacke lässig offen.

Intensiv sucht Igor Levit den Blickkontakt in das Orchester, tauscht einen Händedruck mit der Konzertmeisterin. Dann, mit geballter Faust, teilt er seine konzentrierte Anspannung mit dem ganzen Saal und setzt sich an die Tasten. Er wechselt einen Blick mit der litauischen Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla, die fast verschwindet hinter dem hochgestellten Deckel des vor ihr aufgebauten Flügels. Dann wieder der kurze, entschlossene Auftakt, eigentlich nur ein kraftvoller Ton des Orchesters, und schon tanzen Levits Finger über die Tasten. Die Musik entfaltet sich in den Saal, rauscht hinein in die stillen Reihen der Zuhörer, steigt hoch entlang der schwarzen Holzpaneele, die dem Saal die viel gelobte Akustik bescheren, erreicht die obersten Reihen, verklingt im Nichts der Zeit.

Levit badet in der Musik, und ist auch ein politischer Künstler

Levit badet sichtbar, fühlbar mit seinem ganzem Körper in der Musik, die da entsteht, er entringt dem Klavier seine Töne oft tiefgebeugt in einer für ihn typischen, geduckten Haltung, weniger um Perfektion bemüht als um einen unverwechselbaren Ausdruck. Wenn das Orchester spielt, wippt er am Klavier mit dem ganzen Körper, blickt fasziniert hinüber zu den Streichern, zu den Bläsern. Er ist in diesem Moment ein Teil von ihnen, nicht der gefeierte Solist. Levit wirkt nicht wie ein Star, obwohl er es ist. Es entsteht im Teamwork ein Moment der Demut vor der Musik.

Über den Pianisten Igor Levit ist alles geschrieben und berichtet worden, es gibt sogar einen aktuellen Film über ihn und sein Wirken und Leiden während der Corona-Krise („No Fear“). Levit ist im Kulturbetrieb eine auch deshalb auffallende Erscheinung, weil er neben seinem Klavierspiel auf höchstem Niveau sich auch und dezidiert als politischer Künstler versteht. Er ist Mitglied der Grünen und war bis vor kurzem hochaktiv auf Twitter, das er zuletzt aber verließ. Im Film kann man ihn dabei beobachten, wie er unter freiem winterlichem Himmel Klavier spielt – als Ereignis der Solidarität mit den Klima-Aktivisten zum Erhalt des Dannenröder Forstes für den Bau einer Autobahn. Er kritisiert Antisemitismus und Rassismus. Er hat dafür viel Hass eingesteckt, aber auch große Solidarität erfahren. Er macht Podcasts und wirbt manchmal während eines Konzertes für seine politischen Ansichten. Man muss nicht jede davon teilen, aber man kann anerkennen: Igor Levit ist ein Künstler, der das tut, was eine Gesellschaft von guten Bürgern erwartet. Er nutzt seine Popularität, seine Öffentlichkeit, um für seine Meinung, für die Werte seines Landes, in dem er aufgewachsen ist, das ihm als gebürtigem Russen seine Heimat gegeben hat, einzutreten.

Die Dirigentin bleibt im Hintergrund. Ihre Stunde schlägt nach der Pause

Mirga Gražinytė-Tyla bleibt bei Levits Auftritt völlig im Hintergrund, nicht nur bildlich hinter dem Flügel, sondern auch beim Beifall, nachdem auch in diesem Konzert wieder die Schlussakkorde verhallt sind. Levit und Gražinytė-Tyla umarmen sich, längst rauscht und tobt der Beifall des Publikums. Aber während er die „Bravo“-Rufe schon hört, die vor allem ihm gelten, verneigt er sich vor dem Orchester. Erst dann wendet er sich herum. Als er aus dem Bühnenhintergrund zurückkehrt in das Bad der Begeisterung, bleibt er allein.

Die Dirigentin überlässt ihm die Bühne. Ihre Stunde schlagt nach der Pause. Dann wird sie den vielstimmigen Klangkörper des Orchesters zähmen und beherrschen. Kein Maestro, sondern eine junge, schmale Frau, klug und inspiriert, wird mit Energie und Fleiß den mehr als achtzig erfahrenen Frauen und Männern im Orchester, allesamt Vollprofis in ihrem Fach, die meisten älter als die Dirigentin, ihre eigene musikalische Idee abringen.

Es ist die gleiche Musik. Und doch …

Es ist die gleiche Musik wie vor dreißig Jahren, dargeboten auf höchstem Niveau, damals wie heute. Und doch ist es auch der Wandel der Zeit, den die Zuhörenden erleben. Wenn sie wollen, können sie diesen nicht nur hören, sondern auch sehen und spüren. Als das Konzert der Altmeister Celibidache und Benedetti-Michelangeli im Gasteig ausklang, war Mirga Gražinytė-Tyla sechs Jahre und Igor Levit fünf Jahre alt. Die Jugend hat übernommen, und sie verändert den Klang der Zeit.

 

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Versagen und Hoffnung in einer Männer-Welt

Zur Wiederaufnahme des „Siegfried“ an der Stuttgarter Oper

Diese Welt der Männer ist ein einziges, trostloses Grauen, innerlich wie äußerlich. Sie ist heruntergekommen, dreckig, verschlagen. Dort wächst Siegfried auf, der Held des dritten Abends im “Ring”, der gewaltigen, insgesamt vierteiligen Opern-Novela von Richard Wagner. Dieser Held ist zweifellos für sein ganzes Leben geschädigt. Siegfried ist ein Macho, umgeben von Machos.

Die psychologisch kluge Inszenierung des „Siegfried” an der Stuttgarter Oper erlebt in diesen Tagen ihre Wiederaufnahme und wird im Frühjahr 2023 Teil von zwei „Ring“-Zyklen sein, die am Eckensee zu sehen sein werden. Sie stammt aus dem Jahr 1999 und galt schon damals mit ihrer mutigen Bildsprache und tiefgreifenden Deutung des psychologischen Geflechts zwischen den Beteiligten als spektakulär. Sie hat nichts davon verloren.

Worum geht es?

Das Schwert entsteht: Siegfried, der ungeduldige Jugendliche, schmiedet sich seine unschlagbare Waffe. (Daniel Brenna als Siegfried; Foto: Martin Sigmund, bereitgestellt von Staatsoper Stuttgart

Alle diese Götter, Riesen und Zwerge sind voller individueller Traumata, durchtränkt von krankhaftem Machtstreben, gegenseitiger Abhängigkeit, Misstrauen und Intrige. Es ist weitgehend eine Männerwelt, gänzlich ohne Empathie, die sich in ihrer psychologischen Vielschichtigkeit einer kurzgefassten Inhaltsschilderung entzieht. Ein vereinfachender Versuch sei hier trotzdem unternommen:

Siegfried wächst als Findelkind im verlotterten Haushalt eines Ziehvaters auf, der mehr über dessen göttliche Herkunft weiß als Siegfried selbst, und darauf hofft, dass sein Schützling mit seinem testosterongesteuerten Hang zur Gewalttätigkeit ihm dereinst den berühmten Ring zur Weltherrschaft beschaffen wird. Dem jugendlichen Siegfried fehlt dafür allerdings noch eine Waffe, möglichst eine unbesiegbare. Sein Ziehvater, obwohl Schmied, bekommt sie nicht zustande, jedenfalls nicht so, dass sie den unkontrollierten Kräften des Jugendlichen Stand hält. Als der die Geduld mit dem schwächlichen Schmied verliert, hämmert er sich das gesuchte Schwert einfach selbst zurecht. Damit wandert er durch den Wald, um jenen Riesen zu erschlagen, der den Ring der Weltherrschaft besitzt und bewacht.

Ein Kettenraucher wartet, Wotan wandert

Allerdings ist die mit Stacheldraht umzäunte Stuttgarter Wohnstatt des Riesen umlagert von weiteren fragwürdigen Männern. Ein Kettenraucher wartet dort wie ein Kleinkrimineller auf die Chance, sich den Ring der Weltherrschaft abzugreifen, wenn der kräftige Siegfried den Riesen endlich erledigt hat. Und auch der allmächtige Göttervater Wotan lungert am Zaun herum, getarnt als „Wanderer“. Eigentlich will er sich künftig aus dem Weltgeschehen heraushalten, hat er doch schon erfahren, dass seine eigene ausgeprägte Prinzipienlosigkeit nichts als endlose Schuld, uneheliche Kinder und immer wieder neuen Streit produziert.

Siegfried, der Held mit Schwert, betritt also diese trübe Szenerie. Er provoziert das Riesenungeheuer und erdolcht es ohne lange Diskussionen. Seinen verhassten Ziehvater erledigt er gleich mit. Nun besitzt er alles, was ein Mann begehrt: eine unschlagbare Waffe und den Ring der Weltmacht.

Allein, was ihm fehlt, ist die Erfahrung der Liebe – kurz: Eine Frau.

Da hört er von der seit dem Ende der Oper “Walküre” auf einem Felsen dauer-schlafenden Brünnhilde. Diese hatte vor ihrer Straf-Einschläferung durch ihren Vater Wotan selbst den Wunsch geäußert, ausschließlich dann geweckt zu werden, wenn einst ein absolut furchtloser Held mutig genug wäre, den zu ihrem Schutz lodernden Flammenring zu überwinden. Siegfried hat keine Zweifel, dass er das ist, und bricht auf zum glühenden Felsen.

Das Versagen der Männer als Zusammenfassung

Fassen wir das Versagen der Männer bis dahin zusammen: Der Ziehvater hat niemals eine Beziehung zu seinem heldenhaften Findelkind aufbauen wollen, immer hatte er in ihm nur ein Werkzeug für seine eigenen Pläne gesehen. Siegfried hat eine Kindheit wie ein emotionaler Zombie und lehnt sich gewaltsam gegen diese Karikatur eines Pflegevaters auf. Der vorübergehende Besitzer des umkämpften Rings, der Riese Fafner, gibt den lächerlichsten Weltherrscher ab, den man sich vorstellen kann: als fauler, fetter Wurm hockt er schläfrig auf seinem Besitz, ohne jeden Gestaltungswillen, dumm und überheblich.

Eine trostlose Männerwelt am Stacheldraht: Matthias Klink (Mime), Daniel Brenna (Siegfried) Foto: Martin Sigmund, bereitgestellt von Staatsoper Stuttgart

Der Göttervater lässt der Gewalt ihren Lauf, setzt seine Allmacht nicht ein, um den fortdauernden männlichen Kreislauf aus Mord, Gier und Totschlag zu durchbrechen. Dabei hatte Wotan das ganze Übel in Gang gesetzt, weil er im ersten Teil der Serie, im „Rheingold”, die Riesen für den Neubau seiner eitlen Burg mit dem zum Ring geschmiedeten Schatz entgolten hatte.

Weltherrscher vegetieren in verfallenem Gemäuer

Die trostlose Welt, in der alle diese Männer ihr Unwesen treiben, ist in der Stuttgarter „Siegfried“-Inszenierung ein einziger Albtraum. Die wechselnden, selbstverliebten Weltherrscher vegetieren dahin in halb verfallenen Gemäuern und hinter löchrigen Zäunen, zerborsten sind die blinden Fensterscheiden, klapprig die Stühle, fleckig das Sofapolster. Tütensuppen bilden den Speiseplan, der Göttervater verbirgt sein mafiöses Wesen hinter einer billigen Sonnenbrille.

So also ist die deprimierende Lage nach fast drei Stunden auf der Stuttgarter Bühne, vor Beginn des 3. Aktes. Dann endlich tritt das Weibliche auf den Plan. Erst scheitert der Göttervater bei seiner Liebschaft Erda damit, sie in die Verantwortung für seine intriganten Pläne einzubeziehen. „Du bist nicht, was Du Dich nennst“, wirft sie dem gescheiterten Allmächtigen an den Kopf und wendet sich ab.

Der Held ist derangiert

Und dann endlich hat auch der kühne schöne junge Held Siegfried den Felsen der schlafenden Brünnhilde erreicht. Aber er ist derangiert. In den vergangenen Stunden hat er: erstens ein unbesiegbares Schwert geschmiedet, ist zweitens stundenlang durch den tiefen Wald gewandert und hat dort drittens ein Monster getötet, dabei viertens den Ring der Weltherrschaft für sich erobert. Nebenbei musste er noch fünftens seinen Ziehvater ermorden. Dann hat er sich – sechstens – noch eben durch das lodernde Feuer von Brünnhildes Felsen gekämpft. Verschwitzt und verdreckt dringt er in das wohlgeordnete Gemach der ersten Frau seines Lebens ein.

Das Ende ist zu schön , um es zu schildern …

Was dann passiert, ist in der Stuttgarter Aufführung des „Siegfried“ so schön geschildert, dass es sich zu erzählen verbietet. Zu erleben ist, wie das Ewig-Weibliche in uns allen mit sanfter Wucht hinwegrafft, einschmilzt, bedeutungslos macht, was dem Manne so wichtig erschien. Brünnhilde lässt das ganze übersteigerte Ego der Eitlen, die zerstörerische Gewalt der Machtmenschen, den Schrecken der Tyrannen und Bombenwerfer ganz wortwörtlich in der Schublade verschwinden.

Ach, wäre es schön, wenn die Welt so wäre. Aber wer wollte nicht dabei sein, wenn es doch geschieht? Auf in die Oper!

 

Dieser Text erhebt nicht den Anspruch einer Aufführungskritik. Mein Fokus liegt ausschließlich auf dem (kultur-)politischen Aktualitätsbezug von Werk und Inszenierung. Daher gibt es in diesem Text auch nur Bemerkungen zur Konzeption der Inszenierung, nicht zu den Leistungen von Sänger/innen und Orchester.

Gesehen habe ich die Generalprobe am 7. Oktober 2022. 

 

„Siegfried“ an der Stuttgarter Oper ist zu sehen am 10. März und 8. April 2023 jeweils als Teil von zwei „Ring“-Zyklen. Mehr Informationen zur Inszenierung auf der Webseite der Staatsoper Stuttgart: https://www.staatsoper-stuttgart.de/spielplan/a-z/siegfried/

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier, auch Texte zu den anderen Teilen des vierteiligen Stuttgarter „Rings“: Rheingold, Walküre und Götterdämmerung.

Über den schicksalhaften Stuttgart-Aufenthalt von Richard Wagner im Frühjahr 1864 habe ich ein Essay verfasst: „Aber wir haben den Daimler“.

 

Der junge Mann ganz links oben

Mahlers fünfte Sinfonie, anders gehört

Der junge Mann sitzt ganz hinten, ganz oben auf dem gestuften Podium, äußerste linke Ecke, und er liest. Er liest, während die Orchestermusiker nach und nach die Bühne füllen, während Streicher die schwierigsten Stellen noch einmal üben, während die Bläser ihre Backen aufblasen, dem Ton nachhören, der da zur Probe herausquillt aus Holz oder Metall.

Er liest noch immer, ganz teilnahmslos, als sich der Saal füllt, als neugieriges Publikum der Musik entgegenstrebt. Er liest auch dann noch, während das Orchester beim Stimmen den richtigen gemeinsamen Ton sucht. Dieser junge Mann muss nichts stimmen. Er blickt kurz auf, als der Dirigent beifallumrauscht das Podium betritt. Dann liest er weiter.

Gustav Mahler (Radierung von Emil Orlik, 1902)

Erwartungsvoll beruhigt sich der Saal, ein letztes Rascheln, schuldbewusst geduckt huscht der notorische Trödler, der das Klingeln überhört hat, herein. Zur Aufführung kommt die 5. Sinfonie von Gustav Mahler, ein monumentaler Klangrausch, fast eineinviertel Stunden lang.

Sie beginnt mit der Trompete, und diese kündet militärisches Unheil. Der Trauermarsch hebt an. Was für ein gebrochener Trauermarsch ist das! Keine Kompanie der Welt könnte danach voranschreiten, sie müsste verharren im Selbstzweifel. Immer weniger rhythmisch, immer dissonanter verirren sich die Töne. Hören wir das schmerzhafte Weltgeschehen unserer Zeit, hören wir Mariupol, Charkiw oder Cherson? Es sind ernste Zeiten.

Welches Buch liest wohl der junge Mann ganz hinten?

Nun, im zweiten Satz, schwingen sich Mahlers Töne auf zu einer erschütternden Welterzählung von Stolz und Trotz, von Kraft und Niedergang. Zu hören sind Widerstreit und Kampf. Fort sind die Zweifel des fragilen Trauermarsches, jetzt wird gefochten! Ein wogendes Hin und Her durchwalkt das Orchester, die Celli geben den Ton an, hetzen zusammen mit den Bläsern die Töne in den Kampf, in eine existenzielle Auseinandersetzung. Aller Klang mündet in dissonant chaotisches Getümmel. Schon tönen erste Fanfaren, schon scheint die positive Energie der Töne die Oberhand zu gewinnen.  Wird das schon der Sieg? Nein, dafür ist es noch zu früh. Mahlers Töne erzählen den ultimativen Durchbruch noch nicht, sie bleiben stecken in der Weite der Steppen und Felder, in der trostlosen Ebene dieser Schlacht. Ermüdet vom Stellungskrieg verlaufen sich die musikalischen Kampfmotive in der Weite, schrecken zurück vor der Größe ihrer Aufgabe, die Töne versickern im Boden, die Takte enden im Nichts. Es ist noch nicht so weit.

Das Publikum hüstelt, das Orchester atmet durch.

Den jungen Mann links oben geht das alles nichts an. Er liest.

Wer hält das aus, immer nur Streit, Kampf, Militär, Krieg, Waffen? Niemand. Es braucht auch Momente des privaten Glücks. Im dritten Satz flüchten sich die Töne bei Gustav Mahler ins Private. Ein wirbelndes sorgloses Tanzgeschehen entfaltet sich für die vom Kriegsgetümmel wunden Ohren der Zuhörer, ein fröhlicher Ländler, ein wild wirbelnder Walzer tränken das nach Harmonie dürstende Gemüt. Es ist ein Moment der Meditation. Wehmütige Lieder durchziehen die stille Weite der Musik, ein einsames Horn bläst in den Wald hinein, bringt die Ruhe der Abenddämmerung zum Klingen.

Der junge Mann links oben liest weiter.

Gibt es noch mehr auf dieser Welt als die Wahl zwischen Getümmel oder Rückzug? Ja gewiss, die Liebe. Gustav Mahler hat den vierten Satz seiner 5. Sinfonie als zartschmelzende Liebeserklärung an seine Frau Alma geschrieben. Im Saal zirpen die Harfen, säuseln die Streicher. Es ist schwebende, liedhafte Musik, und sie klingt im Pianissimo aus. Die schöne Alma verstand damals die Botschaft, und das Paar heiratete 1902 in Wien. Alma war 23 Jahre alt und damit 19 Jahre jünger als ihr weltberühmter Mann. Sie war eine geachtete Musikerin und seit Jahren eine von prominenten Künstlern umworbene Erscheinung der Wiener Kulturgesellschaft, hochgebildet und talentiert. Ohne die Begegnung mit Gustav Maher wäre sie vielleicht selbst eine berühmte Komponistin geworden. Der Meister fürchtete ihr künstlerisches Talent so sehr, dass er sich vor der Eheschließung von Alma versichern ließ, dass sie als seine Frau mit dem Komponieren aufhören würde. Alma fügte sich in dieses Schicksal, der Ehe taten solche Vorgaben erwartungsgemäß nicht gut.

Wie mag es um die Liebe stehen für den jungen Mann oben links?

Jetzt blickt er auf und hört hinein in die letzten verhallenden Töne. Dann blättert er lautlos um. Fast eine Stunde ist nun schon vergangen.

Nochmal hebt der Dirigent den Taktstock. Die Trompeten rufen zurück in den Kampf, verhalten noch am Anfang, aber dann steigert sich das musikalische Geschehen zum tosenden Finale. Vorbei ist die Phase des Privaten, vorbei das zerbrechliche Glück der Liebe. Jetzt geht es wirklich um den Triumph, die tönenden Soldaten ziehen hinaus und erringen den Sieg. Ihr dissonantes Schlachtengetümmel tobt mehr als zwanzig Minuten, schwillt ab und wieder auf, rennt an gegen die Bollwerke, die es zu überwinden gilt.

Dann ist die Entscheidung zum Greifen nah, die Widerstände erlahmen, alles geht über in ein sich ordnendes Zusammentosen der streitbaren Töne, es naht der ersehnte Gleichklang des Triumphs. Die Zuhörer halten den Atem an, weil sie wissen, dass jetzt gleich der finstere Krieg vorbei sein wird, dessen Zeugen sie hier sind. Dem ganzen Mühsal wird Jubel folgen.

Der junge Mann steht auf

Es ist dieser Moment kurz vor Schluss, in dem der junge Mann links oben das Buch zur Seite legt und aufsteht. Er greift sich einen bereitliegenden metallenen Schlegel und wippt sich hinein in den Takt der Musik. Noch ist er still, während das ganze Orchester walkt und tobt, der Dirigent die Streicher in den anschwellenden Klang peitscht, die Bläser fordert, die Celli und Bässe in ihren dunklen, sägenden Rhythmus treibt.

Der reguläre Schlagwerker des Orchesters, der sich nun schon seit mehr als einer Stunde neben seinem lesenden Kollegen abgemüht hat, die Trommeln des Trauermarsche geschlagen hat, mit Becken und Holzklappern dem Wirbel des Tanzes gedient und für den Rhythmus des Kampfes gesorgt hatte, greift nun, im Moment der anschwellenden Ekstase, zum Triangel. Sanft schlägt er es an, ganz sachte nur, und doch entlockt er damit diesem metallenen Dreieck, dem Mauerblümchen unter den Orchesterinstrumenten, das nur einen einzigen Ton erzeugen kann, genau diesen: ein erstes, hell glänzendes „Pling“. Sogleich erstirbt der Engelston wieder, aber ein weiteres zartes Anschlagen lässt es wieder aufleben, und dann noch einmal und noch einmal.

Es ist das Triangel, das die Musik glänzen lässt, das ein Glitzern in den Saal zaubert. Aber für Gustav Mahler war es noch immer nicht genug. Deshalb saß der junge Mann, ganz außen, links oben, die ganze Zeit bereit. Nun, dreißig Sekunden vor dem Ende des großen Werkes, greift er ein, er schlägt ein zweites Triangel an, wieder und wieder, und so glitzern sie doppelt, glasklar rein, winzig klein und doch strahlend hörbar im weiten Rund des Saales. Die beiden Triangel jubeln heraus zwischen Trompeten und Pauken, strahlen zwischen den Streichern und Bläsern, sie begleiten den Jubel des alles verschlingenden Schlussakkordes ins Ziel.

Dann ist Stille.

Der Beifall rauscht auf. Und er gilt auch dem jungen Mann links oben. Ein Mensch mit Geduld und Demut, einer, der sich nicht wichtig nimmt, und deshalb wichtig ist.

 

 

Das beschriebene Hörerlebnis war mir im Rahmen einer moderierten Probe gegönnt, die ich Anfang September 2022 im Haus der Rundfunks Berlin miterleben konnte. Es spielte das Radio-Sinfonie-Orchester Berlin unter Leitung von Vladimir Jurowski, der auch erhellende Erklärungen zu dem Werk gab, die ich verwendet habe.

Wer sich Mahlers Fünfte anhören möchte, kann das zum Beispiel hier tun (Luzern Festival Orchester unter der Leitung von Claudio Abbado, Aufnahme von 2004): https://www.youtube.com/watch?v=vOvXhyldUko . Im Netz sind zahlreiche Mitschnitte frei verfügbar. Man darf auch vor-scrollen auf die letzten Sekunden, um die beiden Triangel zu hören – zu sehen sind sie jedenfalls in dieser Aufnahme nicht nicht.

Dem Triangel und dem Schicksal der Triangel-Spieler im Orchester hat Georg Kreisler ein unvergessliches Lied der Wehmut gewidmet, das man nicht versäumen sollte: https://www.youtube.com/watch?v=deDqQn_x3sU

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier.

 

 

 

Die Schmetterlinge sterben überall

Über die Oper „Madame Butterfly“, derzeit auf der Seebühne Bregenz

Die junge alleinerziehende Mutter ist verzweifelt. Als Teenager hatte sie viel zu früh geheiratet und ein Kind zur Welt gebracht. Nein, sie war nicht dumm verführt worden, sondern war hemmungslos verschossen gewesen, verliebt in diesen prächtigen und mächtigen fremden Mann, aber auch in ihre eigene Hoffnung auf ein neues, ein spannenderes, anderes Leben außerhalb ihrer gewohnten Welt.

Die junge Frau träumt von einem besseren Leben in Amerika und glaubt an ihre Liebe. Aber sie wird enttäuscht werden. (Foto: Bregenzer Festspiele, Karl Forster)

Nun aber ist der Mann schon drei Jahre fort. Zurückgereist war er in sein Heimatland. Und es ist unklar, ob und wann er wieder zu ihr und dem kleinen Jungen zurückkehren wird. Schonend möchten Wohlmeinende der jungen Frau beibringen, dass weitere Hoffnung sinnlos ist. Der Mann ist weg, sie soll sich damit abfinden, sich der Realität stellen, einem anderen Leben zuwenden. Verarmt, müde, ausgelaugt von den Anstrengungen der ewigen Hoffnung schwankt die junge Frau. Ob es nicht wirklich besser wäre, diesem Rat zu folgen?

Im Moment des Zweifelns schlägt die Hoffnung zu

Aber da, in diesem Moment des Zweifelns, der möglichen Hinwendung zur bitteren Realität, des Abschieds von der schönen Illusion – da geschieht das Wundergleiche. Vom Hafen her klingt die Sirene eines Schiffs. Salutschüsse der Begrüßung ertönen. Mit bangem Blick entziffert sie in der Ferne den Schriftzug am Bug. Und ja, tatsächlich, es trägt den stolzen Namen und das Banner des Heimatlandes ihres so sehr herbeigesehnten Mannes!

Unfassbares Hoffnungsglück steigt in ihr auf. Der Strudel der Illusionen erfasst sie und reißt sie heraus aus der Verzweiflung. Ha, habe ich es Euch nicht gesagt!, triumphiert sie. Ihr ewigen Miesepeter, Ihr kalten Pessimisten!, schnauzt sie die verbliebene Schar ihrer Getreuen an. „Gerade in den Augenblick, da jeder gesagt hat: Weine und verzweifle!“ – gerade da kommt er zurück zu mir, zu meinem Kind, zu meiner Liebe, zu seiner Familie. Alles wird gut werden, wie ich es immer schon gesagt habe!

Aber sie irrt. Im weiteren Verlauf der Oper „Madame Butterfly“ von Giacomo Puccini erleben wir, dass es genau dieser Moment der Hoffnung ist, der die junge Frau erst recht hinabstürzen wird in den Abgrund enttäuschter Emotionen und auswegloser Trostlosigkeit. Zwar ist der Langerwartete tatsächlich an Bord dieses Schiffs. Aber er will nicht zu ihr zurückkehren. Er wird ihr das Kind nehmen, ihren stärksten Trumpf im Kampf um den Mann, damit er es in seiner Heimat erziehen lassen kann.

Auf der Seebühne gibt´s reichlich Kitsch und Klischees

Der Mann aus der Fremde in dieser Geschichte ist Amerikaner. Die Oper ist um 1900 entstanden, sie spielt in einer von Puccini (und seinen Librettisten und einigen Autoren vor ihm) nach westlichen Vorstellungen erdachten Karikatur eines traditionalistisch-rückständigen Japan. In diesem (und im nächsten) Sommer ist das Schicksal der Butterfly in einer Neuinszenierung auf der spektakulären Seebühne von Bregenz zu sehen, die mit ihren gewaltigen Ausmaßen so gar nicht geeignet erscheint für ein intimes Kammerstück, wie es die Liebes- und Enttäuschungsgeschichte der Butterfly eigentlich ist.

An Japan-Klischees wird nicht gespart auf der Seebühne. Die Bilder sind etwas für´s Auge, aber die Geschichte darf man auch zeitkritisch sehen und hören. (Foto: Bregenzer Festspiele, Karl Forster)

Die Inszenierung von Andreas Homoki auf der Seebühne gerät denn auch in vielen Szenen und Lichteffekten arg kitschig und lässt kein Japan-Klischee aus. Das mag eine notwendige Konzession an den Massengeschmack dieses Sommerspektakels sein. Trotzdem ist das Spiel auf der Riesenbühne, ihre technischen Effekte, die schiere Wucht des Großen also, ein eindrucksvolles Erlebnis. Hoch anzurechnen ist Homoki, dass er ganz bewusst und deutlich Puccinis Werk trotzdem nicht nur als romantisch enttäuschende Liebesgeschichte erzählt, sondern auch als das, was es ist: ein bitteres Märchen des Kolonialismus.

Das trügerische Liebesversprechen des Westens

Wer möchte, kann das Schicksal der „Butterfly“ also auch so wahrnehmen: Es geht es um hoffnungstrunkene Erwartungen in das trügerische Liebesversprechen des Westens, um die bedingungslose Hinwendung einzelner Schwächerer zum Stärkeren. Ängstlich fragt die junge Butterfly noch ihren fremden Mann, ob es in seiner Heimat nicht üblich sei, gefangene Schmetterlinge mit einer Nadel zu durchbohren und auf eine Tafel zu heften? „Damit er nie mehr flieht“, antwortet der Amerikaner.

So, wie sich die junge Butterfly im Rausch verzweifelter Hoffnung an die Ankunft des amerikanischen Schiffs klammert, so versuchten vor einem Jahr in Kabul Menschen im letzten Moment an Bord startender Flugzeuge zu gelangen, existenziell bedroht in ihrer enttäuschten Verbundenheit zu den abziehenden Amerikanern.

An unseren Versprechen sterben die Hoffnungen

Butterfly geht daran genauso zugrunde, wie die Hoffnungen der Menschen, die in den letzten Jahren die Werteversprechen des Westens zu ihrer Orientierungslinie gemacht haben. Aktuell sind es die Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich auf unsere Versprechungen der Solidarität verlassen. Werden wir sie halten?

Wer diese Oper so hören kann, kann in ihr auch den unerschütterlichen Lebensmut der demokratie-gläubigen Aktivisten und Frauenrechtlerinnen in Belarus und Russland vernehmen, oder die Stimmen mundtot gemachter Kreativer, verbotener Künstler in China und anderswo, die allesamt darauf hoffen, dass die angeblich globalen, unveräußerlichen Menschenrechte ihnen als  Werteversprechen der Weltgemeinschaft ein rettendes Schiff sein mögen.

Es sind viele Mauern und Zäune in unserer Welt, viele Boote im Mittelmeer, Lager auf griechischen Inseln und anderswo, wo Menschen leiden und sterben an enttäuschten Hoffnungen, die wir geweckt haben. Und leider: Die Schmetterlinge sterben überall.

 

Die „Madame Butterfly“ auf der Seebühne Bregenz gibt es dieses Jahr noch bis 20. August nahezu täglich (nicht montags): https://bregenzerfestspiele.com/de/programm/madame-butterfly.

Eine ausführliche Inhaltsangabe und zur Werksgeschichte bei Wikipedia:  https://de.wikipedia.org/wiki/Madama_Butterfly

Weitere Texte zu Opern, in denen ich mich vor allem mit dem zeitkritischen bezu von Inszenierungen auseinandersetze finden Sie unter meiner Kategorie #Kulturflaneur, zum Beispiel über La Traviata von Verdi und alle vier Teile des Ring von Richard Wagner.

 

 

Rucksack und Rücksicht – Ein Reise-Essay

Hinaus in die Welt!

Es ist Sommerzeit, die Sonne scheint, mehr als es uns und der Natur guttut. Urlaub steht an, die „wertvollsten Wochen des Jahres“, wie eine Werbung einmal versprach. Viele sind unterwegs, und es ist ihre wohlverdiente Freiheit.

Hinaus in die Welt! – Ein großer Rucksack lässt über das Thema Rücksicht beim Reisen nachdenken.

Diese Reise startet in einem ICE: Dicht gedrängt sitzen die Fahrgäste der 2. Klasse. Kein freier Platz, genervte Stimmung, stickige Atmosphäre trotz Klimaanlage. Der vollbesetzte Zug rollt in den Bahnhof ein, einige wenige Passagiere steigen aus, viel mehr steigen ein. Die Neuankömmlinge quetschen sich im Gang aneinander vorbei, es herrscht erhöhte Unruhe. „Au!“ schreit eine Dame auf, kurz dimmt die Lautstärke im anrollenden Waggon herunter, alle schauen sich um, wenige haben etwas gesehen. Die Dame ist Opfer einer Drehbewegung geworden. Sie hat einen Schlag in die Schläfe erlitten.

Voll strahlender Freude eines sommerlichen Aufbruchs, …

Ein junger Mann mit schwarzem Bart im schmalen Gesicht und langen, zu einem lockeren Zopf zusammengebundenen Haaren, schaut sich um nach einem freien Platz, den es nicht gibt. Auch seine Begleiterin blickt wachsam in die Welt, neugierig, freundlich. Das junge Paar im Zug strahlt die ganze Freude aus, die einem sommerlichen Aufbruch innewohnen kann. Noch ein paar Stationen im ICE, nach Frankfurt-Flughafen, dort hinein in das Koloss für weltweite Mobilität, ein paar Stunden des Wartens und Schlangestehens, dann hinein in den Flieger, der sich mit aufheulenden Triebwerken von der Schwerkraft des Bodens lösen wird, nach Amerika, nach Australien, nach Afrika, wohin auch immer – hinaus in die Welt!

… die Welt im Blick, aber nicht den eigenen Rücken.

Jetzt aber haben beide schwere Backpacker-Rucksäcke auf dem Rücken. Sie haben die Welt im Blick, aber eine Wahrnehmung für den Radius, den ihre Rucksäcke raumgreifend erfordern, haben sie nicht. Vielleicht haben sie noch nicht einmal bemerkt, dass der Schmerzenslaut im nervösen Getümmel etwas mit ihnen zu tun hatte. Wenn doch, hätten sie sich bestimmt entschuldigt. Aber sie haben eben keinen Blick nach hinten – keine Rücksicht. Also reibt sich die Dame den Hinterkopf.

Es ist eine privilegierte Form von Freiheit, zum Vergnügen zu reisen

Es setzt voraus, dass man selbst in Freiheit lebt und es sich leisten kann. Milliarden Menschen können nicht aus Spaß unterwegs sein, weil der Staat es ihnen verbietet, oder weil sie zu arm sind, oder alt und krank. Millionen Menschen werden vom Schicksal zu einer „Reise“ gezwungen, weil sie fliehen müssen vor Hunger, Verfolgung, Vernichtung, aber sie kämen niemals auf die Idee, es so zu nennen. Andere können es sich mangels Bildung, oder weil ihnen ein angemessener Zugang zu Information fehlt, noch nicht einmal vorstellen, irgendwohin aufzubrechen. Der Reisbauer in Bangladesch oder der Tagelöhner in Indien kämpft täglich um seine Existenz und denkt nicht ans Reisen. Allenfalls fährt er manchmal im überfüllten Bus zu seiner Familie aufs Land.

Hinaus in die Welt! Der Motor röhrt potent, das Band der Straße flirrt frei und einladend in der Sonnenglut, das Gaspedal gedrückt, die nostalgische Tachonadel erreicht die 200. Vielleicht sind es die Eltern dieses jungen Mannes im ICE mit dem großen Rucksack, die jetzt gerade die Straße unter ihrem Porsche spüren. Draußen strahlt die Sonne, es herrscht Traumwetter, also das Cabrio-Verdeck zurückgefahren, frische Briese um die Nase.

30 Liter Super für eine Spritztour?

Sicher, man könnte zum Abendessen auch beim Italiener um die Ecke einkehren, aber bei diesem Wetter kann man doch auch zum See hundert Kilometer fahren, den Rausch der Geschwindigkeit einsaugen, den Fahrtwind in den Haaren spüren, das Plätschern des Sees hören, den vorbeiziehenden Fähren zugucken. Und dann, nach dem Essen beim Edel-Italiener am Seeufer, geht es zurück nach Hause in der anbrechenden lauwarmen Sommernacht. Dreißig Liter Super verbraucht für die abendliche Spritztour, in die Luft gepustet, das Klima geschädigt. Es war ihre Freiheit.

Dann kommen die Porsche-Eltern heim, zurück in ihre elegante Maisonette-Wohnung, trinken noch ein Glas Wein auf dem Balkon, den Blick auf die nachtglitzernde Stadt. Bald ruhen sie im komfortablen Boxspring-Bett und es ist Nacht, tiefe Nacht, und es sollte Stille sein.

Mit dem Moped um den Globus?

Ist es aber nicht. Unter dem offenstehenden Fenster, das die wohltuend kühle, sternendurchfunkelte Luft hereinströmen lässt, entfaltet sich blubbernd-heulender Krach. Den Lärm hat nicht jemand zu verantworten, der zu dieser frühen Stunde zur Arbeit eilen will. Es ist auch keine Sirene, weil irgendwer in der Not der Hilfe bedürfte. Nein, zu hören ist das Aufheulen eines Mopeds, einmal, wieder, nochmal. Zwei junge Männer stehen um das Gefährt herum, unterhalten sich zu dieser Unzeit lautstark über seine Leistung und Vorzüge, und zum Beweis von Potenz, ihrer eigenen und der des klapprigen Zweirades, lassen sie den Motor aufheulen. Wieder, jetzt wieder. Vielleicht will einer von ihnen morgen früh noch aufbrechen, hinaus in die Welt, mit dem Moped um den Globus- oder wenigstens ans Mittelmeer?

Es wäre seine Freiheit. Aber es gibt keine Freiheit, nachts zur Unzeit und ohne Not zu lärmen, denn es herrscht die gesetzlich bestimmte Nachtruhe. Wo bleibt also die Rücksicht?

Rücksicht begrenzt die Freiheit nicht

Rücksicht begrenzt die Freiheit nicht, sie ermöglicht sie sogar erst, denn ohne Rücksicht finden wir uns in einem kalten Land bösartiger Egoisten wieder. „Rücksicht bedeutet, die Freiheitsräume des anderen zu respektieren“, schreibt der frühere Benediktinermönch Anselm Bilgri. Rücksichtslosigkeit ist ein Krebsgeschwür, an der die Freiheit sterben kann. Sie bildet Metastasen, denn wer Rücksichtslosigkeit erlebt, versteht weniger, warum er selbst rücksichtsvoll sein sollte. Umgekehrt wirkt Rücksicht wie eine Impfung gegen die Kälte im Miteinander: Wer viel Rücksicht ausübt, wirkt ansteckend auf andere. Rücksicht ist eine Haltung, man kann sie durchgängig einnehmen, von früh bis Abend, in der Familie und Ehe, unter Nachbarn, beim Einsteigen in die S-Bahn, beim Verhalten im Restaurant, immer und überall. Rücksicht kostet nichts. Rücksicht macht glücklich.

Vielleicht brauchen wir im Sommer noch ein wenig mehr Rücksicht

Fast scheint es so, als bräuchten wir im Sommer, wir alle unterwegs sind und uns dabei ständig über den Weg laufen, da die Fenster offenstehen und uns mehr verbinden als trennen, noch eine Portion Rücksicht mehr, damit wir frei sein können. Denn es ist die Rücksicht der Stillen, die den Lärmenden ihre Freiheit erst ermöglicht, da wir sonst in einer unerträglich lauten Welt leben würden.

Gute Reise! Aber bitte mit Rücksicht.

Es ist die Rücksicht der Reisenden, ihre sommerliche Reisefreiheit so auszuleben, dass der Schaden für die anderen begrenzt bleibt. Vielleicht geht es ohne Flugzeug? Vielleicht reicht Tempo 100? Vielleicht lässt sich der Co2-Schaden wenigstens kompensieren? Denn auch der Reisende im Auto und Flugzeug profitiert von der Rücksicht der Alten und Kranken und Sesshaften, der Rad- und Bahnfahrer, die mit ihren Steuern helfen, dass eine Autobahn gebaut wurde und das Flugbenzin subventioniert wird.

Also gute Reise! Hinaus in die Welt! Aber bitte mit Rücksicht.

 

Den klugen Text von Anselm Bilgri über die Rücksicht finden Sie hier: https://anselm-bilgri.de/ruecksicht-eine-forderung-zuerst-an-sich-selbst/

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