Die Frau am Strand im roten Kleid

Eine Spätsommergeschichte

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Es war schon fast September, und die salzige Luft wärmte mit der Erinnerung an den gerade zu Ende gehenden Sommer. Eine sanfte Brise strich über den breiten Nordsee-Strand, die Sonne verwöhnte, sie brannte nicht mehr. Flirrende Wolkenschleier zogen über das Blau des Himmels und gaben dem Sonnenlicht die besondere Milde des Spätsommers. Er war glücklich, heftete seinen Blick aus dem Strandkorb heraus an den Horizont des Meeres, diese große Verheißung von Unendlichkeit.

„Die Frau war eine Ausnahmeerscheinung für diesen Ort, schlank und hochgewachsen, dort, wo doch alle anderen ihre körperlichen Schwächen kaum verbergen konnten.“ (Bild KI-generiert mit https://www.canva.com/)

Dann sah er sie zum ersten Mal. Es strich gerade eine sanfte Bö den Strand entlang, viel zu schwach, um Sand aufzuwirbeln, aber stark genug, dass sich der Wind in ihrem roten Kleid verfing. Die Frau war eine Ausnahmeerscheinung für diesen Ort, schlank und hochgewachsen, dort, wo doch alle anderen ihre körperlichen Schwächen kaum verbergen können. Wildes gelocktes Haar flatterte ihr um den Kopf, goldbraun vom Sonnenlicht gebadet, barfuß und ohne Handtasche stand sie da aufrecht an der Brandungskante. Das schwingende rote Sommerkleid reichte ihr weit über das Knie, und allein das unterschied sie radikal von allem, was sonst hier strandüblich war. Ausgeblichene T-Shirts, neonleuchtende Shorts, schlabberige Badehosen, zu knappe Bikinis prägten das Bild der ästhetischen Alltäglichkeiten. Und dazwischen diese elegante Erscheinung, wie im Traum – eine Männerfantasie. Eine Frau von Welt, so las er ihren Anblick aus der Ferne, im knallroten Kleid, die nicht an diesen deutschen Nordseestrand gehörte, sondern nach Cannes, oder vielleicht an den Lido von Venedig.

Dann verstand er, dass die Frau im roten Kleid in Beziehung zu zwei Buben stand, die im Wasser herumtobten. Über die endlos heranrollenden Brandungswellen sprangen sie, gaben sich unermüdlich dem ewigen Spiel der Elemente hin, stocherten im Sand herum, sammelten Muscheln auf und warfen sie wieder hinein in die Gischt. Dann wälzten sie sich selbst auf den Sand und ließen sich jauchzend überspülen, sprangen wieder auf und alles begann von vorne. Die Frau im roten Kleid beaufsichtigte dieses Treiben der Kinder. Sie war aufmerksam, gelegentlich griff sie mit Gesten ein, winkte die Kinder heran, wenn sie sich allzu weit herauswagten in die flach dahinspülenden Wellen, oder veranlasste sie zum Verlassen des Wassers, wenn es ihr genug erschien mit dem kindlichen Sommerspiel.

Aber sie selbst, die Elegante im roten Kleid, sie selbst ging nicht ins Wasser, allenfalls ihre Zehen ließ sie überspülen, und auch das eher selten. Er überlegte, mit welcher Farbe sie ihre Nägel wohl lackiert hatte, feuerrot, passend zum Kleid?

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Er konnte die Augen nicht wenden von dieser Szene, am ersten Tag nicht und auch an den Tagen darauf nicht, an denen sich alles genauso wiederholte: Die gleiche blaue Strandmuschel wurde jeweils an der gleichen Stelle errichtet, sie diente ihr als Depot für Handtücher, Tasche, Handy (das sie aber niemals mit ans Wasser nahm). Die Knaben wälzten sich auch an diesen folgenden Tagen unermüdlich im Nass, und immer stand sie im sicheren Abstand daneben, nicht gefährdet von Gischt oder dem feuchten Sand, den die tobenden Kinder aufwirbeln könnten. Immer richtete die Elegante im roten Kleid den Blick auf die Kinder, ein Blick, von dem er vom Strandkorb aus meinte zu verstehen, dass er Fürsorge gleichermaßen ausdrückte wie auch Distanz.

War sie die Mutter dieser Knaben? Dafür fehlte ihm in der ganzen Szenerie der unbedingte Hauch von jederzeitiger Zärtlichkeit, den eine Mutter doch ausmacht. Die Frau im roten Kleid berührte die Knaben niemals ohne Grund, einfach nur aus Liebe; sie riskierte niemals, dass ihr rotes Kleid durchnässt werden könnte bei mütterlicher Annäherung. Sie fotografierte sie nicht und sie bot ihnen nichts zu trinken an und lüftete keine Plastikboxen mit vorgeschnittenen Obststücken. Auch das Verhalten der Kinder sprach gegen die Annahme, dass die Elegante ihre Mutter war. Die Knaben beschäftigten sich stets mit sich selbst, quengelten nicht an sie hin, soweit er das auf die Entfernung erkennen konnte, bezogen sie nicht ein in ihr Spiel, verlangten nichts, als wüssten sie, dass sie auch nichts von ihr zu erwarten hätten – außer Aufsicht und Eingriff im Notfall, der nicht eintrat.

Eine Nanny vielleicht? Ein Au-pair? Eine Tante? Oder doch eine Mutter? Es soll ja distanzierte Mütter geben, dachte er sich, vielleicht hasst sie das Meer und den Sand, erträgt das heranbrandende Wasser nur auf Distanz? Vielleicht zwingt sie sich aus Liebe zu den nasstobenden Knaben mit größter Disziplin dazu, dennoch hier zu stehen, so elegant im Sand im roten Kleid, statt trittsicher dort zu flanieren, wo sie sich zugehörig fühlte: auf den Boulevards der Städte, in den Foyers der Theater, zwischen den Tischen edler Restaurants?

Er hatte für den Strandkorb Bücher dabei, aber er konnte nicht lesen. Das Meer berauschte ihn, und mehr noch lenkte ihn der Blick zu ihr ab. Er erwog, sich der Frau im roten Kleid wie zufällig zu nähern, ihre Gesichtszüge mit einem Seitenblick zu erfassen, ihr Alter abzuschätzen. Ihr Geheimnis zu lüften! Wie gerne hätte er sie gefragt, ob diese sich geduldig immerfort im Nassen wälzenden Knaben die ihren sind? Und ob sie mehrere solche roten Kleider besäße, ob vielleicht ihr ganzer Kleiderschrank nur eine Ansammlung roter Kleider wäre, da sie nun doch schon am dritten Tag in immergleicher rotstrahlender Eleganz hier erschienen war?

Sein Anstand verbot ihm solche plumpe Annäherung, und so blieb er im Strandkorb. Immer wieder blickte er zu ihr hinüber, verfolgte ihre eleganten Bewegungen, auch dann, als sie schließlich das Gestänge der Standmuschel zusammenklappte, die verstreuten Schaufeln und Eimer der Kinder sorgsam hineinsortierte in ein Wägelchen, ohne selbst auch nur ein Stäubchen Sand aufzuwirbeln. Sie beorderte die nassen Knaben zu sich und wies sie an, sich anzuziehen. Es nahte der Abend, und die Sonne würde bald ins Meer eintauchen. Etwas stärker aufkommender Wind fuhr der Eleganten in das rote Kleid, setzte es in wirbelnde Bewegung, so dass sie, wie einst Marilyn Monroe, es bändigte mit der rechten Hand, während sie mit der linken das Wägelchen durch den Sand zerrte.

Lachte sie dabei? Er konnte es nicht sehen, nur den Knaben blickte er hinterher, die ihr willig folgten.

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Am vierten Tag, da kam sie nicht mehr. Er war enttäuscht und rätselte, wie er mit der Leere umgehen sollte, die sie hinterlassen hatte. Es fehlte dem breiten Horizont des Meeres ihre elegante Erscheinung als Vertikale. Es fehlte dem Grau des Sandes und dem blassen Blau des Himmels das Rot ihres Kleides. Er wanderte an der Brandungskante entlang, stets den Blick auf den Strand gerichtet – war da irgendwo, vielleicht an neuer Stelle, die blaue Strandmuschel? Stand da vielleicht doch irgendwo die Frau im roten Kleid? Aber sie blieb verschwunden, ihr Aufenthalt am Meer mochte vorüber sein, ihr Auftrag zur Beaufsichtigung dieser Knaben beendet. Nun war alles wie immer.

Dann waren auch seine Tage am Strand vorbei. Er reiste zurück in den herbstlichen Alltag der großen Stadt. Am ersten Morgen zuhause griff er nach der Zeitung. „Mein besonderes Urlaubserlebnis“ war die Seite überschrieben. Die Redaktion der Zeitung hatte Leserinnen und Leser aufgefordert, ungewöhnliche Erlebnisse aus den zu Ende gegangenen Urlaubstagen zu schildern. Ein Foto fiel ihm auf: Eine schöne junge Frau kam da zu Worte, mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht, umrahmt von wild lebendiger, brauner Lockenpracht. Die Mutter zweier Kinder berichtete von ihren viel zu kurzen Urlaubstagen am Nordseestrand. So glücklich seien die Kinder gewesen beim fröhlichen Spiel im Wasser. Sie hätte ihnen stundenlang dabei zusehen können. Aber es habe da einen Typ im Strandkorb gegeben, mit ausgeleiertem grünen T-Shirt, der sie und ihre Kinder unablässig gemustert habe. Auf den hätte sie gerne verzichtet.

 

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Ein Justizmord, die Nazis und der Papst

Zur Geschichte des „Tag der Arbeit“ am 1. Mai

Vielleicht war es im Mai. Wir schreiben das Jahr 1872, ziemlich genau vor 150 Jahren. Vielleicht erlebte damals ein junger Mann noch ein letztes Mal in Deutschland einen Sonnentag auf dem Höhepunkt des Frühlings, einen Tag voll blühenden Flieders, ein Tag der blumenübersäten Wiesen.

Kein Mörder, sondern ein Justizopfer: August Spies aus Deutschland. Foto: Chicago Historical Society, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=755968

Dann verließ der junge Mann Deutschland. Er bestieg ein Schiff, bezog darin ein Massenlager, vermutlich tief unten im stickigen Bauch des Ozeanriesen. Seine Reise war eine Flucht vor der Armut und sie brachte ihn nach New York.

Der junge Mann war der im Hessischen geborene Försterssohn August Spies. Er war erst 17 Jahre alt, als sein Vater starb. Spies´ Familie geriet deshalb in tiefe Not. Sozialsysteme, wie wir sie heute kennen, gab es nicht. August war das älteste Kind und arbeitsfähig, also musste er gehen. Mutter und Geschwister blieben zunächst in Deutschland zurück; später holte er sie nach.

Ein Streik veränderte die Weltsicht von August Spies

Spies schlug sich durch in der neuen Welt. Er begann in New York eine Lehre als Möbeltischler, zog um nach Chicago und begann sich für die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu interessieren. Dann erlebte er als 22-jähriger etwas, das sein weiteres Denken und Handeln grundlegend prägen sollte. Würde man es in unser deutsches Heute übertragen, dann muss man sich diese Ereignisse aus dem Jahr 1877 in den USA etwa so vorstellen:

Den Mitarbeitenden der Deutschen Bahn, den Schaffnern und Lokführerinnen, den Stellwerkern und Rangierkräften, den Werkstattmitarbeitern und dem Reinigungspersonal – einfach allen – wird zum dritten Mal innerhalb eines Jahres mitgeteilt, dass ihre Gehälter gekürzt werden. Die wirtschaftliche Lage sei schlecht, heißt es zur Begründung, außerdem habe ein Krieg das Land ruiniert. Daraufhin treten die empörten Angestellten der Bahn an verschiedenen Orten in den Streik. Immer mehr Eisenbahnerinnen und Eisenbahner schließen sich landesweit an. Kaum noch ein Zug wird gewartet, die Gleise werden blockiert, keine Fahrkarten mehr verkauft, die Loks bleiben stehen. Der Vorstand der Bahn ruft den Staat zur Hilfe – und der schickt die Bereitschaftspolizei. Mit Knüppel und Schusswaffen kämpft der Staat die Arbeitnehmer nieder, diese reagieren mit Vandalismus: Gebäude werden niedergebrannt und Lokomotiven zerstört. Nach mehr als zwei Monaten Verwüstung und Gewalt gewinnt der Staat die Oberhand. Im ganzen Land hat der Kampf der Streikenden gegen die Polizeigewalt mehr als 100 Tote gefordert.

Der Große Eisenbahnstreik von 1877, die sozialen Ungerechtigkeiten, die ihn ausgelöst haben, und die Gewalt, mit der er beendet wurde, erschütterten die USA. August Spies machten die Ereignisse um die staatliche Niederschlagung des Streiks gegen die zunächst unbewaffneten Streikenden so wütend, dass er sich einer paramilitärischen Arbeiterorganisation anschloss. Später gründete er eine Arbeiterzeitung und wurde ihr Herausgeber und Chefredakteur.

Eine Bombe, ein Justizmord

Neun Jahre später, am 1. Mai 1886, stand August Spies in Chicago auf dem Haymarket und hielt eine flammende Rede. Er brandmarkte die Ungerechtigkeit der Arbeitsordnung. Er verlangte bessere Löhne und einen gesetzlichen Acht-Stunden-Arbeitstag für die Werktätigen. Wieder eskalierte die Situation durch Gewalteinsatz der staatlichen Milizen. Es folgten über mehrere Tage Großdemonstrationen, denen der Staat jeweils mit brutaler Gewalt begegnete. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen wurden am 3. Mai sechs streikende Arbeiter erschossen, etliche weitere verletzt. Am 4. Mai explodierte auf dem Haymarket eine Bombe, deren Herkunft bis heute ungeklärt ist.

Das dadurch verursache Chaos nahm die Polizei zum Anlass, die Streikanführer zu verhaften. Acht Männer, darunter August Spies, wurden für die Bombe verantwortlich gemacht, als „Mörder“ angeklagt, zum Tode verurteilt und hingerichtet. August Spies starb im Herbst 1887 durch Erhängen. Sechs Jahre später rehabilitierte der Gouverneur von Illinois die Getöteten: Ein Zusammenhang ihrer gewerkschaftlichen Agitation mit der Bombe sei nicht nachweisbar.

Wofür werben eigentlich die Plakate seit Mitte April?

Diese Geschichte könnte im Kopf haben, wer sich an diesem Sonntag – geeignetes Wetter vorausgesetzt – im Biergarten ein kühles Bierchen bestellt. Auf dem Weg dorthin hat sich vielleicht sogar der eine oder andere gefragt, wofür die Plakate eigentlich werben, die der Deutsche Gewerkschaftsbund jedes Jahr ziemlich lieblos ab Mitte April an die Laternenmasten klemmt.

Wofür wird hier geworben? Aktuelles Plakat des DGB zur Maikundgebung vor den Werkstoren von BOSCH in Stuttgart-Feuerbach.

Der radikal-anarchistische Arbeiterführer August Spies, das deutschstämmige Opfer eines amerikanischen Justizmordes, zählt zu den Urvätern des 1. Mai als Feiertag. Die internationale Arbeiterbewegung erhob in Andenken an ihn und an den Kampf der Streikenden auf dem Chicagoer Haymarket erstmals den 1. Mai 1890 zum internationalen Kampftag der Werktätigen. Die damals Mächtigen beeindruckte das kaum. Erst mehr als 40 Jahre später waren es in Deutschland ausgerechnet die Nationalsozialisten, die diesen Schritt vollzogen und den 1. Mai zum arbeitsfreien „Tag der nationalen Arbeit“ erklärten. Ein Paradebeispiel für ideologische Aneignung: Am 1. Mai 1933 erlebten die deutschen Berufstätigen erstmals den Feiertag zu ihren Gunsten, aber am Tag darauf, am 2. Mai 1933, stürmten Nazi-Schergen die Häuser der deutschen Gewerkschaften, betrieben ihre nationalsozialistische „Gleichschaltung“ und verhafteten ihre Anführer.

Der 1. Mai: Eine ideologische Projektionsfläche

Nach dem Krieg erbte die junge Bundesrepublik Deutschland den weltlichen Mai-Feiertag. Oft strahlendes Frühsommerwetter, keine Maloche, und noch dazu kein Kirchenbesuch – der 1. Mai war der Lieblingsfeiertag der aufkommenden deutschen Freizeitgesellschaft. Immerhin, wer sich in den 60er und 70er Jahren gesellschaftlich engagierte, empfand es noch als edle Werktätigen-Pflicht, auf die gewerkschaftliche Maikundgebung zu gehen. Ein Großereignis war das, Zigtausende auf den Marktplätzen, die Radiosender übertrugen die Maikundgebungen aus verschiedenen Städten ihres Sendegebietes live in einer Konferenzschaltung wie am Samstagnachmittag die Bundesliga.

Abends dann, in der „Tagesschau“, da waren die Bilder aus Ostberlin und aus Moskau oder Peking zu sehen. Endlose Paraden defilierten vor den Tribünen, furchteinflößende Waffen rollten vorbei, fröhliche Erzieherinnen schwenkten gemeinsam mit den von ihnen beaufsichtigten Kindern im sozialistisch gradlinigen Gleichschritt die roten Fähnchen. In der kommunistischen Welt wurde der „Tag der Arbeit“ zu Schwerstarbeit für Paraden-Organisatoren und Ordensspangen-Festnäherinnen. Auf den Tribünen saßen alte Männer, die von der Situation der Werktätigen keine Ahnung hatten, sich aber als Vertreter der siegreichen Arbeiterklasse fühlten.

Neue Aufgaben für „Josef den Arbeiter“ aus der Weihnachtskrippe

In diesem ideologischen Getümmel rund um den „Tag der Arbeit“ wollte im Jahre 1955 ein anderer alter Mann nicht beiseite stehen. Der fast 80-jährige Papst Pius XII. erhob einen prominenten Zimmermann in den Status der „Arbeiters“ und machte damit den 1. Mai zu einem katholischen Gedenktag. Die Ehrung der Arbeit sollte nicht den atheistischen Systemen des Ostblocks allein überlassen bleiben. „Josef der Arbeiter“ heißt seither jener gütige, uneheliche Vater von Jesus, uns allen besser bekannt als der Mann neben dem Kindlein in der Weihnachtskrippe.

Prost! – Ein Hoch auf alle, die am 1. Mai arbeiten

August Spies hat sich das alles am 1. Mai 1886 bestimmt nicht so gedacht. Erreicht hat er einiges: Der 8-Stunden-Tag ist heute in den reichen Teilen der Welt die Regel. Und der arbeitsfreie Feiertag 1. Mai gilt in vielen Ländern für alle, die das Glück haben, den dafür passenden Beruf gewählt zu haben. Denn arbeitsfreier Feiertag für viele heißt besonders viel Arbeit für wenige, die auf unsere Sicherheit, unsere Gesundheit, unsere Mobilität achten – oder uns das Bier an den Biergartentisch schleppen.

Also lasst uns das Glas heben: Ein frisch gezapftes Maibock auf August Spies – und auf alle, die am 1. Mai arbeiten!

 

Zur Geschichte des 1. Mai siehe auch auf der Website des DGB: https://www.dgb.de/themen/++co++d199d80c-1291-11df-40df-00093d10fae2

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Moderner Narziss im Blütenmeer

Ein Besuch bei der Tulpenblüte in Holland

Reihe um Reihe recken die Tulpen, abertausende, vielleicht Millionen ihre farbigen Köpfe der Sonne entgegen. Dort, wo sie dicht an dicht stehen, schützt sie ihre eigene Pracht davor, einfach zertrampelt zu werden. Aber an ihrem Ende franst die Reihe aus, wird löchrig, und eine einzelne Pflanze hat schließlich das traurige Schicksal, dort ganz am Rand zu stehen, als äußerster Vorposten der Blütenpracht, gerade noch dazugehörig und doch schon gefährlich vereinzelt.

Diese Tulpe ist es, die größte Gefahr läuft, von Narziss übersehen zu werden.

Der schöne Jüngling war verliebt in sein Spiegelbild

Um diesen schönen Jüngling aus der griechischen Mythologie geht es in diesem Text. Die gelbe Frühlingsblume „Narzisse“, hierzulande auch oft als „Osterglocke“ bekannt, verdankt ihm ihren Namen. Die Sage erzählt, dass Narziss sich so sehr in sein eigenes Spiegelbild verliebt habe, dass er von den Göttern schließlich in diese Blume verwandelt worden sei. Gemeint war dies als eine Art Erlösung oder Gnade, damit die grenzenlose Eigenliebe irgendwann und irgendwie enden kann.

Narziss – verliebt in sein eigenes Spiegelbild – Gemälde von Michelangelo Merisi da Caravaggio (ca. 1599) – Foto: Gemeinfrei via Wikimedia

Auch ein Narzissenfeld, fast bis zum Horizont reichend, gehört zur „Tulip Barn“, der „Tulpenscheune“, einer Art Schaubauernhof für Tulpenfreunde in der holländischen Blumenregion Bollenstreek. Man sollte nicht überrascht sein, dort auf Selbstverliebtheit zu stoßen, denn schon die Webseite wirbt mit eindeutigen Verlockungen: „Entdecken Sie unseren Selfie-Garten“, wird versprochen, und: „Wir haben über 20 tolle Fotomotive platziert und ihn so zum Traum eines jeden Instagrammers gemacht.“

Dieser Lockruf zum unproblematisch Schönen, zum scheinbar Harmonischen, zum unpolitischen Blühen und Wachsen, das die Schrecknisse dieser Welt nicht kennt, besser noch: farbig überstrahlt – hallt weit hinaus während der Wochen der Tulpenblüte in Holland. Menschen aus aller Welt pilgern dorthin, wandern und radeln, oder stauen sich zu den Großparkplätzen. Allesamt sind sie voller Erwartung auf das magische Blütenwunder.

Der Tulpenwahnsinn erblüht zu Millionen

Zu Recht. Der Tulpenwahnsinn erblüht zu Millionen in praller Farbenfreude, soweit das Auge reicht. Mal in einheitlicher Farbe knallt einem schrilles Rot oder leuchtendes Gelb entgegen, dann wieder in gemischter Pflanzenformation die ganze bunte Welt der Tulpen, Hyazinthen oder Narzissen. Es ist fast des Schönen zuviel.

Auf der Suche nach der (eigenen?) Schönheit: Tulpenblüte in Holland als modernes Narziss-Erlebnis.

Eitel sind sie, diese Blüten, wie sie sich in ihrer vergänglichen Farbpracht dem Betrachter entgegenöffnen, ihn mit ihrem Duft locken, mit ihrer Vielfalt überwältigen! Aber noch eitler ist doch die Spezies Mensch, die Eintritt bezahlt, um Teil dieser Natur-Inszenierung werden zu können. Den „Traum eines jeden Instagrammers“ bereitzustellen, bedeutet: Nicht nur die blühende Überwältigung muss her, sondern auch sonst alles, damit schöne Fotos entstehen.

Ein bunt betulpter Oldtimer steht da, eine romantische Hollywood-Schaukel lädt zum Wippen im Blütenkranz, rosa Stühle im Tulpenfeld sorgen für die richtige Kulisse. Farblich passende Schmetterlingsflügel verwandeln den Fotografierten in ein liebenswertes Rieseninsekt, und auch menschhohe Spiegel im Tulpentsunami dürfen nicht fehlen. Narziss, hier als Tulpenfreund, will sich vor dem Hintergrund der Tulpenpracht selbst sehen und bewundern.

Es klickt und klackt und posiert sich

Ein lebendiges, selbstverliebtes Gewusel herrscht also zwischen den prächtig erblühten Pflanzreihen, es klickt und klackt und posiert sich das Volk der Narzissten vor dem bunten Hintergrund. Da werden Röcke gerichtet, Sakkos geschlossen und Haare drapiert, es wird gehüpft und getanzt und sogar manche filmende Drohne schwirrt über das Blütenmeer.

Aller Narzissten Blicke sind so gerichtet auf die eigene Schönheit, und die der Blüten wird zur Kulisse für eine große Inszenierung der Selbstliebe. Da bleibt kein Blick übrig, hinab vom Display, diesem Spiegelbild der Moderne, hinunter auf den grauen Grund, aus dem die Blüten herauswachsen, sich freigekämpft haben aus ihrer Zwiebel, das harte Erdreich durchstoßen haben, getrieben von ihrer Sehnsucht nach Licht.

Und ach – die arme kleine Tulpenpflanze, die das Schicksal ganz an den Rand der Pracht gedrängt hatte, sie lebt schon nicht mehr. Abgeknickt ist die Blüte, ein Selbstverliebter ist draufgetreten auf der Suche nach dem schönen eigenen Spiegelbild.

 

Mehr über die Mythologie des Narziss auf Wikipedia. 

Der Besuch der Tulpenblüte in Holland hinterlässt bleibende Eindrücke. Einen Eindruck dazu gibt es auf der Website der Tulip Barn in Hilegom. 

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Tag 7: Fast ganz allein im Haus des Volkes

Größer als die Kirche: Das Bauhaus-Ensemble „Haus des Volkes“ dominiert das Stadtbild des Grenzortes Probstzella. Das Gebäude und seine Geschichte sind eine Sensation. Aber den Ort kennen alle nur wegen seines Schicksals als Grenzbahnhof.

Tag 7 (20. März 2025)

Von Probstzella nach Kleintettau

Mein Weg führt weiter Richtung Westen, über die rauschende Loquitz auf der gegenüberliegenden Seite den Hügel hinauf auf dem Kolonnenweg. Bald habe ich eine aussichtsreiche Höhe erreicht, um meinen Blick zurück auf Probstzella zu richten. Millionen Menschen haben schlechte Erinnerungen an den Ort, der für Reisende nur aus dem Grenzbahnhof zu bestehen schien. Zwischen 1949 und 1989 mussten dort alle Züge von und nach Berlin aus dem Süden der Bundesrepublik anhalten, hunderttausende Leibesvisitationen, Gepäckkontrollen, Schikanen und Erniedrigungen wurden hier durchlitten, manche haben auch Gewalt erfahren.

Vor allem aber sind mit Probstzella Erinnerungen an Ängste verbunden. Über den DDR-Grenzbahnhof ist viel geschrieben worden, und heute erinnert ein kleines Museum im Bahnhof an seine Geschichte. Das eigentliche Gebäude, ein hässlicher Betonbau, das damals der wahre Ort von Willkür auf deutschem Boden war, wurde bald nach dem Mauerfall abgerissen; bis zuletzt haben historisch Bewusste (u.a. auch die heutige Bundestags-Vizepräsidentin Göring-Eckardt) erfolglos dagegen gekämpft.

Einen Vorteil hat dieser Eingriff in die historische Substanz immerhin. Die Sicht auf den ganzen Ort ist jetzt frei, wenn der Wanderer vom gegenüberliegenden Hügel hinüberblickt auf das Städtchen. Aus der Entfernung wird das Grauen klein und das Malerische groß. Und so ist zu sehen, dass das größte Gebäude dieser Stadt nicht die Kirche ist – wie sonst so oft – sondern ein mächtiger Bau mit dem Namen „Haus des Volkes“ direkt gegenüber dem alten Bahnhof.

„Oh Gott, sozialistische Propaganda“, mag nun mancher ausrufen, wenn er diesen Namen hört – und liegt damit meilenweit daneben. Dieses gewaltige Haus, das heute wieder mehrere Säle, eine Bowlingbahn, ein Kino, einen Billardraum, Tagungsräume, eine Sauna und ein Hotel beherbergt, zu dem ein Park gehört mit Musikpavillon, Kneippbecken und Seerosenteich – dieser Bau heißt so, weil schon im Jahr 1925 sein Erbauer es so wollte.

Franz Itting war in Probstzella zu Geld gekommen, weil er die neu aufkommende Elektrizität herstellte und verkaufte. Itting war ein schwerreicher Industrieller – und ein überzeugter Sozialdemokrat. Itting wollte ein sozialer Vorbildunternehmer sein. Er ließ für seine Arbeiter Wohnungen bauen, schloss für sie Lebensversicherungen ab, führte die 40-Stunden-Woche ein. Und er ließ für die Stadt, mit deren Elektrifizierung er so reich geworden war, ein gewaltiges Gebäude errichten im damals aktuellen Bauhaus-Stil – zur Förderung der kulturellen und gesellschaftlichen Gemeinschaft –, und nannte es „Haus des Volkes“. Schon den Nazis war Itting als Person und die offene Idee seines „Haus des Volkes“ suspekt. Er wurde drangsaliert, zeitweise ins Konzentrationslager gesperrt, und sein großes Haus durfte auch nicht mehr dem Volk gewidmet sein. Itting überlebte den Terror, aber dann kamen die kommunistischen Ideologen an die Macht– und auch ihnen konnte er es nicht Recht machen. Sie misstrauten seinem Reichtum, enteigneten den Sozialdemokraten und brachten ihn schließlich dazu, sein Leben und einen kleines Teil seines Besitzes wenige Kilometer entfernt auf die bayerische Seite der Grenze nach Königsstadt zu retten, als das noch möglich war.

Das „Haus des Volkes“ diente dann als Veranstaltungsraum und den Grenzsoldaten als Büro und Unterkunft. Und es hieß nun auch wieder so. Heute steht es unter Denkmalschutz, und mit bemerkenswerten Engagement versucht ein privater Betreiber, es als Hotel- und Veranstaltungsstätte in stabilem Leben zu erhalten. Keine einfache Aufgabe, angesichts des gewaltigen Raumprogramms und der äußeren Umstände: Der ICE fährt schon längst nicht mehr durch Probstzella, die nächste Autobahn ist weit. Wer dort übernachtet – wie ich -, erlebt viel Fläche, und wenig Menschen. Das sei in der Saison und an Wochenenden anders, versichert der Betreiber. Ich habe das „Haus des Volkes“ nicht ohne großen Respekt vor dieser Leistung wieder verlassen, und wurde bereichert um das Wissen über Franz Itting, diesen Visionär des Sozialen und Nachhaltigen, und über die Frauen und Männer, die als Architekten und Künstler dieses große Schloss für das Volk geschaffen haben.

Dann, einige Kilometer weiter, führt mein Weg zu einem Aussichtsturm, der „Thüringer Warte“. 1962 wurde sie errichtet, um in Zeiten des Kalten Krieges von bayerischer Seite einen freien Blick zu haben auf den abgesperrten Teil Deutschlands. Nun wartet die Warte inmitten dahinsterbender Fichtenwälder auf einen neuen Sinn. Auch diesen Turm hat die Baufirma von Franz Itting errichtet. Vielleicht konnte er dann von dort oben beobachten, was mit seinem „Haus des Volkes“ passiert, das so nah vor ihm lag, und für ihn doch unerreichbar war.

 

Distanz: 16,5 Kilometer, 24.000 Schritte

Begegnungen mit Wanderern: 1

Jäger-Hochsitze am Weg: 6

Alle Texte aus meinem Wandertagebuch #Grenzerfahrung finden Sie hier.

Im Text sind Weiterleitungen zum Grenzbahnhof-Museum Probstzella, zum Haus des Volkes und zu Franz Itting und zur Thüringer Warte verlinkt.

Kein Mensch ist „süß“ – Eine Sprachkritik

Warum kein Mensch illegal ist – und auch nicht „süß“

Sie finde ihn „total süß“, sagt die junge Frau über ihren Freund und blickt treuherzig. Besonders „wenn er versucht, die Hemden zu bügeln, die danach mehr Falten haben als vorher“, spottet sie milde. Der Wille zählt!

„Richtig süß“ hat die Betreuerin von Kindern mit Down-Syndrom deren Zuwendungsfreude erlebt. „Wenn die sich dauernd umarmen und so fröhlich sind,“ sagt sie und meint es positiv, „dann können wir Normalos wirklich noch viel davon lernen“. Die ganze Sinnstiftung ihrer Arbeit begründet sie damit.

„Echt süß“ findet der Kollege, wie sich seine Großeltern damit zurechtfinden, per Whatsapp den Kontakt mit ihren Enkeln zu halten. Er meint es nett – aber ist es das auch? (Foto: congerdesign auf Pixabay)

Der Kollege berichtet beim Mittagessen von einem Besuch bei seinen Großeltern. Die älteren Herrschaften hätten sich doch tatsächlich Whatsapp und Facetime angeeignet, um mit ihren Enkeln in Kontakt zu bleiben! Ehrliche, aber herablassende Bewunderung schwingt in seinen Worten: „Alte Möbel und einen verstaubten Röhrenfernseher haben die“, sagt er, „überall noch CD´s und Schallplatten, und dazwischen tippen sie auf ihrem Seniorenhandy herum – echt süß!“

Gewiss ist auch das Neugeborene aus der Nachbarschaft „ganz besonders süß“, wobei die Frage erlaubt sein darf, welches Baby denn nicht „süß“ wäre und wie die übermüdeten Eltern das „süße“ Baby beurteilen, wenn es sich gerade zur tiefsten Nachtstunde nicht beruhigen lassen will.

Sprache ist Ausdruck von Werten

Nun soll an dieser Stelle keiner Sprachpolizei das Wort geredet werden, sondern nur dem sensiblen Sprachbewusstsein. Denn Sprache ist Macht, und genau darum geht es bei der Bezeichnung „süß“ für Menschen und ihr Verhalten.

Wie mächtig Sprache als Ausdruck von Werten ist, zeigt dieses Beispiel: „Kein Mensch ist illegal“. Erstmals hat diesen Satz im Jahr 1988 (auf englisch) der jüdische Friedensnobelpreisträger und Schriftsteller Eli Wiesel ausgesprochen. Daraus ist ein internationales Netzwerk gegen Rassismus und Migrationsfeindlichkeit entstanden. Die vier Worte – „Kein Mensch ist illegal“ – haben eine einfache, aber unmissverständliche Botschaft: Niemand, der sich irgendwo auf der Welt aufhält, ist dort allein aufgrund seiner Existenz illegal. Letztlich drückt sich darin die Idee einer unveräußerlichen Menschenwürde aus: Der Mensch selbst bleibt immer legal, auch wenn er oder sie sich gesetzeswidriges Verhalten vorwerfen lassen muss, falls dafür ein Anlass besteht. Der kann vielleicht auch allein darin liegen, wenn man sich ohne einen vom Staat gewährten Aufenthaltsstatus in einem Land aufhält, das dies nicht erlaubt. Dann ist dieser Aufenthalt illegal, nicht aber der Mensch an sich. Es ist nur eine kleine sprachliche Feinheit – aber sie übt Macht über Menschen aus.

Aber das ist doch nett gemeint!

Ist das eine Nummer zu groß als Parallelität für den kleinen süßen Ausspruch? Wer jemand anderen als „süß“ bezeichnet, der meint es doch nett! Vielleicht. Und doch ist die Bezeichnung „süß“ ein Urteil. Wer in diesem Sinne angeblich „süß“ ist oder handelt, steht nicht auf einer Stufe, wird zum goldigen Mäuschen herabgestuft.

Süß ist Zucker und Schokolade, ein Wein kann süßlich schmecken und ein Parfüm so duften. Wir nennen das „Süßwasser“ süß, obwohl es gar nicht süß ist, sondern nur nicht salzig. Wenn es denn sein muss, mag man das niedliche Kätzchen „süß“ finden. Und auch manche „süße Lust“, mancher „süßer Traum“ kann den menschlichen Körper durchfluten. Die Bezeichnung „süß“ für einen ganzen Menschen oder das Verhalten aber macht die Betroffenen klein. Im feministischen Kontext wird daher diskutiert, ob die Erwartung an Frauen, sich sanft oder „süß“ zu verhalten, wesentlicher Teil ihrer gesellschaftlichen Benachteiligung sein könnte. Die Kulturwissenschaftlerin und Psychologien Ann-Kristin Tlusty hat darüber ein ganzes Buch geschrieben – mit dem Titel: „Süß“.

Verniedlichung übt Macht aus

Eine Verniedlichung kommt oft liebevoll-freundlich daher, aber sie übt auch Macht aus. Jede menschliche Kreatur ist von Geburt an gleichwertig in seiner Persönlichkeit, so millionenfach unterschiedlich die Wesensmerkmale auch sind – sympathisch oder garstig, freundlich oder abweisend, klug oder dumm –, und auch das Handeln: überlegt oder hitzig, zugewandt oder bemüht, machtbewusst oder schüchtern. Wie auch immer – aber gewiss nicht „süß“.

 

Eine weitere Sprachkritik zur Verwendung des Wortes „Dürfen“ finden Sie hier. 

Weitere Texte als #Kulturflaneur finden Sie hier. 

Kelly, „Kretsch“ und der Kampf um Kompromisse

Drei aktuelle Sichten auf die Partei „Die Grünen“

Petra Kelly und Winfried Kretschmann: Zwei Grüne. Gleich alt. Gleich leidenschaftlich. Gleich kämpferisch. Aber wofür? (Fotos: Bildersturm Filmproduktion / Archiv Grünes Gedächtnis, Heinrich-Böll-Stiftung; Staatsministerium Baden-Württemberg)

Petra Kelly und Winfried Kretschmann, grün-intern häufig „Kretsch“ genannt, wären fast gleich alt, würde Kelly noch leben. Geboren wurde Petra Kelly im November 1947, ein halbes Jahr später der heutige Ministerpräsident von Baden-Württemberg. Was sie verbindet: Beide stammen aus Süddeutschland, beide haben Anteil gehabt an der Gründung der Partei der Grünen, und beide verbinden sich mit einem großen Kampf um das Richtige. Was ist aus ihren Zielen geworden?

Erste Sicht: „Akt Now!“

Der Kinosaal ist schütter besetzt, vielleicht zwanzig Grauköpfe verteilen sich auf die dreifache Zahl an Kinosesseln. Gezeigt wird „Act now“, der soeben angelaufene Film über die grüne Ikone Petra Kelly. Nachgezeichnet wird ihr Lebensweg, ihre ans Fanatische grenzende Leidenschaft, mit der sie zur weltweit bekannten Aktivistin für mehr Gerechtigkeit, für Frieden, Feminismus und den Schutz der Natur wurde. Vielleicht war sie auch eine der ersten, die den Zusammenhang zwischen diesen Themen erkannte. Sie spricht in größter Geschwindigkeit, um so viele Worte wie möglich in die Zeit zu pressen, die ihr zum Sprechen bleibt. Kelly jettet um die Welt, hier zu den entrechteten Indianern, dort zu den Aktivisten gegen die Kernkraft. Sie fordert Honecker zum Abrüsten auf und demonstriert zu Hause gegen die Stationierung von Atomwaffen.

Die tragischen Lebensdaten der Petra Kelly sind bekannt: Mit ihr entstanden die Grünen und zogen erstmals im Jahr 1983 in den Bundestag ein; Kellys Lachen, ihr Charisma, ihre Leidenschaft waren das wichtigste Gesicht der Grünen in dieser Zeit. Aber bald zerlegten sich Partei und Fraktion in rivalisierende Grüppchen, Petra Kelly wurde immer mehr als unberechenbarer Störfaktor in der von ihr selbst geschaffenen Bewegung empfunden, als sperrig, und der Streit führte dazu, dass die westdeutschen Grünen bei der ersten gesamtdeutschen Wahl im Jahr 1990 wieder aus dem Parlament flogen. Kelly, deprimiert und erschöpft, wurde schließlich – so der Stand der heutigen Erkenntnisse über die Vorgänge, die niemand bezeugen kann – von ihrem fast 25 Jahre älteren Lebensgefährten, dem zur Friedenbewegung gewechselten ehemaligen Bundeswehr-General Gerd Bastian, ermordet, der sich anschließend selbst richtete.

Der Film „Act now!“ zeichnet diese Geschichte nach, betrachtet aber vor allem Petra Kelly aus der heutigen Perspektive. Kelly als Vorbild für Aktivisten von heute, für Fridays for Future, für den Widerstand in Lützerath. Was kann man von ihr lernen: Kelly lacht, Kelly hat eine unverwechselbare, lebendige Ausstrahlung, sie ist ikonenhaft im Aussehen, sofort wieder-erkennbar und faszinierend gewinnend in ihrer rasenden, getriebenen Leidenschaft. Kelly gibt nie Ruhe, kümmert sich um alles, setzt sich für politische Gefangene ein, nimmt jedes Schicksal persönlich, egal welches und wo auf der Welt, kennt keine Prioritäten und auch keine Kompromisse. Eine Koalition mit anderen Parteien, sagt sie, die komme für sie nicht in Frage – da müsste sie ja Abstriche machen von dem, was sie für unverzichtbar, für nicht verhandelbar halte; Abstriche von dem, wofür sie doch streite mit aller Macht. Nein, sie könne in keine Koalition eintreten.

So war das am Anfang bei den Grünen.

Zweite Sicht: Noch immer ist nicht „alles gesagt“

Kein Vergleich zum Kelly-Film: Der Saal ist ausverkauft. Mehr als 1000 Menschen haben sich zusammengefunden, vor allem sehr junge. Der Altersschnitt des Publikums liegt geschätzt höchstens bei dreißig, und sie alle haben Eintritt bezahlt. Ein Podcast wird aufgenommen, der erst endet, wenn nach Meinung des Gastes „alles gesagt“ ist. Der Gast ist Winfried Kretschmann. Security sichert das Podium ab und kontrolliert die Taschen am Eingang. Dann erzählt der „erste grüne Regierungschef der Welt“ (so die veranstaltende ZEIT), der heute 76-jährige Kretschmann davon, wie er zu den Grünen kam. Das Sektierertum hatte er während seines Studiums in maoistischen K-Gruppen zur Genüge kennengelernt, sich dem gnadenlosen Fanatismus ausgesetzt gesehen, der dort herrschte. Davon, so Kretschmann, sei er nach dieser Erfahrung für alle Zeit geheilt gewesen. Als er dann 1979 bei den Grünen begann, als Gründungsmitglied des Südwest-Landesverbandes, da war ihm klar: Gegen die Ausbreitung solchen weltverbessernden Fanatismus werde er sich zur Wehr setzen. Der Weg dorthin war lang, sagt Kretschmann, und er war ein Kampf, „ein mehr als zehnjähriger Kampf“.

In jeder Hinsicht ist dieser alte Mann ein krasses Gegenstück zur jungen Frau des Grünen-Anfangs: Ein kampferprobter Held des Realistischen sitzt da auf der Bühne, spricht leise und langsam, wägt seine Worte und dehnt seine Sätze, das Gesicht gefurcht und gezeichnet von den ungezählten Kompromissen, die er hat eingehen müssen in seinem politischen Leben. Man vertrete niemals die Wahrheit, mahnt er die Moderatoren des Abends, man werbe immer nur für die eigene Sicht der Dinge. Wäre es anders, wäre die eigene Sicht die Wahrheit, dann würden ja die anderen lügen.

Sicher gäbe es Lügen in der Politik, in letzter Zeit mehr denn je, und das müsse man auch so benennen und bekämpfen. Aber die eigene Sicht bleibe immer nur ein Werben, niemals der Anspruch auf die Wahrheit.

So ist das heute bei den Grünen.

Dritte Sicht: „Kopf hinhalten“ oder Kämpfen?

Die jungen Erben der wilden Petra Kelly haben zufällig am gleichen Tag, da das Auditorium nach fünf Stunden dem alten Mann der Grünen stehend applaudierten, ihren Austritt aus der Partei erklärt. Der Vorstand der Grünen Jugend will eine „neue, linke Jugendorganisation gründen“. „Wir glauben,“ schreiben die jungen Nicht-mehr-Grünen, in bester Kelly-Leidenschaft, „dass eine grundsätzlich andere Gesellschaft möglich wird, wenn wir es schaffen, einen Zusammenschluss all derer zu bewirken, für die ein ‚Weiter so‘ keine Option ist.“  Und weiter: „Ob Lützerath, das 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr, die Asylrechtsverschärfungen oder die Sparpolitik: Wir sind nicht länger bereit, unseren Kopf für eine Politik hinzuhalten, die wir falsch finden.“

„Den Kopf hinhalten“ für Kompromisse? Da sind welche unterwegs, die in Kretschmanns Sinn die alleinige Wahrheit für sich beanspruchen. Die sich nicht mehr abfinden wollen mit Differenzierungen. Auf diesem Feld der gefahrlosen Besserwisserei werden sie nicht alleine sein, da tummeln sich bereits einige – allen voran die Wagenknechte, die mit dem Versprechen von Kompromisslosigkeit („Krieg oder Frieden“ – „Maulkorb oder Meinung“) gerade erst in drei ostdeutschen Bundesländern so viele Stimmen eingefangen haben, dass sie nun zu Kompromissen gezwungen sein werden. Ob sie wohl dann der Fluch der Beliebigkeit heimsuchen wird, die Last des Konkreten, der Verantwortung des mühseligen Handelns an der Macht statt des bequemen Forderns im Publikum – der Kampf also, der dem alten Kretschmann die tiefen Furchen ins Gesicht gezeichnet hat?

Petra Kelly musste – und konnte – sich dieser Herausforderung niemals stellen. Wäre sie nicht tot – vermutlich ermordet worden – welchen Weg hätte sie dann wohl genommen? Winfried Kretschmann jedenfalls kämpft noch immer. Schlechte Umfragen? Aufgeben ist für ihn keine Option. Aber zuhören, überzeugen, nachdenken.

Und kämpfen – für das Mögliche, sagt er, nicht für die Wahrheit.

 

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier.

„Act Now!“ läuft derzeit in Programmkinos. Eine Liste der Orte, an denen der Film gezeigt wird, finden Sie hier. 

Der Podcast „alles gesagt“ mit Winfried Kretschmann wurde am 25. September 2024 vor Publikum in Stuttgart aufgenommen und ist kostenlos online abrufbar. 

Der Aufruf der „Grünen Jugend“ findet sich auf der Website zeitfuerwasneues2024.de

 

 

 

Der junge Mann auf dem Blechdach

Warum es keine Gleichgültigkeit gegenüber dem Töten geben darf

„Du sollst nicht töten“ – Das fünfte christliche Gebot vermittelt eine einfache Botschaft. Ist noch Platz dafür in einer verrohenden Gesellschaft? Foto: Bruno, lizenzfrei via Pixaby

Der junge Mann liegt auf dem Blechdach und ist tot. Um ihn herum ist die ganze Welt in Aufruhr, denn der junge Mann hat kurz zuvor einen Schuss abgefeuert, der das Ohr des ehemaligen Präsidenten der USA traf. Vermutlich hatte Thomas Matthew Crooks die Absicht, Donald Trump mit einem Kopfschuss zu töten. Nur sehr glückliche Umstände haben das verhindert, eine spontane Kopfdrehung seines Opfers, vielleicht eine Unkonzentriertheit, das Unvermögen oder eine Ablenkung des Schützen. Ein Besucher von Trumps Wahlkampfveranstaltung hatte nicht solches Glück; er wurde tödlich getroffen, da er in der Schussbahn saß.

Wem gilt das Bedauern? Ganz gewiss diesem Besucher, der Trump zujubeln wollte und das nicht überlebt hat. Auch Trump, denn auch er, trotz allem Hass und aller Spaltung, für die er verantwortlich ist, muss nicht hinnehmen, ermordet zu werden. Aber gilt das Bedauern auch dem Schützen?

Die Verrohung der Gesellschaft beginnt mit dieser Frage

Die Verrohung der Gesellschaft beginnt mit dieser Frage. Sie zeigt sich nicht nur in dem tödlichen Bestreben des Attentäters, dem Leben von Donald Trump gewaltsam ein Ende zu setzen, warum auch immer. Sie zeigt sich auch in dem Fehlen von Innehalten, im Ausbleiben von öffentlich wahrnehmbarem Bedauern über den Tod des jungen Mannes auf dem Blechdach. „Der Attentäter wurde durch Scharfschützen getötet“, meldeten die Agenturen lapidar. Sein Tod wird wie selbstverständlich hingenommen.

Osama Bin Laden hatte tausende Menschen auf dem Gewissen. Sie verbrannten, wurden erschlagen und verschüttet in den Ruinen der zusammenstürzenden Türme von New York am 11. September 2001. Hat er den Tod „verdient“? Als amerikanische Spezialeinheiten ihn zehn Jahre später aufspürten, machten sie kurzen Prozess mit ihm – besser: gar keinen Prozess. Sie töteten ihn. Seine Leiche warfen sie ins Meer, damit kein Grab übrigbleiben möge von dem Massenmörder.

Aus dem Nahost-Konflikt kennen wir die Pushmeldungen über gezielte Tötungen, und wir schauen kaum noch auf. Israel wehrt sich gegen seine Todfeinde, tötet regelmäßig diesen oder jenen Kämpfer, Kommandeur, General. Sie sind die Verantwortlichen dafür, dass Juden um ihr Leben fürchten müssen, auch jetzt wieder, sogar in ihrem eigenen Staat, zuletzt beim brutalen Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023. Diese Menschen haben selbst getötet und hatten vermutlich kein Bedauern mit ihren Opfern. Dürfen wir sie deshalb auch einfach töten? Festnahme, Prozess, Rechtsstaatsverfahren? Offensichtlich keine Optionen im Anblick des allseitigen Hasses.

Die Attentäter auf Kennedy und Reagan wurden noch verhaftet

Die gesellschaftlichen Veränderungen zeigen sich auch in der rigiden Hinnahme solcher final-tödlicher Gewalt als erste, nicht mehr als letzte Option. Die Attentäter auf  John F. Kennedy und Ronald Reagan wurde noch festgenommen, die Mörder von John Lennon und Martin Luther King ebenfalls und blieben Jahrzehnte im Gefängnis. Und auch jener psychisch kranke Mann, der am 12. Oktober 1990 auf Wolfgang Schäuble geschossen hatte und ihm damit ein Weiterleben im Rollstuhl aufzwang, wurde überwältigt und in einer psychiatrischen Klinik behandelt.

Wahrscheinlich kann es keine Welt geben ohne das Töten von Menschen durch Menschen. Was aber möglich scheint, ist eine Welt, in der dieses Töten von Zaudern, Skrupeln und Bedauern begleitet wird. Eine Welt, in der das Töten – auch eines offenkundig Schuldigen – nicht als selbstverständlich hingenommen wird. Es könnte eine Welt sein voller Bedauern über das Versagen, über die traurige Unmöglichkeit, das Leben dieses Menschen nicht geschont zu haben.

„Du sollst nicht töten“ – Die Botschaft ist einfach

Wer will einem Soldaten verübeln, dass er sein angreifendes Gegenüber tötet, wenn er sich doch gewiss sein muss, dass dieser ihm andernfalls das Leben nehmen wird? Und ähnliches dürfte auch für den Mann mit Gewehr auf dem Blechdach gelten, der auf Trump anlegt. Was anderes soll der Scharfschütze des Secret Service mit ihm machen – außer den „finalen Rettungsschuss“ zu setzen? Vielleicht so zielen, dass der Schütze am Leben bleibt, aber unfähig wird, weitere Schüsse abzugeben? Welches Risiko bedeutet das für den Präsidenten, wenn es misslingt?

„Du sollst nicht töten“, das fünfte christliche Gebot, hat eine einfache klare Botschaft: Das Töten ist verboten, es ist eine Ultima Ratio, kein Spaß, nichts, an das wir uns gewöhnen dürfen. Es ist niemals „gerecht“, zu töten.

Verrohung als Denk- und Geschäftsmodell

Nichts am Töten ist leichtfertig zu erledigen, das weiß jeder Vernünftige. Das industrielle Töten der Tiere, die vom Lebewesen zur Nahrung werden sollen, wird an Orte ausgelagert, die niemand sieht und Menschen überlassen, die kaum jemand kennt. So kauft sich eine Gesellschaft frei von der Verrohung, die mit dem Töten einhergeht. Noch schlimmer: Die Verrohung ist zum Denk- und Geschäftsmodell geworden. Gesellschaftliche Spaltung, kommerziell ausgebeuteter Hass, dümmlich bis krankhaft ausgeübte Rechthaberei, virale Verschwörungsblasen, Egoshooter-Spiele und (vor allem in den USA) Waffenverfügbarkeit haben das Verbot des Tötens längst relativiert.

Es gilt, der gedankenlosen Gleichgültigkeit gegenüber dem Töten Einhalt zu gebieten: „Spiele“, die auf dem lustvollen Töten basieren, sind kein Spaß. Filme, die das Töten zur Unterhaltung degradieren, muss man nicht ansehen. Postings, die unverhohlene Freude über den Tod Andersdenkender ausdrücken, gehören gelöscht. Und Nachrichten, die das Töten als selbstverständlichen Teil gesellschaftlicher Wirklichkeit darstellen, sind mangelhaft.

Denn jeder fremde Tod bringt immer auch den eigenen näher. Vergesst das nicht.

 

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Vertreibung aus dem Paradies

Eindrücke über Gerhart Hauptmann

Die Totenmaske von Gerhart Hauptmann. Er starb im Juni 1946 in „Haus Wiesenstein“, der „Schützhülle meiner Seele“.

Die schlesischen Weber hatten keine Häuser. Sie waren bitterarm, verlorene Gestalten im Mühlwerk von Ausbeutung und Ungerechtigkeit. Ein löchriges Dach über dem Kopf, eine Hütte irgendwo, das war das Höchste der Gefühle für diese Menschen, die ihr karges Auskommen mit textiler Heimarbeit zu bestreiten gezwungen waren. Ihnen hat der damals sozialkritisch eingestellte deutsche Schriftsteller Gerhart Hauptmann ein Portrait gewidmet. „Die Weber“ heißt das Theaterstück, für das Hauptmann im Jahr 1912 den Literaturnobelpreis erhielt. Es geht darin um die soziale Wirklichkeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts. 1844 hatten die Weber in Schlesien (und auch anderswo) Aufstände angezettelt, weil sie es nicht mehr ertrugen, herabgewürdigt und um den kargen Lohn ihrer Arbeit gebracht zu werden. Sie wollten es nicht mehr hinnehmen, in ihrer Ehre beleidigt, entwürdigt  und immer tiefer in den Morast der Armut gestoßen zu werden von denen, die schon alles haben und noch viel mehr, und deren Gier trotzdem niemals gestillt sein würde.

Wer „Die Weber“ heute erlebt als modern interpretiertes Schauspiel, sieht die Bedrückten unserer Zeit: Die Alleinerziehende, die sich rechtfertigen muss für das Bürgergeld, mit dem sie das ärmliche Leben für sich und ihr Kind bestreitet; die Kleinrentnerin, deren Monatszahlung kaum für die Miete reicht; der verschämte Flaschensammler am Rande der Überflussgesellschaft; die Geflüchteten, die in trostlosen Container-Unterkünften jahrelang auf eine Entscheidung über ihr weiteres Schicksal warten.

Hauptmanns Weber hatten keinen Anspruch auf Würde

Immerhin, sie alle haben heute – anders als Hauptmanns Weber – einen in unserem Grundgesetz verbrieften Anspruch auf jenes Existenzminimum, das ihnen ihre Würde garantieren soll. Dafür müssen sie sich auf ein Amt begeben, ihre Rechte geltend machen, von denen sie oft gar nichts wissen, in einer Sprache, die sie nicht verstehen. Und noch dazu müssen sie sich die Ohren verkleben und die Augen verbinden, um sich vor den ehrabschneidenden Pöbeleien zu schützen, die ihnen Faulheit und berechnende Niedertracht unterstellen.

Hauptmann (1862 – 1946) hatte den sozialkritischen Ton gefunden, um diese schreienden Ungerechtigkeiten zeitlos gültig zu beschreiben. Er selbst aber lebte vom Erfolg auch dieses Werkes bestens etabliert in seinen Villen in Erkner, auf Hiddensee und im Riesengebirge. Damit war er in guter Gesellschaft mit anderen literarischen Berühmtheiten seiner Zeit: Fünfzig Jahre zuvor hatte Viktor Hugo (1802 – 1885) das Schicksal der „Elenden“ („Les Miserables“) beschrieben und mit dem Erfolg des Buches sich ein Prachthaus im Exil auf Guernsey leisten können. Und auch der Kommunist Pablo Neruda (1904 – 1973) hatte kein schlechtes Gewissen, politisch wie literarisch die soziale Gleichheit zu fordern und selbst in Saus und Braus in mehreren Häusern in Chile zu wohnen.

Ein deutsches Leben in den Wirren des 20. Jahrhunderts

Nun kann ein Mensch viele Häuser haben, sich großen Ruhm erwerben und beruhigenden Reichtum anhäufen, er bleibt doch dem mächtigen Zugriff der Geschichte ausgeliefert. Das zeigt eindrücklich die Biografie Hauptmanns, ein deutsches Lebens in den Wirren des 20. Jahrhunderts. Weltweit und gerade auch in der kommunistischen Sowjetunion besonders geachtet, versagte der große Mann des Geistes vor den Herausforderungen seiner Zeit. So konnte er sich nicht durchringen zu einer klaren Haltung im Nationalsozialismus. Er chargierte zwischen vorsichtiger Zustimmung und leisen Vorbehalten gegenüber dem Völkischen, lavierte sich durch, zog sich vorwiegend ins Private zurück, blieb daher anders als der dreizehn Jahre jüngere Thomas Mann (1875 – 1955) in Deutschland und landete schließlich sogar auf Hitlers Liste der „Gottbegnadeten“, was ihm die Freistellung von allen Kriegsverpflichtungen garantierte. Alles das ist ihm nicht vorzuwerfen, schon gar nicht aus der Perspektive der Nachgeborenen, die in friedlichen Zeiten leben dürfen. Im Februar 1945 erlebte Hauptmann bei einem Klinikaufenthalt am Rande von Dresden den apokalyptischen Luftangriff die Stadt. „Ich stehe am Ausgangstor des Lebens und beneide alle meine toten Geisteskameraden, denen dieses Erlebnis erspart geblieben ist,“ schrieb er damals.

Wenige Wochen später lag die Welt der Deutschen in Trümmern, die Häuser von Hauptmann aber nicht. Hoch am Hang, weit abseits von der Welt stand „Haus Wiesenstein“ in Agnetendorf im Riesengebirge noch immer (und steht es bis heute) unverwundet zwischen den verschwiegenen Tannen. Die Zerstörungswalze des Krieges hatte es verschont, wie auch seinen Sommersitz auf der Insel Hiddensee. Der weltbekannte Geistesmann fand sich als Greis wieder in dem Teil seiner Heimat, der nun polnisch geworden war.

Armut, Hunger, Ungerechtigkeit – und Hauptmann mittendrin

Was folgte, ist bekannt: Weggejagt wurde die deutsche Bevölkerung, damit die von den Russen ihrerseits aus der heutigen Ukraine vertriebenen Polen eine neue Heimat finden konnten. Armut, Hunger, Ungerechtigkeit allerorten, ein einziges Elend, und der Schriftsteller in seiner Villa mittendrin, deren Zimmer prallvoll waren mit Büchern und edlem Mobiliar, das prächtige Treppenhaus blau-golden ausgemalt. Hochgeachtet und hochbetagt lebte der berühmte Schriftsteller auch dann noch dort in seinem schlesischen Paradies, als seine Landleute bereits hungernd ihr Hab und Gut mit Leiterwagen gen Westen zerrten.

Das Treppenhaus der Hauptmann-Villa in Agnetendorf: Ein Paradies als Fluchtort vor dem Grauen der Wirklichkeit. „Bin ich noch in meinem Haus?“ sollen die letzten Worte des Schriftsellers gewesen sein.

„Bin ich noch in meinem Haus?“ Angeblich waren dies die letzten Worte des sterbenden Gerhart Hauptmann am 6. Juni 1946.  Noch ein Jahr nach Kriegsende war Hauptmann von den sowjetischen Militärs besonders beschützt worden. Dann aber bestanden die neuen Herrscher darauf, dass nun endlich auch Hauptmann – wie alle anderen Deutschen – Schlesien zu verlassen hätte. Aber dazu kam es nicht mehr. Hauptmann verstarb in seiner Riesengebirgs-Villa, und es bedurfte danach umfassender Interventionen, sechs Wochen andauerndem Hin und Her, bis die in einem Zinnsarg eingelötete Leiche des Schriftstellers zusammen mit seinem gesamten beweglichen Hausrat, unzähligen Büchern, seiner Witwe und einer Gruppe von Intellektuellen und Künstlern, die in seinem Umfeld gelebt hatten, in einem Sonderzug ausquartiert wurden.

Die Vertreibung einer Leiche als Medienereignis

Die Vertreibung einer Leiche war ein Medienereignis. Fernsehkameras warteten am Bahnhof von Forst (bei Cottbus), als der Sonderzug mit dem toten Hauptmann auf dem Weg nach Berlin die neue Ostgrenze Deutschlands erreichte. Am 28. Juli 1946, 52 Tage nach seinem Tod, fand Gerhart Hauptmann endlich auf Hiddensee seine letzte Ruhe, immerhin in deutscher Erde, wenn auch nicht – wie es sein Wunsch gewesen war – im Riesengebirge.

Fünfzig Jahre lang diente danach das Haus Wiesenstein als Kinderheim. Im heute polnischen Schlesien muss man gut orientiert sein, wenn man das verwunschene Literatenschlösschen finden will, das abgelegen am Ende einer kurvigen Bergstraße wartet. Mit Mitteln der Bundesrepublik Deutschland wurde es in ein schmuckes Museum umgestaltet und 2001 als solches eröffnet.

Es gibt keine Flucht in die Idylle

Die „mystische Schutzhülle meiner Seele“ sei dieses Haus gewesen, hat Gerhart Hauptmann formuliert. Wer heute durch diese Räume schlendert, aus den Fenstern hinausblickt in die dunkle Waldlandschaft, in die sich der Schriftsteller hineingeflüchtet hat, Hoffnung und Distanz suchend vor dem Grauen, das sich um ihn herum ereignete, versteht diese Sehnsucht nach einer „Schutzhülle“ – und lernt doch die bittere Wahrheit: Es gibt keine Flucht vor der Geschichte in die Idylle, nicht im Riesengebirge, nicht auf Hiddensee, und auch heute nicht in der naiven Hoffnung auf ein ruhiges Leben auf dem Lande.

Wer Glück hat, mag dort verschont bleiben vor den Bomben des Krieges, mag dort nichts oder weniger hören vom Lärm der Geschichte, mag sich berauschen am lauschigen Rascheln der Blätter und jubelndem Pfeifen der Vögel, mag sich die Ohren verstopfen vor den schlechten Nachrichten aus den Städten, in denen die Armut wohnt und schreit – aber irgendwann wird die Geschichte doch anklopfen und ihr Recht verlangen. Irgendwann kommt sie, die Vertreibung aus dem Paradies.

 

Das Hauptmann-Museum in Haus Wiesenstein in Agnetendorf hat eine informative Website auf deutsch und polnisch. Auch das Hauptmann-Museum in Kloster auf Hiddensee informiert über den Schriftsteller.

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Kleiner Ausflug ins Konservative

Sieben Miniaturen, erlebt auf einer Reise durch Polen

Grabsteine als Zeitzeugen der polnisch-deutschen Geschichte: Eine Szene im Schatten der Kirchenruine von Milkow.

Krakow, früher Nachmittag

Die Maisonne wärmt die Straßen der alten Residenzstadt, vom Berg leuchtet die stolze Burg der polnischen Könige. Das Leben beginnt zu pulsieren im jüdischen Viertel, die Bars warten auf verfrühte Nachmittagsgäste, eine Gruppe orthodoxer Juden läuft  herum, ihre Locken wippen, während sie Reisekoffer in das Taxi wuchten, das die enge Gasse versperrt. Dort Synagogen, im Stadtzentrum Kirchen. Touristen bestimmen das Bild, viele Europäer in kurzen Hosen und bunten Hemden. In der ganzen Stadt ist fast ausschließlich weiße Haut zu sehen, ein paar Gäste mit asiatisch anmutenden Gesichtszüge. Dann, am Rand der Innenstadt, lockt in einem der alten Häuser das Wort „Döner“. Ein weißer Mann blickt aus dem Fenster. Menschen mit südeuropäischer oder arabischer Prägung gibt es nicht im Straßenbild. Da sage nochmal jemand, Politik habe keine Folgen.

Wroclaw, gegen Mittag

Die Straßenbahn rollt heran. Der Kauf einer Fahrkarte war kein Problem, der Automat versteht auch deutsch oder englisch, ein Tastendruck genügt. Die Kreditkarte akzeptiert er mit einem befriedigten Piepsen, und schon spuckt die Maschine das Kärtchen aus. Es ist warm auf dem schmalen Bahnsteig, und der Gast spürt, wie ihm die Tropfen auf die Stirn treten. Die Bahn ist voll, und in ihrem Inneren ist es noch wärmer. Klack!, macht der Entwerter, und der Gast richtet sich auf eine ruckelige Fahrt im Stehen ein. Schon Sekunden später springt ein junger Mann auf.

Es wird zum stabilen Eindruck bei dieser und weiteren Gelegenheiten: Hier ist wenig woke, und öffentlich noch weniger queer. Selten ein Kuss auf der Straße, das Private ist privat, und in der Sauna bleibt die Badehose an. Lastenräder fehlen im Stadtbild genauso wie Väter, die Kinderwägen schieben. Aber Höflichkeit zählt noch etwas in Polen. Man bietet Älteren den Platz an, Männer lassen Frauen den Vortritt, die Tür wird aufgehalten.

 

Opole, früher Samstagabend

Die Kirchenglocken hatten durch das offene Hotelfenster hindurch geläutet, als wollten sie die Stabilität ihrer Aufhängung prüfen. Dann war Stille gewesen. Beim Spaziergang eine halbe Stunde später durch die Kleinstadt war der fromme Lärm längst vergessen. Warum nicht einmal hineinsehen in die schöne Kirche am Weg? Schnell ist klar: Hineinsehen bedeutet: den laufenden Gottesdienst besuchen. Das war nicht der Plan. Es wäre auch kaum Platz. Die Kirche ist bestens besucht, auch viele junge Menschen sitzen in den Bänken und blicken in ihr Gesangbuch. Es ist nicht Weihnachten und auch nicht Ostern. Es ist ein normaler Samstagabend in Polen.

 

Jelena Gora, später Nachmittag

Ein winziges Café hatte gelockt, und das frisch gemahlene und gebrühte Koffeingebräu war unter schattigen Arkaden ein glücklicher Genuss gewesen, der kleine Kuchen dazu auch. Nun aber würde der Gast eine Toilette benötigen. Die Barista im Rentenalter bedauert, keine eigene Gelegenheit anbieten zu können und gestikuliert deutlich in Richtung Rathaus gegenüber. Richtig, da steht ja: Tourist Information. Aber die Information hat seit 15.30 Uhr geschlossen, nun ist es schon fünf Minuten später, und die Not wird größer. Schließlich Hoffnung: ein anderer Eingang des Rathauses ist noch offen. Schon auf dem Weg zur ersehnten Lokalität stürmt ein Wachmann herbei, verweist grimmig auf seine Uhr und schüttelt entschlossen den Kopf. Ordnung muss sein, Gnade keine Pflicht.

Wie gut: Nebenan, das große Steak- und Burger-Lokal ist schon geöffnet. Beim ersten schüchternen „Sorry, could I …?“ lächelt die Bedienung am Eingang ein entschlossenes „Of course!“ und weist den erleichternden Weg.

 

Milkow (Podgorzyn), am Vormittag

Gerade erst losgefahren, schon ein erster Halt, ungeplant. Fasziniert hat der Blick durch die Windschutzscheibe. Ein grauer Turm steht da, mit löchriger Haube, rabenumflattert, und das Kirchengebäude daneben ist eine Ruine. Sattes, hohes Grün bahnt sich den Weg durch die gähnend leeren Fensterhöhlen und wiegt sich im Wind, wo das Dach fehlt. Ein Bauzaun versperrt jeden Weg dorthin. Immerhin, drumherum lädt ein großer Friedhof ein. Hunderte Grablaternen, bunte Plastikblumen auf den Gräbern mit polnischen Namen.

Eine Erläuterungstafel bleibt unverständlich, da nur polnisch. Aber ein Blick ins allwissende Netz hilft: Die evangelische Pfarrkirche des einstmals deutschen Dorfes wurde im Krieg durch Bombeneinschlag zerstört. Nach Kriegsende war die evangelische Bevölkerung geflohen oder vertrieben worden. Die neuen Bewohner waren katholisch, und es gab keinen Bedarf mehr an einer evangelischen Kirche. Warum also wieder aufbauen? Der Friedhof wurde weiter betrieben. Die alten deutschen Grabsteine liegen als steinerne Zeitdokumente zusammengewürfelt im Schatten der Ruine. Dieses Erlebnis schärft den Blick auf der weiteren Fahrt: An vielen anderen Stellen wurden die alten Friedhöfe schlicht rückstandslos eingeebnet.

 

Wroclaw, am Vormittag

Die runde Halle steht in jedem Reiseführer, wird beworben als besondere Sehenswürdigkeit. Unesco-Welterbe! Bei ihrem Bau im Jahr 1927 war die „Jahrhunderthalle“ die größte freitragende Halle Deutschlands, eine Ikone des frühen Stahlbeton. Aber die Dame am Ticketschalter schaut nur widerwillig vom Handy auf. Nein, erklärt sie auf Englisch, eine Besichtigung sei jetzt nicht möglich. Es sei eine Gruppe in der Halle, und daher die Kapazität für die Besichtigung erschöpft. Wie lange das dauere? Könne sie nicht sagen. Ob man schon mal ein Ticket kaufen könne? Nein, besser nicht, vielleicht überlege man es sich ja doch noch anders.

Zwanzig Minuten später ein erneuter Vorstoß. Ob die Gruppe jetzt draußen sei? Wieder ein zögerndes Aufblicken vom privaten Display. Nein, das wisse sie nicht. Da kommen zwei Besucher aus der Halle. Hoffnungsvoller Verweis: Wenn die beiden da jetzt draußen sind, könnten wir doch rein? Richtig, freut sich die Dame, legt das Handy aus der Hand und verkauft zwei Tickets. In der riesigen Halle sind zur Besichtigung zwei Logen freigegeben. Sie haben mindestens hundert Plätze. Besetzt sind etwa zwanzig.

 

Karpacz, um die Mittagsstunde

Das ehemalige Bergdorf ist ein Touristenhotspot mit einer alten Holzkirche als herausragende Attraktion. Die Szenerie gleicht der Annäherung an Schloss Neuschwanstein. Vorbei an Hotels und Restaurants nähert sich das Auto, schon frühzeitig lotsen geschäftstüchtige Helfer auf gebührenpflichtige Parkplätze. Der Anstieg von dort zur Stabkirche Wang ist steil, aber kurz und kurzweilig. Rechts und links des Weges glotzt tausendäugig quietschbunter China-Plüsch von Touristenständen, locken überteuerte Porzellanverkäufe und alberner Erinnerungskitsch, warten Grillwürste und einsturzgefährdete Softeispyramiden.

Dann endlich die Kirche, vor mindestens 800 Jahren in Norwegen aus Holz erbaut, vor knapp 200 Jahren von dort nach Berlin transportiert, dann schließlich im Jahr 1844 an dieser Stelle auf halbem Weg aus dem Tal zum Gipfel der Schneekoppe wieder zusammengesetzt. Gedacht als meditativer Einkehrpunkt für Wanderer. Nun treibt ein festgefügter Ablauf im Viertelstundentakt die Touristen busladungsweise in das Kirchlein. Wie eine brave Schulklasse hören wir die Erklärung vom Band und sehen der Aufseherin zu, die mit einem langen Stock und humorlosem Blick auf das Erläuterte zeigt. Es fühlt sich an wie in einem alten Pauker-Film aus den 60er Jahren. Aber schon bald ist Schule aus.

 

Mein Text „Germania, Europa und der Stier“ nimmt ebenfalls Bezug auf meine Reiseeindrücke durch Polen.

 

Alte Männer und ihre Koffer

Hinter der Maske verschwindet die Gier nach Ruhm: Manfred Zapatka als „Minetti“ am Residenztheater München (Regie Claus Peymann; Foto: Monica Rittershaus, bereitgestellt von Residenztheater München)

Über „Minetti“ im Theater und Gerhard Schröder im wirklichen Leben

Es wäre doch eine schöne Vorstellung, wenn ein alter Mensch seine Verdienste, die Nachweise der eigenen Unverzichtbarkeit, in einem Koffer mit sich herumtragen könnte. Was wäre in diesem Koffer drin? In Angela Merkels Koffer vielleicht die griechischen Ausgaben des Euro, von jeder Münze, die die Athener Zentralbank ausgegeben hatte, ein Exemplar. Oder eines der vielen gespendeten Kuscheltiere, wie sie im Sommer 2015 massenhaft am Münchner Hauptbahnhof bereitlagen. Die Geflüchteten aus Budapest kamen dort an und wir alle waren noch stolz auf unsere Menschlichkeit, statt sich ihrer wie heute zu schämen. Oder ein Modell der nie gebauten Magnetschwebebahn zwischen diesem Münchner Bahnhof und dem Flughafen im Koffer von Edmund Stoiber? Natürlich eine Gitarre im Koffer von Wolf Biermann!

In Minettis Koffer ist eine Maske. Geschaffen habe sie ein bekannter belgischer Künstler, sagt der alte Schauspieler. Wie sie aussieht, diese Maske, die „Minetti“ einst getragen haben will, um Shakespeares „Lear“ – natürlich unvergleichlich – auf die Bühne zu bringen, bleibt bis zuletzt verborgen. Die Maske ist in dem Theaterstück „Minetti“ von Thomas Bernhard, das derzeit im Münchner Residenztheater zu sehen ist, der Cliffhänger. Die Maske hält die Spannung aufrecht in diesem weitgehend als Monolog angelegten Bühnenstück. Eineinhalb Stunden bekommt in München der auch schon alternde Schauspieler Manfred Zapatka Zeit, unter der Regie des 80-jährigen Claus Peymann „Minetti“ zu spielen, den alten Mann, angelehnt am großen Schauspieler Bernhard Minetti. Vom Leben und von der Sucht nach Ruhm ein wenig sonderlich geworden ist dieser Bühnen-Minetti – und alle warten darauf, endlich sehen zu können, was in dem Koffer ist.

In „Außer Dienst“ schiebt Schröder keinen Koffer, sondern einen Golfwagen

Etwas kürzer, nur eine Stunde, dauert die überaus sehenswerte ARD-Dokumentation „Außer Dienst“ von Lucas Stratmann zum achtzigsten Geburtstag von Gerhard Schröder. Einen Koffer schiebt dort anfangs Schröder nicht vor sich her, sondern einen Golfwagen. Was wäre in seinem Koffer, wenn er einen hätte? Vielleicht eine sorgsam verpackte, tönerne Friedenstaube, weil er unser Land herausgehalten hat aus dem verbrecherischen Irak-Desaster des George W. Bush. Oder ein Bündel Geldscheine, symbolisch für das Wirtschaftswachstum, das die Reformen seiner unpopulären „Agenda 2010“ auf längere Sicht vielen Menschen in Deutschland Wohlstand verschafft hat. Auch wenn dieser zusammengespart war aus der gewachsenen Armut derer, die unter die Räder gerieten beim Abbau des Sozialstaates. Eine zusammengefaltete Traditionsfahne der SPD könnte drin sein, verstaubt und mottenzerfressen, weggepackt von seiner Partei, die sich bis heute nicht erholen konnte von Schröders toxischer Selbstherrlichkeit. Oder eine Maske, aber welche?

Demaskiert in seiner egozentrischen Begrenztheit ist der alte „Minetti“ längst, als er zum Ende des Theaterabends schließlich die Maske herausholt aus dem Koffer und aufsetzt. Große Ideen hat er verfolgt, die entscheidenden Fragen der Kunst malträtiert und wurde von ihnen gequält: Das Alte pflegen, oder das Neue wagen? Er beklagt sein Scheitern am konservativen Geist der Kulturbürokratie. Schon nach wenigen Minuten im Theater ist klar: Dieser alte Künstler hat den Höhepunkt seines Schaffens längst hinter sich, die Zeit ist an ihm vorübergezogen, der alte Mann hat fertig. Alle wissen es, alle merken es, nur er selbst nicht. Nun hofft er auf einen letzten Auftritt mit der sagenumwobenen Maske, die im Koffer wartet.

Welche Maske wäre in seinem Koffer? Gerhard Schröder im Herbst 2023 in Hannover. (Foto: Bernd Schwabe Hannover via Wikipedia)

„Armselige Gestalten“ nennt Schröder seine Genossen

„Armselige Gestalten“ seien das, sagt Gerhard Schröder in der ARD-Dokumentation über diejenigen, die ihn heute in Deutschland kritisieren. Man gehe ungerecht mit ihm um, aber das störe ihn nicht wirklich. Ganz generell erlebt man am Fernsehschirm eindrücklich, dass dieser Altkanzler nicht gerne zuhört. Er redet lieber: „Ich brauche für mein Lebenswerk nicht die Zustimmung der jetzigen SPD-Führung.“ Es ist eine ganz spezifische Form von schauspielerisch vorgeschobener, kokettierend dröhnender, eitler Un-Bescheidenheit, die der Altkanzler vorträgt.

Das Fernsehteam begleitet ihn auf einer „Geschäftsreise“ durch China. Wer die Reise bezahlt, interessiert ihn nicht, auch nicht, welche Motivationen seine Gastgeber leiten, ihn herumzureichen wie den Wanderpokal eines in die Jahre gekommenen Wettbewerbs. Kein Wort versteht er, wenn die chinesischen Claqueure ihm ein Dokument unterscheiben lassen, wenn ihm fahnenschwingende Kinder Blumen überreichen. Seine in China gesprochenen Worte sind für die Fragen des Jetzt von erschreckend platter Irrelevanz. Aber er kann es nicht lassen, mit sonorer Stimme ein weltpolitisches Gewicht zu simulieren, das er längst nicht mehr hat. „Wir machen doch hier kein Märchen!“, schnauzt er den Reporter Stratmann an, als dieser ihn nach der moralischen Seite seiner Kontakte zu Wladimir Putin befragt.

Nichts kann bestehen neben der Gier nach Ruhm

Nach eineinhalb Stunden weiß der Theaterbesucher längst, dass dieser „Minetti“ (anders als der Schauspieler Bernhard Minetti) gemessen an seinem Ego eine verheerende Lebensbilanz ziehen müsste, wenn es darauf ankäme. Er ahnt die nächste Demütigung, auf die er wartet, wenn jener Theaterleiter zum vereinbarten Treffen nicht einmal erscheint, das ihn auf einen letzten Auftritt als „Lear“ hoffen ließ. Aber die Gier nach Ruhm ist zu stark, nichts kann daneben bestehen. Vielleicht war dieser „Minetti“ ein liebender Familienvater und ein empathischer Mensch, voller Humor und geistreich im Gespräch mit allen, die mit ihm waren. Aber nichts davon wartet in seinem Koffer. Nur vergilbte Zeitungsausschnitte über seinen umstrittenen Theaterruhm. Und die Maske.

Als er die Maske schließlich herausholt, als er sie endlich aufsetzt, verschwindet die ganze eitle Selbstgerechtigkeit des alten Mannes hinter einer kunstvollen Fratze, einem wahren Kunstwerk, das sich viel stärker eingräbt in die Erinnerung des Zuschauers, als die ganze kleinliche Selbstverliebtheit desjenigen, der nicht loslassen konnte.

Gerhard Schröder weiß nichts von einem Koffer. Welche Maske wäre darin, wenn er sich doch trauen würde, ihn zu öffnen? Nicht die mit den Gesichtszügen seines Freundes Putin, das wäre zu billig, und würde auch dem Lebenswerk Schröders nicht gerecht. Es wäre vielleicht viel schlimmer: Gar keine Maske wäre drin, alles leer, nur ein paar Geldscheine.

„Minetti“ am Residenztheater München gibt es noch am 2. und 21. Mai 2024 zu sehen.

Die ARD-Dokumentation „Außer Dienst“ über Gerhard Schröder ist bis 2.4.2026 in der Mediathek abrufbar.

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