Ein echter – und drei falsche Könige

„Heilige Drei Könige (regionaler Feiertag)“ meldet der elektronische Kalender auf der Terminliste. Auch der gedruckte ordnet den 6. Januar den drei Königen zu. In jeder besseren Krippendarstellung tauchen die drei Könige auf, derer an diesem Tag gedacht werden soll. Dabei hat es sie niemals gegeben.

Es ist Zeit für einen echten König

Es ist also Zeit für einen echten König. Als 18-jähriger junger Mann hatte Rudolf eine beschwerliche Reise über das Meer auf sich genommen. Sechs Jahre lang war er  „Gast“ einer Lehrerfamilie in der württembergischen Kleinstadt Aalen gewesen, hatte Deutsch gelernt, deutsche Schulen besucht. Rudolf war ein wacher, intelligenter junger Mann. Als er im Auswärtigen Amt in Berlin hospitierte, lernte er zu verstehen, wie deutsches Regierungshandeln funktioniert. Schließlich kehrte er in seine Heimat zurück, und wurde tatsächlich König seines Volkes.

Rudolf Duala Manga Bell (rechts) und die Aalener Lehrerfamilie Oesterle. Foto: Roeger/Platino, bereitgestellt von MARKK Hamburg

Ein Märchen? Nein, die Wahrheit. Rudolf Duala Manga Bell war König des Volkes der Duala in Kamerun. Wir blicken zurück auf den Anfang des 20. Jahrhunderts, und Kamerun war eine deutsche Kolonie. Deutsche Soldaten hatten mit Waffengewalt Rudolfs Großvater einen „Schutzvertrag“ aufgezwungen, der den Duala angeblichen „Schutz“ vor nicht näher bezeichneten Feinden versprach. Vor allem aber sicherte der Vertrag deutsche Macht und die Durchsetzung deutscher Interessen. Was deutsche Kolonialisten in Afrika und anderen „Schutzgebieten“ errichteten, war für die Betroffenen eine einzige menschenverachtende Katastrophe aus brutaler Willkür, hemmungsloser Ausbeutung und drakonischer Entrechtung der einheimischen Bevölkerung.

Kein naiver Eingeborener

König Rudolf Duala Manga Bell war kein naiver Eingeborener. Er war auch kein Revolutionär, sondern ein treuer Anhänger des deutschen Kaisers. Und er kannte die deutsche Sprache und das deutsche Rechtssystem und vertraute darauf. Als die Duala entschädigungslos aus fruchtbaren Ländereien umgesiedelt werden sollten, forderte er ab 1910 in schriftlichen Eingaben gegenüber dem Reichstag ein Ende des rücksichtslosen Umgangs mit seinem Volk.  In Berlin nahmen ihn nur die oppositionellen Sozialdemokraten ernst; die Kolonialverwaltung dagegen erfand einen Hochverratsvorwurf. Manga Bell wurde der Prozess gemacht. Alle Regeln des Rechtsstaates wurden dabei missachtet, die Mitwirkung seiner deutschen Anwälte gezielt verhindert. Am Tag nach dem „Urteil“ wurde er am 8. August 1914 hingerichtet. Ein Justizmord.

Was gibt es an „Dreikönig“ zu feiern?

Wer an diesem Donnerstag, dem „Dreikönigstag“, sich noch einmal zufrieden im Bett herumdreht (weil in seinem Bundesland Feiertag ist), könnte sich an diese Geschichte erinnern. Immerhin geht es in ihr um einen König aus Afrika, der wirklich gelebt hat. „Gefeiert“ wird aber am 6. Januar die Legende von drei „Königen“, einer davon dunkelhäutig, die stellvertretend für ihre Kontinente (Afrika, Asien, Europa) das Jesuskind anbeten und beschenken – als Symbol der Unterwerfung der Welt unter das Christentum.

Die „heiligen Drei Könige“, die ein Christuskind anbeten, hat es nie gegeben. Ihre Unterwerfung ist eine christlich-koloniale Geste, die wir tilgen sollten.

Diese Geschichte ist nun wirklich ein Märchen, ein christlich-kolonialer Fake. Die Bibel kennt diese drei Könige nicht, sondern spricht von „Weisen“, die sich bei Jesus im Stall eingefunden haben sollen. Theologisch heißt der Feiertag schon lange „Epiphanias“, der Tag der „Erscheinung des Herrn“. Es gibt in den unterschiedlichen christlichen Religionsströmungen mehrere andere Herleitungen jenseits der „Könige“, was da am 6. Januar gefeiert wird.

Trotzdem hält sich die Legende der „drei Könige“ auch im 21. Jahrhundert hartnäckig in deutschen Kalendern und im allgemeinen Sprachgebrauch. Die FDP nennt seit Jahrzehnten ihr Stuttgarter Politikspektakel zum Jahresauftakt „Dreikönigstreffen“, Wintersportler springen oder rodeln unter dem Namen der drei Könige durch die weiße Pracht.

Immerhin: „Sternsinger“ verzichten auf Blackfacing

Und was ist mit den netten und engagierten Kindern, die in diesen Tagen von Haus zu Haus ziehen und Spenden für Projekte in Entwicklungsländern sammeln? Ganz sicher verfolgen die „Sternsinger“ mit ihrer Symbolik längst beste Zwecke, die hier nicht angezweifelt werden. Aber auch sie treten dabei eine Legende breit, von der es gilt, sich zu verabschieden. „In ihren prächtigen Gewändern greifen die Sternsinger einen alten Brauch auf“, schrieb dazu das Kindermissionswerk „Die Sternsinger“ in einer Pressemitteilung zum letztjährigen „Dreikönigssingen“. Das katholische „Kindermissionswerk“ ist bundesweit der offizielle Veranstalter der Spendensammlung. Wenigstens rät es inzwischen ausdrücklich davon ab, eines der Kinder schwarz zu schminken, auch weil das Blackfacing der geschichtlich ohnehin falschen Darstellung auch noch einen primitiv rassistischen Hut aufsetzt.

Warum nicht auch einen Feiertag umbenennen?

Wir benennen Straßen um, die rassistische Begriffe beinhalten. Wir denken über Standbilder und Gedenktafeln nach, die an kolonial engagierte Feldherren erinnern. Gleiches sollte für die „drei Könige“ gelten. Ihre Legende wurde als Sinnbild für die angebliche Überlegenheit des Christentums über den Rest der Welt erdacht. Dieser Feiertag sollte umbenannt werden. Er hat einen besseren Namen verdient, und es gibt genügend religiöse Quellen, die dazu herangezogen werden könnten. „Heilige Drei Könige“ ist in einer modernen und aufgeklärten Gesellschaft auch „nur“ als kalendarischer Alltagsbegriff inakzeptabel.  Wir sollten ihn tilgen, auch weil wir es dem echten König Rudolf Duala Manga Bell schuldig sind.

 

 

 

Duala Manga Bell lebte zwischen 1891 und 1896 in Aalen in Baden-Württemberg. Er besuchte dort die Schule und wurde in der Stadtkirche getauft. Auf der Website der Stadt Aalen wird nun berichtet: „Im Juli 2022 beschloss der Gemeinderat Aalen, den Platz an der ehemaligen Ritterschule inmitten der Aalener Altstadt nach dem Duala-König Rudolf Duala Manga Bell zu benennen. Die feierliche Einweihung des Platzes erfolgt nach der städtebaulichen Neugestaltung des Platzes – voraussichtlich im Jahr 2023.“

Der aktuelle König der Duala in Kamerun, Jean-Yves Eboumbou Douala Bell, war bei der Einweihung des Duala-Manga-Bell-Platzes am 7. Oktober 2022 in Ulm anwesend. Foto: Stadtarchiv Ulm

Etwas weiter ist da schon die Stadt Ulm, wo Manga Bell 1897 das Abitur ablegte. Sie hat im Oktober 2022 bereits einen Platz nach Duala Manga Bell benannt und dazu prominenten Besuch bekommen (siehe SWR-Beitrag): https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/ulm/rudolf-duala-manga-bell-platz-wird-eingeweiht-100.html

Der Lebensgeschichte von Rudolf Duala Manga Bell, dem König der Duala, ist eine Ausstellung im Museum am Rothenbaum Kulturen und Künste der Welt (MARKK) in Hamburg gewidmet: https://markk-hamburg.de/ausstellungen/hey-hamburg/ (noch bis 2. Juli 2023)

Über das Schicksal von Rudolf Manga Bell ist in der ZEIT ein ausgezeichneter Artikel am 25. August 2021 erschienen. Er ist auch online verfügbar, allerdings hinter einer Bezahlschranke, die sich gegen einen Euro durch ein Probeabo überlinden lässt: https://www.zeit.de/2021/35/rudolf-manga-bell-duala-volk-kamerun-kolonialismus-justizmord?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F

Zur Herleitung und Deutung der Legende und des Feiertags „Heilige Drei Könige“ siehe auch Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Heilige_Drei_K%C3%B6nige

 

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Der Paradiesbaum – Eine Weihnachtsgeschichte

Es war noch dunkel draußen, …

… als Melli aufwachte. Das kalte Licht der Straßenlaterne tauchte das Schlafzimmer in dumpfen Dämmer: der Wäscheständer, der längst hätte abgeräumt werden müssen; der Kleiderschrank, eine Tür war offen stehen geblieben gestern Abend. Die Wand mit den Fotos, lange nicht mehr hingeschaut. Lautes Scharren hatte sie geweckt, ein Kratzen, Stoßen, dann wieder das Scharren – Melli brauchte einen Moment, bis sie das störende Geräusch deuten konnte. Es kam von draußen, durch das zur Hälfte gekippte Fenster. Schippte da auf dem Gehweg der Hausmeister Schnee? Richtig, fiel es Melli jetzt ein, gestern Abend hatte es geheißen, dass es schneien sollte in dieser Nacht.

Der Weihnachtsbaum vor dem Rathaus in Stuttgart-Zuffenhausen.

 

 

Melli tastete mit ihrer rechten Hand durch das Bett. Sie spürte den Haarschopf ihrer Tochter, das vertraute Gewühl, darunter die beruhigend warme Kopfhaut. Kurz schloss Melli noch einmal die Augen. Irgendwann in der Nacht musste Selma in ihr Bett gekrochen sein, wie sie es fast immer machte. Melli hatte davon nichts bemerkt. Wie tief muss sie geschlafen haben? Was hätte das Kind wohl noch anstellen können in der Wohnung, wenn sie nicht mal bemerkt hatte, dass es zu ihr ins Bett schlüpfte? Melli verscheuchte den beängstigenden Gedanken.  Sie wendete ihren Kopf herum und blickte auf ihre Tochter, die da lag und fest schlief. Halb aufgedeckt. Ganz sachte hob und senkte sich der kindliche Brustkorb. Zu hören war nichts. Eine Welle von Zuneigung überschwappte sie. Vom Nachttisch leuchteten die Ziffern des Weckers herüber, eine 6 und eine 35.

Draußen scharrte es weiter. Melli wagte sich aus dem Bett, sofort stellte die Winterkälte an ihrem ganzen Körper die Gänsehaut auf. Melli schloss das Fenster, drehte die Heizung auf und kehrte ins Bett zurück. Noch fünf Minuten, dachte sie sich, und zog ihre Bettdecke bis unter ihr Kinn, kehrte zurück in ihre eigene wohlige Wärme. Die Ziffern lauteten jetzt: 6 und 38.

Ganz langsam, Stück für Stück, …

… krochen ihre Gedanken heraus aus der warmen Narkose des Schlafes, hinein in Mellis Bewusstsein. Ihr stand ein weiterer Tag voller Mühsal und Verpflichtungen bevor. Melli strengte sich an, das Bevorstehende positiv zu sehen, jetzt und hier im warmen Bett, neben ihrem friedlich schlafenden Kind. Du darfst doch hier noch liegen, was plagt dich also? Die angelernten Sätze aus der Mutter-Kind-Kur vom letzten Winter stellten sich tapfer ihrem eigenen Missmut in den Weg. Aber die positive Wendung gelang ihr nur halbherzig. Gleich würde sie ihr Kind wecken und aus dem Bett scheuchen müssen. Sie würde sich selbst und ihre Vierjährige zur Eile zwingen, damit sie rechtzeitig die Straßenbahn erreichen konnte. Nebenbei ein flüchtiges, gehetztes Frühstück, sinnloses Hin und Her über den Inhalt der Brotzeitbox für die Kita: Banane? Nein. Ein Käsebrot? Nein. Was also dann? Doch ein Käsebrot.

Melli hasste es, aufzustehen, wenn es dunkel war, und wenn es kalt war, erst recht. Deshalb war sie immer zu spät dran, und wenn ihre Tochter dann noch quengelte, herumtrödelte, was sie fast jeden Morgen tat, drögen Widerstand leistete – dann hasste Melli auch ihr ganzes von solcher freudlosen Nörgelei dominiertes Alleinerziehenden-Leben, diese immer wiederkehrende, auch noch – ja, ja! – selbstverschuldete Hetze, diesen täglichen Alltagskampf, alle diese lieblosen Worte, die er hervorbrachte. Immerhin, für diese Woche war es die letzte Schlacht dieser Art, denn morgen war Heiligabend, die Kita würde geschlossen sein, und sie würde nicht zur Arbeit müssen. Den stressigen Heiligabenddienst hatte sie an ihre älteren Kolleginnen abdrücken können, wenigstens ein Vorteil, wenn man allein für ein Kind sorgen musste.

Pieppieppiep! Der Wecker scheuchte Melli aus ihren Gedanken. Die Ziffern zeigten 6 und 45. Eilig beugte sie sich über ihr Kind hinweg zum Nachttisch und brachte den lästigen Apparat zum Schweigen. Das Scharren vor dem Fenster hatte aufgehört.

Noch eine Minute, …

… dachte Melli. Weihnachten! Ja, das stand auch noch an. Groß zu feiern gab es für sie nichts, mit dem ganzen weihnachtlichen Romantik-Kram konnte sie ohnehin wenig anfangen. Ihre Mutter lebte weit weg und im Pflegeheim, ihr Vater war bereits tot. Sie musste an Jo denken, ihren Ex, „Jo, der Spinner“, wie sie Selmas Vater nannte. Schon seit Wochen hatte er sich nicht mehr gemeldet.

Jo war eigentlich ein netter Kerl gewesen, humorvoll, aber eben ein Spinner, ein Graffitti-Künstler, immer arbeitslos, weil er es nirgends aushielt, Kettenraucher. Ein Mann für den bodenlosen Glücksmoment, für das Fallenlassen, aber nicht fürs Leben. Kaum war Selma auf der Welt, war es nicht mehr auszuhalten gewesen mit dem Mann, der ging, wann er wollte, und wenn er zurückkam, bestialisch nach seinen Spraydosen stank. Er lag ihr auf der Tasche und qualmte die Wohnung voll. Er hatte einen guten Charakter, aber keinen dazu passenden Willen, er tat ihr nichts, aber er zehrte von ihrer Lebenskraft, anstatt sie zu mehren. „Ein Energie-Vampir“, hatte ihre Therapeutin in der Kur gesagt, und das traf es gut. Selma war ein halbes Jahr alt, als Melli ihn rausgeworfen hatte. Er meldete sich immer wieder mal, um seine Tochter zu besuchen, für ein, zwei Stunden. Immerhin bekam sie regelmäßig den Unterhalt für Selma, immer pünktlich überwiesen von Jos Vater, Selmas Opa. Melli überlegte, ob heute wohl noch ein Paket von Jo mit einem Geschenk für Selma eintreffen würde. Oder von ihren Großeltern?

Irgendwann heute oder morgen …

…. wollte sie auch noch ein Lebkuchenhaus backen für Selma, als Überraschung. Vielleicht heute Nacht, wenn Selma endlich eingeschlafen sein würde, erschöpft von einem weiteren Tag voller Eindrücke, überfüllt von Abenteuern, dem Weihnachtsmann in der Kita, dem Abschiedsfest, dem Auftritt mit den Liedern, die sie seit Tagen übte.

Die Digitalanzeige des Weckers sprang auf 6:52. „Scheiße, wieder zu spät!“, rief Melli und sprang entschlossen aus dem Bett. „Guten Morgen, Schluss mit Schlafen!“, rief sie ihrer Tochter laut zu. Das Licht im Schlafzimmer schmerzte sie in ihren Augen. Selma tat so, als habe sie nichts bemerkt. Es wird ihr nichts nützen, dachte sich Melli, stellte das Radio im Flur an und drehte den Lautstärkeregler so weit nach rechts, dass die Musik in der ganzen Wohnung gut zu hören war.  „I´m dreaming of a white chrismas“, schmachtete Bing Crosby durch die knapp fünfzig Quadratmeter ihres Lebens.

„Darf er träumen!“ Die Stimme des Moderators tönte fröhlich und wach. „Denn diesmal gibt´s weiße Weihnachten! Draußen hat es heute Nacht geschneit, Leute, also raus aus den Federn, die weiße Welt wartet auf Euch!“ Der Sender dudelte seit Tagen Weihnachtsmusik – Jingle Bells, Last Chrismas, jetzt eben den Traum von der weißen Weihnacht. Pappsüßer Weihnachtskitsch in einer Tour, unterbrochen von immer der gleichen Werbung. Für edle Schokolade, ausladende Festessen, Schmuck, Parfüm. Nichts davon hatte mit Mellis Welt zu tun. Sie lebte von ihrer Arbeit und dem Unterhalt, den Selmas Großvater bezahlte. Für die kleine Sozialwohnung bekam sie Wohngeld, dazu das Kindergeld – das alles zusammen musste gerade mal so reichen für ein bescheidenes Leben.

„Hey, Leute, frisch auf in den Morgen, es ist 6 Uhr 55, und nur noch ein Tag bis Weihnachten“, drängte sich der Radiomoderator zwischen die Töne.

*********

Der Tag verlief genauso, ….

… wie Melli es befürchtet hatte. Sie hatte alle Überredungskunst und schließlich auch grobe Kommandos benötigt, um Selma aus dem warmen Bett zu locken. Es gab alle erwarteten Debatten um Kleidung („Nein, nicht die rote Hose, nein, nicht diese Schuhe“) und die Brotzeitbox. Bockig hatte Selma sogar behauptet, heute gar nicht in die Kita gehen zu wollen. Nicht einmal der Schnee vor der Tür hatte sie zur angemessenen Eile motiviert. Schließlich hatte sie ihr Kind doch noch in die – wie an jedem Morgen – nach kalten Kinderschuhen müffelnde Kita bugsiert. Dann war ihre Straßenbahn im Verkehr stecken geblieben, im letzten noch akzeptablen Moment hatte sie ihre Backwaren-Verkaufsstelle im Shopping-Center erreicht. „Willkommen im Weihnachtsland, willkommen im Einkaufs-Paradies“, stand in leuchtenden Buchstaben über dem Eingang.  Eine Kollegin hatte sich krankgemeldet, es war trubeliger Betrieb. Zu zweit wuppten sie im Akkord den Backwaren-Marathon: aufbacken, rausholen, sich nicht die Finger dabei verbrennen, verkaufen. Zwar waren die meisten Kunden nett, aber nach der gefühlt dreitausendsten Bestellung („Sieben Brezeln, drei Sternsemmeln, nein doch lieber zwei Croissants, aber bitte nicht zu dunkel“) ließ ihre Konzentration nach, sie füllte falsche Brötchen in die Tüten, verwechselte Brezen und Croissants, verrechnete sich. Alle waren genervt, die Kunden, sie selbst, die Kollegin.

Für eine Mittagspause war keine Zeit. Nebenbei stopfte sie sich Backwerk in den Mund, verstohlen versteckt in der von glühender Hitze angefüllten Aufbackstube hinter dem Verkaufsraum, damit die niemals endende Kundenschlange nichts davon bemerkte. Melli war fix und fertig, als kurz vor ihrem Dienstschluss ihr Handy klingelte. Die Kita rief an; Selma habe die Weihnachtsfeier zwar noch mitgemacht, aber sei offenbar krank, jedenfalls liege sie jetzt nur noch schlapp in der Kuschelecke und habe leicht erhöhte Temperatur. Ob sie jemand abholen könne?

Niemand konnte ihre Kind abholen, …

… außer sie selbst. Also bat Melli drucksend und lächelnd und bettelnd einmal mehr ihre ebenfalls erschöpfte Kollegin, die restlichen Aufräumarbeiten doch bitte allein zu übernehmen. „Und Frohe Weihnachten!“, rief sie ihr noch im Gehen zu, mit den Gedanken bei Selma und geplagt von ihrem schlechten Gewissen. Sie hetzte zurück zur Kita; diesmal war die Straßenbahn pünktlich, aber wieder voll, Melli quetschte sich zwischen die stehenden anderen Mütter, Väter, Omas, Opas, Singles. In der Kita griff sie sich ihre leise weinend an der Garderobe wartende Tochter und ging mit ihr nach Hause. Es hatte aufgehört zu schneien.

Daheim ließ sich Melli erschöpft auf ihr altes Sofa fallen, eine zerschlissene Bequemlichkeit aus dem Sozialkaufhaus. Das fieberschlappe Kind legte den Kopf auf ihren Schoß. Selma hatte keinen Appetit, also schlang Melli selbst das Käsebrot herunter, das sie morgens ihrer Tochter in die Brotzeitbox gelegt hatte. Zur Kinderärztin gehen? Melli entschied sich dagegen. Der Infekt grassierte, es standen Feiertage bevor, an denen sie nicht arbeiten musste. Selma würde sich schon wieder auskurieren. Melli seufzte und strich über die Haare ihrer Tochter, die das stumm und widerstandslos über sich ergehen ließ. Sie griff nach der Wolldecke und deckte ihr krankes Kind zu.

Dauernd diese Hetzerei, Tag ein, Tag aus, ging ihr durch den Kopf. „Ich hab´s so satt“, sagte sie halblaut und spürte wie der ganze Widerwille gegen dieses Leben von ihr Besitz nahm, sich ausbreitete wie ein Farbkleks im klaren Wasserglas. Melli kannte solche Situationen der vollkommenen Erschöpfung, des überbordenden Überdrusses, und sie hatte sich angewöhnt, dann immer an ihre Therapeutin in der Kur zu denken. „Musst Du jetzt hier, auf Deinem Sofa, das schlappe Kind auf dem Schoß, irgendeine Anstrengung aushalten?“, hätte sie gefragt. Und Melli hätte zugeben müssen: Nein. Selma musste sich auskurieren, das Kinderturnen fiel heute ohnehin aus, einkaufen musste auch nicht mehr unbedingt sein. Es war einfach gar nichts mehr zu tun heute, wenn man es zuließ. Vielleicht noch das Lebkuchenhaus, aber dazu musste Selma erst einmal schlafen.

Melli griff zur Fernbedienung, …

… und der Fernseher erwachte. „Wer hat an Heiligabend Namenstag?“ las ein mit einer Weihnachtsmann-Mütze dekorierter Talkmaster die eingeblendete Frage vor. Offenbar waren die grinsenden Quizkandidaten des Lesens unfähig. Es gab auch Antwortmöglichkeiten: A: Jesus und Christus, B: Adam und Eva, C: Josef und Maria.

So ein Blödsinn, dachte Melli, und klickte weiter. Eine gefakte Gerichtsverhandlung. Ein regionaler Krimi. Eine Sendung, in der alter Kram versteigert wird. Ein Billardturnier. Melli schüttelte den Kopf. Wer schaut sich das an? Dann ein Nachrichtenkanal: Zerstörte Häuser, Menschen, die auf Holzfeuer ihr Essen kochen. Eine Warteschlange vor einem Tanklastwagen, die Menschen dick eingemummelt, mit schmutzigen Kanistern, Schnee auf der Straße. „Nachts sinkt hier das Thermometer auf weniger als zwanzig Minusgrade“, sagte die Stimme des Reporters, „und die Luftangriffe haben die Versorgung mit Wasser und Strom zerstört. Diese Menschen werden frieren und hungern, während wir Weihnachten feiern.“ Melli stellte den Fernseher aus und schloss die Augen. Kurz, ganz kurz nur.

********

„Hey Leute, frisch auf in den Morgen!“, …

… tobte der Radiomoderator aus dem kleinen Lautsprecher.

Melli und Selma waren am Abend gemeinsam auf dem Sofa eingeschlafen. Irgendwann war Melli erwacht und hatte ihre schlafheiße Tochter in ihr Bett gewuchtet, sich neben sie gelegt und war sofort wieder weggedämmert. Gegen halb fünf war sie aufgewacht, und der Rest der Nacht war unerfreulich gewesen. Selma hatte sich fiebrig hin und her gewälzt, und Melli konnte allenfalls neben ihr dahindösen. Jetzt schlief ihre Tochter endlich wieder fest. Melli war aufgestanden, um doch noch das Lebkuchenhaus in Angriff zu nehmen. Leise hatte sie die Schlafzimmertür hinter sich geschlossen, bevor sie das Radio angestellt hatte.

„Hey Leute, es ist 7 Uhr 33 – und wisst Ihr was: Es ist Weihnachten!“ Mit Schmackes trommelte ein hellwaches „Feliz Navidad“ aus dem Radio. „Hey Leute“, meldete sich schon wieder der beneidenswert putzmuntere Moderator, „habt Ihr eigentlich schon Euren Weihnachtsbaum?“ Melli hatte keinen Weihnachtsbaum. Sie hatte keinen Platz. Und für wen sollte sie sich einen Weihnachtsbaum aufstellen?

„Und wisst Ihr überhaupt,…

… woher die Tradition mit dem Baum zu Weihnachten kommt?“, plapperte jetzt der stets Gutgelaunte weiter, „schon irgendeine Idee? Da kommt Ihr nie drauf, Leute, das sage ich Euch, aber ich werde es Euch erzählen – nach der nächsten Musik!“ Die Geigen heulten auf und begleiteten Dean Martin beim Walking durch das „Winter Wonderland“.

Melli nahm das Radio mit in die Küche und kramte in ihrer Vorratsschublade nach der Schachtel mit dem Lebkuchenhaus. Vorsichtig öffnete sie die Packung und holte die gebackenen Lebkuchenplatten heraus. Sie stellte den Puderzucker bereit, und zur Dekoration wühlte sie aus den Untiefen der stets in sicherer Höhe verstauten Süßigkeitenkiste Schokolinsen, Gummibärchen und ein paar Weihnachtskekse heraus, eine angerissene Packung, die sie aus der Bäckerei mitgebracht hatte, weil sie ohnehin nicht mehr verkauft werden konnte.

„Hey Leute, schon eine Idee wegen des Weihnachtsbaums?“, schubste der Moderator seine Zuhörenden aus dem Winter-Wunderland. „Da kommt ihr nie drauf. Null Schnee in der Geschichte. Hat nämlich mit Adam und Eva zu tun. Der Baum stammt aus dem Paradies, Leute, ob Ihr es glaubt oder nicht.“

„We wish you a merry chrismas“, quoll dynamisch anschwellend aus dem Äther. Dann nahm der Mann im Radio den Ton zurück und sagte er es nochmal und sehr betont: „Echt, Leute, aus dem Paradies!“

„Wo ist das Paradies?“ Selma stand mit verquollenen Augen in der Küchentür. Blitzschnell deckte Melli ihre Lebkuchenhaus-Baustelle mit einem Handtuch ab. Sie eilte dem Kind entgegen, das sich willig in ihre Arme fallen ließ. Sie nahm ihre Tochter hoch, spürte ihre Wärme, sog ihren wohligen Geruch ein, und setzte sich an den Küchentisch. Beide Arme und ihr ganzer Oberkörper wärmten das noch schlaftrunkene Bündel. Und wurden gewärmt. Heute keine Kita, keine Arbeit.

„Das Paradies?“ Melli wiegte ihre Tochter sanft hin und her und überlegte. „Das ist echt schwer zu erklären,“ murmelte sie.

Solche Zweifel …

… hatte der Mann im Radio nicht. „Echt jetzt, kein Blödsinn,“ hörte Melli. „Die Christen waren ja sittlich schon immer locker drauf,“ – bedeutungsvolle Pause – „und da haben sie zu ihrem Weihnachtsfest einfach einen anderen alten Brauch übernommen. Eigentlich feierten die Christen nämlich den Namenstag von Adam und Eva mit einem Baum im Zimmer und hingen Äpfel dran. Und als grüne Bäume gab´s bei uns im Dezember eben nur: – Richtig! Tannenbäume! Check! Äpfel, Eva – klingelts da bei Euch?“ Im Radio klingelten die Jingles Bells.

„Die Eva ist auch krank“, murmelte Selma, „die war gestern nicht da in der Kita.“

„Der im Radio meint aber eine andere Eva“, flüsterte Melli ihrer Tochter ins Ohr.

„Hey Leute, das ist doch echt mal eine abgefahrene Geschichte, oder?“, drängte sich die Stimme im Radio wieder über die Musik. „Was wir da heute als Weihnachtskugeln baumeln lassen – Baumeln am Baum, hahahaha,“ freute sich der Spaßige über sein eigenes Wortspiel, „das waren einfach mal Äpfel, Ihr wisst schon, die Geschichte mit der Verführung und dem Apfel und dem Reinbeißen, und wie der Adam auch reingebissen hat, und dann mussten beide sich endlich mal was anziehen und raus aus dem Paradies.“

Wieder loderte kurz die Musik auf, dann redete der Weihnachts-Spaßvogel weiter: „Und deshalb ist Weihnachten eben in Wahrheit ein Paradies-Fest, ok, Leute? Also immer schön fröhlich bleiben und feiern, auch wenn Euch die Kirche egal ist. Auf das Paradies können wir uns schließlich alle einigen.“ Kling klang, kling klang, im Pferderhythmus galoppierten die Jingle Bells davon.

„Wo ist jetzt das Paradies?“, fragte Selma.

Melli grübelte. „Das Paradies, das ist ein Land, in dem alles wunderschön ist, es ist so warm, dass alle Leute nackt rumlaufen können, und alle haben zu essen. Und es gibt keinen Krieg.“ Dann setzte sie hinzu: „So oder so ähnlich muss es gewesen sein im Paradies. Aber das Paradies gibt’s nicht wirklich, leider.“

Selma lehnte sich ganz fest an den Brustkorb ihrer Mutter. Melli rüstete sich auf Nachfragen.

„Gibt’s heute Fischstäbchen?“, fragte Selma dann.

Melli war überrascht. „Kann ich machen,“ sagte sie, „hast Du da Lust drauf?“

„Ja,“ antwortete das Kind. „Die mag ich. Und warm ist es hier drin auch.“

„Ja sicher, wir wollen doch nicht frieren“, sagte Melli und blickte prüfend auf den Heizungsregler unter dem Küchenfenster.

„Die Leute im Fernsehen gestern, die frieren müssen, die leben nicht im Paradies, gell?“ Melli erschrak, sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihre fiebrige Tochter am Abend zuvor die Bilder aus dem Krieg wahrgenommen hatte.

„Ja, leider. Das ist wirklich schlimm,“ antwortete sie.

„Aber wir frieren nicht, und haben Fischstäbchen. Dann sind wir ja im Paradies, oder?“, fragte Selma.

Melli lächelte, kam aber nicht dazu, zu antworten, denn es klingelte an der Tür. Schnell setzte sie ihre Schlafanzug-Tochter ab und schickte sie ins Schlafzimmer. „Zieh Dich an“, rief sie ihr hinterher. Ganz offensichtlich war der Fieberschub vorbei.

Melli drückte auf den Türöffner. Wahrscheinlich ein Paketzusteller, dachte sie sich und rechnete bereits damit, dass sie nach unten würde gehen müssen, um nachzusehen. Dann aber nahm sie wahr, dass sich auf den Treppenstufen langsam jemand näherte. Sie spürte, wie die nackten Füße ihrer Tochter sich auf ihre Hausschuhe stellten. Neugierig klammerte sich Selma an ihre Beine; natürlich hatte sie noch immer den Schlafanzug an.

Tannenzweige wurden sichtbar …

… und kamen näher, erst einer, dann mehrere. Dann begriff sie: Vorsichtig und klappernd kroch ein Weihnachtsbaum über die letzte Windung des Treppenhauses nach oben in ihre Richtung. Vollständig geschmückt, rote Kugeln, goldene Sterne, sogar eine Lichterkette war erkennbar. Der Stecker klapperte am Geländer. Drei Stufen vor ihrer Wohnungstüre blieb der Baum stehen.

„Bestimmt habt Ihr keinen Baum“, erkannte Melli die verrauchte Stimme von Jo, dem Spinner. „Vielleicht könnt Ihr den hier brauchen? Habe ich abgestaubt drüben im Einkaufsparadies. Die brauchen den jetzt nicht mehr.“

Vorsichtig lugte Jo am Baum vorbei. „War eine ganz schöne Schufterei mit dem Baum in der Straßenbahn bis hierher.“

„Papa bringt den Paradiesbaum!“ jubelte Selma.

 

 

Allen Leserinnen und Lesern dieser Geschichte wünsche ich ein frohes Weihnachtsfest.

Die Geschichte des Weihnachtsbaums kann man u.a. hier nachlesen und dabei überprüfen, ob der Mann in Radio Recht hat:

https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Wie-die-Tanne-zum-Weihnachtsbaum-wurde,weihnachtsbaum18.html#:~:text=Der%20uns%20heute%20gel%C3%A4ufige%20Weihnachtsbaum,und%20versprachen%20Schutz%20und%20Fruchtbarkeit.

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Langes Haar und die Sehnsucht nach Freiheit

Eine haar-sträubende Betrachtung über Hippies, Gerd Müllers Denkmal und den Aufstand im Iran

Die ganze Welt kann ein einziger Wirbel von Haaren sein. Die singende Truppe tanzt, die Köpfe kreisen synchron nach vorne geneigt, auf gemeinsamer Augenhöhe. Aber von Augen ist nichts zu sehen. Denn die Haare wirbeln herum, glatte lange und wilde krause Haare, bilden gemeinsam eine blond-braun-schwarze Wolke. „Wunderbar ist so langes Haar, lass es leben, Gott hat´s mir gegeben, mein Haar!“, singt die sich entfesselt fühlende Jugend.

„Bürstenborstig, löwenmähnig“

„Bürstenborstig, rabenhorstig, ruppig, schuppig, struppig, zopfig, eisenherzig, bubikopfig, kämmungslos verludert, hemmungslos geölt, gepudert, löwenmähnig, strähnig“, geht der deutsche Liedtext weiter. Langes Haar schwingt herum in der Drehung, kann sich vor das Gesicht legen, sich verfangen an den Augenbrauen oder im Gestell der Brille. Es bedarf der Pflege, kostet Zeit und kann hinderlich sein für eine freie Sicht auf die Welt. Und doch ist langes Haar Symbol für Schönheit und auch kraftvoller Ausdruck von Vitalität und Freiheitsliebe. Manchen Menschen hat das Schicksal keine oder zu wenig oder eine sich allzu schnell verflüchtigende Haarpracht zugeteilt. Viele davon leiden darunter.

Die haarige Szene der tanzenden Jugend ist mehr als fünfzig Jahre alt. Sie stammt von der Bühne des amerikanischen Antikriegs-Musicals „Hair“, das im Jahr 1968 Premiere hatte. Das Spektakel im Dreieck zwischen Rebellion, Hippie-Glückseligkeit und Drogenrausch war ein Welterfolg der damals modernen westlichen Welt. Es ging darum, einer aufbegehrenden amerikanischen Jugend künstlerischen Ausdruck zu verleihen.

Lange Haare für Männer waren viel mehr als eine Mode

Gerd Müller – langhaarig während des WM-Endspiels von 1974. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-N0716-0314 / Mittelstädt, Rainer / CC-BY-SA

Die Rollenteilung zwischen Männern und Frauen kam dabei noch ziemlich traditionell daher, aber neu war: Auch viele Männer hatten eine wilde, ungebändigte Haarpracht. Ihre langen Haare, ihre wilden Locken waren für die Männer aus der Generation „Hair“ viel mehr als nur eine Mode. Die männliche Haarpracht war ganz konkret gefährdet vom brutalen Scheren-Schnitt nach einer drohenden Einberufung zum Militär. Und so wurde das wildwachsende Haar zum Zeichen des Widerstands gegen die latente, kalte Kriegsgefahr, in den USA gegen den Vietnam-Krieg. Es ging um eine ganz grundsätzliche Ablehnung jener Weltordnung, in der die Atommächte – militärisch gestützt – die Länder der sogenannten „Dritten Welt“ in Einflusssphären aufteilten und ausbeuteten. „Hair“ war auch ein Statement gegen den innergesellschaftlichen Stillstand, gegen Rassismus und soziale Ungerechtigkeiten.

Das Musical hatte am Broadway fast 2000 Aufführungen, schon im Oktober 1968 wanderte die übersetzte Aufführung von „Haare“ nach Deutschland. Zuerst wurde sie in die damalige Hippie-Lifestyle-Metropole München gezeigt, und von dort aus wanderte sie durch den ganzen deutschsprachigen Raum. Erst zehn Jahre später, als die Hippie-Glückseligkeit schon fast vorübergezogen und die bunten Schlaghosen von den wohlkalkulierten Lumpen der Punks verdrängt wurden, verfilmte der Oscar-Preisträger Milos Forman den haarigen Stoff.

Gewiss kein Hippie, aber lange Haare hatte auch der „Bomber“

Das Gerd-Müller-Denkmal in Nördlingen mit schicker Föhnfrisur.

Gerd Müller war ein Kind dieser Zeit, wenn auch gewiss kein Hippie. Kurz nach Kriegsende geboren, erfüllte er sich und der ganzen deutschen Nation den Traum des sportlichen Jungen, der aus einfachsten Verhältnissen zum Weltstar aufstieg. Als „Hair“ noch die Hallen füllte, erzielte der „Bomber der Nation“ als Mittelstürmer der Männer-Fußballnationalmannschaft 1974 das Siegtor zur zweiten deutschen Weltmeisterschaft. Er schoss es, unvergleichlich und ganz typisch für ihn, aus einer wuchtigen Körperdrehung heraus, und er hatte dabei fliegendes, schulterlanges Haar. Wild und frei schwang es ausweislich der unscharfen Fotos und wackeligen Videos, die es dazu gibt, um sein Haupt herum.

Gerd Müller verstarb im Jahr 2021. Als ihm nun seine schwäbische Heimatstadt Nördlingen ein Denkmal setzte, da hatten die auftraggebenden Verantwortlichen und der ausführende Aschaffenburger Künstler Herbert Deiss nicht den Mut, das lange Haar des Bombers abzubilden. Der aktuelle Zeitgeschmack meinte wohl Gerd Müller etwas Gutes tun zu müssen, wenn in seiner erstarrten Denkmal-Drehung zum legendären Siegtor keine Mähne fliegt, sondern eine moderne Föhnfrisur das Haupt des Helden ziert.

Der griechische Athlet von 360 v.Chr. reinigt sich – dabei ist er ganz makellos; kein Härchen klebt, die Lockenfrisur sitzt perfekt.

Nun ist ein Denkmal ein geübter Ort für legalisierte Idealisierung. Schon jener griechische Athlet aus der Zeit um 360 vor Christus, der zu Vergleichszwecken mit der neuzeitlichen Müller-Statue in der Münchner Glyptothek geduldig bereitsteht, könnte von der Freude seiner Zeitgenossen an der Idealisierung profitiert haben.  So, wie er sich in einer geradezu Müller-ähnlichen Körperdrehung „nach dem Sieg reinigt“, wie dem Besucher erklärt wird, wirkt er allzu schön und makellos. Seine Haare liegen in wohlgeordneten Locken auf dem Haupt, hier schwitzt nichts und klebt kein Härchen.

Warum wird Jesus langhaarig dargestellt?

Zugegeben, ein gewagter Vergleich! Noch viel mutiger ist in dieser Hinsicht der bereits zitierte Liedtext aus „Hair“. „Ging vor rund zweitausend Jahren,“ fragt die haarige Hippietruppe, „Jesus nicht mit langen Haaren?“ Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass der historische Jesus so aussah, wie wir ihn uns nach zahllosen Bildern und Filmen inzwischen vorstellen. Das haben Wissenschaftler ermittelt. In der Antike waren lange Haare unüblich, vermutlich glich Jesus äußerlich eher unserem schönen Athleten mit säuberlich gestutztem Lockenkopf. Als Kronzeuge für Langhaarigkeit taugt der Gottessohn also nicht, wohl aber als weiteres Symbol dafür, dass wallendes Männerhaar steter Ausdruck von Veränderungswille und Aufbruch ist. Ganze christliche Künstlergenerationen hatten offenkundig das Bedürfnis, den Erneuerer seiner Zeit, den Mann, der dem Kommerz die Stirn bot und die Händler aus dem Tempel warf (falls die Geschichte stimmt), den Mann, nach dem wir unseren Kalender neu geordnet haben, langhaarig darzustellen und nicht mit kurzen Stoppeln auf dem heiligen Haupt.

Alle Lebenserfahrung zeigt, dass es ohnehin nicht darauf ankommt, ob die Abbildung korrekt ist. Sondern nur darauf, ob das Bild in uns lebendig bleibt, das wir mit dem Werk, der Idee des Abgebildeten verbinden. Ob Gerd Müller lange Haare hatte, spielt keine Rolle für den kleinen Steppke, der vor dem Müller-Denkmal steht und davon träumt, einmal im Leben das entscheidende Tor bei einer Weltmeisterschaft zu erzielen. Ob Jesus lange Haare hatte, ist vollkommen nebensächlich für diejenigen, die daran glauben, dass er für sie qualvoll am Kreuz gestorben ist.

Haare für die Freiheit: Szene aus dem Iran. Ganzes Video bei ttt in der ARD-Mediathek, ab Min. 8:30: https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/videos/Iran-Frauen-ttt-video-100.html

Wer das Haar zeigt, dem droht Folter und Tod im Iran

Welches Denkmal wird einst jenen Frauen errichtet werden, die derzeit im Iran um Ihre Freiheit kämpfen? Das Nicht-Verdecken des Haares ist für die Frauen dort zum religiös motivierten Politikum und zur Lebensgefahr geworden. Eine junge Frau war im September 2022 in den Foltergefängnissen der Mullahs umgekommen, weil sie zu viel von ihrem Haar öffentlich gezeigt hatte. Nun rebellieren Millionen Frauen gegen diese Sittenvorschrift. Immer mehr Männer schließen sich dem Frauenprotest an. Sie alle riskieren, im Gefängnis zu landen, gefoltert und getötet zu werden. Die Schergen des Regimes schießen mit scharfer Munition auf die haarige Rebellion. Staunend blicken die langhaarigen Hippies von einst auf den Mut dieser Menschen von heute.

Eine Szene, die zum Denkmal werden sollte

Ein Mittel des Protestes und der Trauer im Iran (und der Solidarität mit den iranischen Frauen weltweit) ist das Abschneiden der Haare. Das Netz ist voller Videos mit Bildern dieses mutigen Kampfes der Menschen im Iran. Eines davon zeigt eine junge Frau, mitten im Großstadtverkehr, Autos fahren vorbei, öffentlich steht sie da und schneidet sich ihre schönen langen Haare ab, hält die abgetrennten Büschel mahnend der Welt entgegen. Eine Szene, die zum Denkmal werden sollte.

 

 

Den Link zur vollständigen Szene mit der mutigen jungen Frau aus dem Iran , die sich die Haare abschneidet, finden Sie unter der Bildunterschrift.

Ausschnitte von „Hair“ kann man sich im Internet ansehen, auch den Film. Das zitierte Lied über die Haare finden Sie als Ausschnitt des Films von Milos Forman z.B. hier: https://www.youtube.com/watch?v=PgrIAIHTho8&t=27s

Das Musical ist bis heute auf deutschen Bühnen präsent; zum Beispiel wird das Staatstheater Saarbrücken den haarigen Antikriegs-Klassiker ab Mitte Februar 2023 wieder ins Programm nehmen.

Weitere (an den Haaren herbeigezogene) Texte als #Politikflaneur finden Sie hier.

 

Am Ende gewinnt immer das Runde

Ein Essay über Fußball, Mathematik und Moral

Der Künstler Şakir Gökçebağ möchte den „banalen Dingen des Alltags eine ungeahnte, neue Aufmerksamkeit“ verschaffen, so der Begleittext des Museum Ritter in Waldenbuch bei Stuttgart, so derzeit seine Werke zu besichtigen sind. Hier ist ihm gelungen, was unmöglich erscheint: Das Runde in etwas Eckiges zu hineinzuquetschen.

Üblicherweise ist ein Apfel rund. Freiwillig fügt er sich nicht in ein geometrisch sauberes Quadrat. Im allwissenden Internet sind Filmchen zu finden, wie kleine Äpfel beim Größerwerden in ein quadratisches Plastikästchen gezwängt werden, und dann halbwegs eckig vom Baum fallen. Mit etwas Gewalt gelang es auch dem in Hamburg lebenden Künstler Şakir Gökçebağ, den Äpfeln das Runde abzuzwingen. Er hat Äpfel so lange eckig zugeschnitten, bis sie in seinem Kunstwerk, ganz eng zusammengedrängt, einem Puzzle gleich, ein sauberes Quadrat bilden.

Rund und Eckig – das passt nicht

Für den Betrachter des Apfel-Gevierts bleibt ein Störgefühl zurück. Rund und eckig, das widerspricht sich einfach, das ist wie Feuer und Wasser, wie heiß und kalt. Deshalb halten wir inne vor dem Bild mit den sauber zum Quadrat zusammengeschnipselten Apfelgehäusen. Jeder Versuch, das Runde in das Eckige zu bringen, ist eben eine „Quadratur des Kreises“ – und wir wissen instinktiv: Es kann nicht ganz gelingen. Der Versuch, mit Zirkel und Lineal die Fläche eines Kreises exakt in die Fläche eines Quadrats zu übertragen, bleibt unmöglich für die Menschheit. Ein kluger deutscher Mathematiker namens Carl Louis Ferdinand Lindemann hat dafür im Jahr 1882 sogar den mathematischen Beweis erbracht.

So wurde die „Quadratur des Kreises“ zur sprachlichen Metapher. Sie steht für den zum Scheitern verurteilten Versuch, eine moderne Innenstadt gleichzeitig autogerecht und doch saftig grün und lebenswert durchlüftet zu gestalten; sie beschreibt das unmögliche Begehren an den Staat, Wohlstand für alle zu gewährleisten, und doch möglichst keine Steuern zu erheben. Jeder kennt solche Situationen: Man kann nicht beides gleichzeitig haben, die Dinge sind eben entweder rund oder eckig. Man kann sich oft annähern, man kann Kompromisse schließen, aber der Kreis wird nie quadratisch.

Zu besichtigen ist das gewaltsam zusammengepresste Apfel-Quadrat derzeit (und noch bis Mitte April 2023) im Museum Ritter in Waldenbuch bei Stuttgart. Dort widmet man sich ganz speziell der Geometrie in der Kunst, mit Vorrang also solchen Bildern oder Skulpturen, die das Quadrat zum Thema haben. Das Museum gehört zu einem Schokoladenimperium, dessen Produkte ausgeprägt eckig daherkommen – quadratisch nämlich. Noch dazu tragen sie „Sport“ in ihren Namen trägt, was uns mitten hineinführt in diese Betrachtung über das Runde, das Eckige und die Moral.

„Das Runde muss in das Eckige“

„Das Runde muss in das Eckige“, philosophiert das ewige deutsche Fußballgedächtnis und meint damit den simplen Umstand, dass der Ball ins Tor muss. Der banale Satz zieht seine Spannung aus einem inneren Gefühl der Unmöglichkeit, die er auszudrücken scheint. Nicht nur der Fußballfan kennt die Verzweiflung darüber, wenn der Ball einfach „nicht reingehen will“, wo doch eigentlich und rein physikalisch betrachtet eine Lederkugel mit rund zwanzig Zentimetern Durchmesser mühelos zwischen ein Lattengerüst hineinpassen sollte, das mehr als sieben Meter breit und gut zwei Meter hoch ist. Gewiss, ein Torwart will das verhindern, und eine vielfüßige Verteidigung noch dazu. Trotzdem sollte es doch nicht so schwer sein, meint jeder Laie, der einmal vor der leibhaftigen Größe eines Fußballtores gestanden hat. Und wurde dann schnell eines Besseren belehrt, wenn er den Ball mit voller Wucht neben oder über das leere Tor gedroschen hatte.

Was soll das Gerede vom Runden und dem Eckigen? Es geht doch! Vieltausendfach mühen sich an jedem Tag sportbegeisterte Menschen auf der ganzen Welt damit ab, auf den verwöhnt-geheizten Rasenflächen der Stadien genauso wie auf den schweißgetränkten Buckelpisten der Vereine, in den gepflasterten Hinterhöfen oder auf staubigen Bolzplätzen. Und zappelt es dann endlich im Eckigen, das Runde, dann purzeln Kinder jubelnd auf dem Boden herum, brüllen wildfremde Männer ihre Erleichterung heraus, fallen sich erwachsene Frauen gegenseitig um den Hals.

Fußball-Deutschland und die Quadratur des Kreises

Ganz Fußball-Deutschland steht in den nächsten Wochen eine Quadratur des Kreises bevor. Das Runde muss mal wieder in das Eckige, diesmal zur gefühlten Unzeit vor Weihnachten, und noch dazu drängen sich die suspekten Scheichs von Katar dabei als Gastgeber auf den von Wüstenödnis umgebenen grünen Rasen. Die Umstände rund um die dargebotene Veranstaltung sind unsäglich. Eine böse Blutgrätsche der Fußball-Moral ist zu besichtigen: Über 6.500 migrierte Arbeiter sind (lt. der britischen Tageszeitung The Guardian) aufgrund der Arbeitsbedingung beim Bau klimatisierter Stadien in der Wüste verstorben. Für die neuen Arenen wird es keine Verwendung geben, wenn die Fußball-Millionäre abgereist sind. Ein Unrechtsstaat fläzt sich da auf die sportliche Weltbühne, eine Monarchie, die nach der Scharia urteilt, Frauen unterdrückt, Homosexuelle betraft und die Todesstrafe vollzieht. Eine rücksichtslose Elite beutet in Katar die ihnen zufällig zugefallenen Energieressourcen gnadenlos zum eigenen Vorteil aus.

Noch dazu wird eine wahnwitzige Verschwendung von Geld und Energie zu besichtigen sein für ein Turnier, das man genauso gut zu einer passenderen Jahreszeit anderenorts in ohnehin vorhandenen Arenen hätte durchführen können. Oder auf das man vielleicht auch ganz hätte verzichten können, da uns aktuell die Quadratur des allergrößten Kreises unserer Zeit abverlangt wird: Nämlich Energie zu sparen, das Klima zu retten, unsere demokratischen Werte zu verteidigen, in einem Krieg unserer Nachbarn solidarisch zu bleiben, und dabei trotzdem halbwegs Wohlstand für die meisten zu erhalten und allen eine warme Wohnung zu heizen.

Gucken oder nicht?

Was also tun? Gucken oder nicht? Glühwein zum Elfmeterschießen? Fein raus sind nur die, deren Desinteresse für Fußball tief verwurzeltet ist. Wer sich diesbezüglich frei glaubt von jeder Verlockung, werfe also den ersten Ball! Aber Achtung: Das Bekenntnis ist nur glaubwürdig von denjenigen, die noch niemals dabei waren, auch nicht in wichtigen Spielen bei Europa- oder Weltmeisterschaften, einem Finale gar, daumendrückend, Chipstüten-bewaffnet und jubelbereit, verzweiflungsgeplagt. Alle anderen, auch die nur gelegentlich Interessierten, erst recht die süchtigen Final-Zitterer, die spannungsgeladenen Hoffnungsfrohen, werden gnadenlos vor die Frage gestellt werden, ob sie ihr Rundes (also ihren Kopf) tatsächlich vom eckigen Bildschirm fernhalten wollen.

Moral und Spitzensport, das ist eben auch eine Quadratur des Kreises, das passt nicht zusammen. Sepp Herberger, von dem der Spruch mit dem Runden, das ins Eckige muss, stammt, war der Trainer jener deutschen Nationalmannschaft, die 1954 das „Wunder von Bern“ vollbrachte, der überraschend errungene Weltmeistertitel für das Fußball-Deutschland der geächteten Kriegsverursacher. Herberger war NSDAP-Mitglied und wurde doch zum deutschen Nachkriegshelden. 1978 fand die Weltmeisterschaft in Argentinien statt, das damals von einer blutigen Diktatur regiert wurde. Bei der WM von 2018 in Russland schieden die deutschen Jungs als Gruppenletzte schon in der Vorrunde aus. Die deutsche Öffentlichkeit beschäftigte das deutlich mehr als der Umstand, dass der „Gastgeber“ schon vier Jahre zuvor sich rechtswidrig Teile der Ukraine gewaltsam angeeignet hatte. Und wären uns die in Umerziehungslagern kasernierten Uiguren wichtig gewesen, oder die in ihrer kulturellen Identität unterdrückten Tibeter, dann hätten wir auch ganz sicher nicht die olympischen Spiele in China verfolgend dürfen.

Am Ende gewinnt immer das Runde!

Da bleibt dem zweifelnden Zeitgenossen nur die Gewissheit: Am Ende gewinnt das Runde! Der Kreis wird nicht zum Quadrat und der Apfel selbst im Plastikkorsett kein sauberer Würfel. Das Spiel gewinnt, wer das Runde ins Eckige bringt, und nicht umgekehrt.

Und es ist der runde Kopf, der hinsieht und sich das Seine denken kann zu dem kommerziellen Wahnsinn, der da aus dem elektronischen Viereck quillt. „Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann“, formulierte es einmal der französische Schriftsteller Francis Picabia. Was für ein Traumtor!

 

Die Ausstellung mit Werken von Şakir Gökçebağ ist noch bis 16. April 2023 im Museum Ritter in Waldenbuch bei Stuttgart zu besuchen.

Die Erklärung, warum die Quadratur des Kreises eine unlösbare Aufgabe ist, übersteigt deutlich meine eigenen mathematischen Fähigkeiten. Wer tiefer in das Rätsel einsteigen möchte: Bitteschön, vielleicht hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Quadratur_des_Kreises

Francis Picabia war ein vielfältiges Talent, vor allem auch ein Maler. mehr über ihn  können Sie z.B. hier nachlesen: https://kunstmuseum.com/francis-picabia/

Weitere Texte als #Politikflaneur finden Sie hier und als #Kulturflaneur hier. 

Der Barde und die Baby-Boomer

Ein Essay über den Liedermacher Reinhard Mey, die Freiheit und die Verantwortung

Es gab nichts zu verantworten für die Schüler in der Kleinstadt, aber die Institution nannte sich trotzdem „Schülermitverantwortung“. Für den Schulrektor waren sie eine potenzielle Störung des Schulalltags, für die Lehrer aufschneiderische Wichtigtuer, für die meisten Schüler entweder selbstverliebt oder machtlos oder beides. Dennoch: einmal im Monat, nach dem Unterricht, früher Nachmittag, fand die gemeinsame Sitzung der von ihren gymnasialen Klassen gewählten Schülersprecher statt. Ort: Klassenraum 3.32, dritter Stock, Linoleum, zotiges Gekritzel auf den Schulbänken. Der abgegriffene Holzzirkel drohte von der Wand, die Tafel war verschmiert.  Man atmete den Muff des letzten Unterrichts, befühlte die fremden getrockneten Kaugummis unter Bänken und Stühlen. Irgendjemand hatte Jasmin-Tee gekocht, der neueste Schrei unter den Gymnasiasten, und bröckeligen Kandiszucker besorgt. Gesucht waren Ideen, was mit der Mitverantwortung anzustellen sei. Was könnte man den Schülern bieten?

70er Jahre: Mond betreten, Jasmin-Tee mit Kandiszucker

Es war die Zeit, als der Mond gerade eben vom Menschen betreten und, wie erwartet, als staubig und unwirtlich vorgefunden worden war. Die olympischen Spiele in München standen noch bevor. Beginn der siebziger Jahre in Deutschland, das Ende des kriegerischen Jahrhunderts dämmerte schon am fernen Horizont. Die Generation der „Baby-Boomer“ (die man damals noch nicht so nannte) sorgte für überquellende Klassenzimmer, seit im Land der Kriegsverursacher Frieden und Wohlstand eingezogen war.

Dazu immer Musik! Wenn es nicht die Beatles oder Stones waren, wenn es deutsch sein sollte, dann Peter Alexander, Roy Black oder Tony Marshall. „Mein Freund, der Baum“, die frühe Öko-Hymne der 1969 tödlich verunglückten Sängerin Alexandra war textlich schon herausragend anspruchsvoll gewesen, sonst aber waren deutsche Lieder rosarot und seicht.

Die erste verwöhnte Generation

„Was bin ich?“ fragte sich ganz Fernsehdeutschland vor dem Bildschirm, aber eine Antwort gab es dort nicht. Nur viele neue Fragen taten sich auf, wenn die einstigen Trümmerfrauen, die bescheiden wohlstandsstolzen Vertriebenen und die noch immer traumatisierten Kriegsheimkehrer auf ihre Kinder blickten: langhaarige, barttragende, dauergewellte Schlaghosenträger/innen. Auch diese Generation war sich einig in der Abgrenzung zu ihren Eltern, die nur schaufeln und schaffen und wegschauen wollten. Aber die ersten Kinder des Wirtschaftswunders waren auch schon verwöhnt vom Wohlstand, in dem sie satt und sehnsüchtig dem nächsten elternfinanzierten Italienurlaub entgegenträumen konnten.

Der Liedermacher und seine Generation: Reinhard Mey füllt jetzt große Hallen, in Stuttgart waren es mehr als 5000 Zuhörer/innen.

Der Frieden schien gesichert im Schatten der Waffen

Zurück lag der Aufruhr des Sommer 1968, als in den Großstädten Auflehnung gegen die Lähmschicht des Stillstandes und der stillen Verleugnung sich den Weg bahnte. Wütende Studierende hatten die Ruhe in den deutschen Wohnzimmern gestört, Pflastersteine waren geflogen gegen damals noch lächerlich schwach geschützte Polizisten. Schaufenster splitterten. Und die zerfetzten Bild-Zeitungen lagen im Schlamm der Straßen, durchweicht vom Nass der Wasserwerfer, mit deren Hilfe der verzweifelte Staat dem rebellischen Treiben seiner Jugend hatte Einhalt gebieten wollen. Vorbei war die Kuba-Krise und die Niederschlagung des Prager Frühlings, das System der atomaren Abschreckung war im Gleichgewicht, stabiler Frieden schien gesichert im Schatten der tödlichen Waffen.

Die Krawalle in München, Berlin oder Frankfurt hatten die Schüler-Mitverantwortlichen, genauso wie die Mondlandung, nur in verschneiten, wackeligen Schwarz-Weiß-Bildern auf der gewölbten Oberfläche des heimischen Fernsehers erlebt. Für die Provinz-Gymnasiasten in Raum 2.32 war alles das wichtig gewesen, aber auch sehr weit weg.

Dann holte einer ein mobiles Tonband hervor, fummelte das Kabel in die Steckdose, drückte ein paar Tasten. Mitschnitt aus dem Radio, vor ein paar Tagen, sagte er.

„Ich wollte wie Orpheus singen …“

„Ich wollte ….“, sang eine schüchterne Männerstimme, „… wie Orpheus singen“, tastete sich das Lied, begleitet nur vom Zupfen einer Gitarre, zwischen das Rauschen und Knacken im schwächlichen Lautsprecher. „Ich wollte wie Orpheus singen, dem es einst gelang, Felsen selbst zum Weinen zu bringen – durch seinen Gesang…“

„Reinhard Mey!“, riefen gleich mehrere Schülermitverantwortliche. Und dann war die Idee schnell geeint: Macht der nicht eine Tournee? Ganz sicher wird er nicht in unsere Kleinstadt kommen, aber vielleicht in den größeren Ort in der Nähe, könnten wir nicht eine Fahrt dorthin organisieren?

Dieser Mann war damals 29 Jahre alt und sang bisher ungehörte deutsche Lieder. Reinhard Mey tourte mit seiner Gitarre durch die Hinterzimmer und kleineren Säle des Landes. 1967 hatte er seinen ersten Plattenvertrag ergattert, verglich sich mit Orpheus, spottete über deutsche Krimis, in denen „immer der Gärtner“ der Mörder sei und erlebte 1972 seinen ersten Popularitätsdurchbruch mit der Ballade „Gute Nacht, Freunde“.

Politisch, aber nicht rebellisch

Es waren die Texte seiner Lieder, die dem Lebensgefühl junger Menschen in den Siebziger-Jahren Ausdruck verliehen. Reinhard Mey (und andere, wie Hannes Wader oder etwas später Konstantin Wecker) trafen den Nerv einer Jugend, die politisch sein wollte, aber nicht mehr so rebellisch wie ihre älteren Geschwister. Es waren 15-, 17-, 19-Jährige, denen es dank ihrer fleißigen Eltern gut genug ging, dass sie es sich nun leisten konnten, das Zuhören zu lernen.

120 Mark kostete die Miete für den Bus, der die Schüler des Kleinstadt-Gymnasiums zur Halle in der Regionalmetropole brachte. Zwanzig Teilnehmer hatten sich bei der Schülermitverantwortung für die Fahrt angemeldet. Als es so weit war, trat der junge Barde vor den beigefarbenen Vorhang. Der Saal war vollbesetzt mit vielleicht dreihundert jungen Menschen, die hören wollten, was damals neu und ungewohnt war: Deutsche Texte, sanft, nachdenklich machend, diskursiv, auch öfters spöttisch. Es war ein Ton, der die dumpfe Selbstgerechtigkeit der Nachkriegsjahre genauso hinter sich ließ wie den gewaltgeprägten Krawall der 68er-Bewegung.

Still war es damals im kleinen Saal, …

Ganz still war es damals im stickigen Saal, kein rhythmisches Klatschen, keine Feuerzeuge, nur das Zuhören junger Menschen und dann Beifall und Hoffnung auf eine Zugabe, vielleicht noch eine Zugabe. Damals waren die Lieder von Reinhard Mey Teil der Veränderung, die bevorstand. Sie waren in ihrer Einfachheit – nur eine Gitarre und ein Mann, der singt – eine Vision für eine neue deutsche Nachdenklichkeit. Sie kündeten früh von jener Achtsamkeit, die wir uns heute mühsam abringen. Sie nahmen auch den Spott vorweg, der nun Comedy heißt.

… heute warten 5000. Graue Locken bestimmen das Bild

Zeitsprung! Stuttgart, Porsche-Arena, Oktober 2022. Fünfzig Jahre sind vergangen, der Sänger ist an Jahren gealtert wie auch sein Publikum. Graue Locken bestimmen das Bild, wackelig und tastend auf Geländersuche staksen die Klassenkameraden der einstigen Schülervertreter über die steilen Stufen der Riesenarena in ihre Sitzreihen.

Beifallumrauscht, gleichermaßen vorfreudig wie vorsichtig, nimmt der fast achtzigjährige Reinhard Mey die Stufen hinauf zur Bühne, auf der seine Gitarre schon wartet. Still wird es auch jetzt noch im dunklen Saal, wenn der Barde die Gitarre zupft. Jetzt sind es mehr als 5000 Menschen, die einem alten, weißen Mann zuhören, der ihnen noch immer etwas zu sagen hat. Es ist eine demutsvolle, sehr persönliche Rückschau, zu der er einlädt, ein sanfter, dankbarer Blick auf ein Leben voll Liebe und Wein, auf Momente von Glück und tiefer Trauer, auf die eigenen Kinder, die nahen Mitmenschen, auch auf die Annäherung an den Tod.

Politisch hält sich der Liedermacher auf der Bühne zurück

Ein Mann, seine Stimme, eine Gitarre. Im Dezember wird Reinhard Mey 80 Jahre alt. Er trifft noch immer den Ton seiner Generation. Aber welcher Ton ist das?

Politisch hält sich der Liedermacher auf der Bühne zurück. Das war nicht immer so. Immer wieder hat sich Reinhard Mey in seinen Liedern dezidiert politisch und pazifistisch positioniert.  „Nein, meine Söhne geb ich nicht …“ textete er 1986 im gleichnamigen Lied, „… sie werden nicht in Reih und Glied marschieren, nicht durchhalten, kämpfen bis zuletzt.“ Lieber werde er „mit ihnen in die Fremde ziehen, in Armut und wie Diebe in der Nacht.“ Im April 2022, im ersten großen Schock über den Krieg in Europa, hatte sich Reinhard Mey als Erstunterzeichner dem umstrittenen „Offenen Brief“ angeschlossen, in dem zahlreiche Künstler und Intellektuelle zur Zurückhaltung bei Waffenlieferungen an die Ukraine aufriefen.

Im Konzert sagt oder singt er kein Wort dazu. Aber dann, fast zum Schluss, schon als Zugabe, stimmt Mey seinen größten Erfolg an. Es ist die stille Hymne auf den Traum einer grenzenlosen Freiheit, die man wohl nur über den Wolken, nicht bei uns auf der Erde finden könne. „Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben dahinter verborgen. Und dann würde, was uns groß und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein.“

Der betörende Mehrklang der Wohlstandsfreiheit

Noch immer trifft der Liedermacher den Ton seiner Generation. Es ist der ungemein verlockende, in seiner Schönheit so betörende Mehrklang aus Sehnsucht und Tatenlosigkeit, der dieses Lied für viele Menschen berührend macht. Es ist ein Statement für eine Wohlstandsfreiheit, die nicht erkämpft oder aktiv verteidigt werden muss.

Leider ist die Welt von heute nicht so. Die Baby-Bommer werden nicht umhinkommen, noch einmal neu zu lernen, Verantwortung zu übernehmen.

 

 

Reinhard Mey ist noch bis 15. Oktober 2022 auf Tournee. Ich habe das Konzert am 18. Oktober 2022 in Stuttgart erlebt.

Die angesprochenen Lieder habe ich jeweils direkt im Text verlinkt, jeweils zu Youtube. Wenn Sie draufklicken, stimmen Sie der Weiterleitung zu. Es lohnt sich, zuzuhören!

Mich persönlich hat auch eine Neuversion des pazifistischen Liedes „Meine Söhne geb ich nicht“, eine Gemeinschaftsproduktion von Reinhard Mey und mehreren weiteren Künstlern sehr angesprochen. Die Künstler werben damit für https://friedensdorf.de/

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Schiffbruch im Ozean der Irrelevanz

Eine politische Erzählung

Die ganze Verzweiflung eines Schiffbrüchigen schildert der französische Maler Emile Renouf (1845-1894) in seinem Gemälde „En dérive“ – der Getriebene (hier ein Ausschnitt). Quelle gallica.bnf.fr / BnF

Unendliche Weite, Wasser, nur Wasser. Verloren wird der Schiffbrüchige herumgeworfen, fremden Gewalten ausgeliefert, ohne Orientierung, ohne Plan. Machtlos ist er im Spiel der Wellen, hin und her schwankt der gekappte Mast, das große rettende Stück Holz, an das er sich in banger Hoffnung klammert. Wann kommt Hilfe?

Die letzte Hoffnung: Ein Sprung, aber …

Einst waren die großen Segler noch aus Holz, mit stolzen Masten darauf, die von der Mannschaft in der höchsten Not des Sturms gekappt worden waren, um das Schlimmste zu verhindern. Aber die Wut des Meeres war zu groß. Schäumend und tobend schlug das kalte salzige Nass über das schon geschundene Schiff, schleuderte es hin und her, schlug Löcher in seine kräftigen Planken. Wasser drang ein, immer mehr, gluckernd und gurgelnd, dann ein Sturz, der alles unter sich begrub und mit sich riss. Schließlich war der große Schiffskörper zerborsten, ächzend, splitternd und krachend unter der nächsten großen, noch größeren, noch wütenderen Welle. Dem Tode entrinnen konnte nur, wer den kühnen Sprung in die nasse Unendlichkeit wagte, und ein hölzernes Stück ergatterte.

… schon droht die nächste Welle

Der Schiffbrüchige klammerte sich daran fest, egal wieviel Wasser über ihn hinwegtobte. Eisig kalt krampften die Finger, triefend der Körper, die Haare, die Fetzen von Kleidung, die ihm geblieben waren. Festhalten und fort, nichts als fort, war sein Denken, nichts als fort vom tödlichen Strudel, der entstehen wird in diesem Inferno, wenn das Schiff für immer hinabtaucht in unermessliche Tiefe.

Aber der Schiffbrüchige hatte gar nicht die Macht, über sein Schicksal zu bestimmen. Er konnte nur mit letzter Kraft der Erschöpfung entgegenwirken. Schon erkannte er im fahlen Mondlicht die nächste Welle, wie sie meterhoch, gewalttätig, unabwendbar, im gleichen Moment über ihn hinwegschlug, alles verschlingend. Und sie spie ihn doch wieder aus! Prustend, verzweifelt schreiend und den Geschmack der salzigen Wucht auf der Zunge – so blickte er um sich, voller Staunen, dass er noch immer lebte.

Bilder, an die man sich nicht gewöhnen darf

Die Schiffbrüchigen von heute klammern sich nicht mehr an Holzmasten. Sie geraten in schrottreifen Kuttern in Seenot und werden, wenn sie seltenes Glück haben, von geflickten Rettungsringen über Wasser gehalten. Das Mittelmeer ist voll von modernen Schiffbrüchigen, die unter Einsatz ihres einzigen Lebens ein besseres anderes suchen. Es sind Bilder, an die wir uns gewöhnt haben, obwohl man sich nicht gewöhnen darf, und Schicksale, die aller Rede wert sind.

Der moderne Schiffbrüchige sitzt vor seinem Notebook

Hier aber soll es um eine ganz neue Form der Seenot gehen. Der moderne Schiffbrüchige sitzt vor seinem Notebook. Oder er hält sein Smartphone in der Hand, und er versucht nicht unterzugehen im weiten Ozean der Irrelevanz. Er sucht Halt in den Stürmen einer tobenden Welt: Städte in Europa brennen, Leichen säumen die Straßen der vom Krieg geschundenen Dörfer. Europa, vielleicht der ganzen Welt, droht ein Atomkrieg. Sintflut-gleiche Überschwemmungen spülen die Existenz der Menschen in Pakistan hinweg. Brutale Gewalt übt ein Regime gegen Frauen und Männer im Iran aus (und nicht nur dort).  Dazu, ganz nah schon, der nächste wütende Sturm: eine globale Klimaveränderung, welche das Leben auf der ganzen Welt verschlingen könnte.

Wo solche Orkane wüten, rollen ohne Unterlass die hohen Wellen der Irrelevanz heran: Ungebetene Ratschläge von ahnungslosen Besserwissern türmen sich, eine Flut von Behauptungen aus unberufenen Mündern, von selbsternannten Philosophen und Querdenkern schwappt dahin. Trolle gießen schäumendes Gift in die Strudel, produzieren drohende Blasengebilde, die die Sicht versperren und das Wasser vergiften, in dem der Schiffbrüchige zu überleben sucht.

Giftige Algen wuchern, selbstverliebte Kraken locken

Ängste wuchern wie giftige Algen durch das brodelnde Meer des Irrelevanten, Ängste vor dem Verlust unseres Wohlstandes, Ängste vor Fremden, Ängste vor einem kalten Winter in ungeheizten Wohnungen, vor galoppierender Inflation. Nach dem schon geschwächten Bürger in Seenot, der sich gerade erst durch den Sturm der Pandemie gekämpft hat, greifen nun auch noch die Tentakel der selbstverliebten Kraken, die ihn mit ihren Verlockungen ablenken wollen: Sollte man nicht um das Gendern streiten? Hatte nicht Dein Zug auch Verspätung? Wurde etwa die Legalisierung von Cannabis vergessen?

Kehren wir noch einmal zurück zu dem armen, nassen Kerl, der sich an das Holz klammert. Irgendwann, nach den endlosen Stunden der Not und des verzweifelten Kampfes, hatte sich doch der Sturm gelegt, die Wellen hatten an Kraft und Wut verloren. Das graugrimmige Wolkengebirge hellte sich auf, ließ im anbrechenden Tag erste zarte Flecken in Blau gewähren, dann mehr und mehr. Und als die Sonne am Horizont über das endlose, langsam zur Ruhe kommende Grau des Wassers stieg, vertrieb sie die Reste der Wut, legte ihren goldenen Schimmer auf das Nass, beruhigte das ermüdete Element ganz sanft und sachte. Überlebt hatte er im Sturm, aber wird er auch leben können? Er wartet nun auf Rettung durch ein herannahendes Schiff, bevor er verdurstet oder ertrunken ist.

Die Besserwisser wühlen im Weltmeer der Irrelevanz

Der Schiffbrüchige im Ozean des Irrelevanten darf auf eine solche Beruhigung der Stürme nicht hoffen. Eine Katastrophe jagt die andere, und die Besserwisser wühlen lustvoll das Weltmeer immer heftiger auf. Im Chaos des vorschnellen Diskurses muss er sich an diese oder jene Meinung klammern, wenn sie ihm vertrauenswürdig erscheint. Meist treibt er führungslos herum in einer schwappenden Unendlichkeit aus Polarisierung und Populismus, aus Lügen und Fake News, aus Wut und Hass und Spott. Die Vielfalt der Propaganda, der Manipulierbarkeit der Meinungen und Gegenmeinungen, die Lust am Unüberlegten kann so ungenießbar sein wie das Salzwasser der Weltmeere für den durstig Ertrinkenden am schwappenden Holzmast.

Aber da, schau hin, am Horizont!

Der Demokratiedampfer nähert sich, er kämpft gegen die Wellen der Stürme an, die um ihn herum toben. Was war das für ein stolzes Schiff, und nun trägt es schon deutlich sichtbare Wunden, der Lack splittert, die Turbine stottert. Aber noch liegt das Flaggschiff für Freiheit und Recht sicher auf dem Ozean, trotzt dem Schlag der Wellen, der giftigen Gischt der Fehlinformation. Und es ist nicht allein, es hat Begleitboote, eine zerzauste Armada nähert sich: Das einst so stolze Segelschiff des Qualitätsjournalismus liegt da im Wind, die Tücher angenagt und rissig, aber noch prüft die Mannschaft zuerst, was sie danach behauptet. Das schnittige Schnellboot der Opposition versucht Anschluss zu halten. Das verlockende Kreuzfahrtschiff einer vom Wohlstand verwöhnten Gesellschaft ist auch dabei. Auf den Balkonen der Luxuskabinen schwankt noch der Champagner im Takt der Wellen, auch die Musik ist zu hören, aber sie kommt nur noch vom Band. Die Passgiere nehmen jetzt, da der Kampf den Stürmen gilt, Abstriche hin. Die Küche bleibt kalt und die Show am Abend fällt aus.

Immer wieder verlangsamt der Dampfer die Fahrt, immer wieder schlingert der Kurs, denn auf der Brücke des Leitschiffs wird gestritten. Bei jeder neuen Wasserwand, die da heranrollt, zanken sich die Kapitäne über den richtigen Kurs und die richtige Geschwindigkeit. Niemand ist ohne Zweifel, ob diese oder jene Entscheidung richtig ist. Wie könnte es auch anders sein in diesem tobenden Meer?

Der Schiffbrüchige aber winkt und winkt.

 

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Deutschland im Hitze-August 2022

Ein politisch-musikalischer Reisebericht

Im Württembergischen

Der ganze Hang durstet vor sich hin. Eine Rebsorte für samtroten Wein ist nach diesem sonnigen Bergrücken benannt, aber jetzt hilft ihm das wenig. Die Reben, die hier zu überleben versuchen, knorriges, ins Spalier gezwungenes Geäst, lassen trotz Bewässerung ihre hitzegeplagten Blätter hängen. Viele sind es ohnehin nicht mehr, die meisten Flächen am Hang wurden über die Jahre des Traums von ewigem Wachstum und immer weiter wachsendem Wohlstand umgewandelt in teuren Baugrund und blühende Gärten. Nun blüht hier nichts mehr. Fast einen Monat lang fiel kein Tropfen Regen vom Himmel, kaum eine Wolke linderte die Kraft der erbarmungslosen Sonne. die den Hang seit vier Wochen bescheint, Stunde um Stunde der Glut. Das Bewässern der Gärten zur Errettung des grünen Rasens, der bunten Blumenwiesen, ist zwar nicht verboten, aber schlecht beleumundet. Also sind die Flächen rund um die heiligen Orte der deutschen Familienidyllen längst nicht mehr grün. Unter den Trampolinen und am Rand der Grillterrassen ist alles Pflanzliche braun, abgestorben, vom Hitzetod dahingerafft. Die Trockenheit frisst sich in das Erdreich, Risse spalten den Boden, die Hitze zerrt an der verdorrten Krume.

Deutschland schwitzt und sehnt sich nach Schatten, diskutiert über die Kälte im Winter, sorgt vor, damit es warm bleibt im Wohnzimmer der Familien. Ventilatoren quirlen die heiße Luft, aber wo man es sich leisten kann, da säuselt die Klimaanlage.

In der Weltstadt mit Herz

Zu Gast für nur wenige Stunden in der Stadt, die das 50. Jubiläum ihrer Olympiade feiert, die in einem deutschen Sommer noch ohne Diskussion um Klimaschäden begonnen hatte, federleicht und bunt, und die dann zur tonnenschweren tödlichen Last wurde. Heiß ist es nun auch hier, aber offensichtlich ist hier mehr Regen gefallen in den letzten Wochen. Die Kinder springen durch die Parks, die Mütter und Väter lagern unter dem Schatten noch satt beblätterter Kastanien, einzelne Stellen der Wiesen schattieren ins Bräunliche, aber es dominiert das Grün.

Ein lauwarmer Abend des sommerlichen Glücks im Biergarten, ein frisch gezapftes Bier, der Rettich tränt ordnungsgemäß – und dann das erste Grollen, bedrohlich und finster wie zu Beginn des Gewitters in Beethovens Pastorale. Unheilkündend? Nein, erlösend, rauschend und rauschauslösend, prasselt in Sekunden das Wasser hernieder wie aus Kübeln, ergießt sich auf die durstigen Wiesen, saugt sich in das erfrischte Grün, tropft im Überfluss von den Bäumen, stürzt sich in die Kanalisation, bildet Bäche und Strudel. Wütend zucken die Blitze von Himmel, zornig grollen die Donner. Wer zu Fuß unterwegs ist, gerade noch in der Gewissheit des trockenen Sommers, flüchtet in Wartehäuschen, die Radfahrer ducken sich in den schwachen Schutz der Alleebäume. Auch die Autos zögern, stocken im steten Vorwärtsdrang, warten das Inferno ab, weil die schwächlichen Arme der Scheibenwischer die Flut nicht mehr ordnen können. Machtlos bleiben sie gegen die zuckende und donnernde Wucht, die die Sicht zerfließen lässt. Ein Aufatmen geht durch die Stadt: Wasser, Wasser!

Noch ein Gewitter: Ob es nicht Zeit wäre, sich zu entschuldigen für das, was palästinensische Terroristen angerichtet haben, als sie den deutschen Traum der heiteren Spiele vor fünfzig Jahren in dieser Stadt zerstörten? Das wird der Präsident von Palästina gefragt, als er auf dem edlen Teppich neben dem Bundeskanzler in Berlin steht. Mahmut Abbas war auch schon politisch aktiv, als damals die Schüsse fielen. Jetzt verweigert er eine Antwort. Stattdessen behauptet er, Israel habe seither schon „Fünfzig Holocausts“ angerichtet. Die Aussage bleibt zunächst unwidersprochen, der Kanzler schüttelt dem geschichtsvergessenen Gast die Hand. Ein medialer-Entrüstungssturm lässt ihn wissen, dass das ein Fehler war. Es ist zu heiß in Deutschland.

Am kleinen See im Blauen Land

Und wieder scheint die Sonne. „Mitten im Schimmer der spiegelnden Wellen, gleitet, wie Schwäne, der wankende Kahn“, träumt in dem von Franz Schubert vertonten Gedicht von Franz von Stolberg der Urlaubsgast in der Idylle des kleinen Moorsees vor den sanft blauschimmernden Hügeln der bayerischen Voralpenlandschaft. Es ist die Zeit der Sommerfrische im „Blauen Land“, das schon Gabriele Münter, Franz Marc und Wassily Kandinsky inspirierte zu verträumten Bildern dieser stillen Landschaft. Die Kühe glocken gemütlich von den sattgrünen Hängen herüber, an die braun verkrusteten Risse im glutheißen Württemberg erinnert hier nichts. Auf dem gut gefüllten See spiegelt sich eitel der Zwiebelturm der Dorfkirche vor weiß-blauem Himmel.

„Ach, auf der Freude sanft schimmernder Wellen, gleitet die Seele dahin wie der Kahn.“ Im oberbayerischen „Blauen Land“ atmet die Natur im saftigen Grün.

Also eingestiegen in den Kahn, Schubert im Kopfhörer: „Ach, auf der Freude sanft schimmernder Wellen, gleitet die Seele dahin wie der Kahn. Denn von dem Himmel herab auf die Wellen, tanzet das Abendrot rund um den Kahn.“ Es wird still am Abend rund um den See, was will man da rudern? Das Paddel stört nur. Meditative Wanderer blicken von den Parkbänken ins glitzernde Nass, glücklich-müde Urlaubskinder umrunden ein letztes Mal für heute den See. Ihre Eltern wandeln hinterher mit stillem Blick auf die kostbare Zeit sorgloser Gemeinsamkeit, die ihnen noch bleibt, bis Pflicht und Last wieder auf ihren Schultern liegen werden. Das Lied weiß, wie es weitergeht: „Ach, es entschwindet mit tauigem Flügel, mir auf den wiegenden Wellen die Zeit …“.

Der Gast verlässt das Blaue Land bei ruhig herabströmendem Landregen. Die Straße ist nass, die Reifen singen das Geräusch der friedlichen Regenfahrt, triefendes Gewölk ballt sich über dem ganzen verwöhnten Landstrich. Im Autoradio ist zu hören, dass noch immer unklar ist, woran genau die Millionen Fische in der Oder gestorben sind. Aber sicher sei, dass die Trockenheit der letzten Monate ihren Anteil habe am tonnenschweren Massentod.

Dort schon nicht mehr, und hier: Wie lange noch wird Tau auf unseren Flügeln liegen?

Durch Franken

Tausend Kilometer Autofahrt, tausend Kilometer Freiheit, einmal längs durch Deutschland. Zunächst Regen, bald schon wieder Sonne, nur noch Sonne. Der Wald an den Rändern der Autobahn verfärbt sich. In Franken herrscht Indian Summer Mitte August. Dort, wo um diese Jahreszeit noch grüne Bäume erwartet werden dürfen, ist schon Herbst. In Gelb und Graubraun, fahlem, mattem Gold klagt uns das Laub an. In wenigen Tagen wird es verdorrt herabfallen, wird uns den Herbst bringen zu einer Zeit, da Rudi Carell sich im Jahr 1975 noch „endlich richtigen Sommer“ gewünscht hatte.

Wie reiten doch die Jäger in Antonio Vivaldis „Herbst“ aus den „Vier Jahreszeiten“ hinaus in den bunten Wald? Voller Vorfreude auf Jagd und Natur, auf den Rausch der bunten Blätter, galoppieren sie dahin. Dieses Jahr werden, wenn es Herbst ist, die Jäger in Franken nur noch kahles Geäst über sich finden, denn das grau-gelb verdorrte Laub wird schon im August gefallen sein.

Es wird ein garstiger Herbst werden in Deutschland, und die Bundesregierung fürchtet den Volkszorn. Deshalb beschließt sie, die Mehrwertsteuer auf den Gaspreis zu senken. Sie mindert damit das Preissignal, das nötig ist, um den klimarettenden Umstieg von fossilen zu erneuerbaren Energien zu beschleunigen. Sie reduziert den Anreiz zur notwendigen Veränderung, und zwar für alle, auch für diejenigen, die genügend Geld haben, um teure Gaspreise zu bezahlen. „Lieb Vaterland, magst ruhig sein“, tönt, schon immer fragwürdig, die „Wacht am Rhein“.

Im Münsterland

Der Rhein bleibt links liegen. Je weiter die Reise nach Norden führt, desto häufiger wachsen die Windräder in den Himmel. Lange Rotoren, die beim flüchtigen Blick fürchten lassen, dass sie das Gras unter sich zermalmen könnten. Oder kürzere Rotoren auf hohem, schlankem Stamm. Wie auch immer: Viele davon!

Dann Rast in Deutschlands Westen, in seiner ganzen, unberührten Selbstsicherheit: Strohgelbe Stoppelfelder, hochstehender Mais, grüne Bäume. Radelnde Rentner durchmessen stolz die flache Landschaft und belohnen sich mit schäumendem Bier im Schatten. Münsterländer Pferde grasen auf der grünen Koppel, prächtige Backsteinhöfe kauern sich in die flache Natur, kaum einer davon ohne Sonnenkollektoren auf dem tief herabgezogenen Dach.

Ein lockerer Abend mit Freunden auf der lauwarmen Terrasse unterbricht die lange Reise. Glückliche Gäste genießen, was der Gasgrill hergibt. Die Gespräche sind besorgt: Schlagen bald auch bei uns die Bomben ein? Allgemeiner Tenor: Wohl eher nicht, hoffentlich. Es wird gemeldet, dass russisches Militär Raketenwerfer auf das Gelände des ukrainischen Atomkraftwerks Saporischschja gekarrt habe, um sie so vor Angriffen durch den Kriegsgegner zu schützen. Die Älteren auf der Terrasse erzählen ihre Erlebnisse in den Wochen nach dem Atomunfall von Tschernobyl.

Vielleicht bedarf es gar keiner Bomben, um uns zu bedrohen? Ein Ministerpräsident, in dessen Bundesland wir kaum Windräder gesehen haben, fordert, Atomkraftwerke länger zu betreiben.

Auf der Insel im Meer

Die Unendlichkeit ist hier zu Hause. Unermesslich breit dehnt sich der Strand, immer weiter, bis der Horizont sich krümmt. Im Nichts verliert sich der Blick über das wogende Wasser. Wollte man sie zählen, die Wellen, so würde man versagen. Oder die Sandkörner? Schon nach einer Handvoll würde man aufgeben. Scharfkantig bohren sich die Scherben Millionen gestorbener Muscheln in den blanken Fuß, der den Gast über den weiten Strand trägt. Er muss ausweichen, will er nicht in eine der angeschwemmten Quallen treten, von der Flut der Sonne zum Fraß vorgeworfen. Sterbende Quallen liegen heuer so häufig am Strand wie noch in keinem Jahr der Besuche zuvor. Diese traurigen Glibberwesen im Sand müssen sterben, aber die Nesseltiere insgesamt sind Gewinner des Klimawandels. Die Erwärmung auch der Nordsee begünstigt die Verbreitung der Quallen im kalten Nass des Nordens.

„Es säuseln die Winde, geschwinde, geschwinde! Es teilt sich die Welle, es naht sich die Ferne!“ Die Insel droht zu versinken im Meer, aber es gibt noch Hoffnung.

Und auch hier liegt die Hitze dieser späten Augusttage bleiern auf den Dünen. Kraftvoll scheint die Sonne vom Himmel, nur wenig Wind kühlt die Stirn, dreißig Grad zeigt das Thermometer. Seit drei Tagen kein Regen auf der Insel, deren Besuch ohne wasserdichten Schutz nicht ratsam ist. Nun war das schüchterne Nieseln bei der Überfahrt der vorerst letzte Niederschlag. Aber die Wiesen sind grün, glückliche Rinder teilen sie sich mit geduldigen Pferden und neugierigen Alpakas.

Die Insel ist sommerlich getunkt in den dickflüssigen Sirup der Idylle. Familien träumen sich durch den Tag, glückliche Kinder toben über den Sand und quengeln um die Aufmerksamkeit ihrer im Strandkorb dösenden Großeltern. Dann bauen sie Sandburgen, werfen sich Frisbees zu und staunen über die schwache Brise, die ausreicht, um ihre Drachen tanzen zu lassen. Und abends dann ein Eis beim Laternen-Denkmal für Lale Andersen, die auf der Insel lebte und starb, und die mit ihrem Durchhalte-Lied „Lili Marleen“ zum Tagtraum einer Soldatengeneration wurde. Manche Straßen der Insel nutzen die Betonpisten des von Zwangsarbeitern errichteten Militärflugplatzes der Nazis noch heute als Straßenbelag.

Diese Insel könnte untergehen, wenn der globale Anstieg des Meeresspiegels nicht gestoppt werden kann. Große Maschinen pumpen jeden Sommer Tausende Tonnen Sand an die verwundbarste Stelle des Eilands. Beim abendlichen Strandspaziergang herrscht windstille Ebbe: Glatte Oberfläche des Wassers in den Prielen, kein Rauschen der Wellen zu sehen, nicht einmal vorne am Brandungssaum. Leise, ganz leise, kaum hörbar hebt im Kopfhörer der Chor an: „Tiefe Stille herrscht im Wasser, ohne Regung ruht das Meer …“ Ludwig van Beethoven hat in seiner Vertonung der Gedichte „Meeresstille“ und „Glückliche Fahrt“ von Johann Wolfgang von Goethe den ganzen Gegensatz der Gewalten des Wassers in betörend schöne Töne gefasst. Jetzt und hier ist es die Meeresstille, die den Gast umgibt: Quälend leise, träge, abwartend, nimmt er uns mit in das erwartungsvolle Nichts der Windstille. Dann aber, vielleicht nur wenige Momente später, jubeln seine Töne über den aufkommenden Wind, sind voller Freude, fantasievoll und gewaltig, denn er wird die „Glückliche Fahrt“ ermöglichen.

Das Anschwellen dieser Töne ist ein triumphales Erlebnis der Zuversicht, ganz so wie seine „Ode an die Freude“, die Europa als Hymne dient. „Es säuseln die Winde, geschwinde, geschwinde!“, jubelt der Chor, „es teilt sich die Welle, es naht sich die Ferne!“

Am Horizont blinkt in der Dämmerung der dichte Wald der Windräder vom Festland. Noch gibt es Hoffnung.

 

 

Die hier angesprochenen Musikstücke habe ich im Text verlinkt; durch das Anklicken der Links stimmen Sie zu, zu YouTube weitergeleitet zu werden.

Hier sind sie alle noch einmal zusammengefasst:

Ludwig van Beethoven, 6. Sinfonie („Pastorale“), daraus das Gewitter im 3. Satz: https://www.youtube.com/watch?v=_eq14DWRko8

Franz Schubert „Auf dem Wasser zu singen“, Gedicht von Franz von Stolberg: https://www.youtube.com/watch?v=TEvo9PTnIlo

Rudi Carell: „Wann wird´s mal wieder richtig Sommer?“: https://www.youtube.com/watch?v=KzEOvyDcVas

Antonio Vivaldi, Vier Jahreszeiten, Herbst, 1. Satz: https://www.youtube.com/watch?v=qNwZgKw2wiU

Patriotisches Lied „Die Wacht am Rhein“ von 1840: https://www.youtube.com/watch?v=oKkRS4rL6Pw

Lale Andersen, „Lili Marleen“, Lied von 1939, hier gesungen von Marlene Dietrich: https://www.youtube.com/watch?v=7heXZPl2hik

Ludwig van Beethoven, „Meeresstille“ und „Glückliche Fahrt“, Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe: https://www.youtube.com/watch?v=NQE4u9VnHYM

 

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Tiefes Loch gesucht, 1 Million Jahre haltbar

Ein Plädoyer gegen längere Laufzeiten der Atomkraftwerke

Erinnern Sie sich noch? Wie wir alle vor gut zehn Jahren vor dem Fernseher saßen und fassungslos das Kollabieren der Blöcke des Atomkraftwerks Fukushima in Japan beobachteten, das Rauschen der Tsunami-Wellen, das Schwappen des verseuchten Wassers?

Das Atomkraftwerk Neckarwestheim bei Heilbronn. Block 2 (in der Bildmitte) ist noch bis Ende 2022 in Betrieb. Foto: Thomas Springer via Wikipedia

Erinnern Sie sich noch? An die Tage und Wochen nach dem vertuschten Super-GAU von Tschernobyl im Frühling 1986, als in vielen Lebensmittelmärkten Geigerzähler bereitstanden, damit man die Strahlenbelastung der Milch unserer Kühe, der Pilze aus unseren Wäldern, der Erdbeeren von unseren Feldern, des Fleisches aus unseren Ställen messen konnte?

Erinnern Sie sich noch? Als alle halben Jahre, immer dann, wenn ein Transport von Atom-Brennstäben nach oder aus Frankreich anstand, Tausende Polizisten Bahnstrecken sichern mussten, damit ein Zug mit hochgiftigem Atommüll unser Land durchqueren konnte?

„Erneuerbare Energien sind Freiheitsenergien“, sagte Christian Lindner

Es sind Bilder der Unfreiheit, Szenen des Erschreckens und des gesellschaftlichen Streits, die wir mit der Atomenergie verbinden. Wer jetzt davon spricht, dass eine Verlängerung der Laufzeiten der letzten drei deutschen Atomkraftwerke ein Mittel sein könnte, um die Abhängigkeit von russischem Gas zu reduzieren, der sollte sich an diese Szenen erinnern.

„Erneuerbare Energien sind Freiheitsenergien“, sagte der FDP-Vorsitzende und Bundesfinanzminister Christian Lindner am 27. Februar 2022 in seiner Ergänzungs-Rede zur „Zeitenwende“-Ansprache von Bundeskanzler Olaf Scholz. Es lohnt sich, den Ausschnitt aus dieser Rede noch einmal anzusehen, in dem Lindner sich von „Antworten der Vergangenheit“ klar distanziert.

Aktuell sind von Christian Lindner und seiner FDP allerdings gegenteilige Töne zu hören, und auch die Unionsparteien zündeln am Atom herum: Könnten als vorübergehender Ersatz für russisches Gas nicht auch in Deutschland die noch aktiven Atomkraftwerke länger betrieben werden? Eine „ideologiefreie“ Diskussion dazu soll es geben, wird gefordert.

Atomkraft war von Anfang an ein ideologisches Projekt

Ohne Ideologie war die Diskussion um die friedliche Nutzung der Atomenergie in Deutschland noch nie. Es war pure technologieverliebte Ideologie, als die friedliche Nutzung der Kernspaltung vom CSU-Ideologen Franz Josef Strauß und anderen seit den 60er und 70er Jahren als zentrale Zukunftstechnologie in den Himmel gelobt wurde. Damals geschah dies noch unter allgemeiner Ausblendung der bis heute in diesem Zusammenhang ungelösten Fragen.

Über Jahrzehnte war es Ideologie, die realen Gefahren, die von den Atomkraftwerken ausging, auszublenden oder zu verharmlosen, friedlich Demonstrierende und hartnäckige Sitzblockierer über Jahrzehnte mit Wasserwerfern von der Straße zu spritzen. Damit die Kritiker schließlich gesellschaftliches Gehör fanden, bedurfte es der Gründung der Partei „Die Grünen“ – und schwerer Unfälle. Insbesondere die Katastrophe von Fukushima wendete das Blatt, weil sie sich in Japan ereignete, einem High-Tech-Land, von dem wir geglaubt hatten, dass man dort die scheinbar gezähmte, friedlich genutzte Bombe so gut beherrschen kann, wie wir es uns selbst zutrauten.

Und ganz sicher war auch immer dann eine Menge ideologische Verblendung im Spiel, wenn militante Aktivsten alle paar Monate die rechtlich begründeten und sachlich unvermeidlichen Transporte von Atommüll-Castor-Behältern mit Sabotageakten gegen Bahnstrecken aufhalten wollten. Rücksichtslos gefährdeten sie dabei Menschen und bürdeten Tausenden Polizistinnen und Polizisten auf Kosten des Steuerzahlers unzumutbare Aufgaben zur Durchsetzung des Rechts auf.

Die Spaltung der Atome spaltete die Gesellschaft

Die Spaltung der Atome zur Stromgewinnung hat unsere Gesellschaft gespaltet. Diejenigen, die bis heute ihre Nutzung fordern, bleiben noch immer ganz ideologie-getrieben jede Antwort schuldig auf die zentralen ethischen Fragen: Wie rechtfertigen wir den Einsatz einer Technologie, die nachweislich nicht krisenfest ist, nicht beherrschbar ist in Extremsituationen, die bei einer Naturkatastrophe oder einem Angriff im Krieg oder bei einem Terrorakt Tausende Menschenleben vernichten kann? Und – noch wichtiger: Wer von uns kann über Jahrhunderte die Verantwortung für den tödlichen Müll übernehmen?

Gesellschaftlicher Friede entsteht immer dann, wenn unter dem Druck der Realitäten allzu selbstsichere Überzeugungen in Frage gestellt werden – und zwar von den Überzeugten selbst. So, wie es – historisch gesehen – eine CDU-geführte Bundesregierung sein musste, die unter dem Eindruck von Fukushima durch einen geordneten Verzicht auf die Atomenergie endlich eine gesellschaftliche Befriedung in dieser Frage herbeigeführt hat.

Alle diejenigen, die jetzt an dieser Entscheidung zum Atomausstieg rütteln möchten, sie als falsch oder verfrüht bezeichnen, gefährden diesen mühsam erreichten inneren Frieden. Und das einer unruhigen Zeit, in der wir nichts weniger benötigen als die Revitalisierung einer alten, gerade überwundenen gesellschaftlichen Spaltung.

Deutschland darf seine Kräfte nicht in einer alten Diskussion vergeuden

Es geht also nicht „ideologiefrei“ darum, ob man die letzten drei Atomkraftwerke noch ein paar Monate länger laufen lassen kann. Es geht auch nicht darum, ob man auf anstehende Sicherheitschecks ein bisschen verzichten könnte der ob man irgendwo auf der Welt ein paar Brennstäbe auftreibt.

Das ist viel zu technisch gedacht.

Deutschland würde seine in multiplen Krisen hoch beanspruchten Kräfte in einer Diskussion der Vergangenheit vergeuden. Es gab gute Gründe, den Ausstieg zu planen und zu vollziehen, und diese Gründe haben sich durch die von Russland herbeigebombte Veränderung der Energie-Weltlage um keinen Millimeter verändert.

CO2 aus mehr Kohle können wir kompensieren

Und wie ist es dann mit der Kohle und der Klimakatastrophe? Die klimaschädliche Wirkung der zusätzlichen Kohleverbrennung ist unbestritten und kann keinen vernünftig denkenden Menschen gefallen. Aber wir haben Chancen: Wir könnten sie kompensieren oder an anderer Stelle einsparen (z.B. durch ein allgemeines Tempolimit auf Autobahnen).

Und das sollten wir tun, schnell und umfassend, aus eigener Verantwortung, im eigenen Interesse und dem unserer Kinder und Enkel.

Neue Brennstäbe strahlen tödlich für eine Million Jahre

Zusätzliche ausgebrannte, tödlich giftig strahlende Brennstäbe aber können wir nicht kompensieren. Sie fallen zusätzlich an und erhöhen unsere Last für die Zukunft. Es ist schlimm genug, dass wir mit den Rückständen unserer noch bestehenden und schon abgeschalteten Atomkraftwerke der letzten 50 Jahre künftigen Generationen eine tödliche Last für mindestens 1 000 000 (!) Jahre aufbürden. Das deutsche Gesetz zur Standortsuche für ein Atommüll-Endlager nennt diese Zahl als Kriterium für die geologische Eignung des gesuchten Atommüllplatzes. Deutschland sucht noch.

Erinnern Sie sich noch? An die Bilder von den Menschen auf der Berliner Mauer, an die staunenden Gesichter voller Tränen des Glücks, als eine unüberwindbar scheinende Grenze plötzlich gefallen war?

Was wir da spürten, waren Freiheitsenergien. Sie treiben den Wandel an, nicht die „Antworten der Vergangenheit“. Und sie sind bis heute – im übertragenen Sinne – erneuerbar.

 

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Der Ballotino und die Magie der Machtbalance

Was uns die Geschichte von Venedig heute lehrt

Die Sonne scheint, die Lagune glitzert, der Gondoliere singt. Kein Zweifel, wir sind in Venedig, wenn auch nicht in unserer Zeit. Ein kleiner Junge, so um die zehn Jahr alt, folgt seinen Eltern im adligen Ornat über den Markusplatz. Der Junge und seine Familie hatten sich ihren Weg gesucht durch die verwinkelten Gassen ihrer Stadt, sie waren Kanälen gefolgt und hatten sie auf Brücken überquert. Sie sind unterwegs zu den edlen Geschäften rund um den arkadenbestandenen Platz; sie wollen sehen und gesehen werden. Und sie wissen, dass ein großes Ereignis bevorsteht: Die Wahl eines neuen Dogen von Venedig.

Da kommt ein Herr auf sie zu, stolzer Bart, prächtiges Gewand, ein Mitglied des Rates der venezianischen Republik. Er bahnt sich den Weg zur Familie, hindurch zwischen den anderen Venezianern, die da herumwandeln, noch ungestört von Touristen, keine Selfies, keine Tauben, vielleicht ein paar Straßenhändler, einige flatternde Möwen.

Die ganze Pracht des Reichtums von Venedig zeigt sich im Dogenpalast – und doch ist er mehr als ein Schloss. Der Palast war über Jahrhunderte Ort einer fein austarierten Machtbalance.

„Du bist der Ballotino!“, ruft der edle Fremde, der Hochgestellte, dem Jungen zu. Der Ruf ist laut, und die Umstehenden bilden sofort einen Kreis um das Kind. Sie jubeln und klatschen. Die Eltern erstarren, blicken unsicher herum. Sie sind stolz, aber sie wissen auch, was dieser Moment bedeutet. Ihr Kind ist von diesem Augenblick an versprochen an eine Tradition der großen Handelsnation, der Weltmacht an der Adria. Ihr Kind wird für die Wahl des nächsten Dogen benötigt, es ist ausgesucht worden, zufällig, willkürlich, und gehört künftig zum Gefolge des noch zu wählenden Oberhauptes des reichen Stadtstaates.

Das Ziel war Machtbalance …

600 Jahre lang gab es solche Momente im Leben eines venezianischen Jungen, insgesamt mehr als 120-mal, beginnend im 12. Jahrhundert, zuletzt im Jahr 1789. Der Ballotino wurde nach der Verfassung der venezianischen Republik benötigt, um die Wahl eines neuen Dogen durchzuführen. Den Dogen durften nur Männer aus adligen Familien Venedigs wählen. Diese Männer bildeten den Rat, aus dessen Kreis der neue Doge auf Lebenszeit bestimmt werden musste. Um die Machtbalance der adligen Familien zu erhalten, verfeinerten die Venezianer ihr kompliziertes Wahlsystem über viele Jahrhunderte immer weiter.

Am Anfang der Wahl sollte der blanke Zufall stehen. Ihn garantierte der Ballotino, ein zufällig auf dem Markusplatz ausgesuchtes Kind, natürlich auch wieder kein Mädchen. Dem Bub kam die Rolle zu, aus einem großen Lostopf mit so vielen Kugeln, wie es Mitglieder des Rates gab, jene 30 vergoldeten Kugeln zu ziehen, die für die 30 ersten zufällig ausgelosten Teilnehmer am Wahlverfahren standen.

Venedig war über die Jahrhunderte seiner Blüte eine oligarchische Herrschaft mit demokratischen Zügen. Das nicht-adlige Volk war von der Macht ausgeschlossen. Die adligen Familien der Stadt misstrauten sich so sehr, dass sie keinem der ihren die Chance zur alleinigen Herrschaft einräumen wollten. Sie waren sich aber einig darin, was auf keinen Fall eintreten sollte: Dass eine Familie die ganze Macht als Erb-Herrschaft an sich riss. Also ertüftelten sie ein ausgefeiltes System von Gremien und geteilten Verantwortlichkeiten, das allzu viel Macht an einer Stelle über Jahrhunderte wirksam verhinderte.

… und am Anfang sollte Zufall stehen

Am Anfang auf dem Weg zur wirksamen Machtbalance griff der Ballotino in den Lostopf, Nach zahlreichen weiteren komplizierten Wahlgängen wurde am Ende des Prozesses (in einem Konklave, wie bei der Papstwahl) ein neuer Doge bestimmt. Der musste einen heiligen Eid auf die Verfassung leisten und repräsentierte anschließend alle Macht und Pracht der Löwenrepublik in seinem berühmten Palast, den heute Hunderte Touristen täglich durchwandern.

Selbst war er aber weitgehend handlungsunfähig. Vielköpfige Gremien und einflussreiche Berater, die er sich nicht aussuchen konnte, sondern ihrerseits gewählt wurden, stellten sicher, dass der Doge seine Macht niemals allzu sehr ausdehnen konnte. Der Dogenpalast war zwar auch der prunkvolle Wohnsitz des Staatsoberhauptes, gleichzeitig aber Sitz aller Machtgremien und sogar der Gerichtsbarkeit der Republik. Die dort Verurteilten wanderten seufzend über die berühmte Brücke direkt ins Gefängnis.

Der Saal des großen Rates im Dogenpalastes: Hier tagten die Adligen, aber sie hatten nicht die alleinige Macht. Das Gremium war einem Parlament nicht unähnlich. Mit unseren heutigen Vorstellungen von Demokratie hatte die Republik allerdings nichts gemein.

Heute nennen wir es: Gewaltenteilung. Die Venezianer mögen sie als Verfassungsprinzip nicht erfunden haben (denn schon die Griechen und Römer hatten dorthin weisende Konzepte), aber sie haben sie in einer Zeit vorgelebt und durchgehalten, in der es im restlichen Europa fast nur absolutistische Herrscher gab.

Zeit für einen Cappuccino!

Nehmen wir kurz Platz in einem Café an der Lagune und genießen den Blick auf die einzigartige Kulisse dieser Stadt. Schauen wir sie uns an, diese einmalige Mischung aus morbider Urbanität, strahlendem Glanz der Paläste, dem Plätschern des Wassers, dem ruppigen Brummen der Vaporetti, dem Rauschen und Rufen der Menschenmassen. Venedig ist auch eine schöne Kulisse unserer romantischen Träume, eine Projektionsfläche für unsere Hoffnungen nach einer schöneren Welt.

Venedig ist kompliziert, seine Wege sind mühsam, verwinkelt und kraftzehrend. Warum nicht einfach abreißen?

Dabei weist uns die Geschichte dieser Stadt selbst in diese schönere Welt. Sie erzählt von der stabilisierenden Kraft der Machtbalance. Uns mag sie als selbstverständlich gelten, die Trennung von Staat, Verwaltung und Justiz. Die Befassung mehrerer Gremien mit einem Gesetz, in verschiedenen Parlamenten. Wir rollen die Augen, wenn in Brüssel Parlament und Regierungen und eine Kommission miteinander ringen, wenn im deutschen Föderalismus der Bund mit den Ländern streitet. Das mag alles sehr kompliziert und mühsam sein, aber es teilt die Macht, es sorgt für eine Annäherung an Gerechtigkeit, es ist Grundlage für freiheitliche Entfaltung des Einzelnen.

Es unterscheidet uns von den Tyrannen und Autokraten, die in unserer Zeit wieder ihre Völker mit Gewalt und ihre Nachbarn mit Krieg und Terror überziehen, weil sie vor nichts mehr Angst haben, als vor einer Teilung ihrer Macht mit den Menschen ihrer Völker.

Wie einfach wäre es, das ganze Gewirr abzureißen?

Machtbalance herzustellen und zu leben ist so kompliziert wie das Wahlverfahren des Dogen, der Weg dorthin ist so verwinkelt wie diese Stadt mit ihren schmalen Kanälen und engen Gassen, so mühsam wie ihre steilen Treppen und schmalen Brücken. Wie einfach wäre es, das ganze Gewirr, das ewige Hin und Her einfach niederzureißen und eine breite Straße zur Macht zu planieren?

Nicht doch!, ruft der empörte Venedig-Besucher.

Ein Blick auf diese Stadt am Wasser, ein Spaziergang in ihren Gassen, zwischen Palästen und Kirchen, eine schaukelnde Fahrt durch die Kanäle und hinaus auf die Inseln, quer über die Lagune, ein staunender Gang durch die reich verzierten Säle der verschiedenen Räte im Dogenpalast lässt den Besucher die ganze Magie der Machtbalance erleben. Es ist jede Mühe wert, sie zu erreichen und zu erhalten.

 

Zur Verfassung der Republik Venedig und zum Ablauf einer Dogenwahl habe ich Bezug genommen auf die Arbeiten von Hans-Jürgen Hübner, nachzulesen bei http://www.geschichte-venedigs.de/verfassung.html

 

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Ein Justizmord, die Nazis und der Papst

Zur Geschichte des „Tag der Arbeit“ am 1. Mai

Vielleicht war es im Mai. Wir schreiben das Jahr 1872, genau vor 150 Jahren. Vielleicht erlebte damals ein junger Mann noch ein letztes Mal in Deutschland einen Sonnentag auf dem Höhepunkt des Frühlings, einen Tag voll blühenden Flieders, ein Tag der blumenübersäten Wiesen.

Kein Mörder, sondern ein Justizopfer: August Spies aus Deutschland. Foto: Chicago Historical Society, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=755968

Dann verließ der junge Mann Deutschland. Er bestieg ein Schiff, bezog darin ein Massenlager, vermutlich tief unten im stickigen Bauch des Ozeanriesen. Seine Reise war eine Flucht vor der Armut und sie brachte ihn nach New York.

Der junge Mann war der im Hessischen geborene Försterssohn August Spies. Er war erst 17 Jahre alt, als sein Vater starb. Spies´ Familie geriet deshalb in tiefe Not. Sozialsysteme, wie wir sie heute kennen, gab es nicht. August war das älteste Kind und arbeitsfähig, also musste er gehen. Mutter und Geschwister blieben zunächst in Deutschland zurück; später holte er sie nach.

Ein Streik veränderte die Weltsicht von August Spies

Spies schlug sich durch in der neuen Welt. Er begann in New York eine Lehre als Möbeltischler, zog um nach Chicago und begann sich für die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu interessieren. Dann erlebte er als 22-jähriger etwas, das sein weiteres Denken und Handeln grundlegend prägen sollte. Würde man es in unser deutsches Heute übertragen, dann muss man sich diese Ereignisse aus dem Jahr 1877 in den USA etwa so vorstellen:

Den Mitarbeitenden der Deutschen Bahn, den Schaffnern und Lokführerinnen, den Stellwerkern und Rangierkräften, den Werkstattmitarbeitern und dem Reinigungspersonal – einfach allen – wird zum dritten Mal innerhalb eines Jahres mitgeteilt, dass ihre Gehälter gekürzt werden. Die wirtschaftliche Lage sei schlecht, heißt es zur Begründung, außerdem habe ein Krieg das Land ruiniert. Daraufhin treten die empörten Angestellten der Bahn an verschiedenen Orten in den Streik. Immer mehr Eisenbahnerinnen und Eisenbahner schließen sich landesweit an. Kaum noch ein Zug wird gewartet, die Gleise werden blockiert, keine Fahrkarten mehr verkauft, die Loks bleiben stehen. Der Vorstand der Bahn ruft den Staat zur Hilfe – und der schickt die Bereitschaftspolizei. Mit Knüppel und Schusswaffen kämpft der Staat die Arbeitnehmer nieder, diese reagieren mit Vandalismus: Gebäude werden niedergebrannt und Lokomotiven zerstört. Nach mehr als zwei Monaten Verwüstung und Gewalt gewinnt der Staat die Oberhand. Im ganzen Land hat der Kampf der Streikenden gegen die Polizeigewalt mehr als 100 Tote gefordert.

Der Große Eisenbahnstreik von 1877, die sozialen Ungerechtigkeiten, die ihn ausgelöst haben, und die Gewalt, mit der er beendet wurde, erschütterten die USA. August Spies machten die Ereignisse um die staatliche Niederschlagung des Streiks gegen die zunächst unbewaffneten Streikenden so wütend, dass er sich einer paramilitärischen Arbeiterorganisation anschloss. Später gründete er eine Arbeiterzeitung und wurde ihr Herausgeber und Chefredakteur.

Eine Bombe, ein Justizmord

Neun Jahre später, am 1. Mai 1886, stand August Spies in Chicago auf dem Haymarket und hielt eine flammende Rede. Er brandmarkte die Ungerechtigkeit der Arbeitsordnung. Er verlangte bessere Löhne und einen gesetzlichen Acht-Stunden-Arbeitstag für die Werktätigen. Wieder eskalierte die Situation durch Gewalteinsatz der staatlichen Milizen. Es folgten über mehrere Tage Großdemonstrationen, denen der Staat jeweils mit brutaler Gewalt begegnete. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen wurden am 3. Mai sechs streikende Arbeiter erschossen, etliche weitere verletzt. Am 4. Mai explodierte auf dem Haymarket eine Bombe, deren Herkunft bis heute ungeklärt ist.

Das dadurch verursache Chaos nahm die Polizei zum Anlass, die Streikanführer zu verhaften. Acht Männer, darunter August Spies, wurden für die Bombe verantwortlich gemacht, als „Mörder“ angeklagt, zum Tode verurteilt und hingerichtet. August Spies starb im Herbst 1887 durch Erhängen. Sechs Jahre später rehabilitierte der Gouverneur von Illinois die Getöteten: Ein Zusammenhang ihrer gewerkschaftlichen Agitation mit der Bombe sei nicht nachweisbar.

Wofür werben eigentlich die Plakate seit Mitte April?

Diese Geschichte könnte im Kopf haben, wer sich an diesem Sonntag – geeignetes Wetter vorausgesetzt – im Biergarten ein kühles Bierchen bestellt. Auf dem Weg dorthin hat sich vielleicht sogar der eine oder andere gefragt, wofür die Plakate eigentlich werben, die der Deutsche Gewerkschaftsbund jedes Jahr ziemlich lieblos ab Mitte April an die Laternenmasten klemmt.

Wofür wird hier geworben? Aktuelles Plakat des DGB zur Maikundgebung vor den Werkstoren von BOSCH in Stuttgart-Feuerbach.

Der radikal-anarchistische Arbeiterführer August Spies, das deutschstämmige Opfer eines amerikanischen Justizmordes, zählt zu den Urvätern des 1. Mai als Feiertag. Die internationale Arbeiterbewegung erhob in Andenken an ihn und an den Kampf der Streikenden auf dem Chicagoer Haymarket erstmals den 1. Mai 1890 zum internationalen Kampftag der Werktätigen. Die damals Mächtigen beeindruckte das kaum. Erst mehr als 40 Jahre später waren es in Deutschland ausgerechnet die Nationalsozialisten, die diesen Schritt vollzogen und den 1. Mai zum arbeitsfreien „Tag der nationalen Arbeit“ erklärten. Ein Paradebeispiel für ideologische Aneignung: Am 1. Mai 1933 erlebten die deutschen Berufstätigen erstmals den Feiertag zu ihren Gunsten, aber am Tag darauf, am 2. Mai 1933, stürmten Nazi-Schergen die Häuser der deutschen Gewerkschaften, betrieben ihre nationalsozialistische „Gleichschaltung“ und verhafteten ihre Anführer.

Der 1. Mai: Eine ideologische Projektionsfläche

Nach dem Krieg erbte die junge Bundesrepublik Deutschland den weltlichen Mai-Feiertag. Oft strahlendes Frühsommerwetter, keine Maloche, und noch dazu kein Kirchenbesuch – der 1. Mai war der Lieblingsfeiertag der aufkommenden deutschen Freizeitgesellschaft. Immerhin, wer sich in den 60er und 70er Jahren gesellschaftlich engagierte, empfand es noch als edle Werktätigen-Pflicht, auf die gewerkschaftliche Maikundgebung zu gehen. Ein Großereignis war das, Zigtausende auf den Marktplätzen, die Radiosender übertrugen die Maikundgebungen aus verschiedenen Städten ihres Sendegebietes live in einer Konferenzschaltung wie am Samstagnachmittag die Bundesliga.

Abends dann, in der „Tagesschau“, da waren die Bilder aus Ostberlin und aus Moskau oder Peking zu sehen. Endlose Paraden defilierten vor den Tribünen, furchteinflößende Waffen rollten vorbei, fröhliche Erzieherinnen schwenkten gemeinsam mit den von ihnen beaufsichtigten Kindern im sozialistisch gradlinigen Gleichschritt die roten Fähnchen. In der kommunistischen Welt wurde der „Tag der Arbeit“ zu Schwerstarbeit für Paraden-Organisatoren und Ordensspangen-Festnäherinnen. Auf den Tribünen saßen alte Männer, die von der Situation der Werktätigen keine Ahnung hatten, sich aber als Vertreter der siegreichen Arbeiterklasse fühlten.

Neue Aufgaben für „Josef den Arbeiter“ aus der Weihnachtskrippe

In diesem ideologischen Getümmel rund um den „Tag der Arbeit“ wollte im Jahre 1955 ein anderer alter Mann nicht beiseite stehen. Der fast 80-jährige Papst Pius XII. erhob einen prominenten Zimmermann in den Status der „Arbeiters“ und machte damit den 1. Mai zu einem katholischen Gedenktag. Die Ehrung der Arbeit sollte nicht den atheistischen Systemen des Ostblocks allein überlassen bleiben. „Josef der Arbeiter“ heißt seither jener gütige, uneheliche Vater von Jesus, uns allen besser bekannt als der Mann neben dem Kindlein in der Weihnachtskrippe.

Prost! – Ein Hoch auf alle, die am 1. Mai arbeiten

August Spies hat sich das alles am 1. Mai 1886 bestimmt nicht so gedacht. Erreicht hat er einiges: Der 8-Stunden-Tag ist heute in den reichen Teilen der Welt die Regel. Und der arbeitsfreie Feiertag 1. Mai gilt in vielen Ländern für alle, die das Glück haben, den dafür passenden Beruf gewählt zu haben. Denn arbeitsfreier Feiertag für viele heißt besonders viel Arbeit für wenige, die auf unsere Sicherheit, unsere Gesundheit, unsere Mobilität achten – oder uns das Bier an den Biergartentisch schleppen.

Also lasst uns das Glas heben: Ein frisch gezapftes Maibock auf August Spies – und auf alle, die am 1. Mai arbeiten!

 

Zur Geschichte des 1. Mai siehe auch auf der Website des DGB: https://www.dgb.de/themen/++co++d199d80c-1291-11df-40df-00093d10fae2

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